Einleitung:
Schon im Jahre 1598 existirten Sonette von Shakespeare's Hand, welche handschriftlich unter seinen Freunden verbreitet waren und wenigstens in diesem engern Kreise Bewunderer fanden. Dies erhellt aus der vielcitirten Stelle der 1598 gedruckten "
Palladis Tamia " von Francis Meres, in welcher es heißt: "Wie man glaubte, daß des Euphorbus Seele im Pythagoras lebe, so lebt die anmuthige köstliche Seele des Ovid in dem honigzüngigen Shakespeare; das bezeugen sein "Venus und Adonis", seine "Lucrezia", seine zuckersüßen (
sugred ) Sonette unter seinen Privatfreunden." Es läßt sich freilich nicht beweisen, daß die Sonette, von welchen Meres hier redet, die nämlichen waren, welche uns erhalten geblieben sind, und namentlich nicht, daß unsere Sammlung alle damals unter Shakespeare's Freunden circulirenden Gedichte und nur diese enthält; allein es ist andererseits auch gar kein Grund vorhanden, an der Identität zwischen der Meres bekannten und der noch existirenden Sammlung, wenigstens was die Mehrzahl der Gedichte betrifft, zu zweifeln. Für diese Annahme streitet auch ein positiver Umstand. Der Buchhändler Jaggard misbrauchte im Jahre 1599 Shakespeare's Namen, um eine von ihm verlegte Gedichtsammlung "
The Passionate Pilgrim ", in Curs zu bringen, und um den Betrug einigermaßen zu verstecken, eröffnete er seine Sammlung mit zwei echten Sonetten Shakespeare's. Diese beiden nun finden sich, mit nur unerheblichen Varianten, auch in unserer Sammlung. Jedenfalls enthält also letztere wenigstens einige der 1599 schon bekannten Gedichte.
Innere Gründe des Stils und der poetischen Entwickelung führen zu der Vermuthung, daß die Sonette, wie wir sie besitzen, zu den frühesten Erzeugnissen der Shakespeare'schen Muse gehören; manche von ihnen mögen noch vor "Venus und Adonis" (gedruckt 1593) entstanden sein, die meisten sind schwerlich in eine spätere Periode als die von 1593 – 97 zu setzen. Zwar nennt der Dichter selbst "Venus und Adonis" in der Widmung sein Erstlingswerk (
the first heir of my invention ), aber dieser Ausdruck schließt sicherlich nicht die Möglichkeit, ja die hohe Wahrscheinlichkeit aus, daß dem ersten größern, für den Druck bestimmten Werke kleinere poetische Versuche vorangegangen seien. Nicht allein daß "Venus und Adonis" eine bereits vers- und stilgewandte Feder verräth, sondern es kommen auch in diesem Gedichte ziemlich zahlreiche Parallelstellen zu den Sonetten vor, welche auf die Priorität der letztern schließen lassen. Aus ihnen, die nur handschriftlich existirten und nur wenigen zu Gesichte kamen, konnte der Dichter unbedenklich Ornamente für sein erstes Druckwerk entlehnen, schwerlich aus letzterem für die Sonette, an deren Veröffentlichung er nie gedacht zu haben scheint.
Erst im Jahre 1609 veranstaltete ohne des Dichters Zuthun ein speculativer Buchhändler, Thomas Thorpe, einen Abdruck der Sonette in Quart, welcher unter folgendem Titel ausgegeben wurde: "
Shake-speare's sonnets. Neuer before Imprinted. At London By G. Eld for T. T. (d. i.
Thomas Thorpe )
, and are tob e solde by William Aspley ." (Shakespeare's Sonette, noch nie bisher gedruckt. London, gedruckt bei G. Eld für T. T. und zu verkaufen bei William Aspley.) Schon dieser Titel deutet an, daß nicht neue und bisher unbekannte, sondern solche Gedichte dargeboten wurden, von deren Existenz die Liebhaber wußten. Nicht "Sonette von Shakespeare", sondern "Shakespeare's Sonette", mit charakteristischer Weglassung des Vornamens, "noch nie bisher gedruckt", also schon längere Zeit existirend, werden angekündigt. Die Ausgabe trägt an der Spitze eine Widmung des Verlegers an einen unbekannten Mister W. H., welche der Anlaß zahlreicher Controversen geworden ist, worüber weiter unten das Nähere. Die Widmung lautet:
"Dem alleinigen Beschaffer (
begetter, was auch Erzeuger heißen kann) dieser nachstehenden Sonette Mr. W. H. wünscht alles Glück und diejenige Unsterblichkeit, welche unser ewiglebender Dichter verheißen hat, der wohlwünschende Unternehmer beim Beginne. T. T."
Hiernach scheint es, daß ein gewisser W. H. die im Privatbesitz befindlichen Sonette sammelte und sie dem Verleger zum Drucke übergab. Vermuthlich gab es keine von Shakespeare selbst geordnete vollständige Sammlung, sondern die einzelnen Gedichte oder längere Abschnitte zusammengehöriger Sonette befanden sich zerstreut in den Händen seiner Freunde, und W. H. oder Thomas Thorpe begnügte sich damit, diese
disjecta membra äußerlich aneinanderzureihen, ohne sich viel um den innern Zusammenhang oder gar um die chronologische Reihenfolge zu kümmern. So erklärt es sich, daß in der Sammlung Ordnung und Unordnung nebeneinander herrschen. Bald folgen die Sonette einander in augenscheinlich richtiger Zusammenstellung, bald wird der Zusammenhang durch Einschiebungen unterbrochen. Schon die 1640 erschienene zweite Ausgabe suchte diesem (nicht sehr erheblichen) Uebelstande durch eine systematischere Ordnung der Sonette abzuhelfen; indeß fiel dieser Versuch nicht sehr glücklich aus, und die spätern Herausgeber sind, fast ausnahmslos, zu der Reihenfolge der ersten Quarto zurückgekehrt, welche wenigstens theilweise vom Dichter selbst herrühren kann und daher nicht willkürlich geändert werden sollten.
Der Inhalt der Sonette dreht sich, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, um zwei Themata. Die bei weitem größere Anzahl behandelt Verhältnisse und Beziehungen zu einem schönen jungen Freunde, diese aber in den verschiedensten Tonarten und in der verschiedensten Weise. Durchgängig wird nur seine leibliche Schönheit und Jugend gepriesen, in allen übrigen Punkten herrscht Mannichfaltigkeit und zum Theil Widerspruch der Züge. Die Vergänglichkeit alles Irdischen veranlaßt den Dichter, dem Freunde einzuschärfen, für die Erhaltung seiner Schönheit in nachwachsenden Kindern Sorge zu tragen, und ihm den Werth der Verse vorzuhalten, in denen er ewig jung fortblühen werde. Die Selbstverleugnung und Beständigkeit der Freundschaft, die Schmerzen der Trennung, die Tugenden des Gefeierten werden besungen; dann wieder erschallen Klagen über Untreue, Vernachlässigung, sittenlosen Wandel des Jünglings, die sich bis zu dem Vorwurfe steigern, daß er den Dichter um die Liebe seiner Geliebten betrogen habe. Andere Gedichte bekämpfen den Einfluß, welchen ein rivalisirender Poet auf das Gemüth des Freundes zu gewinnen droht, oder rechtfertigen den Dichter, daß er mit seinen Lobliedern zurückhaltender sei als andere. Seine eigene Muse stellt der Dichter bald als äußerst dürftig und kunstlos dar, bald redet er von ihr mit dem sichersten Selbstvertrauen; seine Stellung zum Freunde erscheint bald ebenbürtig, bald völlig untergeordnet, ja unwürdig; bald ist der Ton vertraulich und zwanglos, bald voll Ehrerbietung wie der eines geringen Mannes, der zu einem vornehmen Herrn redet.
Nur die letzten 28 Sonette von 154 der Sammlung handeln von der Liebe zu einem Weibe, wenn man nicht berücksichtigen will, daß auch unter den übrigen 126 sehr viele sich finden, welche sowol dem Inhalte wie der Grammatik nach für Gedichte an eine Geliebte gelten könnten. Die meisten jener 28 Sonette schildern die Stimmungen eines Verliebten, welcher, in den Banden einer reizenden, aber lasterhaften Schönen schmachtend, über deren sittlichen Unwerth er sich keinen Täuschungen hingeben kann, dem inneren Conflicte bald durch Ironie und Selbstverspottung, bald durch pathetische Klagen über die Macht der Sinnlichkeit Ausdruck verleiht. Dazwischen stehen dann zärtliche oder galante Tändeleien von indifferenter Temperatur.
Daß Gedichte solches Inhalts, von einem Dichter wie Shakespeare geschrieben, mit der zunehmenden Verehrung des Publikums vor dem großen Dramatiker die Aufmerksamkeit mehr und mehr fesselten und die Phantasie der Forscher lebhaft beschäftigten, ist begreiflich genug. Selbst von Shakespeare's äußerem Leben wissen wir nur ungemein wenig; von seiner inneren Entwickelung, von seinem Charakter, seinem Temperament, seinen Leidenschaften und seinen Herzenserlebnissen wissen wir nichts. Nur seine Werke sind da, aus denen auf das Wesen des Verfassers zurückzuschließen uns freisteht. Die Begierde, etwas Zuverlässigeres über das Seelenleben eines Mannes zu erfahren, der so Unvergleichliches geschaffen hat, mußte sich einstellen, sobald die Dramen Shakespeare's anfingen von neuem die allgemeine Bewunderung zu erregen. Mit leicht erklärlicher Spannung begann man daher die vergessenen Sonette wieder zu studiren und in ihnen die Offenbarungen über des Dichters eigenstes Wesen zu suchen, welche seine dramatischen Werke vermissen lassen. Daß die Sonette solche Offenbarungen enthielten und enthalten müßten, war zunächst als selbstverständlich angenommen; lehrte doch die Theorie, daß Sonette und lyrische Gedichte überhaupt dazu daseien, um die eigenen Gefühle und Stimmungen des Dichters, seine "Subjectivität", zu Tage treten zu lassen. Große Dichter der neueren Zeit hatten diese Theorie auf das glänzendste bestätigt, und es schien daher nicht zweifelhaft, daß Shakespeare ebenso wie Goethe und Byron ein Stück seines wirklichen Lebens, im biographischen Sinne des Worts, in Versen der Welt dargelegt habe. Die neugierigen Fragen, welche man von solcher Voraussetzung aus an die Sonette richtete, erhielten freilich eine höchst sonderbare Antwort. Der Dichter erschien in diesen Gedichten von Leidenschaften und Empfindungen beherrscht, die man in dem Schöpfer so gewaltiger Dramen am wenigsten gesucht hätte. Allein in naiver Gläubigkeit stieß man sich nicht an der Seltsamkeit des Orakels, sondern richtete allen Scharfsinn nur darauf, demselben möglichst viel Wissensbereicherung abzugewinnen. Die Engländer namentlich, ihrer aufs Positive gerichteten Natur folgend, bemühten sich, actenmäßig festzustellen, auf welche historische Persönlichkeiten und auf was für thatsächliche Verhältnisse die dunklen Andeutungen der Sonette zu beziehen seien.
Zunächst kam es natürlich darauf an, den Phönix von jungem Manne, welcher einen Dichter wie Shakespeare in so ungewöhnlicher Weise bezaubert hatte, zu identificiren. Die meisten Ausleger verfielen sofort auf den Grafen von Southampton, von dem es ja bekannt war, daß er zu den Gönnern des jungen Dramatikers gehört habe, dem ja ohnehin zwei Werke des Dichters, "Venus und Adonis" und "Lucrezia" von diesem in Ausdrücken einer zwar ehrerbietigen, aber warmen Anhänglichkeit gewidmet worden sind. Hier hatte man jedenfalls eine geschichtliche Persönlichkeit, auf welche wenigstens einige Merkmale paßten, die in den Sonetten bezeichnet, angedeutet oder auch nur gefunden wurden. Der Graf war ein vornehmer Herr, zehn Jahre jünger als Shakespeare, ein ritterlicher und glänzender Cavalier, wohl geschaffen eine innige Freundschaftsneigung an sich zu fesseln. Von einer selbst sehr lebhaften Neigung bis zu einem so innigen Verhältnisse, wie die Sonette es feiern, war freilich noch ein sehr weiter Schritt, und es läßt sich keine einzige beglaubigte Thatsache anführen, welche auf ein solches Verhältniß zwischen dem Grafen und dem Dichter auch nur entfernt schließen ließe. Hätte ein solches bestanden, so hätte es nicht verfehlen können in weiten Kreisen Aufsehen zu machen; die hervorragende Stellung des Grafen, die Ungewöhnlichkeit einer vertrauten Freundschaft zwischen einem Reichspair und einem Schauspieler, Shakespeare's literarischer Ruhm würden unzweifelhaft wenigstens einige Bemerkungen der Zeitgenossen über diesen Punkt veranlaßt haben. Aber so sorgfältig man gesucht hat, man hat nirgend auch nur eine Spur davon gefunden. Wir haben Anspielungen auf die königliche Gunst, deren Shakespeare sich erfreute; wir haben eine ganze Reihe von Lobesdenkmälern, welche Southampton's Tugenden und namentlich auch seine Liebe zur Dichtkunst preisen, aber nirgend wird auch nur darauf angespielt, daß er vor anderen Shakespeare begünstigt oder gar ihm so nahe gestanden habe, wie die Vertheidiger der Southampton-Theorie doch behaupten müssen. Ob selbst äußere und chronologische Unmöglichkeiten vorliegen, wie von Delius und andern versichert, von einigen bestritten wird, wage ich nicht zu entscheiden; jedenfalls scheint bis zum Jahre 1594 Shakespeare den Grafen lediglich als einen dem Range nach hoch über ihm stehenden Gönner gekannt zu haben, wie der Ton seiner Widmung von "Lucrezia" zeigt. Das zarterte Verhältniß müßte nothwendig erst nach diesem Jahre sich entwickelt haben. Es wäre in diesem Falle aber doch sehr befremdlich, daß der Dichter einen bereits an großen Unternehmungen betheiligten, zweiundzwanzigjährigen Mann, ein Mitglied des höchsten Reichssenats, "
sweet boy " nennt. Weit gewichtiger freilich als alle diese historische Kritik sind die in den Gedichten selbst liegenden Argumente, von denen hernach die Rede sein wird.
Neben der Southampton-Theorie, welche zuerst von Drake in dem Werke "
Shakespeare and his times " (1817) aufgestellt ward, steht als Rivalin eine andere, welche wir die Pembroke-Theorie nennen können. Die Herausgeber der berühmten Folio-Ausgabe der Shakespeare'schen Dramen vom Jahre 1623, Heminge und Condell, widmeten dieselbe dem Grafen William von Pembroke und dessen Bruder dem Grafen Philipp Montgomery, weil "Ihro Herrlichkeiten diesen Spielereien (
trifles ) und dem Autor bei dessen Lebzeiten so viel Gunst erwiesen" hätten. Dieser Umstand hat zwei Forscher zugleich, Armitage Brown ("
Shakespeare's Autobiographical Poems ", 1838) und James Boaden ("
On the Sonnets of Shakespeare "), auf den Einfall gebracht, den ersteren dieser beiden Lords mit dem räthselhaften Gegenstande der Sonette zu identificiren. Lord Pembroke's Ansprüche auf diese Ehre sind ungefähr die nämlichen, welche die Anwälte des Grafen Southampton für diesen anführen, nur mit dem Unterschiede, daß Pembroke noch sieben Jahre jünger war als sein Rival und daher freilich das Prädicat "
boy " in vollem Maße verdiente. Die Sonette waren allerspätest im Jahre 1598 schon geschrieben und bekannt, wie Francis Meres
loco citato bezeugt; der Graf von Pembroke wurde in diesem Jahre achtzehn, und der Dichter erklärt, daß er ihn vor drei Jahren bereits in der nämlichen Blüte der Schönheit gekannt habe (104. Sonett), ja er stellt ihm (70. Sonett) das Zeugniß aus, daß er alle Anfechtungen der Jugend nunmehr hinter sich habe!
Beide Erfinder dieser Hypothese legen das größte Gewicht auf die Worte, mit denen der Buchhändler Thorpe die Sonettensammlung dem mysteriösen Mister W. H., als deren einzigem "
begetter " oder Erzeuger, wie sie interpretiren, gewidmet hat. Der Graf von Pembroke hieß William Herbert; die Anfangsbuchstaben wären somit allerdings in Ordnung. Leider hieß er so nur bis zum Jahre 1601, während Thorpe's Ausgabe 1608 erschien, zu einer Zeit, wo man den Grafen Pembroke weder Mister noch Herbert nennen durfte. Die Southampton-Partei hat sich übrigens diese morsche Krücke auch nicht nehmen lassen wollen; ihr Prätendent hieß, ehe er Graf wurde, Henry Wriothesley, also gleichfalls W. H., nur in umgekehrter Reihenfolge, was denn eine besondere Feinheit des Verlegers bekunden soll, als welcher absichtlich einen Schleier über den Sachverhalt habe werfen wollen, Gott weiß warum. Der Vollständigkeit wegen sei noch erwähnt, daß auch ein Neffe des Dichters, William Hart, den er in seinem Testament bedacht hat, für W. H. gehalten worden ist; er war der Sohn eines Hutmachers in Stratford, welcher letztere 1599 Shakespeare's Schwester heirathete. William Hart wird also schwerlich im Jahre 1598 schon existirt haben.
Nun kann man sagen, alle diese Hypothesen seien zwar nichtig, aber immerhin könne doch ein W. H., wer immer hinter diesen Initialen stecken möge, von Thorpe für den Gefeierten gehalten und in diesem Sinne als der "
begetter " oder Veranlasser der Sonette bezeichnet worden sein. Wäre dies anzunehmen, so ließe sich die Wichtigkeit des Umstandes für die Auffassung der Sonette selbst nicht bestreiten. Es hätte dann jedenfalls zu Shakespeare's Zeiten die Vermuthung existirt, daß die Sonette an eine einzige bestimmte Persönlichkeit gerichtet seien, und man würde nicht umhin können einem solchen Zeugnisse Bedeutung beizulegen, obgleich es immer nur die Existenz einer Ansicht, nicht einer Thatsache beweisen würde. Aber der Wortlaut der Widmung selbst scheint doch gegen diese Auslegung zu streiten. Der Verleger nennt W. H. den alleinigen "
begetter " der Sonette, was sehr verständlich ist, wenn er den Sammler, sehr incorrect, wenn er den Anreger oder Veranlasser im Auge hatte. Denn daß mindestens zwei verschiedene Personen die Veranlasser der Sonette seien, lehrt der oberflächlichste Augenschein. "
Begetter " im Sinne von "Beschaffer" mag ungewöhnlich sein, aber der Verleger gebrauchte wahrscheinlich – nach Art solcher literarischer Dilettanten – geflissentlich einen gezierten Ausdruck, und jedenfalls ist es nicht minder ungewöhnlich das Wort auch in dem Sinne von "Veranlasser" zu gebrauchen. Man wird immer eher den Dichter als den Besungenen unter dem
begetter eines Gedichts verstehen. Auch ist zu bemerken, daß der Verleger dem W. H. nicht etwa die Unsterblichkeit wünscht, welche der Dichter ihm versprochen habe, sondern ganz allgemein die in den Sonetten verheißene Unsterblichkeit: also einen Ruhm, der so lange dauern möge wie die Sonette selbst. Und es wäre in der That höchst sonderbar, wenn ein Mann wie Thorpe jemandem, dem ein Mann wie Shakespeare Unsterblichkeit prophezeihte, diese Unsterblichkeit noch erst hätte wünschen wollen.
Die allmählich dämmernde Einsicht, daß es unmöglich sei, den "Freund" der Sonette auf eine einzige, bekannte oder unbekannte Persönlichkeit zurückzuführen, hat zu verschiedenen andern Lösungsversuchen von zum Theil abenteuerlichster Art geführt. Man hat z. B. gemeint, der schöne Freund, welchen der Dichter so inständig ermahnt, für Leibeserben zu sorgen, sei die Königin Elisabeth, die, beiläufig bemerkt, ungefähr sechzig Jahre alt gewesen sein muß, als der Dichter sei "der Welt frische Zierde und Herold des bunten Frühlings" nannte (Sonett 1). Ein anderer Ausleger hat sich große Mühe gegeben, nachzuweisen, daß Shakespeare in den Sonetten seinen dichterischen Genius unter der Maske eines schönen Freundes besinge, und was dergleichen Phantastereien mehr sind. Alle Versuche dieser Art gehen aus dem Gefühle hervor, daß die buchstäbliche und so zu sagen biographische Interpretation, welche in den Sonetten Geständnisse des Dichters über seine persönlichen Erlebnisse sieht, nothwendig zu einem Restultate führt, welches man nur auf Grund der unumstößlichsten Beweise und auch dann nur widerstrebend acceptiren könnte. Wie kann man sich vorstellen, daß der große Dichter um einen noch so schönen Jüngling, dessen sittlichen Werth er selbst als sehr zweifelhaft schildert, von dessen Tugenden und Verdiensten er nirgend ein eindruckmachendes Wort zu sagen weiß, jene Qualen der Sehnsucht und Eifersucht empfunden, daß er ernsthaft seine eigene Dichtkunst ungenügend, einen solchen Freund zu verherrlichen, genannt, und daß er in seiner Schwärmerei für den Angebeteten schließlich jedes Gefühl der eigenen Würde gänzlich verloren und die ärgste Mishandlung des Freundes nicht allein stumpfsinnig ertragen, sondern auch noch dieses Stumpfsinns sich berühmt und in Versen, welche unter seinen Bekannten circuliren, besungen haben sollte! Und doch muß man dies alles glauben, wenn man einmal annimmt, Shakespeare habe in den Sonetten ein bestimmtes historisches Freundschaftsverhältniß feiern wollen.
Ein neuerer englischer Shakespearologe, Gerald Massey, hat, die Unhaltbarkeit der autobiographischen Theorie einsehend, wenigstens die historische Theorie durch eine Frontveränderung zu retten gesucht. In einem Artikel im "
Quarterly Review " für April 1864 und seitdem in einem selbständigen Werke suchte er nachzuweisen, daß zu unterscheiden sei zwischen den Sonetten, in denen Shakespeare für sich rede, und denjenigen, in welchen er die Gedanken und Gefühle eines andern ausspreche. Weil man dies verabsäume, so empfinde man häufig nicht die volle Gewalt, welche in den Versen verborgen liege; um seine Stimme richtig zu verstehen, müsse man zuvor die Richtung feststellen, in welcher sie sich bewege. Die meisten der so befremdlichen Sonette seien als Aeußerungen nicht des Dichters an den Leser, sondern eines Dritten an einen Dritten aufzufassen. Und diese beiden Dritten seien niemand anders, als der Graf Southampton und die schöne Elisabeth Vernon, deren romantische Liebe und heimliche Heirath dem Dichter den Stoff zu einem Cyclus von Liebesgedichten gegeben habe, in denen nicht er selbst, sondern der Liebende das redende Ich, und Elisabeth Vernon die Angeredete sei. Natürlich ist es nicht möglich, alle Sonette so zu deuten; Massey begnügt sich damit, alle diejenigen, in denen nicht ganz unzweifelhaft entweder ein Mann angeredet wird oder ein Poet als solcher redend auftritt, für Elisabeth Vernon in Anspruch zu nehmen, die letzten 26 Sonette ausgenommen, welche ihm zufolge Shakespeare für William Herbert verfaßt haben soll. Die Ermahnungen zur Erzielung schöner Kinder und die literarischen Expectorationen hat nach Massey's Ansicht Shakespeare an den Grafen Southampton gerichtet; alle übrigen legt er dem Grafen in den Mund, und für die meisten weiß er die Veranlassung in den Reisen, Abenteuern, Händeln und sonstigen Erlebnissen des jungen Edelmanns, in den Feindschaften und Cabalen, der königlichen Ungnade, den verliebten Verirrungen, den Lebensgefahren zu entdecken, von denen Southampton's Biographen berichten. Die Sonette 40, 41 und 42, vielleicht auch 33, 34 und 35, sind, wie er annimmt, der Dame in den Mund zu legen, und es wird als wahrscheinlich bezeichnet, daß die Verführerin, welche auf kurze Zeit den Grafen seiner Geliebten zu entfremden drohte, Miß Penelope Rich gewesen sei, eine Cousine der Elisabeth Vernon, welche letztere gute Gründe gehabt habe, mit jener, wie es im 40. Sonette heißt, sich nicht zu verfeinden.
Die schwache Seite dieser Hypothese, deren Ausführung im einzelnen hier unmöglich ist, springt in die Augen: es ist dies die innere Unwahrscheinlickeit, daß Shakespeare ein solches ernsthaftes Liebesverhältniß zwischen zwei vornehmen und allbekannten Personen zum Thema von mehr als hundert Gedichten gemacht, und diese sodann, wenn auch nur handschriftlich, unter seinen Freunden verbreitet haben sollte. Unwahrscheinlich ist ferner eine solche Beschäftigung durch eine lange Reihe von Jahren hindurch (Massey selbst nimmt mindestens ein Decennium dafür in Anspruch), und außerdem ist es nicht recht glaublich, daß die so völlig exceptionelle und für Klatschsüchtige so höchst pikante Entstehungsgeschichte, wenn sie wahr wäre, nicht irgendwo und irgendwie von einem Zeitgenossen commentirt, vielmehr schon 1640, als die zweite Ausgabe der Sonette erschien, völlig in Vergessenheit gerathen sein sollte. Dazu kommt, daß Massey, wenn auch einzelne seiner Erklärungen sich leidlich plausibel ausnehmen, doch in den meisten Fällen sich lediglich auf Möglichkeiten und Vermuthungen angewiesen sieht, nicht selten auch zu den gewagtesten Interpretationen greifen muß, um seine Hypothese zu stützen. Zu Gunsten derselben kann man nur das eine sagen, daß sie allerdings weniger anstößig und weniger unwahrscheinlich ist als die andere, welche in den Sonetten autobiographische Bekenntnisse Shakespeare's erblickt.
In Deutschland hat meines Wissens von seiten namhafter Shakespeare-Kenner eine entschiedene Parteinahme für oder gegen die verschiedenen autobiographischen Theorien nicht stattgefunden.
11 Nur Delius, welchem auch meine Darstellung Material und Argumente verdankt, hat sowol in seinem "Mythus von William Shakespeare" als in seiner Ausgabe Shakespeare's, namentlich aber in einem eingehenden Artikel, welcher im "Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft", erster Jahrgang, abgedruckt ist, ebenso entschieden als gründlich die Hinfälligkeit aller jener Erklärungsversuche erörtert. Diejenigen, welche sich ihm nicht stillschweigend anschließen, lassen entweder das Räthsel als Räthsel auf sich beruhen, oder sie erkennen zwar die Unmöglichkeit an, Shakespeare's Freund zu entdecken, können sich aber unter dem Eindrucke der so lebendig bewegten Gedichte nicht entschließen, den Glauben an seine weiland leibhaftige Wirklichkeit aufzugeben. Zu diesen letztern gehören namentlich alle diejenigen, welche, wie Gervinus, kein eigentliches Verständniß für das dichterische Schaffen als solches haben und daher leicht durch den Schein des Lebens, welcher eben das Product der Kunst ist, zu der Annahme, daß das Leben selbst copirt sei, sich verleiten lassen. Weil in den Sonetten, wenigstens in vielen derselben, die Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen so energisch, bestimmt und geradezu reden, wie sie es im menschlichen Herzen selbst thun, so schließt man, Shakespeare's Herz müsse unmittelbar an den Dingen betheiligt gewesen sein, von denen in den Sonetten die Rede ist.
Die entgegenstehende Ansicht dagegen stützt sich auf folgende Erwägungen:
Die Auffassung, als ob Shakespeare in den Sonetten wirkliche Verhältnisse, bei denen er persönlich betheiligt war, behandelt habe, führt in ihrer Consequenz zu Resultaten, welche psychologisch noch räthselhafter sein würden als das Räthsel, welches sie zu lösen bestimmt ist. Kein einziges historisch beglaubigtes Factum steht ihr zur Seite; viele Stellen der Sonette beweisen dagegen deutlich, daß eine wörtliche Auslegung unstatthaft ist (z. B. diejenigen, wo der Dichter sich als alten Mann einführt), und der ganze Ton dieser Gedichte ist ein solcher, daß er zu Empfindungen, wie die Wirklichkeit sie erregt, nicht stimmt. Alle oder doch fast alle Schwierigkeiten dagegen lösen sich ganz von selbst, wenn man in diesen Gedichten einfach Gedichte erblickt, Erzeugnisse einer frei waltenden künstlerischen Phantasie, welche in gewisse, sie fesselnde Situationen sich vertiefte und die aus ihnen sich ergebenden Stimmungen in lyrischen Ergüssen wiedergab. Der Einwand, daß aus den Sonetten "ein warmes Leben spreche, daß reale Lebensverhältnisse auch unter dem falben Abbilde durchscheinen, daß der volle Pulsschlag eines tiefbewegten Herzens durch alle Hüllen der dichterischen Formalien hindurchdringe", und daß deshalb angenommen werden müsse, der Freund, welchem der Dichter "so tiefe Erwägungen und Gefühle" ausspreche, müsse ihm leibhaft und wahrhaft zur Seite gestanden haben, ‒ dieser von Gervinus betonte Einwand würde, wenn er selbst im übrigen begründet wäre, doch kaum mehr Gewicht in Anspruch nehmen können als der entgegengesetzte, ihn wieder aufhebende, daß nämlich die allerdings nicht hinwegzuleugnenden tiefen Erwägungen und Gefühle, das warme Leben und die durchschimmernden realen Verhältnisse auf jeden, der an ihre leibhaftige Wirklichkeit glaubt, einen befremdlichen, ja abstoßenden Eindruck machen. Die ganze Schlußfolgerung beruht aber, wie schon bemerkt, auf einer Verkennung der Macht der dichterischen Begabung, zumal der dichterischen Begabung Shakespeare's. Die Literatur aller Zeiten beweist, daß große Dichter im Stande sind, die ihnen persönlich fremden Gefühle mit der Stimme der Natur reden zu lassen, und es ist ein scholastischer Irrthum, wenn man meint, daß dies nur im Drama zulässig oder möglich sei. Allerdings ist diese Gabe dem Dramatiker unentbehrlich, dem Lyriker entbehrlich; aber damit ist nicht gesagt, daß nicht auch der letztere sie zu verwerthen im Stande sei. Es gibt notorisch eine ganze Reihe zum Theil weltberühmter lyrischer Gedichte, in denen der Dichter nicht sich selbst, sondern ein Geschöpf seiner Phantasie, mit welchem seine eigene Person nicht die mindeste Aehnlichkeit hat, reden läßt. Ein greiser Dichter componirt die Liebesklagen eines Jünglings, ein junger den lebensmüden Abschied eines Greises, ein Mann die Freuden einer Mutter oder Braut, ein Deutscher die Empfindungen eines Beduinen, ein Landpastor das Pathos eines Kriegshelden, u. s. w. Wenn dergleichen nicht möglich wäre, so würde in der That unbegreiflich sein, wie denn ein einziger Dichter im Drama im Stande sein sollte für die allerverschiedensten Charaktere, Temperamente und Lebenslagen den richtigen Ausdruck zu finden. Beide Arten der dichterischen Thätigkeit sind
in genere identisch, nur in der Anwendung und in den Dimensionen verschieden.
Wenn nun Shakespeare, dessen dichterisches Naturell im allereminentesten Grade ein dramatisches war, sich der lyrischen Kunstform zu bedienen durch innere oder äußere Anregung veranlaßt wurde, so erscheint es nicht befremdlich, sondern durchaus natürlich, daß er dieser Kunstform nicht den Inhalt seiner subjectiven Empfindungen gab, sondern in ihr poetische Probleme zu lösen versuchte, welche seine künstlerische Phantasie besonders lebhaft beschäftigten. Wie er in oft völlig unscheinbaren Stoffen den Reim dramatischen Lebens zu entdecken und denselben zu Gebilden von unvergleichlicher Kunstwirkung zu entfalten verstand, können wir urkundlich durch Vergleichung seiner Dramen mit den Chroniken und Novellen, aus denen er schöpfte, nachweisen; der Schluß ist daher wol gerechtfertigt, daß die nämliche Nothwendigkeit seiner geistigen Organisation, welche ihn bei jenem Schaffen für die Bühne leitete, ebenso ihn beherrschte, wenn er in den mannichfaltigen Eindrücken, die aus dem ihn umgebenden glänzenden Leben wie aus stiller Betrachtung oder aus dem Studium anderer Dichter auf ihn einströmten, den Antrieb zu kleineren dichterischen Gebilden fand, welche nur für einen einzelnen Gedanken oder eine einseitige Empfindung Raum boten. Hier, wie in den Dramen, konnte es sehr wohl geschehen, daß seine eigene Persönlichkeit im Augenblicke des Schaffens völlig unterging in der Persönlichkeit des fingirten Wesens, dessen Situation er zum Ausgangspunkte seiner Dichtung erwählt hatte, sich verlor "in dem, worin er wirkte, wie die Hand des Färbers" (111. Sonett), und wenn es geschah, so gestatteten die Gedichte auf seine Persönlichkeit fast ebenso wenig Rückschlüsse wie seine Tragödien und Komödien. Höchstens lassen sie erkennen, welche Stoffe, welche psychologischen Probleme, welche innern Conflicte während eines Augenblicks hinreichende Gewalt über seine Seele gewannen, um ihn zu einem oder mehreren Sonetten zu begeistern.
Ob und wie weit dabei Erfahrungen und Beobachtungen aus dem wirklichen Leben mitgewirkt haben, läßt sich nicht mehr ermitteln; es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die der Fall war, und bei einzelnen Sonetten drängt sich sogar die Ueberzeugung, daß ein Echo der Wirklichkeit sich vernehmen lasse, fast unwiderstehlich auf. Es ist aber offenbar ein großer Unterschied zwischen solchen Anregungen der Phantsie und jenen wirklichen Herzenserlebnissen, an welche Gervinus und die englischen Ausleger denken. Die letzten Sonette der Sammlung (mit Ausnahme des 153. und 154.) sind z. B. mit gewissen individuellen Zügen ausgestattet, welche es glaublich erscheinen lassen, daß Shakespeare eine gefährliche, reizende Dame, wie er sie dort schildert, nicht schön aber voll unbegreiflichen Liebreizes, gekannt habe. Wäre dem so, so bewiesen die Gedichte doch noch nicht im mindesten, daß er selbst den Stricken der schwarzlockigen Verführerin erlegen sei, sondern nur, daß bei dem Anblicke ihrer Circekünste die Situation eines von ihr verzauberten und in Sinnenlust hinabgezogenen, vergebens gegen ihre Macht ankämpfenden edleren Gemüths in ihm poetisches Leben gewonnen und ihn angelockt habe, dies Motiv in lyrischer Form auszuführen. Ebenso wol kann aber der ganze Cyklus aus einem ganz andern Anlasse, aus eigenen Gedanken des Dichters oder aus Lektüre entstanden sein, und jene individuellen Züge wären alsdann lediglich auf Rechnung der besondern Shakespeare'schen Gestaltungskraft zu setzen, von der wir ja wissen, daß alles, was in ihren Bereich kam, sofort das Gepräge einer bestimmten Persönlichkeit annahm. Wenn auch von diesem Gesichtspunkte betrachtet immer einzelnes in den Sonetten und namentlich auch die Wahl mancher Stoffe befremdlich bleibt, so darf man nicht vergessen, daß die Sammlung nicht vom Dichter druckgerecht redigirt, sondern ohne Sorgfalt aus verschiedenen in Privatbesitz befindlichen Manuscripten, ohne orientirende Ueberschriften, ohne jegliche Erklärung dessen, was uns dunkel ist, den ersten Lesern aber vielleicht durchsichtig war, zusammengestoppelt worden ist.
Manches Auffällige und Bedenkliche verschwindet überhaupt, wenn man sich in das literarische Treiben zurückversetzt, welches gegen den Schluß des 16. Jahrhunderts in London herrschte. In weit höherem Maße als die Dramen hangen die erzählenden und die lyrischen Gedichte Shakespeare's mit der Zeit zusammen, in welcher er lebte. Die Literatur der italiänischen Renaissance-Zeit mit ihren halb antiken, halb romantischen Stoffen, Motiven und Ornamenten hatte eben begonnen in England sich zu acclimatisiren. Die Poeten und das feinere Publikum standen mit noch unblasirten Sinnen unter dem vollen Einflusse der welschen Kunstblüte, deren Zierlichkeit, Wohllaut und Anmuth einen hinreißenden Eindruck auf die an rohere Kost gewöhnten Engländer machte. Nachahmung ist in solchen Perioden stets die Frucht der Bewunderung, und durch Nachahmung und Uebersetzung gewannen die Italiäner auch über diejenigen Herrschaft, welche der fremden Sprache selbst nicht mächtig waren. Bald waren die poetischen Formen Toscanas in der englischen Literatur eingebürgert, und mit den Formen drangen der Stil, die Stoffe und die Empfindungsweise der Südländer ein. Namentlich das Sonett erfreute sich einer außerordentlichen Beliebtheit. Nicht allein die Dichter von Profession, sondern auch vornehme Dilettanten wetteiferten miteinander, diese kleinen vierzehnzeiligen Poemata zu componiren und in der Fassung ihrer Reime den Edelstein irgendeines mehr oder minder sinnreichen Gedankens spielen zu lassen. Das Thema der Liebe ward in Sonetten tausendfältig variirt, und jede neue glückliche Wendung, jeder beredte Ausdruck des Affects, jede gelungene epigrammatische Pointe ward von den Freunden solcher Poesie mit jedem Gusto genossen, mit welchem Liebhaber sich an den Vorzügen einer feingeschnittenen Camee weiden. In den gebildeten Kreisen gingen solche Sonette von Hand zu Hand, wie der Tag sie erzeugt hatte; nur in einzelnen Fällen wurden sie gedruckt, und dann häufig erst jahrelang nach ihrem Entstehen und oft ohne Mitwirkung der Verfasser. Daß aber die letzteren für den Inhalt der Sonette persönlich irgendwie verantwortlich seien, das fiel niemandem ein. Man nahm die Gedichte als Kunstproducte hin, die mit dem wirklichen Leben in gar keinem oder jedenfalls doch nur in höchst äußerlichem Zusammenhange ständen. Daher fand man es denn auch nicht im mindesten anstößig, wenn verheiratete Poeten die glühendsten Gefühle für andere Damen als ihre Ehefrauen in Reime brachten, oder gar, wie der von Delius angeführte Richard Barnefield, die Schönheit des jungen Ganymedes in leidenschaftlicher Weise feierten und dessen Sprödigkeit beklagten. Man dachte sich bei derartigen Nachahmungen virgilischer oder horazischer Motive so wenig etwas Arges, da der genannte Barnefield z. B. seine Sonette einer Dame widmete.
Einer der beliebtesten Sonettendichter jener Zeit war Samuel Daniel, dessen Gedichte 1592 unter dem Titel "Delia" im Drucke erschienen. Daß die "Delia" auf Shakespeare anregend gewirkt haben muß, leuchtet bei oberflächlicher Betrachtung ein. Form, Stil, Vortragsweise, Verwendung der Metaphern, alles hat die unverkennbarste Aehnlichkeit mit den Sonetten Shakespeare's, und nur durch höheren poetischen Schwung, größere Gedankentiefe, täuschenderen Schein der Leidenschaft ragen die letzteren weit über ihre Vorbilder hervor. Seinerseits auf diesem aristokratischen Gebiete sich zu versuchen und hervorzuthun, dazu lag für Shakespeare, namentlich in den Anfängen seiner londoner Laufbahn, der Antrieb um desto näher, je weniger er nach den damals gäng und geben Ansichten erwarten durfte, durch seine Dramen sich einen dauernden Platz in der eigentlichen Literatur seines Landes zu erringen. Dramen gewährten damals im Grunde keinen Anspruch auf literarische Stellung; sie wurden geschrieben um gespielt zu werden, und es ist bekannt, daß Shakespeare von den seinigen kein einziges selbst hat drucken lassen, während er seine erzählenden Gedichte nicht allein in den Druck gab, sondern auch noch unter den besondern Schutz des Grafen Southampton stellte. Daß er die Sonette ihrem Schicksale überließ, ist nicht auffallend, wenn man bedenkt, daß sie schwerlich in einem Zuge entstanden, wie "Lucrezia" oder "Venus und Adonis", und daß, als sie zu einer größern Sammlung angewachsen waren, der Dichter durch seine Thätigkeit für die Bühne jenen untergeordneten Erzeugnissen seiner Muse rasch sich entfremden mochte, wie er ja auch nie wieder zur erzählenden Dichtung, ungeachtet der errungenen Erfolge, zurückgekehrt ist.
Wir haben gesehen, daß Shakespeare lediglich der poetischen Tradition folgte, indem er in den Sonetten die verschiedenen Phasen einer zärtlichen Empfindung in der ersten Person redend einführte, und daß er auch im Stil und in der Behandlung des Stoffs die einmal acceptirten, mehr oder weniger raffinirten, conventionellen Regeln des Sonetts beachtete. Aber die Eigenthümlichkeit seines Geistes bricht trotzdem überall durch, und schon die Wahl seiner Themata trägt, wenngleich die letzteren im allgemeinen dem gewöhnlichen Gedankenreise der sonettischen Dichtung angehören, das Gepräge einer Phantasie, die selbst im Gewöhnlichen originell sich bewegt. Die Seelenzustände, in die er sich zu vertiefen weiß, haben fast alle den Reiz eines innerlichen dramatischen Conflicts, oder sie fesseln durch die dämonische unwiderstehliche Gewalt der Leidenschaft, als deren willenloses Opfer der Sprechende erscheint. Es tauchen tiefe Probleme auf, unter ihnen auch solche, welche Shakespeare nicht blos vorübergehend beschäftigt, sondern ihn noch lange während seines dramatischen Schaffens festgehalten haben. Dieser Umstand ist äußerst bedeutsam für die Erkenntniß der wirklichen Bedeutung der Sonette als eines Widerhalls der Gedanken, die des Dichters Seele wenigstens von Zeit zu Zeit erfüllten. Dahin gehört namentlich das Thema der Freundschaft, das in den Dramen Shakespeare's eine so bedeutende Rolle spielt. Dort finden wir manches, was in den Sonetten anklingt, in einer Handlung veranschaulicht wieder, in den Sonetten also gleichsam den Keim dessen, was später zu einer runden Bühnengestalt heranreifte. Die rührende Macht einer Neigung, welche im Stande ist die Starrheit der menschlichen Eigenliebe in vollständige Selbstverleugnung und uneigennützige Opferwilligkeit umzuschmelzen, hat Shakespeare später in seinem "Kaufmann von Venedig" mit sichtlicher Herzensantheilnahme ausgemalt; dort, wie in den Sonetten, ist der selbstvergessene Freund der ältere, stille und nachdenkliche Mann, voll Nachsicht für die jugendlichen Ausschreitungen des ihm theuren glänzenden Jünglings, und selbst der in den Sonetten hin und wieder betonte Unterschied des Ranges zwischen den beiden Freunden ließe sich vielleicht in dem Kaufmann Antonio und dem ritterlichen Bassanio wiedererkennen. Den schwärmerischen Freund, der Leib und Leben in die Schanze schlägt, weil er es nicht ertragen kann, getrennt von dem theuren Gegenstande seiner Neigung zu existiren, treffen wir in "Was ihr wollt" wieder, seinem venetianischen Namensgenossen in machen Zügen ähnlich, nur demonstrativer und leidenschaftlicher. Endlich zeigt uns Valentin in den "Beiden Veronesern" die Freundschaft, welche selbst die sittliche Schlechtigkeit des Freundes und dessen treuloser Eingriff in das Heiligthum der Liebe nicht in Haß und Feindschaft zu verwandeln vermögen. Man sieht, daß das Thema Shakespeare lebhaft interessirte; liegt es da fern anzunehmen, daß er es auch in Sonetten, als diese Kunstform sich ihm äußerlich, gleichsam durch die poetische Mode aufdrängte, variirte?
Ganz ähnlich ist das Verhältniß zwischen denjenigen Sonetten, in denen er die Schönheit des Freundes preist und um deren Vergänglichkeit sich besorgt zeigt, zu dem längeren erzählenden Gedicht "Venus und Adonis", nur daß hier von einer Herzensantheilnahme weniger als von einer übereinstimmenden Richtung der Phantasie die Rede ist. In dem erzählenden Gedichte legt er das Entzücken über die jugendfrische Schönheit des Knaben und den Kummer über deren bevorstehenden Verlust der Liebesgöttin selbst in den Mund, und er leiht ihr die nämlichen Gedanken, ja dieselben Worte und rhetorischen Wendungen, die in den Sonetten vorkommen. Die Aehnlichkeit springt so in die Augen, daß einige Ausleger gemeint haben, die Sonette 1 – 19 seien nichts anderes als ein Versuch, die Adonissage in Sonettenform zu behandeln, was freilich allzu weit gehen heißt, immer aber der Wahrheit viel näher bleibt als die – man kann nicht anders sagen als philiströse –
Annahme, diese Sonette seien ernstgemeinte, an einen Pair von England gerichtete Ermahnungen, sich zu verheirathen. Von Heirathen ist in denselben überhaupt nirgend die Rede; statt der Argumente, welche man anwenden würde, um einem jungen Edelmanne die Reize häuslichen Glücks anlockend zu machen, wird immer nur auf die Erhaltung und Verjüngung der verblühenden Schönheit hingewiesen; der ganze Ton, die poetische Atmosphäre der Gedichte versetzen uns in das mythische Arkadien, in dem Schönheit, Jugend und Liebe ein von bürgerlichen Einrichtungen unabhängiges Dasein führen, und in diesem Sinne hat man mit Recht die virgilischen Schäfergedichte, die schon früh in England nachgeahmt wurden, mit den ersten neunzehn Sonetten unserer Sammlung in Beziehung gebracht, so wenig sie sonst mit ihnen gemein haben. Der Gedanke, welcher in ihnen von allen Seiten beleuchtet wird, daß die Schönheit nämlich nicht sich selbst gehöre, sondern der Welt, und daß sie verpflichtet sei, sich zu erhalten durch Erneuerung in schönen Kindern, kehrt in Shakespeare's Dramen, wie in "Venus und Adonis" so häufig und in so gleichartiger Weise wieder, daß man sieht, auch in diesem Falle war das Sonett nur das erste Gefäß, in welches die dichterische Phantasie zu ergießen eilte, was in ihr lebte und webte.
Wenn man unbefangen und mit einiger Kenntniß der in Vorstehendem skizzirten literargeschichtlichen Momente die Sonette liest, so wird man in ihnen zum Aergerniß nicht viel Anlaß finden. Freilich wird man auf den Genuß verzichten müssen, in diesen Gedichten die Seelengeheimnisse des Dichters zu belauschen; man kommt durch sie dem Menschen Shakespeare nicht näher als durch das Studium seiner Dramen. Denn die Sonette sind ebenso wie seine Dramen "objective Poesie", um im Jargon der Schule zu reden. Sie offenbaren nichts von den Leidenschaften, den Schwächen, den Verirrungen und Kämpfen des Mannes, sondern sie beurkunden nur, wie die Dramen es in verzehnfachtem Maßstabe thun, die Kunst des Dichters, jede Regung des menschlichen Herzens mit ihrer eigenen Stimme reden zu lassen, seinen Tiefsinn in der Anschauung der Welt, sein empfängliches Gefühl für die Wunder des Daseins. Pikanter wäre es vielleicht, wenn diejenigen recht hätten, welche meinen, Shakespeare habe in den Sonetten sich selbst, die verborgensten Falten seines Herzens gezeigt; aber wer den Dichter liebt, kann sich nur freuen, daß diese Meinung völlig grundlos ist. Denn sie ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß der größte Dichter der schwächste, haltloseste Mensch gewesen sei.