760 Krämer, Ilse [später Ilse Chasen] (1902-1995) f
William Shakespeare. Sonette
. Übersetzt von Ilse Krämer. Sammlung Klosterberg, Europäische Reihe (Klosterberg und Basel: Schwabe, 1945), 168 S., darin S. 9-163. Mit "Nachwort" (S. 165-168).
Vollständige Ausgabe, zweisprachig: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.
Nachwort (S. 165-168):
So tief die dramatischen Werke Shakespeares dem deutschen Sprachgut einverleibt sind, so fremd blieben ihm seine Sonette. Ein seltsam widriges Schicksal waltet über ihnen. 1609 erschienen sie in London zum erstenmal und wurden zunächst gut aufgenommen. Zurzweiten Ausgabe kam es erst im Jahre 1640. Zeitgenossen erwähnten sie rühmend. Im Lauf der folgenden Epochen aber wurde der Versuch gemacht, sie der jeweiligen Sitte anzupassen und Worte, die dem augenblicklichen Empfinden peinlich schienen, als Lesfehler auszugeben und entsprechend zu ersetzen. Eifer und Besorgnis verwässerten die Gedichte, Engherzigkeit verurteilte sie, Prüderie wollte sie sogar totschweigen oder ihnen den künstlerischen Wert absprechen. Da jede Übertragung in eine andere Sprache naturgemäß Veränderungen mit sich bringt und die ersten deutschen Übersetzer sich überdies noch − bewußt oder unbewußt− ebenfalls an den moralischen Rettungsversuchen beteiligten, so ist es nicht verwunderlich, daß die Sonette nur geringen Widerhall finden konnten. Erst in neuerer Zeit ist man bemüht, dem ursprünglichen Wortlaut mit möglichst großer Treue zu folgen und dem deutschsprechenden Leser den Zugang zu diesen erschütternden Bekenntnissen zu ebnen.
Da das persönliche Leben Shakespeares im dichten Nebel der Vergangenheit liegt und ihn nur wenig Aufgezeichnetes von Zeitgenossen, von ihm selbst außer einigen Unterschriften gar nichts Handgeschriebenes existiert, das Aufschluß geben könnte, so liegt es nahe, daß gerade die Sonette, die in der Ich-Form sprechen, der Shakespeare-Forschung sehr willkommen sind. Doch, um es gleich vorwegzunehmen, sie wurde in allen Punkten enttäuscht. Nichts Sicheres erfuhr man, weder über die Entstehungszeit noch über die Reihenfolge und ebensowenig über die Personen, an die sie gerichtet sind. Von den 154 Sonetten wenden 126 sich an einen schönen, wahrscheinlich adeligen Jüngling, 28 an eine dunkle Frau. Wir erfahren im Verlauf der Gedichte, daß die beiden geliebten Menschen sich einander zuwenden und den Dichter in den Abgrund von Klage, Anklage und Selbstanklage stürzen. Wer ist der "lichte Mann", den die Widmung Mr. W. H. nennt? Ist es William Herbert, Earl of Pembroke, oder Henry Wriothley, Graf von Southampton, oder aber will William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufes? Wer ist die dunkle Frau, wer der Dichter-Rivale? Richten sich die Sonette an zwei oder an mehrere Menschen? Haben diese Menschen gelebt oder sind sie Phantasiegebilde? Selbst auf diese letzte Frage haben wir keine beweisende Antwort, aber hier darf wohl die Sicherheit des Empfindens entscheiden und behaupten, daß es sich um wirkliches, schmerzlich gelebtes Leben handelt. Für die anderen Unklarheiten hat man zwar viele mehr oder weniger begründete Vermutungen bereit, aber nicht eine, die über sich hinauswiesene [sic] auf eine Gewißheit.
Bringt nun die Sonetten-Sammlung der Forschung nach dem Leben Shakespeares geringe Beute, so überschüttet sie den Leser geradezu mit Aufschlüssen über sein Wesen. Gewiß könnte man sagen, daß es sich schon in den Gestalten seiner Dramen offenbart. Sie alle aber, vom Narren bis zum Weisen, vom Schankwirt bis zum König, von der Kupplerin bis zur adligen Frau, sind so reich an Eigenem, daß sie zunächst nur auf sich selbst deuten und vergessen lassen, daß sie einem Dichter ihr Leben verdanken.In den Sonetten aber spricht eben dieser Dichter maskenlos sich selbst aus mit aller Wucht und Vielfalt. Und wen erkennen wir? Den freien Menschen in seiner ganzen widersprüchlichen Vollkommenheit. Über alle Gegensätze ist sein Wesen ausgespannt, in ihm ist Chaos und Gesetz, Einsicht und Wahn, Hörigkeit und Selbstgewißheit, Knechttum und Würde, Reinheit und Schuld, Seligkeit und Sinnendurst, Hingabe und Wunschbesessenheit, Anbetung und Verachtung. Nie weicht er aus in die Transzendenz, Himmel und Hölle liegen dicht beisamen, durchdringen einander, sind grenzenlos und doch in ihm, hier und jetzt, auf dieser Erde, in diesem Leben.
Solche Wucht wurde in die strenge Form der Sonette gepreßt, der mächtige Aufruhr gebändigt zu Rhythmus und Klang. Oft wird die Fülle aufgelockert von Heiterkeit und Schelmerei, von kühner Wendung und anmutig-gewagtem Wortspiel. Hier geschieht die Erlösung des Schöpfers: das schwerflüssige Leben wandelt sich aus eigener Kraft und wird Kunst. Hierin strömt der Überschuß an Entzückungen und Qual zu neuer Gestalt. Die Bürde der Erkenntnis, die Schwere der Siege und Niederlagen werden noch einmal getragen, aber im schöpferischen Spiel. In den ersten 14 Sonetten äußert der Dichter den seltsam drängenden Wunsch, der schöne Freund möge seine Unsterblichkeit in einem Sohn wahren. Dann aber wird es klar, daß das Kind dieser Liebe die Unsterblichkeit selbst ist und nur aus ihm, dem Dichter, hervorgehen kann. Alter, Beruf, Treulosigkeit und Launen werden als Hemmnisse dieser Beziehung genannt. Dahinter aber steht das Wissen: solche Liebe, auf wen immer sie sich richtet, ist unstillbar. Alles wird ihr zum Anlaß. So steht leichter Gelegenheits-Zierat nahe bei gewaltigen Ausbrüchen gegen die Tyrannei der Wollust, konventionelle Ornamentik neben edlen Gebilden letzter Weisheit. Einmalig und ihnen allen gemeinsam aber ist eines: selbst aus dem Sonett, der abgeklärtesten Form der Dichtung, spricht der Dramatiker. Jedes dieser Gedichte mit seinen strenggefügten vierzehn Zeilen ist auf schmalstem Raum ein vollkommenes Drama.
Von Shakespeares Leben erfahren wir, daß er 1556 in Stratford geboren wurde, während vieler Jahre Schauspieler in London war und 16161 in seinem Geburtsort gestorben ist. Das ist fast alles. Von seinem Wesen wissen wir mehr, als wir fassen können. Das Leben des so glühend geliebten Freundes endete, sein Name selbst ist vergessen. Was tut's?
Solang noch Menschen atmen, Augen sehn,
Solang lebt dies und du wirst fortbestehn.
Neuauflage:
William Shakespeare. Sonette. Übersetzt von Ilse Krämer. (Maur-Zürich: Ikos-Verlag, 1992), 168 S., darin S. 9-163. Mit "Nachwort" (S. 165-168).
Vollständige Ausgabe
Nachdrucke:
Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 163.(=1110)
Sonett 66
Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 87.(=2085)
Sonett 18
Literatur:
Rudolf Stamm, "'A Cup of Alteration': Shakespeares Sonett 66 – Deutsch von Stefan George, Karl Kraus und Heinz Helbling. Sonett 116 – Deutsch von Heinz Helbling, Ilse Krämer und Paul Celan – Französisch von Pierre Jean Jouve." In: Meaning and Beyond. Festschrift für Ernst Leisi zum 70. Geburtstag. Hrsg. Udo Fries, Martin Heusser (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1989), S. 21-42. Wieder abgedruckt in: Rudolf Stamm, Spiegelungen. Reflections: Späte Essays – Late Essays (Tübingen: Francke, 1991), S. 48-65.
Kathrin Volkmann, Shakespeares Sonette auf deutsch (Heidelberg: Universitätsdruckerei, 1996), bes. S. 110-11 und S. 122-23.