250 Simrock, Karl [Joseph] (1802-1876) ADB
"Sonette", in:
Shakespeares Gedichte
. Deutsch von Karl Simrock (Stuttgart: Verlag der J.G. Cotta'schen Buchhandlung, 1867), S. 1-156.
Online verfügbar.
Vollständige Ausgabe: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.
Mit "Vorwort" (S. v-xxvi); daneben Venus und Adonis, Tarquin und Lucretia, Der Liebenden Klage, Der verliebte Pilger und "Lieder aus den Dramen".
Vorwort:
Die Sammlung der Gedichte Shakespeares, die, vielleicht anachronistisch, mit den Sonetten beginnt, mag ich nicht in die Welt schicken ohne ihr das nachstehende Sonett des Grafen Platen beizugeben, der selbst ein Meister im Sonett doch gern dem überlegenen Britten die Palme reichte.
Shakespeare in seinen Sonetten.
Du ziehst bei jedem Looß die beste Nummer,
Denn Wer, wie du, vermag so tief zu dringen
Ins tiefste Herz? Wenn du beginnst du singen,
Verstummen wir als klägliche Verstummer.
Nicht Mädchenlaunen stören deinen Schlummer,
Doch stäts um Freundschaft sehn wir warm dich ringen:
Dein Freund errettet dich aus Weiberschlingen
Und seine Schönheit ist dein Ruhm und Kummer.
Bis auf die Sorgen, die für ihn dich nagen,
Erhebst du Alles zur Apotheose,
Bis auf den Schmerz, den er dich läßt ertragen!
Wie sehr dich kränken mag der Seelenlose,
Du läßest nie von ihm und siehst mit Klagen
Den Wurm des Lasters in der schönsten Rose.
Die Zeile
Nicht Mädchenlaunen stören deinen Schlummer
würde vielleicht der Leser beanstanden, wenn er sie auf die letzte Sonettenreihe (von 127 an bis gegen den Schluß) bezöge, die den Dichter von der Leidenschaft zwar nicht zu einem Mädchen, aber doch zu einer Frau tief genug ergriffen zeigt, wenn er nämlich hier seine eigenen Herzenszustände schildert.
Aber vielleicht hätten Manche gerade erwartet, hier über den Antheil von Wahrheit und Dichtung an den in den Sonetten vorausgesetzten Verhältnissen Auskunft zu finden, und da die Deutschen durch Goethes Selbstbiographie gewohnt sind, solche Neugier zu befriedigen, so würde ich mich durch das aufrichtige Bekenntniss meiner Unwißenheit schwerlich zu des Lesers Zufriedenheit aus der Sache ziehen.
Da fügt es sich denn sehr glücklich, daß ich auf einen Aufsatz von Nicolaus Delius über Shakespeares Sonette im ersten Bandes des Shakespeare-Jahrbuchs verweisen kann, worin diese Frage von dem competentesten Richter, dem kritischen Herausgeber und Erklärer Shakespeares, mit eben so viel Gelehrsamkeit als Geist und Scharfsinn abgehandelt ist, wie er schon früher in der Ausgabe VIII, 114 als das Wahrscheinlichste ausgesprochen hatte, daß diese Sonette weder Beziehungen auf bestimmte Personen noch Anspielungen auf wirkliche Erlebnisse des Dichters enthalten, sondern freie Erzeugnisse seiner dichterischen Phantasie sind, welche die Verhältnisse erst fingiert, um sie dann in diesen Gedichten poetisch zu behandeln. In demselben Sinne sagt er in dem angeführten Aufsatze, dessen Studium um so mehr zu empfehlen ist als er den besten Commentar der Sonette enthält: "Es will mich bedünken als müßte eine Auffaßung wie die meinige von der Natur und Bedeutung der Sonette die wohlbegründete Bewunderung des Dichters noch steigern, da sie den Menschen Shakespeare nicht in dem zweifelhaften Lichte erscheinen läßt, wie unfehlbar jede autobiographische Deutung thun muß, den Dichter Shakespeare aber in desto hellerm Lichte. Ich erlaube mir als ein hiehergehöriges Resumé alles Vorhergehenden einen Passus aus einer Abhandlung, die ich vor Jahren schrieb, zu citieren (Der Mythus von William Shakespeare. Bonn 1851). "Gewiss sah Shakespeare und seine Zeit in den lyrischen Gedichten keine Beiträge zu seiner Biographie, keine zusammenhängenden Bekenntnisse eigener Leiden in Liebe und Freundschaft, sondern zerstreute Blätter, Darstellungen poetischer Seelenzustände. Dieselbe Fähigkeit, sich tief in alle Gefühle und Situationen wie in selbstempfundene hinein zu versetzen, die wir in Shakespeares Dramen bewundern, dieselbe Fähigkeit beweist der Dichter in seinen Sonetten, und in dieser Beziehung kann man sie, obgleich lyrisch der Form nach, als wesentlich dramatisch bezeichnen. Sie schildern uns die Liebe, die Eifersucht, die Freundschaft, die Reue, alle die Regungen des menschlichen Herzens in ihrer unmittelbaren Wahrheit, aber nicht speziell William Shakespeares Liebe, Eifersucht, Freundschaft und Reue, nicht die Regungen in William Shakespeares eigenem Herzen."
Mit dieser Ansicht, die den Dichter, indem sie die Sonette ganz auf das ideelle Gebiet verweist, von allen Zweifeln an seiner sittlichen Reinheit wahren soll, kommt Delius den Wünschen Malones entgegen, der es der Untersuchung nicht werth erklärte, an Wen die einer Frau geltenden Sonette gerichtet wären, denn einen unwürdigen, mit stärkern Farben so bezeichneten Charakter habe niemals ein Dichter geschildert. "Wir wünschen daher, daß diese Sonette nie erschienen wären, oder sich ihr Gegenstand als rein ideell erweisen ließe. Wir sind um so geneigter, sie aus diesem Gesichtspunkt zu betrachten, als wenn man diese Sonette beseitigt, auch nicht der geringste moralische Flecken auf Shakespeares Charakter haften bleibt. Auch ist es unwahrscheinlich, daß irgend ein Dichter ein so offenes Bekenntniss seiner eigenen Strafbarkeit in die Welt geschickt haben würde."
Auffallen muß es bei dieser Aeußerung Malones, daß er an den 126 Sonetten, die an den Freund gerichtet sind, keinerlei Anstoß nimmt, die doch weder den Dichter selbst noch den schwärmerisch geliebten Freund von allen Fehlern frei schildern, während er bei denen, welche die Geliebte betreffen, so weit geht, sie ungeschrieben zu wünschen, damit auch nicht der geringste moralische Fleck auf Shakespeares Charakter haften bleibe. Es ist wahr, daß es uns ein Herzensbedürfniss ist, den geliebten Dichter in möglichst günstigem Lichte zu denken: wir sind sehr geneigt, seine Fehler zu entschuldigen und selbst seine Vergehen aus den edelsten Gefühlen abzuleiten. Aber ganz frei von allen menschlichen Schwächen möchten wir ihn lieber nicht wißen, solche Engelreinheit würde ihn uns entfremden: er tritt uns näher, wenn wir ihn durch mancherlei Prüfungen hindurchgegangen wißen, wenn der Kampf mit mancherlei jugendlicher Leidenschaft ihn gereinigt und geläutert hat. Schwerlich kann auch ohne solche innere Erlebnisse ein wahrer Dichter sich bilden: er ist nicht gleich fertig zur Welt gekommen, er ist ein Werdender gewesen, er hat manchen innern und äußern Sturm zu bestehen gehabt. Wie möchte er sonst schildern, was er nicht gefühlt, uns durch Empfindungen rühren, die er nicht selbst empfunden, nicht schmerzlich durchgekostet hat? Wenn Goethe sagt:
Die Flut der Leidenschaft, sie stürmt vergebens
Uns unbezwungne feste Land;
Sie wirft poetische Perlen an den Strand,
Und das ist schon Gewinn des Lebens.
so hätte ich lieber gelesen: "stürmt nicht vergebens", weil ja jene poetischen Perlen uns ein bleibender Gewinn sind; aber vielleicht wollte der Dichter sagen, dem moralischen Werthe des Mannes werde nichts dadurch benommen, wenn den Jüngling Leidenschaften durchstürmt haben, denn der feste Kern seines sittlichen Wesens sei unbezwungen geblieben. Sind doch in seinen eigenen Werken solcher Selbstbekenntnisse viel enthalten, nicht bloß in Dichtung und Wahrheit: sie ziehen sich durch alle seine Werke hindurch, Geständnisse über die Versuchungen, ja die Verirrungen seiner Jugend; und sie sind es die den Reiz ferner Dichtungen zwar nicht ausmachen, aber doch ungemein erhöhen. Es wäre leicht zu zeigen, daß sein zu weiches Herz ihn in Liebesbande verstrickt hat, die sein Ehrgeiz, sein höheres Streben brechen muste; aber diesen Treubruch, der doch nothwendig war, wirft er sich stäts vor und bestraft ihn an sich in der Person Weißlingens, Clavigos, Tassos, Fausts, die nur Copieen seiner eigenen Herzensweiche und Willensschwäche sind. Hätte Shakespeare eine Selbstbiographie hinterlaßen, so würden wir wohl auch den geheimen Bezug seiner Herzenserlebnisse auf die Motive seiner Dramen erkennen. Hat doch Delius selbst die Entsagung auf die Geliebte zu Gunsten des Freundes, welche die Sonette enthalten, scharfsinnig in Bezug gesetzt zu der, welche sich in den "Beiden Edelleuten von Verona" findet, obgleich er hieraus keineswegs geschloßen haben will, daß unsern Sonetten innere oder äußere Erlebnisse des Dichters zu Grunde lägen, und jedenfalls erhebt er mit vollem Recht dagegen Einspruch, daß man sie für die Biographie des Dichters ausbeuten und Daten darin finden wolle, die man in seine Regesten eintragen dürfe. Bekannt ist es aus der Literaturgeschichte, wie es der Freundschaftssage wesentlich ist, daß der Freund auf die Geliebte zu Gunsten des Freundes verzichte, wie das z. B. in Amicus und Amelius geschieht; für die Liebessage ist es dann ebenso charakteristisch, daß die Freundschaft der Liebe zum Opfer gebracht werde, selbst die Blutsfreundschaft der Liebe gegenüber nichts mehr gilt, wie das im Tristan König Marke erfahren muß. Wenn nun in unsern Sonetten der Dichter dem Freunde nachsieht, daß er ihm die Geliebte abwendig macht, so ist das ein Zug, der in der Schilderung schwärmerischer Freundschaft nicht wohl vermisst werden durfte. Daß wir ihn aber finden, ist nicht das schwächste Argument dafür, daß wir uns auf dem Gebiet der Poesie befinden, wenn gleich das Hineinspielen der realen Wirklichkeit in die dichterische Erfindung nicht ausgeschloßen werden kann. Auch giebt der Dichter seine Würde dem hochgestellten Gönner gegenüber nicht auf, denn er verzeiht nur den Thränen des Reuigen (Son. 34) und klagt sich selber (Son. 35) an, das Vergehen des Freundes geschirmt, seinen Anwalt gespielt, dem Dieb, der sich erkühnt, ihn schmerzlich zu bestehlen, noch geholfen zu haben, den Raub zu hehlen. Schwerlich ist hier auf Son. 41 gedeutet, das damit anhebt, die artigen Sünden, die der Freund im Uebermuth begehe, wenn er des Freundes vergeße, stünden ihm wohl. Aber wenn er sich solche Anwaltschaft im 35. Sonett zum Vorwurf macht, so hatte er doch nicht versäumt, den vorangeschickten Entschuldigungs- oder Milderungsgründen eine scharfe Ermahnung folgen zu laßen, und den Schuldigen auf die Folgen seiner Ausschweifungen aufmerksam zu machen. Auch in der Einleitung des vorhergehenden Sonetts verzeiht er ihm zwar den Raub, den er an ihm begangen hat, betont aber gleichwohl, wie schmerzlich ihm, den er des letzten Guts beraubt habe, eben dieser Raub gewesen sei. Auch das folgende, 42. Sonett weiß Beschönigung und Vorwurf zu mischen, aber im 95. Sonette haftet der Tadel schärfer als die Beschönigung, weil es die Mahnung hinzufügt:
Doch, Lieb, dieß Vorrecht spiel nicht aus als Trumpf:
Missbraucht wird bald das schärfste Meßer stumpf.
"Die Freundschaft Valentins für den treulosen Proteus" heißt es bei Delius S. 18, "besteht sogar die Probe einer klaren Erkenntniss der Unwürdigkeit dieses Freundes und geht so weit, daß Valentin sich bereit erklärt, seine eigene Geliebte, die Silvia, dem Proteus, der sie ihm abspenstig machen wollte, freiwillig abzutreten. Solche Opferwilligkeit und solche Resignation mochten selbst in ihrer Uebertreibung dem Dichter als Ideal schön und zu einer poetischen Behandlung geeignet erscheinen, ohne daß wir nun auch ohne Weiteres annehmen dürfen, Shakespeare sei in der Wirklichkeit geneigt und veranlaßt gewesen, Valentins Verfahren nachzuahmen, edelmütig seiner eigenen Geliebten zu Gunsten des Grafen Southampton oder des Grafen Pembroke zu entsagen, und diesen Entschluß heroischer Selbstverläugnung der Welt in einer Reihe von Sonetten kundzuthun."
Das Verhältniss des Dichters zu dem Grafen Southampton steht bekanntlich fest durch die Zueignung zweier seiner Werke. Zuerst widmete er ihm 1593 Venus und Adonis mit folgender Zuschrift:
Dem sehr verehrungswürdigen
Heinrich Wriothesly,
Grafen von Soutampton und Baron von Tichfield.
Sehr verehrungswürdiger Herr!
Ich weiß nicht, ob ich Sie nicht beleidige durch die Zueignung meiner sehr ungefeilten Verse, und ob mich die Welt nicht tadeln wird, daß ich eine so starke Stütze wähle für eine so schwache Last. Wenn ich aber Ew. Gnaden Beifall erlangte, so würde ich das für das höchste Lob halten und alle meine Mußestunden zu nützen geloben bis ich durch ein Werk von größerm Gewicht meine Ehrerbietung dargethan hätte. Sollte aber dieser erste Sprößling meiner Erfindung unförmlich ausgefallen sein, so müste es mich gereuen, ihm einen so edeln Pathen ausgewählt zu haben, und würde ich dann aus Furcht einer gleich schlechten Ernte einen so undankbaren Boden nicht wieder bestellen. Ich überlaße meinen Versuch Ew. Gnaden Durchsicht und Ew. Gnaden selbst der Zufriedenheit Ihres Herzens, von der ich hoffe, daß sie stäts Ihrem eigenen Wunsche und der hoffnungsvollen Erwartung der Welt entsprechen werde.
Ew. Gnaden dienstbeflißener
William Shakespeare.
Im folgenden Jahre brachte er ihm auch seine Lucretia dar, deren Widmung wir, mit Uebergehung der nun schon bekannten Curialien, gleichfalls ansehen wollen:
"Die Liebe, die ich Ew. Lordschaft widme, ist ohne Ende, und diese Schrift ohne Anfang nur ein überflüßiger Theil derselben. Die Beweise, die ich von Ihrer gnädigen Gewogenheit besitze, nicht der Werth meiner unbewachten Zeilen, verbürgen mir ihre Annahme. Was ich geleistet habe gehört Ihnen und was ich noch leisten kann, desgleichen, da es nur einen Theil des Ganzen bildet, das Ihnen gewidmet ist. Wäre mein Werth größer, so könnte ich Beßeres darbringen; aber so gering es auch ist, so gehört es Ew. Lordschaft, welcher ich ein langes, durch stätes Glück verlängertes Leben wünsche."
Spricht sich hier auch schon eine größere Zuversicht aus als in der ersten schüchternen Widmung, so werden wir doch gewiss Delius beistimmen, wenn er in dem Worte Liebe noch keine Andeutung eines zärtlichen Verhältnisses zwischen dem Dichter und dem Grafen findet, indem es gar wohl die Anhänglichkeit bezeichnen kann, die der Schutzbefohlene seinem Gönner schuldet. Wenn er aber weiter schließt, ein zärtliches Verhältnis zwischen Southampton und Shakespeare müsste also erst nach Erscheinung der Lucretia im Jahre 1594 angeknüpft sein, so tragen wir Bedenken, ihm hierin zu folgen, da ein vertrautes Verhältnis immerhin schon bestehen konnte, wenn es gleich der Dichter vor der Welt nicht zur Schau trug. Hätte er damit auch keine Indiscretion begangen, die ihm der junge Graf verdacht haben würde, so muste es ihm sein eigenes Herz verbieten, da alle zartern Gefühle den lauten Markt scheuen. Wenn also nach dem 104. Sonett das in der größern Hälfte der Sonette besungene Freundschaftsverhältniss während dreier Jahre fortbestand, so ist wenigstens nicht unmöglich, daß der höher gestellte Freund der Graf Southampton war, wenn auch dieser schon im Jahre 1596 den Grafen Essex nach Cadix begleitet hätte, denn schon die Widmung von Venus und Adonis konnte den Grund zu der Freundschaft gelegt haben, die seitdem, wenn auch nicht ungetrübt, wenigstens drei Jahre fortbestanden haben müste, wenn man berechtigt wäre, auf Gedichte chronologische Rechnungen zu gründen, da doch Freidank warnt, auf den Regenbogen zu zimmern. Uns ist es nicht darum zu thun, die von Delius so stark erschütterte Hypothese von dem zärtlichen Verhältniss zwischen dem Grafen und dem Dichter zu halten, nur glauben wir, daß sich der Gegenbeweis ebenso wenig führen läßt. Schon daß Shakespeares Zeitgenoßen in seinen Sonetten nichts dergleichen gefunden haben, fällt nicht schwer ins Gewicht, denn das nächste Jahrhundert sah noch so wenig klar, daß es alle Sonette auf eine Geliebte bezog wie selbst nach 1797 Chalmers die Königin Elisabeth zum Gegenstand dieser zärtlichen Ergüße machte. Ueberhaupt haben negative, von Unterlaßungen hergenommene, Gründe wie auch jene S. 12, daß sich nirgend Hindeutungen auf den Grafen Southampton als speciellen Gönner und Freund unseres Dichters fänden, was er doch als leidenschaftlicher Liebhaber und Gönner der aufstrebenden Bühne auch nach Delius Urtheil S. 10 wahrscheinlich war, oder daß in Ben Jonsons Gedicht über Shakespeare auf ein innigeres Verhältniss zwischen diesen Beiden nicht angespielt werde, auch Andern so wenig Beweiskraft als mir. Die Besorgniss aber, daß man bei der Annahme, daß diesen Sonetten wirkliche Verhältnisse zu Grunde lägen, dem Dichter zutrauen müße, er habe jemals seinen Stand als Schauspieler und Schauspieldichter, die Basis seines Ruhmes und seines Wohlstandes, als ein Brandmal empfunden (S. 34), theile ich darum nicht, weil die Sonette 110 ‒ 112, die hierzu Veranlaßung geben, nur vom Schauspielerstande reden. Wenn der Dichter hier seufzend den Schaden eingesteht, den er als Schauspieler an seiner Ehre nicht bloß, auch an seinen Sitten erlitten habe, so bleibt uns kaum ein Zweifel, daß er von wirklichen, nicht erdichteten Zuständen spricht.
Der Dichter hat seine Sonette nicht selber herausgegeben, und wie schwer es geworden ist, ihn zu bestimmen, daß er endlich seine Einwilligung zu ihrer Veröffentlichung gab, könnte man daraus schließen wollen, daß der Buchhändler demjenigen seinen Dank öffentlich aussprach, der ihm das Manuscript derselben verschaffte. Allerdings konnte der Dichter nicht voraussetzen, daß die Unterscheidung zwischen dem Dichter und dem Menschen allen Lesern geläufig sei. Daß sie es noch heutzutage nicht ist, zeigt die leider nur zu verbreitete Neigung, aus den Werken der Dichter mehr über ihre persönlichen Zustände herauszulesen als darin liegt. Diese Neugierde geht so weit, daß die Werke der Dichter selbst von Vielen ganz ungelesen bleiben, die doch begierig nach Allem greifen was Andere über die Dichter und ihre Leben geschrieben haben. Wie es seit Juvenal schwer ist Satiren nicht zu schreiben, so hab ich mich auch über diese Erfahrung des Spottes nicht enthalten können. Ich erlaube mir einige Xenien dieses Inhalts hieherzusetzen, von welchen man die letzte vielleicht nicht zahm genug finden wird.
Goetheklatsch
1.
"Welchen sollen wir lesen,
Den Viehoff oder den Lewes?"
Ueber keinen ruf ich Pfui!
Doch wollt ihr vom Klatsch genesen,
So wendet euch an den Dichter:
Ihr braucht ja keinen Trichter.
2.
"Uns will zu wißen verlangen
Wie es ihm mit den Frauen ergangen
Und warum er nicht schritt zur Ehe?"
Das heißt, wenn ich recht verstehe:
Ich und meine Verwandten
Sind eben nur Klatschmatanten.
Diesen auf Goethe bezüglichen Zeilen darf ich wohl einige näher hiehergehörige folgen laßen.
Shakespeares Dramen.
I.
Wenn ich die deutschen Dramen seh, von Schiller oder Goethe,
Das ist ein schönes Morgenroth; oder wär es Abendröthe?
Kommt Jener dann und wägt den Sper in seinen starken Händen,
Das ist der volle lichte Tag, ein Sonnenschein zum Blenden.
Die Hitze drückt, die schwere Luft entlädt sich in Gewittern,
Mit Prasseln zuckt der Wetterstral, daß Thurm und Kirche zittern.
Doch endlich klärt der Himmel sich, die Sonne kommt gezogen
Und über der erquickten Au wölbt sich der Regenbogen.
II.
Wenn ihr die deutschen Dichter schaut, die liebenswürdgen Neuen,
Sie legten ab die Bärenhaut, wen sollt es nicht erfreuen?
Auch hat sich Jeder wohl geschult bei Römern und bei Griechen,
Und mit den Welschen viel gebuhlt: er darf sich nicht verkriechen.
Doch staun ich dann den Shakespeare an, wie soll ich mich erholen?
Der ist durchaus ein deutscher Mann vom Scheitel zu den Sohlen.
Der in ureigner Geisteskraft steckt nicht in rothen Hosen,
Trank mit den Göttern Brüderschaft und winkt den Menschenloosen.
III.
Deutschland, wo bist du?
Deutschheit ist ausgewandert,
Dafür zog Griechheit ein:
Wo mag man Deutschheit finden?
In Shakespeare noch allein.
IV.
Frage und Antwort.
Was suchen wohl die Britten
In aller Welt umher?
Ach Merry Englands Sitten;
Doch die sind längst nicht mehr.
Merry England.
Merry England ist vertrieben
Längst vom Puritanerwesen:
Nur in Shakespeare ists verblieben,
Den die Britten kaum noch lesen.
Nachstehende sinnstörende Druckfehler
S. 36 Z. 11 lies den Gram statt die Scham.
S. 72 Z. 2 lies immer statt nimmer.
S. 89 Z. 8 lies geben statt fordern.
S. 129 Z. 10 ist das Komma zu tilgen.
S. 129 Z. 12 lies ließen statt laßen.
S. 200 Z. 3 v.u. lies Tafeldecker statt Tellerlecker
bittet man zu verbeßern und zu entschuldigen. Aber eine andere Sünde ist so schwer, daß ich auf Vergebung kaum hoffe; gleichwohl muß sie bekannt werden. In "Venus und Adonis" ist leider gleich nach der Str. 8 eine ganze Reihe Strophen durch Schuld des Abschreibers ausgefallen, die ich hier einrücke.
Dem Adler gleich, wenn er nach langem Fasten
Den Schnabel stößt in Federn, Fleisch und Bein,
Die Flügel schlägt, mit Schlingen nicht zu rasten
Als bis die Gier gestillt, der Raub herein,
So küsst sie ihn auf Brauen, Kinn und Wangen,
Um so sie aufhört wieder anzufangen.
Gezwungen muß er sich zufrieden geben,
Denn keichend liegt er da und schnappt nach Luft;
Sie saugt aus seinem Athem neues Leben
Und nennt ihn Himmelshauch und Wonneduft,
Wünscht, daß ein Garten ihr im Antlitz blühte,
Und seine Blumen solch ein Thau besprühte.
Sieh, wie im Netz ein Vogel liegt verstrickt,
So liegt Adonis in der Göttin Arm,
Und ob er noch so wild und zornig blickt,
Nur schöner machen ihn Verdruß und Harm.
So droht ein Bach von Regenguß geschwellt
Dem Wehr Vernichtung, das ihn zwingt und hält.
Noch fleht sie ihn und weiß gar hold zu flehn,
Denn holden Ohren flüstert ihre Stimme,
Noch zürnt er ihr mit tückischem Verschmähn
Bald roth vor Scham, bald aschengleich im Grimme.
Roth liebt sie ihn zumeist, doch wird er weiß,
Das übertrifft nun gar des Schönsten Preis.
Weiß oder Roth, sie muß ihn immer lieben
Und schwört bei ihrer schönen Götterhand:
"Von seinem Busen werd ich nie vertrieben
Bis er das Ziel der Thränen zugestand,
Die längst sich schon von meinen Wangen stahlen:
Ein süßer Kuss mag diese Schuld bezahlen."
Auf dieß Versprechen hebt das Kinn er schon
Wie aus der Welle sich der Taucher hebt
Und schnell versinkt sobald ihm Blicke drohn:
So bietet er was sie so heiß erstrebt;
Doch als sie wähnt den Honig nun zu nippen,
So blinzelt er und wendet weg die Lippen.
So lechzt der Wandrer in des Sommers Gluth
Nach einem Trunk wie sie nach einem Kuss.
Sie sieht den Quell, doch quillt ihr nicht die Flut
Und steht im Brand trotz ihrer Thränen Guß.
"Erbarmen," ruft sie, "felsenherzger Knabe,
Ein Kuss nur ists, den ich gefordert habe.
"Wie ich um dich, so warb um mich mit Schmachten
Der wilde Mars, der nie vor einem Feind
den nervgen Nacken bog in blutgen Schlachten
Und Alles niederwirft, wo er erscheint;
Doch bot er sich als Sclave mir gefangen
Um, was ich Dir will schenken, zu erlangen.
"An meinen Altar hängt' er seine Lanze,
Den Siegerhelm und den zerhaunen Schild.
Für mich ergab er sich dem Spiel, dem Tanze,
Verliebtem Tand und wurde sanft und mild,
Ließ Fahn und Trommel, mich zum Ehrenfeld
Erwählend und mein Bett zu seinem Zelt.
"So hab ich den Bewältiger besiegt,
An Rosenketten ihn mir nach gezogen:
Vor dessen Kraft der stärkste Stahl sich biegt,
Er lag vor mir verschmäht im Staub gebogen.
Sieh dich dem Stolz, dem Uebermuth nicht hin,
Weil du besiegt des Siegers Siegerin.
"Berühre nur mit deinen Lippen meine;
Sie sind nicht ganz so schön, doch roth genug:
So wird der Kuss der meine wie der deine.
Was suchst du auf dem Gras? Blick auf, sei klug!
Sieh mir ins Aug, sieht dich auf seinem Grunde:
Wie Aug in Aug, warum nicht Mund zu Munde?
"Schämst du dich denn zu küssen? o, so schlage
Die Augen zu wie ich: gleich ist es Nacht;
Die Liebe hält zu zweien nur Gelage;
So sei nun dreist: wir scherzen unbewacht.
Die blauen Veilchen alle, wo wir liegen,
Sie sehn nicht was geschieht und sind verschwiegen.
"Der zarte Flaum auf deiner süßen Lippe
Nennt dich zwar unreif, doch schon gut zu kosten.
Nimm doch der Zeit, des Vorheils wahr, und nippe:
Die Schönheit darf nicht in sich selbst verglosten;
Die Blume, die man nicht im Frühling pflückt,
Verwelkt, daß bald sich Niemand um sie bückt.
"Wär ich gerunzelt, alt und ungestalt,
Verwachsen, bucklich, gliederlahm, gebrochen,
Verlebt und kränklich, abgerissen, kalt,
Triefäufig, spindeldürr, nur Haut und Knochen,
Dann freilich würd ich wenig zu dir passen;
Doch, da ich mackellos, warum mich haßen?
"Ein Fältchen zeigt dir meine Stirne schwerlich;
Mein blaues Aug ist hell und stralt von Gluth.
Mein Reiz erneut sich wie der Lenz alljährlich,
Mein Fleisch ist sanft, doch brennend Mark und Blut;
Und meine feuchte Hand schließ in der deinen,
So wird sie dir darin zu schmelzen scheinen.
Vielleicht wird des Lesers gerechter Zorn gemildert, wenn ich reuig eingestehe, daß ich selber der Abschreiber war.
Bonn, im November 1866.
K. S.
Zur Übersetzung vgl. Eduard Mörike, Briefe, in: Sämtliche Werke in drei Bänden. Hrsg. von Gerhart Baumann (Stuttgart: Cotta'sche Buchhandlung Nachf., 1959), Bd. 3, S. 823-824.
Nachdrucke:
Albert Ritter, "Die Sonette", In: Der unbekannte Shakespeare. Eine Auswahl aus Shakespeares Werken. Mit 16 Vollbildern in Kupferdruck (Berlin: Gustav Grosser, 1922), S. 262-278. (=530)
Sonett 20 (S. 266)
Richard Flatter, "Zur Frage der Shakespeare Sonette", Das Antiquariat, 7 (1951), Nr. 21/24, S. 86-87.
2 Sonette: 30, 105; zusammen mit den Versionen von Friedrich Bodenstedt (=180) ], Karl Simrock (= 250), Karl Kraus (=640) und Richard Flatter (=650).
Lyrik der Welt. Hrsg. Reinhart Jaspert (Berlin Safari-Verlag, 1953), S. 264-265.
2 Sonette: 29 und 33 in Varianten.
Poesiealbum 200. Shakespeare.(Berlin: Verlag Neues Leben, 1984).
7 Sonette: 44, 52, 75, 103, 120, 121, 152.
Zur Anthologie vgl. (=990)
Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 186. (=1110)
Sonett 66
Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 50. (=2085)
Sonett 18
Literatur:
Dirk Delabastita, "Shakespeare's Sonnets in Translation. A T.T:-Oriented Approach", Second Hand. Papers on the Theory and Historical Study of Literary Translation, ed. by Theo Hermanns. (Antwerp: ALW, 1985), S. 106-127.
Horst Albert Glaser, "Shakespeares Sonett 129 und seine deutschen Übersetzer", Poetica, 22 (1990), S. 195-212, S. 204.
Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der Deutschen Dichtung aus den Quellen. 2. Aufl. Bd. 13 (Dresden: Verlag von L. Ehlermann, 1938), S. 575, Nr. 91.
Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der Deutschen Dichtung aus den Quellen. Bearbeitet von Herbert Jacob. 2. Aufl. Bd. 17,2 (Berlin: Akademie Verlag, 1991), S. 1434-1443.
Ludwig Kahn, Shakespeares Sonette in Deutschland (Straßburg: Universitätsbuchdruckerei Heitz, 1934, Neuausgabe Bern, Leipzig: Gotthelf Verlag, 1935), S. 76-84.
Hugo Moser, Karl Simrock. Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer von "Volkspoesie" und älterer "Nationalliteratur" (Bonn: Ludwig Röhrscheid 1976), 441 S.; insbes. S. 304-308 (mit Personalbibliographie).
Hugo Moser, "Karl Simrock. 1802 – 1876", in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn (Bonn: Ludwig Röhrscheid Verlag, 1970), S. 57-62.