Auswahl: Übersetzer

650 Flatter, Richard (1891-1960) ADB

Karl Kraus als Nachdichter Shakespeares. Eine sprachkritische Untersuchung (Wien: Berger und Fischer, [1933]), 87 S., darin S. 14-15, 18, 31-32, 39, 40, 51.

3 Sonette: 81 [S. 40, 51], 116 [14-15, 18], 150 [31-32, 39]).

In der Reihenfolge 116, 150, 81

Jeweils wörtliche Prosaübersetzung und Versübersetzung innerhalb einer Analyse der Übersetzungen von Stefan George (=450) und Karl Kraus (=640)

Shakespeare's Sonnets / Shakespeares Sonette. Deutsch von Richard Flatter (Wien: Saturn, 1934), 167 S.

Vollständige Ausgabe, zweisprachig: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.

Mit Einleitung (S. 5-13).

Einleitung:

Die Dramen Shakespeares kennt jeder; seine Sonette sind immer noch kaum bekannt.
So erstaunlich diese Tatsache schon seit jeher war, in unserer Zeit ist sie doppelt verwunderlich. Früher konnte es freilich geschehen, daß der Künstler hinter sein Werk zurücktrat, nach vollendeter Arbeit wieder heimging in's Dunkel, aus dem er gekommen, auf Dank verzichtend und auf Ruhm dieser Welt, − wenn nur sein Werk verblieb! Shakespeare selber beweist es: nach getaner Arbeit verließ er London, zog heim in die Vaterstadt, und all die Jahre, bis zum wirklichen Heimgang, tat er nichts, rührte er keine Hand, sich Nachruhm zu sichern. Sein Werk überließ er andern, im Vertrauen darauf, daß es mächtig genug sei, seinen Schöpfer zu überdauern. Er, seine Person, war nicht mehr nötig, war gleichgiltig; wär' es nach ihm gegangen, wir wüßten kaum seinen Namen.
Wir aber, zugehörig einer Zeit, die gewohnt ist, hinter dem Kunstwerk den Bildner zu suchen, ja die den Künstler fast höher stellt als sein Werk, wir sollten doch, müßte man meinen, mit angehaltenem Atem nach Blättern greifen, auf denen Shakespeare nicht mehr von seinen Geschöpfen spricht, von Lear und Hamlet, von Porzia und Cleopatra, sondern von jenem Menschen, jenem unausschöpflichen Geist, der all die Gestalten in sich trug: von sich selbst! Shakespeare, der große, unzerstörbare, der noch in Aeonen da sein und leben und fortwirken wird, gerade er, von dessen Person uns fast gar nichts bekannt ist, hier spricht er in der Ich-Form und er spricht von sich selbst, ohne Scheu und Scham, ohne Rückhalt und Hinterhalt, wie nur ein selbstherrlicher Schöpfer es wagen darf.
Diese Schonungslosigkeit des Dichters gegen sich selbst, diese Offenheit war es, die in früheren Zeiten die Sonette zu einer argen Verlegenheit machte. Man war peinlich berührt, war empört über sie, man schämte sich ihrer; am liebsten hätte man – wenn's nur gegangen wäre! – geleugnet, daß Shakespeare sie schrieb.
Als 1773 eine kritische Gesamtausgabe erschien, schloß der Herausgeber, Steevens, die Sonette aus, weil, wie er vorgab, "auch der strengste Parlamentsbeschluß nicht imstande wäre, ihnen Leser zu verschaffen". Ein späterer Herausgeber, Malone, meinte, es wäre zu wünschen, daß die Sonette, zumindest jene an die "schwarze Schöne", nie geschrieben worden wären; er hielt sie für bloße Phantasieprodukte, denn es sei unwahrscheinlich, daß ein Dichter so offen vor aller Welt ein "Bekenntnis seiner eigenen Strafbarkeit" sollte abgelegt haben! Kein trockener Gelehrter, sondern ein Dichter, der selber wußte, was Liebe vermag, Browning war es, der, als man die Sonette einen Schlüssel zu des Dichters Herzen nannte, bündig erklärte: "Wär's so, dann um so schlimmer für Shakespeare!"
Man suchte sich zu behelfen: Man behauptete, die Sonette seien nicht wörtlich zu nehmen, sie seien allesamt an die Königin Elisabeth gerichtet! Ein zweiter meinte, in der dunklen Schönen und in seinem Freund habe Shakespeare die katholische und die protestantische Kirche personifiziert. Ein dritter wieder meinte, der Freund sei sein Genius, sein Schöpfergeist, und die dunkle Dame – das Drama! Mit all diesem Unsinn wurde immer nur das eine bezweckt: Shakespeares Ehrenrettung.
Andere gingen klüger an's Werk: Die einen wollten glauben machen, die Sonette seien "dramatische" Dichtungen, in dem Sinn, daß der Autor zwar die Ich-Form gebrauche, aber nicht seine eigenen Empfindungen ausdrückte, sondern jene hochstehender Auftraggeber, die bei ihm Gedichte bestellt hätten, in denen er ihre Gefühle zu schildern hatte. Als ob jemand schon jemals Gedichte derart persönlichen Inhalts, Gedichte des Ekels und der bittersten Verzweiflung, einem Dichter in Auftrag gegeben hätte! Andere wieder meinten, die Sonette hätten mit wirklichen Personen und Begebenheiten überhaupt nichts zu tun; sie seien leere Erzeugnisse der dichterischen Einbildungskraft. So behauptete Gildemeister, die Sonette seien "objektive Poesie" genau wie die Dramen; sie offenbarten, meinte er, nichts von dem, was den Dichter selbst berühre, weder Leidenschaften noch Schwächen noch Verirrungen: "Pikanter wäre es vielleicht", das war sein Schluß, "wenn diejenigen Recht hätten, welche meinen, Shakespeare habe in den Sonetten sich selbst, die verborgensten Falten seines Herzens gezeigt; aber wer den Dichter liebt, kann sich nur freuen, daß diese Meinung völlig grundlos ist. Denn sie ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß der größte Dichter der schwächste, haltloseste Mensch gewesen sei."
All das ist sicherlich falsch. Schon das Heranziehen der Dramen, in der Meinung, diese Dichtungen wären rein "objektiv", geschieht zu Unrecht. Denn sollten aus dem Weiberhaß des Lear, aus der furchtbaren Enttäuschung des Othello, des Troilus, aus der sexuellen Hörigkeit des Antonius nicht Rückschlüsse zu ziehen sein auf den Schöpfer dieser Gestalten? Und sollten wir nicht ebenso berechtigt sein, aus der blutechten Lebendigkeit der Cleopatra auf ein lebendes Vorbild zu schließen? Dieses Modell, nach dem Shakespeare schuf, war sie ja eben, jene "schwarze Schönheit" der Sonette! Aber abgesehen von allen Schlüssen der Logik: Wer die leidvollen, bittern, jene düstern Sonette liest und nichts von dem stürmisch pochenden Herzen spürt; wer die Qual und die Reue sieht, den Ekel und Abscheu von sich selbst und der Welt; wer in den letzten Sonetten die verzerren Grimassen der Selbstverachtung und Selbsterniedrigung vor Augen hat und noch immer nicht merkt, daß es Shakespeare selbst ist, der hier stöhnt und leidet, vor Schmerzen aufschreit und mehr noch hinabwürgt, wer nicht merkt, daß hier gar nichts erdacht, aber alles erlitten ist, - der mag Strümpfe stopfen, um mit Falstaff zu reden, die Poesie aber lasse er ungeschoren!
Diese Kenner und Forscher, die immer neue Theorieen der Ausdeutung und Erklärung ersinnen, haben nur die eine Sorge: ihren Shakespeare zu "retten". Es ist freilich ein Shakespeare nach ihrem Bilde: daß er den Macbeth, Othello, Richard III. schuf, ist ihnen recht; meint aber jemand, wie Grillparzer es tat, und der mußte es wissen, daß von jedem dieser Verbrecher etwas in Shakespeare vorhanden war, dann ist das nicht mehr "ihr" Shakespeare! Ein "Poet" sollt' er sein, ein hehres Vorbild für's Leben, ohne Fehl und Sünde; und keinen andern Kuß sollte er kennen als den der Muse!
Diesen Moralpächtern, diesen gerechten Kammachern treten wieder andre entgegen, Freiheitsmänner, die glauben, sie müßten als fahrende Ritter für den armen, verkannten Shakespeare eine Lanze einlegen, und gar nicht bemerken, daß sie gegen Windmühlen kämpfen. Sie tun sich viel darauf zugute, wie weitherzig sie sind, wie verständnisvoll, lächelnd bereit zu Milde und Nachsicht: Weil er doch, um das kommende Kind zu legitimieren, schon mit 18 Jahren hätte heiraten müssen, nach 3 Jahren Ehe nach London gegangen und dort, weit fern seiner Frau, über 20 Jahre verblieben sei ‒ ! Wer dürfte ihm da einen Vorwurf draus machen, daß er anderweitig ! Und wenn jenes Weib auch die Frau eines andern war, so müßte man doch ‒ !
Hier verteidigen wollen ist ebenso unsinnig wie anklagen wollen: der eine, der glaubt, vertraulich zwinkernd einem Shakespeare auf die Schulter klopfen zu dürfen, macht sich ebenso lächerlich wie der andre, der mit seiner schmutzigen Elle Shakespeares Moral abmessen möchte. Im Sonett 121 heißt es:
"Nein – ich bin, der ich bin! Die mich bespäh'n,
Beweisen nur die Fehler, die ihr Eigen;
Steh'n andre bucklig, ich will aufrecht steh'n!
Ihr trüber Spiegel soll mein Bild nicht zeigen."
Uns ziemt nur eins: in Andacht hinnehmen, Demut im Herzen wie vor jeder Bekundung des weltschaffenden Geistes, ob er nun als Blitz und Donner uns schaudern macht oder als Regenbogen unsre Augen entzückt. Und wenn wir hier, aus den Sonetten, erkennen, wie Shakespeare, der Mensch, gelitten, wie viel er erduldet hat – : Ehrfurcht dem Dichter, der aus Schmach und Erniedrigung edelste Dichtung schuf!
*
Die Wirrnis der Shakespeare-Sonette, dieses wild gewachsene Gartens, wurde unnötig noch dadurch gesteigert, daß man um sie herum einen dichten Zaun von Fragezeichen errichtet hat. Es soll versucht werden, in diesen Zaun eine Bresche zu schlagen.
Zunächst: Von wem stammen die Sonette? Vom Schauspieler William Shakespeare. Anders wären verschiedene Anspielungen, insbesondere in den Sonetten 72 und 111, überhaupt nicht erklärbar; auch sonst besteht kein ernstlicher Zweifel daran. Nun erweist es sich aber, daß der Autor der Sonette mit dem Autor der Dramen identisch sein muß. In der "Verlorenen Liebesmüh'", in "Romeo und Julia" finden sich Sonette, die den gesammelten völlig ähnlich sind. Das erste Gespräch, das Romeo mit der ihm noch unbekannten Julia auf dem Maskenfest hält, ist ein regelrechtes Sonett und gehört zu den schönsten, die Shakespeare schrieb. (Schlegel hat es leider nicht als Sonett übersetzt.) Auch inhaltlich zeigen sich wiederholt Anklänge an "Romeo und Julia", an "Maß für Maß", an "Hamlet". So liefern die Sonette – wenn Zweifel überhaupt noch berechtigt wären – einen vollen Beweis gegen die törichten Vermutungen, mit denen man immer wieder dem Schauspieler Shakespeare die Autorschaft an seinen Dramen abzusprechen versucht.
Ein Urheberrecht, einen Schutz des Autors gab es damals noch nicht. Es ist also durchaus möglich, daß die ihm Jahre 1609 erschienene Sammlung der Sonette ohne, ja gegen den Willen des Dichters herauskam; daß dies der Fall gewesen, ist sogar ‒aus verschiedenen Gründen ‒ sehr wahrscheinlich. War nun – ich nehme es an – Shakespeare an der Drucklegung nicht beteiligt, dann war der Herausgeber Thomas Thorpe genötigt, die in Abschriften zirkulierenden Gedichte zu sammeln oder sammeln zu lassen ‒ das Shakespeare-Sonette "unter den vertrauten Freunden" verbreitet waren, wird schon 1598 durch ein Buch von Francis Meres bezeugt ‒: dann aber ist ihre Reihenfolge keine authentische. Ich habe sie zwar beibehalten, weil jede spätere Ordnung nur noch weniger Recht für sich in Anspruch nehmen könnte als jene Erstausgabe, meine aber, daß man durchaus berechtigt ist, zum besseren Verständnis Sonette, die getrennt stehen, zusammenzustellen, um so zu versuchen, mehr Licht in das Dunkel zu bringen.
Thomas Thorpe hatte offensichtlich das Bestreben, Gruppen zu bilden. Die größte Gruppe, die er zustande brachte, stellte er an den Anfang des Buches, nämlich 17 Sonette, in denen ein schöner Jüngling aufgefordert wird, seine Schönheit durch Fortpflanzung der Welt zu bewahren. An den Schluß dagegen stellte der Herausgeber die Sonette an die "dunkle Schöne", so weit er sie als solche und als zusammengehörig erkannte, und schloß noch zwei mythologische Sonette an, Nachbildungen einer griechischen Vorlage, die schwerlich von Shakespeare stammen; es sollte offenbar der düstere Eindruck der letzten Sonette erhellt, ein happy end geschaffen werden. Dazwischen aber, zwischen jenen Prokreationsgedichten und diesen an die dunkle Dame, breitet sich ein Kunterbunt, das nicht leicht zu entwirren ist, weil die Sonette ‒ von kleinen Gruppen zu zwei und drei abgesehen ‒ keinerlei planmäßigen Zusammenhang aufweisen, sondern – ähnlich wie der Inhalt eines Tagebuches – Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit nur darin besitzen, daß sie von einem einzigen Menschen erlebt und geschrieben sind.
Bei manchen der Gedichte ist es offenbar, daß sie der Sphäre der dunklen Schönen zugehören, wie 40 und 42, die sichtlich mit 144, mit 133 bis 135 im Zusammenhang stehen, oder wie 48, das ebenfalls mit 144 zusammenklingt. Weil nun aber einmal im Buch am Anfang der schöne Jüngling, am Ende die dunkle Dame steht, ist die Meinung entstanden, die allerdings bei genauerer Prüfung der Sonette, besonders auf ihren Zärtlichkeitsgehalt, nie hätte entstehen dürfen, daß alle Gedichte von 1 bis 126 an einen Mann und erst 127 bis 152 an jene Frau gerichtet seien. Diese Meinung ist, so viel ich sehen kann, allgemein und ungeteilt; ich halte sie jedoch für falsch.
Die Erklärung dafür, wie ein solcher Fehler sich einnisten konnte, ein Fehler, der besonders für die Übersetzer verhängnisvoll werden mußte, liegt darin, daß die englische Sprache, auch sonst äußerst knapp, besonders arm ist an Kennzeichen für ein Geschlecht; bei den meisten Sonetten kann man, wenn man sie nur grammatikalisch prüft, im Zweifel sein, ob sie einem Mann oder einer Frau gelten. Die Schwierigkeit wird dadurch noch vergrößert, da0 gerade die Wörter, die entscheiden sollen, gewissermaßen doppelgeschlechtig sind, wie friend, wasFreund ebenso wie Freundin bedeuten kann, oder wie sovereign ‒ : Herrscher und Herrscherin. Weitere Verwirrung stiftet der elisabethanische Gebrauch des Wortes love , das nicht nur die Liebe an sich und nicht nur die oder den Geliebten heißen kann, sondern damals für "Freund" verwendet wurde. So sagt Menenius, Coriolan sei sein lover , sein Freund; in "JuliusCaesar" schließt der Wahrsager seinen Brief an Caesar mit: thy lover Artemidorus ; im "Kaufmann von Venedig" ist Bassanio des Antonius bosom-lover , was genau unserem "Busenfreund" entspricht. (Die Unkenntnis dieses Sprachgebrauches – sie allein – führte dazu, daß nicht nur Antonio, sondern auch sein Dichter, eben als Autor der Sonette, in den Verdacht einer widernatürlichen Veranlagung geriet, eine Mutmaßung, die bei Shakespeare sicherlich fehlgeht. Ich verweise auf Sonett 20, das in seiner 3. Strophe jeden Zweifel, wenn er wirklich noch bestünde, beseitigt.) Auf dieser Mehrdeutigkeit des Wortes love beruht z. B. das Sonett 40, wo love bald Liebe, bald Geliebte, bald Freund bedeutet. Meine Übersetzung des Wortspiels geht davon aus, daß wir heute, wie aus der "Freundin" die Liebste, aus der "Freundschaft" die Liebschaft herauslösen.
Bei vielen dieser Zwischensonette bleibt die Frage, ob sie an einen Mann oder an eine Frau gerichtet sind, für den Übersetzer ohne weitere Bedeutung, weil sie neutral sind und also auch die Übersetzung neutral bleiben kann; in solchen Fällen entscheidet der Inhalt. Es ist wohl fraglos, daß Sonett 75 – meiner Meinung nach neben 129 zu stellen – mit seiner zwischen Stolz und Ängstlichkeit schwankenden Stimmung einer Frau gilt. Das gleiche muß von 87 gesagt werden, in dem der Autor von einer Geliebten Abschied nimmt. Oder 92: nicht mehr geliebt, würde er sterben; man kann wohl kaum zweifeln, daß eine Frau gemeint ist.
Nun gibt es aber viele Sonette, die Wörter wie dear love. friend u.s.w. enthalten, bei denen also der Leser und gar erst der Übersetzer vor der Aufgabe steht, sich zu entscheiden –: Mann oder Frau. Im Sonett 72 z.B. bittet der Dichter, ähnlich wie in 71, das geliebte Wesen, nach seinem Tod seiner nicht mehr zu denken; dieses Wesen wird mit dear love angeredet, was bisher, so viel mir bekannt ist, alle Übersetzer in "mein Freund" oder "mein Teurer" umsetzten, obwohl doch kaum anzunehmen ist, daß ein Kriegsmann wie Graf Southampton oder Pembroke so zarter Rücksicht bedurft hätte. Die Sonette 50 und 51 berichten von einer Reise des Dichters und vom Heimweh nach seiner Liebe; obwohl jedem, der unbefangen das Original liest, klar sein muß, daß eine zärtlich geliebte Frau gemeint ist, übersetzen alle das vorkommende " friend" mit "Freund". Im Sonett 34 ist von einer dem Dichter angetanen Kränkung die Rede und vom Perlentau der Tränen, der alles wieder gut mache, − sichtlich sind's Frauentränen; trotzdem nehmen alle Übersetzer das Wort offender als "Beleidiger", nicht als "Beleidigerin". Ähnliches gilt von 27 und 28, von 30 und 31, 43, 48 und vielen andern; sie sind vermutlich alle einem weiblichen Wesen gewidmet. Allerdings: Wie es unrichtig war, sich bei derart doppelgeschlechtigen Wörtern auf die männliche Bedeutung festzulegen, ebenso unrichtig wäre es, sich für die weibliche zu entscheiden; dies wäre ebenso eine Korrektur des Dichters wie jenes. Der richtige Weg ist wohl der, der in der vorliegenden Übersetzung eingeschlagen wurde: überall dort, wo beide Deutungen möglich sind, entweder ein neutrales Wort zu wählen oder die Doppeldeutigkeit dadurch bestehen zu lassen, daß das Wort love, friend u.s.w. überhaupt nicht übertragen, sondern durch "du – dich" und dergleichen ersetzt wird. Auf diese Weise wird jedenfalls Mißdeutungen vorgebeugt, die, wie sich zeigte, sehr gefährlich sind; es ist sicherlich von Bedeutung, in der Frage, an wen die Sonette gerichtet sind, zumindest nicht irregeleitet zu werden.
Hat man sich endlich von der Fabel befreit, als wären alle Sonette bis 127 an einen Mann gerichtet, dann tritt dem Leser (aus den Sonetten 21, 24, 27 bis 31, aus 33 bis 36, aus 66, 71, 72, 75, aus 87 bis 99, 106 und andern) eine Frau entgegen, nicht nur gesellschaftlich eine hochstehende Persönlichkeit, auch innerlich eine vornehme Dame, vor der Shakespeare sich selbst verleugnet, um deren Ruf er besorgt ist, von der er Abschied nimmt. Nach dem gänzlich andern, zärtlich hingegebenen Ton zu schließen, war sie mit der "dunklen Schönen" schwerlich identisch. Schon äußerlich ergibt sich die Unterscheidung daraus, daß die "dunkle Dame" ausdrücklich als durchaus nicht reizvoll geschildert wird (130, 131 und 141), wogegen jene andre Dame, nach den Sonetten 21, 24 u.s.f. zu schließen, sicherlich eine Schönheit war. Ob die eine oder die andre Dame Fräulein Fitton oder Vernon hieß, Frau Davenant oder Lady Rich, ist ja wohl, so viel Mühe man auch an die Lösung dieser Fragen gewendet hat, gleichgültig.
Ebenso bedeutungslos ist es ja auch im Grunde, ob der Freund, an den die ersten 17 und viele der späteren Gedichte gerichtet sind, Graf Southampton war oder Graf Pembroke. Man nimmt dabei immer an, daß der schöne Jüngling jener Prokreationsgedichte identisch sei mit dem offenbar älteren Mann der späteren Sonette, und weiters, daß sämtliche männlichen Sonette eine einzige Person zum Gegenstand haben. Beides ist unerwiesen, ja sogar unwahrscheinlich. Ich meine, daß im Streit der Southamptonianer mit den Pembrokianern beide im Recht sind: jedenfalls erscheint es mir sicher, daß zumindest die Sonette 1, 20 und 67 an William Herbert, späteren Graf Pembroke gerichtet sind. Dieser führte nämlich unter seinen Titeln auch die Namen: Lord Fitzhugh, Ros of Kendal and Hart. Die angeführten Sonette nun enthalten Andeutungen, die durch diese Namen auf's leichteste aufgeklärt werden können: Im Sonett 1 ist das Wort Rose gegen den sonstigen Druckgebrauch kursiv und groß gedruckt; ähnliches gilt von 20, das ein (natürlich unübersetzbares) Wortspiel mit hue (Fitzhugh) enthält: " A man in hue, all Hues in his controlling "; im Sonett 67 schließlich sind Andeutungen auf beide Namen zu finden: " his living hue " und " his rose is true ". Überdies muß mindestens einer der Freund Shakespeares William (Will) geheißen haben, weil sonst die Sonette 135 und 136 unverständlich wären: Zwei oder drei "Wills" bewerben sich um die Dame, wobei das Wortspiel darin besteht, daß will nicht nur Wille, sondern auch, erotisch gemeint, Lust bedeutet.
Meine Meinung also geht dahin, daß alle Sonette, die inhaltlich und grammatikalisch nicht ausdrücklich einen Mann zum Gegenstand haben, an weibliche Wesen gerichtet sind; daß von den "männlichen" Gedichten zumindest ein Teil dem Grafen Pembroke gilt, während bei dne übrigen wahrscheinlich Southampton der Adressat ist; und daß schließlich von den "weiblichen" Sonetten nur ein kleiner Teil der "dunklen Dame" gilt, der größere Teil einer schönen Frau, die eine wirkliche Dame war. So betrachtet, werden die Sonette sicherloch in völlig neuem Licht erscheinen.
*
Da der vorliegenden Übersetzung der englische Text beigefügt ist, erübrigt es sich, auf dieVersform der Sonette des nähern einzugehen; auch die Abweichungen von der sonstigen Form bei 126 und 145 müssen nicht erklärt werden. Der Originaltext zeigt, daß Shakespeare das Versmaß manchmal frei behandelt: nicht nur daß er oft die Verse mit einer Hebung beginnen läßt (z.B. Sonett 5, Zeile 8: " Beauty o'ersnow'd and bareness every where, Schönheit verschneit und Ödnis rings umher" ‒ oder 133, Zeile 9: "Prison my heart in thy steel bosom's ward , Kerkre mein Herz in deine Stahlbrust ein") ‒ er geht auch sonst mit den Hebungen frei um, wenn damit, etwa zur Verstärkung des Tons, der Emphase der Zeile, eine künstlerische Wirkung erzielt werden soll, z.B. im Sonett 91, Zeile 10: "Richer than wealth, prouder than garment's cost , Reicher als Geld, höher als Kleider leih'n!" oder92, Zeile 12: " Happy to have thy love, happy to die, Glücklich von dir geliebt, glücklich im Tod!" Wie die Beispiele zeigen, hat die vorliegende Übersetzung sich bemüht, auch diese scheinbaren Verstöße gegen das Versmaß, die in Wahrheit dichterischen Zwecken dienen, mit zu übertragen.
*
Der hier abgedruckte englische Text ist jener der Arden-Edition. Ich habe nur folgende Abweichungen zu vermerken: Sonett 23, Zeile 9: looks statt books (Sewell); Sonett 54, Zeile 14: my verse statt by verse (Malone); im Sonett 100 habe ich Zeile 13 nicht geändert, glaube aber, daß lay statt love zu setzten ist. Eigene Emendation: Sonett 108, Zeile 5: joy statt boy . Schließlich habe ich in den Sonetten 1 und 20 – im Hinblick auf meine Vermutung, ihr Adressat sei Lord Fitzhugh – bei Rose und Hues die großen Anfangsbuchstaben der Originalausgabe wiederhergestellt.
R. F.

Nachdrucke:

Richard Flatter, "Zur Frage der Shakespeare-Sonette", Das Antiquariat 7 (1951), Nr. 21/24, S. 86-87.

2 Sonette: 30, 105 (zusammen mit den Versionen von Friedrich Bodenstedts (=180), Karl Simrock (=250) und Karl Kraus (=640)

Shakespeares Sonette. Übersetzt von Richard Flatter (Wien, München und Basel: Kurt Desch, 1957) [Copyright: 1956], 173 S.

Vollständige Ausgabe

Veränderte Neuauflage mit "Nachwort" (S. 161-174) (= gekürzte Einleitung der Ausgabe 1934 mit einem Nachtrag vom Dezember 1956).

"Nachwort" (S. 161-174):

I
(Vorwort der ersten Auflage, unwesentlich gekürzt)
Die Dramen Shakespeares kennt jeder; seine Sonette sind immer noch kaum bekannt.
So erstaunlich diese Tatsache schon seit jeher war, in unserer Zeit ist sie doppelt verwunderlich. Früher konnte es freilich geschehen, daß der Künstler hinter sein Werk zurücktrat, nach vollendeter Arbeit wieder heimging ins Dunkel, aus dem er gekommen, auf Dank verzichtend und auf Ruhm dieser Welt, − wenn nur sein Werk verblieb! Shakespeare selber beweist es: nach getaner Arbeit verließ er London, zog heim in die Vaterstadt, und all die Jahre, bis zum wirklichen Heimgang, tat er nichts, rührte er keine Hand, sich Nachruhm zu sichern. Sein Werk überließ er andern, im Vertrauen darauf, daß es mächtig genug sei, seinen Schöpfer zu überdauern. Er, seine Person, war nicht mehr nötig, war gleichgültig; wär' es nach ihm gegangen, wir wüßten kaum seinen Namen.
Wir aber, zugehörig einer Zeit, die gewohnt ist, hinter dem Kunstwerk den Bildner zu suchen, ja die den Künstler fast höher stellt als sein Werk, wir sollten doch, müßte man meinen, mit angehaltenem Atem nach Blättern greifen, auf denen Shakespeare nicht mehr von seinen Geschöpfen spricht, von Lear und Hamlet, von Porzia und Cleopatra, sondern von jenem Menschen, jenem unausschöpflichen Geist, der all die Gestalten in sich trug: von sich selbst! Shakespeare, der große, unzerstörbare, der noch in Äonen da sein und leben und fortwirken wird, gerade er, von dessen Person uns fast gar nichts bekannt ist, hier spricht er in der Ich-Form und er spricht von sich selbst, ohne Scheu und Scham, ohne Rückhalt und Hinterhalt, wie nur ein selbstherrlicher Schöpfer es wagen darf.
Diese Schonungslosigkeit des Dichters gegen sich selbst, diese Offenheit war es, die in früheren Zeiten die Sonette zu einer argen Verlegenheit machte. Als 1773 eine kritische Gesamtausgabe erschien, schloß der Heruasgeber, Steevens, die Sonette aus, weil, wie er vorgab, "auch der strengste Parlamentsbeschluß nicht imstande wäre, ihnen Leser zu verschaffen". Ein späterer Herausgeber, Malone, meinte, es wäre zu wünschen, daß die Sonette, zumindest jene an die "schwarze Schöne", nie geschrieben worden wären; er hielt sie für bloße Phantasieprodukte, denn es sei unwahrscheinlich, daß ein Dichter so offen vor aller Welt ein "Bekenntnis seiner eigenen Strafbarkeit" abgelegt hätte! Kein trockener Gelehrter, sondern ein Dichter, der selber wußte, was Liebe vermag, Browning war es, der, als man die Sonette einen Schlüssel zu des Dichters Herzen nannte, bündig erklärte: "Wär's so, dann um so schlimmer für Shakespeare!"
Man suchte sich zu behelfen: Man behauptete, die Sonette seien nicht wörtlich zu nehmen, sie seien allesamt an die Königin Elisabeth gerichtet! Ein zweiter meinte, in der dunklen Schönen und in seinem Freund habe Shakespeare die katholische und die protestantische Kirche personifiziert. Ein dritter wieder meinte, der Freund sei sein Genius, sein Schöpfergeist, und die dunkle Dame – das Drama!
Andere gingen klüger ans Werk: Die einen wollten glauben machen, die Sonette seien "dramatische" Dichtungen, in dem Sinn, daß der Autor zwar die Ich-Form gebrauche, aber nicht seine eigenen Empfindungen ausdrückte, sondern jene hochstehender Auftraggeber, die bei ihm Gedichte bestellt hätten, in denen er ihre Gefühle zu schildern hatte. Als ob jemand schon jemals Gedichte derart persönlichen Inhalts, Gedichte des Ekels und der bittersten Verzweiflung, einem Dichter in Auftrag gegeben hätte! Andere wieder meinten, die Sonette hätten mit wirklichen Personen und Begebenheiten überhaupt nichts zu tun; sie seien leere Erzeugnisse der dichterischen Einbildungskraft. So behauptete Gildemeister, die Sonette seien "objektive Poesie" genau wie die Dramen; sie offenbarten, meinte er, nichts von dem, was den Dichter selbst berühre, weder Leidenschaften noch Schwächen noch Verirrungen: "Pikanter wäre es vielleicht", das war sein Schluß, "wenn diejenigen Recht hätten, welche meinen, Shakespeare habe in den Sonetten sich selbst, die verborgensten Falten seines Herzens gezeigt; aber wer den Dichter liebt, kann sich nur freuen, daß diese Meinung völlog grundlos ist. Denn sie ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß der größte Dichter der schwächste, haltloseste Mensch gewesen sei."
Diese Kenner und Forscher, die immer neue Theorien der Ausdeutung und Erklärung ersinnen, haben nur die eine Sorge: ihren Shakespeare zu "retten". Ein "Poet" sollte er sein, ein hehres Vorbild fürs Leben, ohne Fehl und Sünde; und keinen andern Kuß sollte er kennen als den der Muse!
Diesen Moralpächtern treten wieder andre entgegen, Freiheitsmänner, die glauben, sie müßten als fahrende Ritter für den armen, verkannten Shakespeare eine Lanze einlegen. Doch hier verteidigen wollen ist ebenso unsinnig wie anklagen wollen: der eine, der glaubt, vertraulich zwinkernd einem Shakespeare auf die Schulter klopfen zu dürfen, macht sich ebenso lächerlich wie der andre, der mit seiner schmutzigen Elle Shakespeares Moral abmessen möchte. Im Sonett 121 heißt es:
"Nein – ich bin, der ich bin! Die mich bespähn,
Beweisen nur die Fehler, die ihr eigen;
Stehn andre bucklig, ich will aufrecht stehn!
Ihr trüber Spiegel soll mein Bild nicht zeigen."
Die Wirrnis der Shakespeare-Sonette, dieses wild gewachsene Gartens, wurde unnötig noch dadurch gesteigert, daß man um sie herum einen dichten Zaun von Fragezeichen errichtet hat.
Zunächst: Von wem stammen die Sonette? Vom Schauspieler William Shakespeare. Anders wären verschiedene Anspielungen, insbesondere in den Sonetten 72 und 111, überhaupt nicht erklärbar; auch sonst besteht kein ernstlicher Zweifel daran. In der "Verlorenen Liebesmüh'", in "Romeo und Julia" finden sich Sonette, die den gesammelten völlig ähnlich sind.
Ein Urheberrecht, einen Schutz des Autors, gab es damals noch nicht. Es ist also durchaus möglich, daß die ihm Jahre 1609 erschienene Sammlung der Sonette ohne, ja gegen den Willen des Dichters herauskam; daß dies der Fall gewesen, ist sogar sehr wahrscheinlich. War nun – ich nehme es an – Shakespeare an der Drucklegung nicht beteiligt, dann war der Herausgeber Thomas Thorpe genötigt, die in Abschriften zirkulierenden Gedichte zu sammeln oder sammeln zu lassen (daß Shakespeare-Sonette "unter den vertrauten Freunden" verbreitet waren, wird schon 1598 durch ein Buch von Francis Meres bezeugt); dann aber ist ihre Reihenfolge keine authentische. Ich habe sie zwar beibehalten, weil jede spätere Ordnung nur noch weniger Recht für sich in Anspruch nehmen könnte als jene Erstausgabe, meine aber, daß man durchaus berechtigt ist, zum besseren Verständnis Sonette, die getrennt stehen, zusammenzustellen, um so zu versuchen, mehr Licht in das Dunkel zu bringen.
Thomas Thorpe hatte offensichtlich das Bestreben, Gruppen zu bilden. Die größte Gruppe, die er zustande brachte, stellte er an den Anfang des Buches, nämlich siebzehn Sonette, in denen ein schöner Jüngling aufgefordert wird, seine Schönheit durch Fortpflanzung der Welt zu bewahren. An den Schluß dagegen stellte der Herausgeber die Sonette an die "dunkle Schöne", so weit er sie als solche und als zusammengehörig erkannte, und schloß noch zwei mythologische Sonette an, Nachbildungen einer griechischen Vorlage, die schwerlich von Shakespeare stammen. Dazwischen aber, zwischen jenen Prokreationsgedichten und diesen an die dunkle Dame, breitet sich ein Kunterbunt, das nicht leicht zu entwirren ist, weil die Sonette, von kleinen Gruppen zu zwei und drei abgesehen, keinerlei planmäßigen Zusammenhang aufweisen, sondern – ähnlich wie der Inhalt eines Tagebuches – Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit nur darin besitzen, daß sie von einem einzigen Menschen erlebt und geschrieben sind.
Bei manchen der Gedichte ist es offenbar, daß sie der Sphäre der dunklen Schönen zugehören, wie 40 und 42, die sichtlich mit 144, mit 133 bis 135 im Zusammenhang stehen, oder wie 48, das ebenfalls mit 144 zusammenklingt. Weil nun aber einmal im Buch am Anfang der schöne Jüngling, am Ende die dunkle Dame steht, ist die Meinung entstanden, daß alle Gedichte von 1 bis 126 an einen Mann und erst 127 bis 152 an jene Frau gerichtet seien.
Die Erklärung dafür, wie ein solcher Fehler sich einnisten konnte, ein Fehler, der besonders für die Übersetzer verhängnisvoll werden mußte, liegt darin, daß die englische Sprache, auch sonst äußerst knapp, besonders arm ist an Kennzeichen für ein Geschlecht; ein Wort wie friend kann Freund ebenso wie Freundin bedeuten, das Wort sovereign Herrscher und Herrscherin. Weitere Verwirrung stiftet der elisabethanische Gebrauch des Wortes love , das nicht nur die Liebe an sich und nicht nur die oder den Geliebten heißen kann, sondern damals für "Freund" verwendet wurde. So sagt Menenius, Coriolan sei sein lover , sein Freund; in "JuliusCaesar" schließt der Wahrsager seinen Brief an Caesar mit: thy lover Artemidorus ; im "Kaufmann von Venedig" ist Bassanio des Antonius bosom-lover , was genau unserem "Busenfreund" entspricht. Auf dieser Mehrdeutigkeit des Wortes love beruht z. B. das Sonett 40, wo love bald Liebe, bald Geliebte, bald Freund bedeuet. Meine Übersetzung des Wortspiels geht davon aus, daß wir heute, wie aus der "Freundin" die Liebste, aus der "Freundschaft" die Liebschaft herauslösen.
Bei vielen dieser Zwischensonette bleibt die Frage, ob sie an einen Mann oder an eine Frau gerichtet sind, für den Übersetzer ohne weitere Bedeutung, weil sie neutral sind und also auch die Übersetzung neutral bleiben kann; in solchen Fällen entscheidet der Inhalt. Es ist wohl fraglos, daß Sonett 75 – meiner Meinung nach neben 129 zu stellen – mit seiner zwischen Stolz und Ängstlichkeit schwankenden Stimmung einer Frau gilt. Das gleiche muß von 87 gesagt werden, in dem der Autor von einer Geliebten Abschied nimmt. Oder 92: nicht mehr geliebt, würde er sterben; man kann wohl kaum zweifeln, daß eine Frau gemeint ist.
Nun gibt es aber viele Sonette, die Wörter wie dear love. friend usw. enthalten, bei denen also der Leser und gar erst der Übersetzer vor der Aufgabe steht, sich zu entscheiden –: Mann oder Frau. Im Sonett 72 zum Beispiel bittet der Dichter das geliebte Wesen, nach seinem Tod seiner nicht mehr zu denken; dieses Wesen wird mit dear love angeredet, was bisher, so viel mir bekannt ist, alle Übersetzer in "mein Freund" oder "mein Teurer" umsetzten, obwohl doch kaum anzunehmen ist, daß ein Kriegsmann wie Graf Southampton oder Pembroke so zarter Rücksicht bedurft hätte. Die Sonette 50 und 51 berichten von einer Reise des Dichters und vom Heimweh nach seiner Liebe; obwohl jedem, der unbefangen das Original liest, klar sein muß, daß eine zärtlich geliebte Frau gemeint ist, übersetzen alle das vorkommende friend mit "Freund". Im Sonett 34 ist von einer dem Dichter angetanen Kränkung die Rede und vom Perlentau der Tränen, der alles wieder gut mache, − sichtlich sind's Frauentränen; trotzdem nehmen alle Übersetzer das Wort offender als "Beleidiger", nicht als "Beleidigerin". Ähnliches gilt von 27 und 28, von 30 und 31, 43, 48 und vielen andern; sie sind vermutlich alle einem weiblichen Wesen gewidmet. Allerdings: Wie es unrichtig war, sich bei derart doppelgeschlechtigen Wörtern auf die männliche Bedeutung festzulegen, ebenso unrichtig wäre es, sich für die weibliche zu entscheiden; dies wäre ebenso eine Korrektur des Dichterwortes wie jenes. Der richtige Weg ist wohl der, der in der vorliegenden Übersetzung eingeschlagen wurde: überall dort, wo beide Deutungen möglich sind, entweder ein neutrales Wort zu wählen oder die Doppeldeutigkeit dadurch bestehen zu lassen, daß das Wort love, friend usw. überhaupt nicht übertragen wird. Auf diese Weise wird jedenfalls Mißdeutungen vorgebeugt, die, wie sich zeigt, sehr gefährlich sind; es ist sicherlich von Bedeutung, in der Frage, an wen die Sonette gerichtet sind, zumindest nicht irregeleitet zu werden.
Hat man sich endlich von der Fabel befreit, als wären alle Sonette bis 127 an einen Mann gerichtet, dann tritt dem Leser (aus den Sonetten 21, 24, 27 bis 31, aus 33 bis 36, aus 66, 71, 72, 75, aus 87 bis 99, 106 und andern) eine Frau entgegen, nicht nur gesellschaftlich eine hochstehende Persönlichkeit, auch innerlich eine vornehme Dame, vor der Shakespeare sich selbst verleugnet, um deren Ruf er besorgt ist, von der er Abschied nimmt. Nach dem gänzlich andern, zärtlich hingegebenen Ton zu schließen, war sie mit der "dunklen Schönen" schwerlich identisch. Schon äußerlich ergibt sich die Unterscheidung daraus, daß die "dunkle Dame" ausdrücklich als durchaus nicht reizvoll geschildert wird (130, 131 und 141), wogegen jene andre Dame, nach den Sonetten 21, 24 usf. zu schließen, sicherlich eine Schönheit war. Ob die eine oder die andre Dame Fräulein Fitton oder Vernon hieß, Frau Davenant oder Lady Rich, ist ja wohl, so viel Mühe man auch an die Lösung dieser Fragen gewendet hat, gleichgültig.
Ebenso bedeutungslos ist es ja im Grund, ob der Freund, an den die ersten 17 und viele der späteren Gedichte gerichtet sind, Graf Southampton war oder Graf Pembroke. Man nimmt dabei immer an, daß der schöne Jüngling jener Prokreationsgedichte identisch sei mit dem offenbar älteren Mann der späteren Sonette, und weiter, daß sämtliche männlichen Sonette eine einzige Person zum Gegenstand haben. Beides ist unerwiesen, ja sogar unwahrscheinlich. Ich meine, daß im Streit der Southamptonianer mit den Pembrokianern beide im Recht sind: jedenfalls erscheint es mir sicher, daß zumindest die Sonette 1, 20 und 67 an William Herbert, späteren Graf Pembroke gerichtet sind. Dieser führte nämlich unter seinen Titeln auch die Namen: Lord Fitzhugh, Ros of Kendal and Hart. Die angeführten Sonette nun enthalten Andeutungen, die durch diese Namen aufs leichteste aufgeklärt werden können: Im Sonett 1 ist das Wort Rose gegen den sonstigen Druckgebrauch kursiv und groß gedruckt; ähnliches gilt von 20, das ein (natürlich unübersetzbares) Wortspiel mit hue (Fitzhugh) enthält: " A man in hue, all Hues in his controlling "; im Sonett 67 schließlich sind Andeutungen auf beide Namen zu finden: " his living hue " und " his rose is true ". Überdies muß mindestens einer der Freund Shakespeares William (Will) geheißen haben, weil sonst die Sonette 135 und 136 unverständlich wären: Zwei oder drei "Wills" bewerben sich um die Dame, wobei das Wortspiel darin besteht, daß will nicht nur Wille, sondern auch, erotisch gemeint, Lust bedeutet.
Meine Meinung also geht dahin, daß alle Sonette, die inhaltlich und grammatikalisch nicht ausdrücklich einen Mann zum Gegenstand haben, an weibliche Wesen gerichtet sind; daß von den "männlichen" Gedichten zumindest ein Teil dem Grafen Pembroke gilt, während bei dne übrigen wahrscheinlich Southampton der Adressat ist; und daß schließlich von den "weiblichen" Sonetten nur ein kleiner Teil der "dunklen Dame" gilt, der größere Teil einer schönen Frau, die eine wirkliche Dame war.
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Einige Sonette – 99, 126, 145 – weichen von der üblichen Form ab; in 36 und 96 sind die beiden Schlußverse identisch. Ein Blick in den englischen Text wird zeigen, daß diese Dinge auf das Original zurückgehen.
Der Originaltext wird auch zeigen, daß Shakespeare das Versmaß frei behandelt. Nicht nur, daß er oft Verse mit einer Hebung beginnen läßt (wie etwa in Sonett 5, Zeile 8: " Beauty o'er snow'd and bareness everywhere "- Schönheit verschneit und Ödnis rings umher"); er geht auch sonst mit den Hebungen frei um, wenn damit, etwa zur Verstärkung des Tons, der Emphase der Zeile, eine künstlerische Wirkung erzielt werden soll, wie zum Beispiel in 92, 12: " Happy to have thy love, happy to die – Glücklich von dir geliebt, glücklich im Tod!" Die vorliegende Übersetzung hat sich bemüht, auch diese scheinbaren Verstöße gegen das Versmaß, die in Wahrheit dichterischen Zwecken dienen, mit zu übertragen.
Folgende zwei Emendationen sind zu vermerken: in 23,9: looks statt books (Sewell) und in 54,14: my verse statt by verse (Malone).

Nachdrucke:

Heidemarie Salevsky, Translationswissenschaft: Ein Kompendium (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2002), S. 614.

Sonett 66

Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 75 (=2085)

Sonett 18

Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 137 (=1110)

Sonett 66

Richard Flatter, "Zur Frage der Shakespeare .Sonette", Das Antiquariat 7 (1951), Nr. 21/24, S. 86-87.

2 Sonette: 30, 105 (Zzusammen mit den Versionen von Friedrich Bodenstedt (=180), Karl Simrock (=250), Karl Kraus (=640)

Rezensionen:

Wolfgang Keller [Rez], ShJb, 70 (1934), S. 138.

Hermann Heuer (Rez. der Neubearbeitung [1957]), ShJb, 93 (1957), 277-279. (im Vergleich mit der Übersetzung von Stefan Georges (=450).

Hermann Heuer, "Berichte zum in- und ausländischen Schrifttum", ShJb -West (1975), S. 224-254, darin S. 227.

Literatur:

Horst Albert Glaser, "Shakespeares Sonett 129 und seine deutschen Übersetzer", Poetica, 22 (1990), S. 195-212, darin S. 209 und 210.

Dirk Delabastita, "Shakespeare's Sonnets in Translation. A T.T:-Oriented Approach", Second Hand. Papers on the Theory and Historical Study of Literary Translation, ed. by Theo Hermanns. (Antwerp: ALW, 1985), S. 106-127.

Walther Fischer, "### ",, Beiblatt zur Anglia, 46 (1935), S. 117-118.

Kathrin Volkmann, Shakespeares Sonett auf deutsch (Heidelberg: Universitätsdruckerei, 1996), S. 134.

Siehe auch:

L230, R10, R25, R35, R39, R60, R70