Auswahl: Übersetzer

820 Keil, Rolf-Dietrich (1923- ) ADB

Shakespeare. Die Sonette . Deutsch von Rolf-Dietrich Keil (Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs, 1959), 190 S.

Vollständige Ausgabe: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.

In eigener Zählung nach der Rekonstruktion von Sir Dennis Bray, Shakespeare's Sonnet-Sequence (London: Secker, 1938), zweisprachig, mit "Vorbericht" und "Anhang" (S. 176-189): "I. Zur Textgestaltung und Interpretation der einzelnen Sonette" (S. 176-183); "II. Zur Entstehung und Datierung der Sonette" (184-187), "III. Zählung der Sonette in der Quarto-Ausgabe und in der Sequenz" (188-189). Keil zur Ausgabe: Mit der neuen Anordnung werden die Sonette "für deutsche Leser zum erstenmal [...] als Gesamtkomposition überschaubar" ("Vorbericht", S. 5).

Vorbericht (S. 5-11):

Die Einleitung zu einer Übersetzung von Gedichten, zudem aus einer Sprache, die viele zu kennen glauben, ist immer eine Art Apologie. Um wieviel mehr, wenn es sich um eine neue Übersetzung handelt, von denen ich den letzten 150 Jahren allein fast ein halbes Hundert deutscher Übersetzungen im Druck erschienen ist! Wenn wir trotzdem wagen, mit einer neuen Verdeutschung hervorzutreten, müssen wir wohl gewichtige Gründe geltend machen.
Shakespeares Sonette sind seit ihrem Bekanntwerden durch den Raubdruck des Thomas Thorpe (1609) Gegenstand sowohl der höchsten Bewunderung der Kunstverständigen als auch der tiefsten Verzweiflung der Sachforscher gewesen. Es soll hier nicht von den zahllosen Vermutungen beschränkter oder allzu phantasiereicher Köpfe die Rede sein. Über die biographischen Hintergründe der Sonette sollen keine neuen Hypothesen geliefert werden, die doch über den Wert der Dichtung nicht aussagten, selbst wenn es gelänge, irgendeine von ihnen bis zur Gewißheit zu erheben. Was zur Textgestalt und Interpretation einzelner Gedichte anzumerken ist, enthalten die Erläuterungen des Anhangs. Was uns hier allein beschäftigen soll, und womit wir glauben, der Würdigung dieses einzigartigen Werkes zu dienen, ist die Vertiefung in die dichterische Form der Sonette, die hier – für deutsche Leser zum erstenmal – als Gesamtkomposition überschaubar werden.
Immer schon hatten die Leser der Sonette den Eindruck gehabt, daß die Reihenfolge der Gedichte in der Erstausgabe nicht recht befriedige. Das beginnt schon bei der zweiten Ausgabe (1640) und hat seitdem zu ständig neuen Versuchen sowohl der englischen Editoren und Forscher als auch der Übersetzer, wie z.B. Victor Hugo oder Bodenstedt, geführt, eine sinngemäßere Anordnung der Sonette zu konstruieren. Alle diese Versuche waren aber im Ergebnis ebenso unbefriedigend wie die An- oder Unordnung von 1609, die sie proviziert hatte. So ist es seit langem üblich geworden, diesen Text von 1609 (den sogenannten Quarto-Text), da er im Wortlaut der zuverlässigste war, immer wieder abzudrucken. Der allgemeinen Verbreitung dieses Textes ist in unserer Ausgabe durch Beifügung der Quarto-Nummern in römischen Ziffern unter jedem Sonett Rechnung getragen.
Als sich alle Bemühungen um die Rekonstruktion oder Konstruktion einer Anordnung nach Kriterien des vermuteten Sinnzusammenhangs als eitel erwiesen hatten, ging ein englischer Gelehrter, Sir Denis Bray, daran, ein vom persönlichen Geschmack, Wunsch und Verständnis unabhängiges, in der Dichtung selbst liegendes Kriterium für die richtige Reihenfolge der Gedichte zu suchen. Und siehe da, er fand es.
Er ging von der Tatsache aus, daß im letzten Drittel des XVI. Jahrhunderts, zu jener Zeit also, da Shakespeares Sonette geschrieben sein müssen, im Elisabethanischen England eine literarische Mode im Schwange war, Sonettsequenzen zu schreiben. Er untersuchte die formalen Mittel, mit denen diese Kompositionen zusammengeschlossen waren, und fand (allerdings ohne völlige Konsequenz angewandt) die verschiedensten Arten von Wiederholungen; sie es, daß ganze oder halbe Zeilen von einem Gedicht ins nächste übernommen waren, sei es, daß zwei aufeinanderfolgende Gedichte einmal oder mehrere Male die gleichen Reimklänge oder sogar –wörter aufwiesen, sei es, daß – in noch mehr verschlungener Technik – Reime aus einer Gruppe von Sonetten genau parallel dazu in einer in einer anderen, manchmal weit entfernt stehenden Gruppe wieder auftauchten. Sicher war, daß alle diese Dichter und Dichterlinge versucht hatten, durch verschiedene Kunstgriffe der Wiederholung – und besonders der Reimwiederholung – ihre Gedichtfolgen äußerlich zu einem Ganzen zusammenzuschließen. Dies Ganze wurde dabei genauso behandelt wie das einzelne Gedicht, und der Reim war hier wie dort das Verknüpfungsmittel: im Gedicht zwischen den Zeilen, in der Sequenz zwischen den Gedichten.
Es gab also zur Zeit Shakespeares eine allgemeine Vorliebe für solche teppichartigen Wortgewebe, die sich der in England schon aufgelockerten Form des Petrarca-Sonetts bedienten.
War es schon nach den bekannten komplizierten Strophenformen von Shakespeares Jugendepen "Venus und Adonis" und "Lukrezia" wahrscheinlich, daß er der handwerklichen Kunst seiner dichtenden Zeitgenossen auch in der Sonettsequenz nicht nachstehen werde, so verstärkte sich dieser Eindruck noch durch eine andere Beobachtung, die schon lange vor Bray gemacht worden war, die aber nun eine ganz hervorragende Rolle spielen sollte:
Es gab nämlich in der Anordnung von 1609 eine ganze Reihe von offenbar sinngemäß eng zusammengehörigen Sonettpaaren (insgesamt 18), die auch keiner der späteren Re-konstruktionen wieder hat trennen wollen; und die je zwei Gedichte dieser Paare waren sämtlich durch Reimwiederholungen miteinander verknüpft.
Auf diese beiden Beobachtungen gründete sich Brays Hypothese: Die Sonette Shakespeares sind eine Sonettsequenz, wie sie zu jener Zeit üblich war, d.h. die einzelnen Gedichte sind durch Reimwiederholung miteinander verknüpft, wie sie die nicht getrennten und auch vom Sinn her kaum trennbaren Paar aufweisen. Wenn also eine Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge möglich sein sollte, dann nur auf Grund der Zusammenfügung jener im Quarto-Text auseinandergerissenen Reimverknüpfungen.
In jahrzehntelanger Mosaikarbeit hat Sir Denis Bray schließlich die Bestätigung seiner Hypothese gefunden und seine Ergebnisse endgültig 1938 in dem Buch "Shakespeare's Sonnet-Sequence" eindrucksvoll und überzeugend dargestellt. Dieser Gelehrtenarbeit verdanken wir es, wenn wir nun über die schon immer bewunderten Einzelschönheiten der "Hauptjuwelen" hinaus auch die Schönheit des ganzen "Geschmeides" sehen und bewundern können.
Unsere Übersetzung gibt die von Bray rekonstruierte urprüngliche Reihenfolge und hat auch das Kunstmittel der Reimverknüpfung durchgehend beibehalten. Unberücksichtigt geblieben sind lediglich die Reim-Echos zwischen ganzen, zum Teil weit voneinander entfernten Gedichtgruppen, da sie schwer zu erfüllen und dem Leser durchaus nicht fühlbar sind, wenn er sich nicht in eine Formanalyse einlassen will, die dann doch besser gleich am Original vorgenommen wird. Übrigens empfiehlt sich für die Gewinnung eines Überblicks ein durchlaufendes Lesen entweder nur des Originals oder nur der Verdeutschung.
Weiterhin ist in der Übersetzung auch der jeweilige Charakter des Zeilenausganges (männlich, d.h. betont, oder weiblich, d.h. ausschwingend) bis auf wenige notwendige Ausnahmen beibehalten. Diese Formstrenge schien geboten, nicht nur um des rhythmischen Eindruckes der Gerichte willen, sondern auch wegen der offenbaren Absichtlichkeit, mit der die an sich seltneren weiblichen Reime im allgemeinen vermieden sind, während das Eröffnungsgedicht der Freundesreihe (I) vollständig, ihr Abschlußgedicht (126) fast vollständig in weiblichen Reimen durchgeführt ist.
Auch die übrigen Formbesonderheiten erhalten in der von Bray wiederhergestellten Ordnung ihren sinnvollen Platz: das einzige zwölfzeilige Gedicht (9) bildet die Eröffnung der Reihe von Vergänglichkeit und Zeugepflicht; das einzige vierhebige (127) eröffnet den Zyklus der Dunklen Dame; das einzig fünfzehnzeilige (89) bildet den Abschluß der Reihe vom Riumph der Liebe über Trennung und Alter.
Es ist vielleicht erwünscht, die andeutenden Einteilungen und Überschriften in Anlehnung an Bray hier wiederzugeben:
I. Der lichte Jüngling
1- 8 Widmungen
9- 27 Vergänglichkeit und Zeugepflicht
28- 41 Gedanken in der Ferne
42- 48 Todesahnungen
49- 63 Der Dichterrivale
64- 71 Wachsender Verdacht
72- 79 Vorwurf und Vergebung
80- 89 Triumph der Liebe über Trennung und Alter
90- 101 Triumph der Liebe über Zeit und Wechsel
102- 118 Verfehlung und Reue
119- 126 Abschliedsgrüße
II. Die dunkle Dame
127- 134 Dein "Will"
135- 151 Die Liebe – ein Fieber
III. Abschluss
152 Zusammenfassung von II
153 Zusammenfassung von I und II
154 Einkehr und Schluß
Da die Reimverknüpfung vielfach ein äußeres Mittel ist, stellt sie nicht überall einen Sinnzusammenhang her. So konnten auch die Gedichte der verschiedenen Gruppen, ja sogar die beiden Hauptzyklen an die "Nahtstellen" durch Reimwiederholungen miteinander verknüpft werden. Innerhalb der Gruppen und Zyklen jedoch wird der aufmerksame Leser bemerken, daß die äußere Verbindung durch ein feines inneres Gewebe von Wort-, Bild- und Gedankenwiederholungen und –variationen ergänzt und damit sinnerfüllt sind.
Von selbst werden bei einem durchlaufenden Lesen solche Wortwiederholungen auffallen, wie etwa Festmahl (30), festlich (31), Feste (32); oder dumpf (in 34, 35, 36); Schatten (in 38, 39, 40); Winter (in 80, 81, 82); Kind (in 95, 96); König (in 125, 126) und viee andere. Beinahe ebenso häufig sind Bildvariationen wie etwa genießrisch kosten (122); Was trank ich für Sirenentränensaft (123); Wie man, die Eßbegier zu stacheln, tut, Den Gaumen reizt mit scharfgemischtem Trank (124).
Natürlich konnten Wiederholungen in der Übersetzung nicht überall beibehalten werden, da selten ein deutsches Wort das gleiche Bedeutungsfeld hat wie ein englisches. Besonders bedauerlich hat sich das bei dem Worte true ausgewirkt, das ja wahr, echt, treu, wertvoll heißen kann. In der Übersetzung steht notgedrungen die deutsche Entsprechung, die für das jeweilige Gedicht den Akzent zu tragen scheint. Der Leser sei deshalb auf das Original verwiesen und auf die Grundspannung, die es an unzähligen Stellen bestimmt: nämlich den Gegensatz zwischen
true, truth, trust, substance, worth, desert, fair
einerseits und
false, lie, untrue, shadow, dark, black, aber auch painted
andererseits, wobei das letztgenannte Grundtönen, die das Ganze und die Teile einstimmen, ist es vielleicht wichtig, dem Leser an einigen Beispielen des Originals die kompositionellen Entprechungen der Teilstücke bewußt zu machen:
So entspricht etwa die Anfangszeile des Fair-Youth-Zyklus
A woman's face with Nature's own hand painted (I)
der Anfangszeile des Dark-Lady-Zyklus:
Those lips that Love's own hand did make (127)
ähnlich wie die Schlußzeilen beider Zyklen sich entsprechen:
Thus have I had thee, as a dream doth flatter,
in sleep a king, but waking no such matter. (126)
und
Therefore I lie with her and she with me,
And in our faults of lies we flatter'd be (151).
Eine große Zahl ähnlicher Entsprechungen findet man zwischen den Gruppen "Vorwurf und Vergebung" und "Verfehlung und Reue", wo einmal sogar der Schlußzweizeiler sich wiederholt:
But do not so; I love thee in such sort
As, thou being mine, mine is thy good report. (77 und 114)
Hier führt die umgekehrte Situation, in 77 der Vorwurf des Dichters an den Freund, in 114 der Selbstvorwurf des Dichters, zu der gleichen Folgerung.
Diese Hinweise mögen genügen, um den Blick des Lesers auf das Ganze der Sequenz zu lenken. Dieses nunmehr sichtbar gewordene Ganze bestätigt die Sätze, die Stefan George, der größte Dichter unter den deutschen Nachdichtern der Shakespeare-Sonette, vor einem halben Jahrhundert geprägt hat:
"die zusammenstellung, das verhältnis der einzelnen teile zueinander, die notwendige folge des einen aus dem anderen kennzeichnet erst die hohe dichtung"
und:
"im mittelpunkte der sonettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund."
Es bleibt uns zum Schluß der Dank an die, die durch ihre frühere Bemühung uns hinführten zu Shakespeare, Dichter und Übersetzer, denen wir verpflichtet sind für manche Wendung. Denn wir meinen, daß es im Dienste an einem großen Werk nicht zuerst auf eignen Ruhm ankomme, sondern auf das Gemäße, und daß dies, wenn es einmal gefunden ist, nicht wieder aufgegeben werden dürfe zugunsten einer Originalitätssucht und zum Schaden des Werks.
Unser Dank gebührt auch all denen, die durch Anteilnahme oder Kritik die Entstehung und Gestaltung der Übersetzung förderten.
Möge in dieser Arbeit etwas von dem erreicht sein, was Goethe in den Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan beschrieb: "Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Interlinearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals, hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben."

Nachdrucke:

Kathrin Volkmann, Shakespeares Sonette auf deutsch: Übersetzungsprozesse zwischen Philologie und dichterischer Kreativität (Heidelberg: Universitätsdruckerei, 1996), S. 55-57.

Sonett 18

Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 161. (=1110)

Sonett 66

Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 95. (=2085)

Sonett 18

Siehe auch:

K100, L177, L255, L250, R20, R39, R175