"Vier Sonette".
Weihnachtsbeilage der Vossischen Zeitung
, Nr. 656 (25.12.1912).
4 Sonette: 66, 109, 129, 130.
"Auf Anregung und mit wissenschaftlicher Unterstützung von Professor Alois Brandl bin ich mit einer neuen Verdeutschung der Shakespearschen Sonette beschäftigt. Dieser fast vollendeten Arbeit sind die obigen Stücke engnommen. Der Uebersetzer."
Mit "Einleitung" von Alois Brandl (S. v-lv) und "Register der in der Einleitung erläuterten Sonette" (S. 155-156).
Zu Ludwig Fuldas Übersetzungsgrundsätzen:
Die Kunst des Übersetzens
Den Mangel an theoretischer Kunstbetrachtung haben wir in Deutschland nicht zu beklagen; eher das Gegenteil. Umso verwunderlicher, daß man den Lebensbedingungen einer Kunst, die seit alters gerade bei uns eine besonders ausgebreitete Pflege genießt und besonders tiefgehende Wirkungen zeitigt, bisher noch so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Denn daß die Übertragung von Dichterwerken in eine andere Sprache eine Kunst ist, darüber herrscht unter literarische Gebildeten keine Meinungsverschiedenheit. Aber viele von ihnen scheinen sich niemals klar gemacht zu haben, daß diese Kunst wie jede andere bestimmten Gesetzen gehorcht und zu ihrer Ausübung bestimmte Fähigkeiten beansprucht.
Die Idee einer Weltliteratur, die bekanntlich zu den Lieblingsvorstellungen des alten Goethe gehörte, ist nirgends der Verwirklichung so nahe gekommen wie in seinem Vaterlande. Vor den Angehörigen jeder anderen Nationalität hat der Deutsche den Vorzug, die literarischen Schätze aller Zeiten und Völker ohne vielfältige Sprachstudien sich aneignen zu können. Unter den ausländischen Dichtern der Vergangenheit gibt es wohl kaum noch einen einzigen halbwegs namhaften, der uns nicht in einer oder mehreren Übersetzungen vorläge; und nun gar die schriftstellerische Ernte der Gegenwart wird, sobald sie an ihrer Ursprungstätte schnittreif geworden, von allen Richtungen der Windrose mit nicht zu überbietendem Eifer in unsere Scheuern gefahren.
Zwei oft erwähnte Umstände verschaffen uns auf diesem Gebiete die unbestrittene Suprematie. Erstens die wundersame Bildsamkeit und Schmiegsamkeit der deutschen Sprache, die wie keine andere die verschiedensten Steile, die verschiedensten Versmaße nachzuahmen vermag, die wie ein geschmeidiger Frauenkörper jede Maske und jedes Kostüm mit Anmut zu tragen versteht, ohne den Reiz ihrer Eigenart einzubüßen. Sodann der geistige Kosmopolitismus der Deutschen, der bis an die äußersten Grenzen der Kulturwelt alle neuen Erscheinungen mit stets reger, oft leidenschaftlicher Teilnahme verfolgt und im Gegensatz zu der nationalen Abgeschlossenheit der Franzosen sich hie und da bis u ausgesprochener Vorliebe für das Fremde steigert.
Wenn es schwer möglich ist, zwischen löblicher Universalität und bedenklicher Ausländerei eine scharfe Grenzlinie zu ziehen, so wäre es erst recht vergebliche Mühe, der Übersetzertätigkeit nach kritischen Gesichtspunkten einen Riegel vorzuschieben. Das sehr beherzigenswerte Verlangen, es möge nur Gutes übersetzt werden, wird so lange ein frommer Wunsch bleiben, als auch dem literarischen Markt Angebot und Nachfrage sein Gepräge aufnötigen und als das Urteil, was im Reiche des Geschmacks gut oder schlecht ist, mancherlei Revisionen durchmacht, bis es bei einer späten Nachwelt an die letzte Instanz gelangt. Aber eine andere Forderung wird unbedingt erhoben werden dürfen, nämlich daß nur gut übersetzt wird. Denn hier zwischen dem Guten und Schlechten eine allgemein gültige Unterscheidung zu treffen, bietet erheblich geringere Schwierigkeit.
Man sollte nun glauben, daß eine Kunst, nachdem sie in anerkannten Meisterwerken den höchsten Grad ihrer Entwicklung erreicht hat, nicht mehr ungestraft unter ein gewisses mittleres Niveau hinabsinken könne. Die deutsche Übersetzungskunst aber wurde durch nie genug zu preisende klassische Vorbilder nicht vor dem traurigen Schicksal bewahrt, in unberufenen Händen der schrecklichsten Verwilderung anheimzufallen. In demselben Deutschland, in dem ein Schlegel das beispiellose Wunder vollbracht hat, die nationale Literatur um einen großen deutschen Dichter namens Shakespeare zu bereichern, sind die durchschnittlichen Leistungen seiner Nachfolger bis zu einem geradezu beschämenden Tiefstand hinabgeglitten. Ganz davon abgesehen, daß zahllose Übersetzer nicht einmal dem Wortsinn des Originals, geschweige denn seinem Geist Genüge tun, sie erweisen sich auch als elende Stümper auf ihrem eigentlichen Instrument: der deutschen Sprache. Es wäre eine Aufgabe für sich, aus vielgelesenen Büchern und oftgespielten Stücken eine Blütenlese von dem Kauderwelsch solcher Interpreten, von ihren haarsträubenden Versündigungen gegen Grammatik und Stilistik zusammenzustellen. Man braucht nur in verbreitete Kollektionen ausländischer Literatur einen Blick zu werfen, um sich erstaunt zu fragen, ob diese Leute sich zu Vermittlern zwischen zwei Sprachen nur deshalb auserkoren wählen, weil sie weder die eine noch die andere verstehen. Und man fragt sich weiter, ob unserem Publikum denn jedes Sprachgefühl so gänzlich abhanden gekommen ist, daß es dieses sogenannte Übersetzerdeutsch im Buch und auf der Bühne geduldig über sich ergehen läßt, ja sogar durch durch kräftigeren Konsum ihm Vorschub leistet. Man fragt sich, ob es erlaubt ist, einem fremden Geistesfürsten sein legitimes Gewand auszuziehen, um ihn in armselige, geflickte Lumpen zu hüllen; ob der erste beste Stotterer sich erdreisten darf, uns vormachen zu wollen, wie ein Redegewaltiger zu seinem Volke spricht.
Auf keinem anderen Kunstgebiete kann die Pfuscherei so viel Unheil anrichten wie hier. Denn während sonst das völlig Minderwertige zumeist schon durch die Nichtbeachtung unschädlich gemacht wird, hier schreitet es unter der leuchtenden Ägide eines angesehenen oder gar gefeierten Namens einher. Der Übersetzer verschwindet bescheiden im Glanze des Autors, um desto verschämter diesen Glanz durch seine Unfähigkeit beeinträchtigen zu dürfen. Die allgemeine Neugier, einen berühmten Schriftsteller, ein erfolgreiches Werk kennen zu lernen, läßt die klägliche Verstümmelung übersehen, in der dieser Schriftsteller, dieses Werk uns vorgesetzt wird. Das Zerrbild wird ohne weiteres mit dem Urbild identifiziert. Je höher der so mißhandelte Künstler steht, desto größer auch der Schaden, der nicht nur ihm selbst, sondern der ganzen Kunst zugefügt wird. Denn für diese kann nichts verderblicher sein als die Abstumpfung des Feingefühls der Genießenden. Und wird der Sinn für Stil und Form nicht zuletzt auch der einheimischen Produktion gegenüber versagen müssen, wenn der Leser und Hörer ihn vor den Werken der besten zeitgenössischen Ausländer grundsätzlich auszuschalten sich gewöhnt?
Niemals hätte es so weit kommen können, wäre nicht infolge der Massenwirtschaft die künstlerische Natur der Übersetzertätigkeit in Vergessenheit geraten – und zwar nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Übersetzern selbst und noch mehr bei deren Auftraggebern. Daß nicht jeder malen, nicht jeder dichten kann, steht einigermaßen fest. Aber übersetzen, wer kann das nicht? Wer glaubt, das nicht zu können? Wozu hat man sich auf der Schule mit Exerzitien geplagt? Wozu eine fremde Sprache so weit erlernt, daß man mit zeitweiliger Nachhilfe des Lexikons ein in ihr geschriebenes Buch zu entziffern vermag?
La table heißt der Tisch; nun also! Man braucht nur immer statt des fremden Wortes das deutsche zu setzen, und die Sache ist erledigt! Nichts einfacher als das. Jeder Realschüler, jede höhere Tochter läßt sich dazu verwenden. Der Verleger, der das Originalwerk erwarb, hat die Auswahl. Nicht einmal über die Straße muß er gehen. Gehört das nicht zum Ressort des jungen Mannes, den er für die Korrespondenz engagiert hat? Selbstverständlich! Wer einen französischen, einen englischen Geschäftsbrief schreiben kann, warum soll der nicht auch einen französischen, einen englischen Roman verdeutschen können?
Um dieser landläufigen Anschauung den Boden zu entziehen, will ich versuchen, die Einsicht in das Wesen der Übersetzungskunst durch einige – zum Teil aus eigener Praxis geschöpfte – Betrachtungen zu fördern. Sie beschränken sich naturgemäß auf die Übertragung von dichterischen Werken. Zwar kann auch ein wissenschaftliches Buch, sofern es in Komposition und Darstellung sich der Kunstform nähert, von seinem Übersetzer künstlerische Qualitäten verlangen; aber dann fällt es eben unter die allgemeinen Regeln, denen ich nachgehen will.
Die Übersetzungskunst nimmt schon dadurch eine Ausnahmestellung ein, daß sie weder den produktiven noch den reproduktiven Künsten beigezählt werden kann, sondern zwischen beiden etwa die Mitte hält. Sie ist keine rein produktive Kunst; denn sie folgt nicht frei der eigenen Eingebung; sie unternimmt, bereits Geschaffenes nachzuschaffen. Aber sie ist auch keine reproduktive Kunst; denn sie muß das nachzuschaffende Werk nicht nur versinnlichen, sondern umformen. Der reproduktive Künstler, also der Rezitator, der Schauspieler, der Sänger, der Instrumentalist, ist gleichsam nur das gehorsame Schallrohr des Dichters oder Komponisten, den er uns verlebendigt. Legt er in die Wiedergabe auch noch so viel von seiner eigenen fesselnden oder bedeutenden Persönlichkeit, so bleibt doch jedes Wort, jeder Ton ihm vorgeschrieben. Er hat das Gebilde eines anderen zu möglichst vollkommener Wirkung zu bringen, aber nicht, wie der Übersetzer, ein Äquivalent dafür zu suchen. Schon ein wenig näher steht dem letzteren der Kopist, der ein Bild reproduziert; denn er muß das Bild nicht nur veranschaulichen, sondern, abgesehen von der Erfindung, neu herstellen, muß die ganze technische Arbeit, die der Maler geleistet hat, noch einmal leisten. Doch auch von ihm entfernt sich der Übersetzer nach der produktiven Seite hin, indem er das originale Kunstwerk nicht nur in einem neuen Exemplar, sondern auch in einem neuen, von Grund aus andersartigen Material wiederstehen läßt.
Aus diesen Begriffsbestimmungen erhellt zur Genüge, daß der Übersetzer sich einer seltsam verwickelten Aufgabe gegenüber sieht, für die in keiner reproduktiven und in keiner produktiven Kunst eine Analogie zu finden ist. Farben und Töne sprechen ja eine allgemeinverständliche Sprache; nur die Wortkunst wird durch ihr Ausdrucksmittel von nationalen Grenzen eingezäunt. Dieses Ausdrucksmittel soll der Übersetzer mit einem anderen vertauschen, das noch dazu mit dem ursprünglichen sich ebensowenig jemals völlig decken kann, wie zwei nationale Kulturen sich decken. Denn da die Sprachen nicht auf mechanischem, sondern auf historischem Wege entstanden sind, so enthält jede von ihnen den Niederschlag einer tausendjährigen nationalen Entwicklung; ihre einzelnen Wörter spiegeln die Begriffe und Empfindungen, die dem Volke, das sie spricht, durch seinen besonderen Charakter und seine besondere Geschichte aufgedrängt worden sind. Schon die Bezeichnungen konkreter Gegenstände werden bei verschiedenen Völkern verschiedene Gefühlswerte auslösen. Es ist nicht dasselbe, ob ein Nordländer oder ein Südländer von der Sonne, vom Winter, vom Walde, vom Meere redet. Bei den Abstrakten aber waltet fast durchgängig eine Inkongruenz, die von leiser Abweichung bis zu gänzlicher Begriffsverschiedenheit sich steigern kann; ja, es gibt sogar Ausdrücke, die schlechtweg unübersetzbar sind, weil die ihnen zu Grunde liegende Anschauung oder Stimmung dem jenseitigen Volke überhaupt fehlt. So zum Beispiel sind Häuslichkeit, Gemütlichkeit, Heimat Wörter, die sich in keiner romanischen Sprache adäquat wiedergeben lassen. Und die zahlreichen Fremdworte, mit denen jede Sprache sich behelfen muß, was bedeuten sie anders als ebensoviele Zugeständnisse, daß ein treffender Ersatz mangelt? Würde der oft so leidenschaftlich auftretende Purismus mit ihrer Bekämpfung so geringen Erfolg haben, wenn er im stande wäre, jedesmal ein auch nur halbwegs entsprechendes heimisches Wort dafür zu liefern?
Der Übersetzer steht also ungefähr vor der Quadratur des Zirkels. Denn er soll einen gegebenen Inhalt in eine andere Form bringen, in der dieser niemals ohne Rest aufgeht. Obendrein ist jedes Wort an sich vieldeutig; seinen jeweiligen Sinn entscheidet seine Stellung im Satz, die Beziehung dieses Satzes zu anderen Sätzen, schließlich der Zusammenhang des Ganzen. Es gibt Übersetzungen, bei denen alle einzelnen Wörter lexikographisch richtig wiedergegeben und doch sämtliche Gedanken des Originals bis zur Unkenntlichkeit verwischt sind. Und nun erwäge man, daß diese Sprache eines Dichterwerkes nicht wie die Sprache des täglichen Lebens nur Verständigungsmittel, sondern der sinnliche Stoff einer Kunst ist; daß sie nicht nur denkt, sondern darstellt, nicht nur redet, sondern gestaltet.
Lassen wir zunächst die metrische Form, die ja natürlich noch weitergehende Ansprüche erhebt und eine eigene Betrachtung erfordert, ganz aus dem Spiel, und beschränken wir uns auf die Prosadichtung. Ihr hauptsächliches Ziel ist, Menschen zu schaffen, indem sie entweder von ihnen spricht in erzählender Schilderung oder sie selber sprechen läßt im Dialog. Die epische Kunst wechselt mit diesen Methoden ab, die dramatische kennt nur die zweite. Aber bei beiden hat das Wort genau dieselbe Bedeutung wie der Pinselstrich des Malers; es fügt einen Zug zu dem Bilde, das schon in aller Schärfe und Lebendigkeit vor dem inneren Auge steht; es darf von diesem Bilde nicht um Haaresbreite abweichen, ohne in die Widerspiegelung einen empfindlichen Fehler zu tragen. Der Dichter charakterisiert durch das Wort; deshalb muß das Wort charakteristisch sein, von allen etwa in Betracht kommenden Worten das am meisten charakteristische. Mit nie ermüdender Anspannung und Ausdauer muß er also von Fall zu Fall nach diesem Worte suchen; und er wird es nur finden, wenn er im gleichen Moment mit der gleichen Klarheit ebenso die darzustellende Gestalt wie alle Möglichkeiten der Sprache überblickt. Diesen Teil der dichterischen Arbeit hat der Übersetzer von Grund aus neu zu leisten; ja, für ihn ergibt sich noch die besondere Schwierigkeit, daß er das Phantasiebild nicht wie der Dichter aus erster Hand besitzt, sondern aus dem vollendeten Werk erst rekonstruieren muß, bevor er die nachzeichnende Charakterisierung in den Worten einer anderen Sprache wagen darf. Steht nicht auch ihm bei der Wahl jedes einzelnen Wortes die ganze Gestalt lebendig vor der Seele, so wird er nur eine plumpe Karikatur zu Tage fördern, in der alle feineren Züge des Porträts verdorben sind.
Nun erschöpft sich aber das Wesen einer Dichtung nicht in ihren einzelnen Gestalten. Um diese herum webt eine bestimmte Luft, fließt ein bestimmtes Licht. Sie heben sich in komplementierenden oder kontrastierenden Farben von einem Hintergrund ab; sie stehen zu einander in gewissen wohlerwogenen Proportionen. Aus der unendlichen Fülle der Erscheinungen hat der Dichter gerade sie auserlesen; aus den zahllosen denkbaren Betätigungen ihrer Eigenart gerade die von ihm geschilderten Handlungen bevorzugt, in der künstlerischen Absicht, sein Stückchen Welt so zu begrenzen und abzurunden, daß es nicht wie ein zufälliges Fragment des gesamten Daseins, sondern wie ein selbständiger kleiner Kosmos erscheint. Die geheimnisvolle Wirkung, die er durch das Gelingen dieser Absicht hervorruft, nennen wir den Geist einer Dichtung oder ihre Idee oder ihre Stimmung. Zumal die überaus mannigfaltigen Stimmungsmittel, die dem Dichter zu Gebote stehen – wer könnte sie definieren oder lehren? Oft liegt es nur an einer Wortstellung; man verschiebe um ein weniges den Platz eines Adverbs, und der Zauber ist verflogen. Der Übersetzer, dem für solche Imponderabilien die Empfänglichkeit, das instinktive Erfassen mangelt, wird scheitern. Er wird uns statt einer lebenden Blume eine gemachte vorrücken, ohne Tau und ohne Duft.
Seine größte Aufgabe ist aber damit noch immer nicht genannt. Denn hinter allen objektiven Werten der poetischen Schöpfung steht der subjektive Wert einer schöpferischen Individualität. Je mächtiger der persönliche Hauch, mit dem sie alle ihre Kreaturen durchströmt, desto höher der Rang des Werkes. Dieses Persönlichkeitselement, das jeder echten Dichtung den Lebensodem einflößt, nennen wir Stil.
Le style c'est l'homme. Der Übersetzer aber soll in einer fremden Sprache versuchen, was in der eigenen so gut wie unmöglich ist: er soll den Stil eines anderen nachahmen.
Wenn dieses Kunststück dennoch hier und da unter günstigen Umständen glückt, so läßt sich das nur auf eine Weise erklären. Der Übersetzer muß selbst ein Dichter sein, und zwar ein Dichter, der sich zu dem fremden Autor genau so verhält, wie dieser zu seinen Gestalten. Das heißt, der fremde Autor muß in aller seiner individuellen Bestimmtheit ihm so ins eigene Fleisch und Blut übergegangen sein, daß er ihn künstlerisch wieder zu erzeugen vermag. Andererseits aber darf der Übersetzer nicht nur Dichter sein. Denn die Gestalt des fremden Autors ist ja nicht ein Phantasiegebilde, an dem er nach Willkür modeln darf; sondern sie ist eine starre Wirklichkeit, in die er sich hineinfinden, der er sich hingeben muß. Um solcher Hingabe fähig zu werden, bedarf der Übersetzer einer gewissen Verwandtschaft mit dem Schauspieler. Wie dieser soll er seine Natur bewußt in einer anderen untertauchen lassen, wie dieser aus der eigenen Haut fahren und in die des vorzuführenden Charakters hineinschlüpfen. Schlegel konnte den Shakespeare so vollendet nur nachdichten, indem er ihn spielte, wie ein Hamletdarsteller den Hamlet spielt. Der Übersetzer nimmt also nicht nur zwischen dem produktiven und dem reproduktiven Künstler die Mitte ein; er muß auch die wichtigsten Anlagen beider in sich vereinigen. Kein Wunder daher, daß die allerersten schöpferischen Geister fast niemals gute Übersetzer sind; ihre Individualität ist von so außerordentlicher Stärke, daß sie sich ihrer nicht willkürlich zu Gunsten einer fremden entäußern können. Aber da überhaupt kein Mensch in der Verleugnung der eigenen Natur mit Proteus zu wetteifern vermag, so sind auc dem spezifischen Übersetzertalent individuelle Schranken gezogen. Ebenso wie der Schauspieler, und sei er noch so genial, auf einen bestimmten Rollenkreis angewiesen bleibt, über den hinaus seine besten Gaben versagen, so kann der Übersetzer nur solchen Dichtern gerecht werden, die – um einen Handwerksausdruck des Theaters anzuwenden ‒ ihm "liegen". Nie wird zum Beispiel einen Humoristen übertragen können, we nicht selbst Humor besitzt. Das bewies Johann Heinrich Voß, der klassische Nachdichter Homers: sein deutscher Aristophanes ist ungenießbar. Sogar dem berufenen Übersetzer tut also in jedem einzelnen Falle die strengste Selbstprüfung not, wenn er sich vor verhängnisvollen Mißgriffen bewahren will; und mit der Umkehrung eines bekannten Sprichwortes muß er zu sich selber sprechen: Sage mir, wer du bist, und ich will dir sagen, mit wem du umgehen darfst.
Doch alle innerlichen Qualitäten – und nur von solchen war bisher die Rede – machen noch keinen Künstler, auch keinen Übersetzungskünstler. Wie die ausübende Gewalt zur gesetzgebenden, so gehört zu jeder Kunst die ihr entsprechende Technik, und die Unkenntnis oder die Vernachlässigung der technischen Seite ist das sicherste Symptom einer noch nicht entwickelten oder einer verfallenden Kunst. Was nun die Technik des Übersetzens betrifft, so trägt sie naturgemäß ein Doppelantlitz; denn sowohl der Sprache, aus der Übersetzt wird, als auch der Sprache, in die übersetzt wird, kehrt sie ihre aufmerksamen Blicke zu. Inwieweit muß also der Übersetzer beide Sprachen beherrschen? Und auf welcher von beiden liegt für ihn das Hauptgewicht? Hier begegnen wir einer sehr verbreiteten irrigen Ansicht, ohne die schwerlich jene zuvor gekennzeichnete Verwahrlosung so verheerend hätte um sich greifen können, und die man deshalb nicht nachdrücklich genug bekämpfen kann. Es wird nämlich allgemein angenommen, das wesentlichste Erfordernis für den Übersetzer sei die Kenntnis der fremden Sprache; aber diese Annahme fehlt weit vom Ziel. Wie oft haben Leute, die mir betreffs meiner Übertragungen aus dem Französischen eine Artigkeit sagen wollten, dies mit den Worten getan: "Sie müssen doch ausgezeichnet Französisch können." Und jedesmal mußte ich ihnen die Beichte ablegen, daß meine Kenntnis des Französischen nicht das Mittelmaß überragt. Wenn darauf gewöhnlich meine nachsichtigen Gönner mit der Frage fortfuhren: "Aber wie können Sie dann so übersetzen?" so erwiderte ich: "Vielleicht, weil ich einigermaßen Deutsch kann." Man verstehe mich recht! Nie und nimmer wird der Übersetzer seine Arbeit beginnen dürfen, bevor der Wortsinn des Originals ihm nicht die geringste Unklarheit mehr bietet, und auch für den kleinsten Schnitzer, der ihm infolge unrichtiger Auslegung einer Vokabel, einer sprichwörtlichen Wendung, einer grammatikalischen oder stilistischen Eigentümlichkeit unterläuft, gibt es für ihn keine Entschuldigung. Aber man erwäge doch, daß diese elementare Vorarbeit des buchstäblichen Entzifferns, deren Bewältigung schon beim Sprachunterricht dem gut präparierten Schüler zugemutet werden darf, lediglich eine Sache des Fleißes ist; daß hier erlaubte und bequeme Hilfsmittel zu Gebote stehen. Selbst bei Dichtern, die unsere Muttersprache schreiben, stoßen wir hier und da auf Worte, Namen, Ausdrücke, die uns nicht ohne weiteres geläufig sind; und das Gleiche, was wir in diesem Falle zu tun pflegen, ist uns auch einem fremdsprachigen Text gegenüber unverwehrt: wir schlagen nach, oder wir erkundigen uns an kompetenter Stelle. Wir bitten jemand um Auskunft, der die betreffende Sprache gründlicher meistert als wir; also wenn irgend möglich, einen Landsmann des Autors, oder am allerbesten, falls der Autor noch unter den Lebenden weilt, diesen selbst. Ich bestreite nicht, daß solche Erkundigungen oft recht viel Mühe verursachen können, zumal wenn der Übersetzer von der Pflicht äußerster Gewissenhaftigkeit durchdrungen ist. Deshalb wird ihm die völlige Beherrschung des fremden Idioms sehr nützlich sein, wird ihm sein Amt wesentlich erleichtern; daß sie ihm aber unentbehrlich, ja, als intergrierender Bestandteil dieses Amtes zu betrachten sei, ist eine falsche Meinung, und diese konnte nur entstehen, weil man zwei grundverschiedene Tätigkeiten miteinander verwechselte oder vermengte: das Übersetzen und das Dolmetschen. Wer den Wortsinn eines Textes ohne Rücksicht auf die Form mit unfreier Genauigkeit aus einer Sprache in die andere überträgt, der ist noch kein Übersetzer, sondern nur ein Dolmetsch. Er verrichtet auf niederer Stufe eine halb und halb mechanische, auf höherer eine wissenschaftliche Arbeit, niemals aber eine künstlerische. Die Arbeit des Übersetzers dagegen beginnt erst da, wo die des Dolmetsch aufhört. Sind beide in einer Person verbunden, umso besser; aber es ist auch sehr wohl denkbar, daß sie zwei verschiedene Personen sind, daß der Übersetzer das Dolmetschen von einer Hilfskraft sich abnehmen oder wenigstens vereinfachen läßt. Und darum ist es ferner denkbar – so paradox das vielen klingen mag – daß ein tüchtiger Übersetzer, wenn er über die geeignete, zuverlässige Hilfskraft verfügt, aus einer Sprache übersetzen kann, von der er nicht ein einziges Wort versteht. Tatsächlich sind auf diesem Wege schon sehr achtbare Nachdichtungen zu stande gekommen. Bekanntlich hat Schiller die "Iphigenie in Aulis" des Euripides und Szenen aus den "Phönizierinnen" desselben Dichters verdeutscht, obwohl er des Griechischen so gut wie gar nicht mächtig war. Als Hilfskräfte dienten ihm lateinische und französische Versionen; und wenn seine Übersetzungen auch nicht einwandfrei sind, künstlerisch sind sie ganz gewiß. Wer wird sie in ihrer Kongenialität mit dem Geiste des Originals, in ihrem sprachlichen Glanz und Reichtum nicht ohne Besinnen den gänzlich leblosen und darum gänzlich wertlosen Übertragungen mancher wackerer Philologen vorziehen, die sehr viel besser Griechisch konnten als Schiller, aber lange nicht so gut Deutsch?
Nach alledem kann füglich kein Zweifel mehr obwalten, worauf es beim Übersetzen hauptsächlich ankommt. Nicht auf die Beherrschung der eigenen Sprache. Bei der fremden kann dem Übersetzer das Wissen anderer zu Hilfe kommen; bei der eigenen ist er ausschließlich auf sein persönliches Können angewiesen. Sie allein ist der Stoff, an dessen FOmung er seine Kunst zu bewähren hat. Nur als einen weiteren Beleg für diese Behauptung führe ich die Tatsache an, daß ein und dieselbe Person zwar aus mehreren Sprachen, aber keineswegs in mehrere Sprachen künstlerisch übersetzen kann. Den Umfang des Sprachbesitzes und die Feinheit des Sprachgefühls, die zu jeder Nachdichtung unerläßlich sind, kann auch der Begabteste nur in der Muttersprache erreichen. Welch seltsamen Verkennungen jedoch sogar diese scheinbar so plausible Wahrheit unterliegt, wurde mir eines Tages durch den Brief eines hochgestellten und hochgebildeten Mannes bezeugt, der mich um die Gefälligkeit bat, für eine offizielle Publikation einen deutschen Spruch in französische Verse zu bringen. Er tat das mit der schmeichelhaften Motivierung, da ich so geschickt aus französischen Versen deutsche zu machen wisse, so könne ich das doch jedenfalls ebenso gut auch umgekehrt. Als ob eine derart vollkommene Doppelsprachigkeit, wie sie hier als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, nicht zu den seltensten Ausnahmeerscheinungen gehörte! Nicht einmal polyglotte Erziehung von Kindheit an, nicht einmal langjähriger Aufenthalt im Auslande verbürgen sie. Es mag wohl zuweilen vorkommen, daß jemand in zwei Sprachen sich mit gleicher Fertigkeit mündlich und schriftlich auszudrücken weiß; aber bis zum zweisprachigen Dichten – noch obendrein in metrischer Form – ist dann immer noch ein weiter Schritt. Nur äußerst selten gelingt es einmal einem Tausendkünstler, seine Verse in mehr als einer Sprache zu schmieden oder in eine fremde zu übertragen. Auch Heinrich Heine hat dies kühne Wagnis unterlassen, obwohl er fast ein Menschenalter in Frankreich zugebracht; sogar zur Übersetzung seiner Prosaschriften konnte er den Rat und Beistand eines geborenen Franzosen nicht entbehren. Andererseits wurde Chamisso, der in Frankreich das Licht der Welt erblickt und erst als Knabe Deutsch gelernt hatte, nur deshalb zum deutschen Dichter, weil er seine Muttersprache bis zu einem gewissen Grade vergaß.
Ich wiederhole: das Instrument, das der deutsche Übersetzer mit möglichster technischer Vollendung zu meistern hat, ist einzig und allein die deutsche Sprache. Sprachtechnik aber will geübt und erlernt sein; sie ist kein Allgemeingut der Bildung; sie wird auch der Begabung nicht in den Schoß geschüttet. Was Goethe vom Leben sagt: "Ein jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt," das läßt sich auch auf die Muttersprache anwenden. Ein jeder spricht sie, nicht vielen ist sie bekannt. Unsere durchschnittsmäßige Übersetzungsmarktware liefert den betrüblichen Belegt dafür. Zum mindesten sollte man doch den Befähigungsnachweis verlangen, daß jemand im stande ist, seine eigenen Gedanken und Empfindungen tadellos auszudrücken, bevor man ihm gestattet, die eines anderen wiederzugeben; noch dazu eines anderen, der auf diesem Gebiet ein Virtuos oder gar ein Meister ist. Kurzum, der Übersetzer mag dem Dichter in allen sonstigen Gaben nachstehen; sprachtechnisch aber muß er ihm ebenbürtig sein. Der Dolmetsch tut genug, wenn er sich fragt: Wie heißt das auf Deutsch? Der Übersetzer aber muß sich fragen: Wie würde der Dichter das ausgedrückt haben, wenn er ein Deutscher wäre? Und nur die freie Verfügung über alle Sprachmittel kann ihm von Fall zu Fall die rechte Antwort lehren. Mit der gleichen Sorgfalt und Gewandtheit wie der Autor muß er die Pointen schleifen; er muß für jede sprichwörtliche, jede volkstümliche Wendung, für jede uns unverständliche Anspielung das heimische Äquivalent ausfindig machen; er muß unter völlig verschobenen Bedingungen das Wortspiel nachbilden, den Wohllaut nachahmen. Aller Übersetzungskunst voran sollte daher die prinzipielle Vorschrift stehen, daß man die Form, in der man sich abhängig zu bewegen hat, zunächst unabhängig beherrsche. Nur wer selbständig deutsche Prosa schreiben kann, dürfte ein fremdes Prosawerk übersetzen; nur wer selbständig deutsche Verse machen kann, eine Versdichtung.
Hier wären wir also bei der metrischen Poesie angelangt, und es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß sie vom Übersetzer noch spezielle, in ihrer Sonderart begründete Eigenschaften fordert. Eine achtbare Fertigkeit im Prosastil läßt sich von jedem bei geeigneter Vorbildung durch Ausdauer erwerben; die Gabe des metrischen Ausdrucks ist nicht erlernbar. Denn Vers und Reim enthalten ein musikalisches Element; die uralte Verwandtschaft zwischen Dichtung und Musik, die ja anfänglich eine gemeinsame Kunst waren, besteht in ihnen fort. Ebenso aber wie musikalische Veranlagung im engeren Sinn ist das Gefühl für den Rhythmus und die Melodik der Sprache angeboren; ebenso wie jene äußert es sich zumeist schon in sehr frühen Jahren, spontan und unbewußt. Wer daher, ohne von Haus aus sprachmusikalisch zu sein, sich abmüht, Verse zu drechseln, der wird dabei nicht weiter kommen, als ein Mensch ohne Gehör, der zu komponieren versucht. Dennoch werden Versübersetzungen immer wieder von Leuten in Angriff genommen, die jene unerläßliche Naturgabe nicht besitzen, ja nicht einmal zu besitzen glauben. Sie denken sich offenbar, die holpernden und stolpernden Verse, die hilflosen Flickreime, die bei einer deutschen Originaldichtung ihnen selbst nicht genügen würden, seien für eine Übertragung ausreichend. Und dabei kommt ihnen wohl gar nicht zum Bewußtsein, wie unverantwortlich sie sich an dem fremden Vogel vergreifen, der von seinen Landsleuten nicht zuletzt wegen der Farbenpracht seines Gefieders bewundert wird, indem sie ihn zurichten wie einen gerupften Pfau.
Die metrische Form ist ja nicht nur ein äußerlicher Schmuck, den eine Dichtung unbeschadet ihrer übrigen Vorzüge beliebig abstreifen könnte. Nein, sie entspringt einer inneren Nötigung; der Dichter wählt sie nicht, sie wird ihm durch die Natur seines Werkes aufgezwungen. Sie bedeutet für ihn dasselbe, was die Tonart für den Komponisten bedeutet; sie ergibt sich ihm unwillkürlich aus dem Gefühlsgehalt, sobald seine Seele überhaupt anhebt zu klingen. Der Übersetzer, der dieses Klingen nicht richtig hört, nicht bis auf Halbtöne richtig wiedergibt, gleicht einem Klavierspieler, der fortwährend daneben greift, jedes feinere Ohr zerreißend.
Nun erhebt sich hier aber noch eine ganz neue Schwierigkeit. Dieselbe Inkongruenz, die wir zwischen den verschiedenen Sprachen feststellen mußten, waltet auch bei deren metrischen Formen. Auch diese decken sich keineswegs, weder in ihren Gesetzen noch in ihren Wirkungen. Eine Versform, die in der einen Sprache volkstümlich ist, kann in der anderen steif akademisch erscheinen; eine, die hier Lichter und Farben sprüht, wird dort nüchtern und trocken herauskommen; und wieder eine, die dort in süßestem Wohllaut schwelgt, schallt hier wie eintöniges Geklapper. Der Übersetzer muß sich also jedesmal die Frage vorlegen, ob er seinem Dichter durch Beibehaltung oder durch Änderung der Originalform den größeren Gefallen erweist. Entscheidet er sich für die Beibehaltung, so erwächst ihm die Pflicht, den ganzen Reiz, den die betreffende Form in der fremden Sprache ausübt, ihr auch in der heimischen abzugewinnen. Das Deutsche bietet ihm hierzu, wie schon bemerkt, für einen außerordentlichen weiten Kreis von Formen die günstigsten Handhaben. Aber keineswegs für alle. Sobald er befürchten muß, durch die Nachbildung einer fremden Form gleichzeitig dieser selbst wie dem Genius unserer Sprache Gewalt anzutun, dann tritt die schwere Aufgabe an ihn heran, diese Form durch eine möglichst entsprechende zu ersetzen. Welche das ist, darüber kann in jedem einzelnen Falle nur sein Takt, nur sein Instinkt entscheiden. Unter keinen Umständen aber darf sie dem Stil oder dem Kostüm des Originals widerstreben. So war zum Beispiel der Versuch, die Hexameter der Homer in romantische
Ottave rime umzuschmelzen, verfehlt; dagegen hat es sich aufs glücklichste bewährt, als man den Trimeter des antiken Dramas, der im Deutschen durch seine ungelenke Feierlichkeit sowohl dem Sprecher wie dem Hörer beschwerlich fällt, durch unseren fünffüßigen Jambus ablöste. Denn nur beschränkte Pedanterie kann darauf bestehen, daß man einem lebendigen Dichterwerk die für uns tote Form erhalte, in der es zu einer anderen Zeit und bei einem anderen Volk ans Licht trat. Dort und damals hat ja diese Form gelebt; nur durch eine lebende kann daher ihre vom Dichter beabsichtigte Wirkung gespiegelt werden.
Die eigentliche Domäne des Verses ist die Lyrik. Die erzählende und die dramatische Kunst können auf die metrische Form verzichten und tun dies heutzutage bei der überwiegenden Zahl ihrer Hervorbringungen; das Lied wird ewig auf sie angewiesen sein. Wenn nun erfahrungsgemäß von allen Gattungen der Poesie die Lyrik dem Übersetzer die stärksten Hindernisse in den Weg rückt, so liegt das nicht nur daran, daß sie als die am meisten persönliche Kunst auch das vollkommenste Aufgehen in die fremde Persönlichkeit erheischt. Nein, hier treffen auch die Inkongruenz der Sprachen und die Inkogruenz der Formen derart zusammen, daß sie einander potenzieren. Ein gutes Gedicht ist gewissermaßen immer ein Glücksfall, eine günstige Begegnung von Gefühl und Wort. Das Gefühl ist so beschaffen, daß die Worte, in denen es sich Luft macht, rhythmische Bewegung, musikalischen Wert besitzen; die Worte sind so beschaffen, daß sie von Urbeginn für dieses Gefühl prädestiniert erscheinen. Solch ein Glücksfall kann sich unter den veränderten Bedingungen einer fremden Sprache unmöglich genau wiederholen. Jedes echte Lied wurde vom Genius der Sprache selbst gedichtet; der Poet hat ihm nur die Zunge gelöst, hat die unsichtbare Schrift der Natur plötzlich aufleuchten lasse wie ein Transparent. Darum ist jedes echte Lied im Grunde genommen unübersetzbar. "Füllest wieder Busch und Tal" oder "Über allen Wipfeln ist Ruh'" – das ist der unmittelbare Atem der deutschen Natur; das läßt sich ebensowenig übertragen, wie sich ein Buchenwald in einen Olivenwald verwandeln läßt. Wohl haben dichterische Sprachvirtuosen wie Freiligrath, Gebel, Heyse und Gildemeister der Übersetzungskunst mit siegreicher Kraft auch lyrisches Gebiet erobert; aber selbst ihren unübertrefflichen Arbeiten ist es nicht geglückt, den fremden Sängern das deutsche Bürgerrecht zu erwerben. Tatsächlich hat noch nie ein Lyriker über die Grenzen seiner Heimat hinaus Popularität erlangt. Um ihn zu verstehen, muß man "in seine Lande geh'n".
Noch eine sehr wichtige, allgemeine Frage bleibt zu erörtern: Inwieweit soll die Übersetzung treu sein? Wo endet ihre Gebundenheit und wo ihre Freiheit? So verschieden die Antworten auf diese Frage ausfallen mögen und so sehr man auch geneigt sein mag, hierin der Praxis einen weiten Spielraum zu gönnen, einiges Grundsätzliche wird sich doch darüber feststellen lassen. Die Gebundenheit bis zur gänzlichen Sklaverei auszudehnen, ziemt nur dem Dolmetsch; denn erst mit der freien Wahl zwischen allen Möglichkeiten beginnt ja des Übersetzers künstlerisches Geschäft. Sobald andererseits die Freiheit über ein billiges Maß hinausgeht, verläßt sie damit den Boden der Kunst, von der hier die Rede ist; es handelt sich dann nicht mehr um eine Übersetzung, sondern um eine Bearbeitung. Aber auch innerhalb der unverschiebbaren Schranken, die dem eigentlichen Übersetzer vorgezeichnet sind, stehen ihm je nach seinem Ziel zwei entgegengesetzte Bahnen offen. Sein Ziel kann nämlich entweder sein, eine fremde Welt für uns zu kolonisieren oder diese fremde Welt bei uns zu akklimatisieren; entweder uns in die Heimat des Dichters zu entrücken oder den Dichter an unserem Herde anzusiedeln.
In zahlreichen Fällen wird man sich schlechterdings für die erste Bahn entscheiden müssen, weil sie allein Erfolg verheißt. Überall da, wo das zu übertragende Werk einer zeitlich oder räumlich fernliegenden Kultur angehört, wo die in ihm dargestellten Zustände, Sitten, Anschauungen von den unserigen durch eine nicht überbrückbare Klugt getrennt sind, muß das ganze Bemühen des Übersetzers darauf hinsteuern, unsere Phantasie über Jahrhunderte oder Ozeane hinwegzutragen bis in den fernen Zaubergarten hinein, dessen märchenhafte Bilder und exotische Düfte uns berauschen sollen. Wie auf einer Reise vieles im Leben und Treiben eines fremden Volkes uns anmutet und fesselt, was uns daheim bei unseresgleichen unbegreiflich oder abgeschmackt vorkäme, so bleibt auch der fremdartige Horizont einer Dichtung für uns nur anziehend, solange wir uns seiner Fremdartigkeit bewußt sind. Doch als störend, verwirrend, abstoßend empfinden wir diese, wenn wir sie nicht mehr klar erkennen. Darum hüte sich der Übersetzer, sie zu verdunkeln, sie durch unzulängliche Anpassungsversuche aufheben zu wollen. Er weckt uns damit unsanft aus einer schönen Illusion; wir träumen, tausend Meilen weit zu sein, und entdecken plötzlich, daß nur das Traumbild tausend Meilen weit ist, wir aber an unserem Ofen sitzen. Diese Ernüchterung wird jedoch unvermeidlich eintreten, wenn der Übersetzer in der verkehrten Absicht, das ewig Ferne uns anzunähern, für ungewöhnliche Dinge allzu vertraute Bezeichnungen wählt, die Begriffe eines unter anderen Gesetzen stehenden Lebenskreises mit Worten unserer täglichen Umgangssprache ausdrückt. Die Kluft, die er damit zudecken will, wird im Gegenteil so nur verbreitert; denn je heimischer das Wort, desto wunderlicher die Sache. Wenn ein Mensch aus einer heterogenen Kulturwelt genau so redet wie unser Herr Nachbar, dann kommen wir nicht mehr über das schreiende Mißverhältnis hinweg, daß er ganz anders wie der Herr Nachbar denkt empfindet und handelt. Kurzum, der Übersetzer muß vor allem Sorge tragen, daß wir die rechte Distanz einnehmen und behalten. Er muß sich daher dem Original in allen formellen und stilistischen Eigenheiten mit möglichster Treue anschmiegen, indem er der deutschen Sprache die Gewandung jener fremden Kultur überwirft. Dies ist sein Weg bei Nachdichtungen antiker, mittelalterlicher oder orientalischer Poesie; aber auch all jenen neueren Werken, die ihrer Wurzelständigkeit und ihrem Schollenduft den größten Teil ihrer Anziehungskraft verdanken, wird der Übersetzer nur gerecht werden, wenn er in dem hier dargelegten Sinne "treu" ist.
Auf dem entgegengesetzten Wege sollen also nicht wir zu dem Dichter befördert werden, sondern er zu uns. Da gilt es nicht nur, ihn zu übersetzen, sondern gleichzeitig ihn auch zu überzeugen vom jenseitigen Ufer des Stromes, der zwei Völker scheidet, an das diesseitige. Damit er sich einem solchen Transport anbequeme, bedarf es aber einer bereits vorhandenen Verwandtschaft. Die inneren Gemeinsamkeiten zwischen seiner Welt und der unserigen müssen stark genug sein, um die trennenden Verschiedenheiten in den Hintergrund treten zu lassen. Unleugbar kommt hierbei die gesamte Kulturentwicklung dem heutigen Übersetzer hilfreich entgegen. Im Zeitalter des Verkehrs sind die Scheidewände zwischen den Nationen lange nicht mehr so bedeutsam wie ehedem, und der rege Austausch aller materiellen und geistigen Güter übt auch auf die Literaturen einen stets zunehmenden nivellierenden Einfluß. Von vielen modernen Dichterwerken läßt sich daher behaupten, daß sie in verschiedenen Zungen die allgemeine Sprache der europäischen Zivilisation reden. Solche Erzeugnisse kosmopolitischen Geistes werden uns deshalb auch in treuer Übersetzung gerade so vertraut anblicken wie das Leben der Hauptstädte, aus dem sie erwachsen sind. Aber es gibt noch einen anderen, höheren Kosmopolitismus als den des modernen Großstadtpoeten; das ist der Kosmopolitismus des Genies. Dichter ersten Ranges greifen, wie alle wahrhaft erleuchteten Geister, nicht nur über ihre Zeit, sondern auch über ihr Vaterland hinaus. Die tiefen Geheimnisse, die sie in der Natur und in der Menschenseele aufspüren, haben universelle Bedeutung; die Offenbarungen, die von ihnen ausstrahlen, bergen in sich die Kraft, gleich der Sonne ihren erhellenden, erwärmenden Rundgang rings um die Erde anzutreten. Wohl kann das Lebenswerk solcher Heroen seinen zeitlichen und örtlichen Ursprung nicht verleugnen; doch dieser erscheint neben seinem allgemein menschlichen Gehalt, seiner ewigen GIltigkeit als zufällig und nebensächlich. Dem Genius sich zu nähern, darf der Übersetzer demnach nur auf dem zweiten Wege hoffen; er soll uns die Heilsbotschaft so vermitteln, daß sie, wie an der Stätte ihrer Geburt, unmittelbar zu den Herzen dringt. Zum rührenden Vorbild mag ihm dabei einer der ältesten deutschen Nachdichter dienen, der Verfasser der altsächsischen Evangelienharmonie "Heliand", der vielleicht unbewußt, vielleicht aber auch mit weise Absicht den morgenländischen Erlöser in einen germanischen Recken verwandelte. Seine naiven Zuhörer und Leser hätten wohl kaum in der fremdartigen Schale des Originals den ewigen Kern des Evangeliums erfassen können; diesen deutschen Heiland konnten sie leichter verstehen und darum leichter lieb gewinnen. Ungefähr so verhält es sich mit dem Evangelium eines großen Dichters. Auch ihn sollen wir verstehen und lieben lernen wie einen der unserigen; daß er also nicht nur die deutsche Sprache rede, sondern in unseren Augen ganz und gar ein Deutscher werde, dies ist das letzte und höchste Ziel der Übersetzungskunst. Vermag sie es zu erreichen, dann hat sie eine friedliche Usurpation vollbracht; sie hat einen ursprünglich fremden Besitz vollkommen erobert, ohne ihn den rechtmäßigen Eigentümern zu schmälern; sie hat den Nationalreichtum in schönstem Sinne gemehrt. Dem Übersetzer, der zu diesem Ziel vorzudringen wünscht, kann es also nicht so sehr darauf ankommen, möglichst treu, als möglichst deutsch zu sein. Jede Freiheit, die er sich zu dem Zwecke nimmt, Äußerlichkeiten der fremden Herkunft zu verwischen, Einzelheiten unserem Empfinden, unserer Anschauungsweise anzugleichen, ist ihm hier erlaubt, ja geboten. Soll doch durch seinen Mund der Genius genau so sprechen, wie er gesprochen hätte, wenn er als Deutscher auf die Welt gekommen wäre; soll er doch für das neue Vaterland noch einmal neu geboren werden! Der Schlegelsche Shakespeare hat gezeigt, bis zu welchem Grade dieses Ideal verwirklicht werden kann. Der unsterbliche Brite ist an des Nachdichters Hand als ein Gleichberechtigter neben unsere nationalen Klassiker getreten; es ist nur die äußere Bestätigung dieser Tatsache, wenn man ihm jetzt gerade in Weimar ein Denkmal aufgerichtet hat. Hunderte von geflügelten Worten aus seinen Dramen wenden wir an, ohne nur daran zu denken, daß ihre Form von Schlegel geprägt worden. Und weil sie uns wie die Urform erscheint, weil diese Übersetzung fähig gewesen ist, sich selbst vergessen zu machen, darum wird sie nie und nimmer durch eine philologisch "treuere" aus dem Herzen des deutschen Volkes verdrängt werden können.
Es wäre unbillig, von jedem Künstler zu erwarten, daß er das Höchste leiste; wohl aber darf man von jedem fordern, daß er sein eigenes Können daran prüfe und messe. Soll allein der Übersetzer diesem gerechten Anspruch sich entziehen dürfen? Nein, er soll es nicht; und deshalb kann der Ernst und die Größe seiner Aufgabe nicht eindrücklich genug betont werden. Denn ein künstlerisches Ideal, recht sichtbar und greifbar aufgepflanzt, hat den zwiefachen Wert: die Berufenen anzufeuern und die Unberufenen abzuschrecken.
Zitiert nach:
Ludwig Fulda, "Die Kunst des Übersetzens", in: Ders., Aus der Werkstatt. Studien und Anregungen (Stuttgart, Berlin: Cotta, 1904), S. 157-183. [Nachdruck in: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, 1 (1929), S. 263-286].