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620 Barnstorff Frame, Beatrice (Lebensdaten unbekannt) f

W. Shakespeares Lied an die Schönheit . Eine Übertragung der Sonette von Beatrice Barnstorff Frame (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1931), 183 S.

Vollständige Ausgabe (in rhythmisierter, reimloser Prosa; unter Beibehaltung der Strophenform): 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.

Widmung: "Dietrich Barnstorff zum Andenken"

Mit Einleitung (S. 7-17) und Anmerkungen zu 23 Sonetten (S. 177-183): 13, 20, 32, 35, 36, 37, 40, 41, 42, 45, 46, 47, 49, 55, 69, 81, 83, 86, 105, 109, 130, 134, 147.

Einleitung (S. 7-17):

Die drei hatten sich in der Hütte auf hohem Gebirgskamm getroffen: der Maler, der Mediziner und der schweigsame Wanderer.
Draußen brandete der Föhn, die Hütte erzitterte, und unruhig flackerte das Licht der Lampe. Es wurde nicht viel gesprochen; die drei waren sich fremd. – Plötzlich fiel das Wort "Inspiration". Der Maler hatte behauptet, er fühle sich oft gegenüber dem, was er geschaffen habe, als vollkommen Fremder.
Hier horchte der Mediziner auf: "Sie betrachten sich also nicht als Schöpfer, sondern als Medium, durch das schöpferische Kraft fließt?"
Sinnend schaute der Maler in die Ferne: "Ich habe oft über dieses Problem gesonnen; manchmal denke ich, höchste Intelligenz in mir betätigte sich, dann ist es mir wieder, als wäre ich schlafend und ein anderer schaffe in mir. Diesen anderen nannte Richard Wagner seinen 'Dämon'."
Der Mediziner lächelte: "Ja, dieser Dämon! Wohl verdanken wir ihm Meisterwerke unserer größten Künstler, doch wie viele folgen blindlings ihrem Dämon, sich und andere damit in das Chaos reißend!"
Der Wandere, der sich bisher nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, blickte scharf auf: "Wer gebietet uns, unserm Dämon 'blindlings' zu folgen? Haben wir nicht genügend Beispiele von Helden, die sich aus dem zerstörenden Dämon einen weisen Engel schufen? Es gelang ihnen, indem sie Körper, Geist und Gefühl harmonisch und stark machten. Sie fühlten sich mit dem schöpferischen Strom verbunden und konnten dadurch zum schöpferischen Menschen werden."
"Darf ich fragen, was Sie unter 'schöpferischem Strom' verstehen", wandte der Mediziner ein, "darüber sind die Meinungen doch sehr geteilt? Ich verstehe darunter eine Zusammenfassung gesammelter Erfahrungen, die der Mensch in schöpferischer Arbeit verwertet?"
"Gewiß, aber alles muß doch seinen Ursprung haben", kam es fest zurück. "Selbst wenn Sie ein Ihnen fremd dünkendes Gefühl als Erbteil Ihrer Vorfahren ansprechen möchten, so werden Sie doch niemals auf den Kern der Sachen kommen! Der Urquell des schöpferischen Stromes ist! Diesem haben sich Millionen Menschen in voller Freiheit zugewandt und daraus getrunken. Alle Religionen sprechen davon, die Gläubigen, die davon tranken und sich taufen ließen, fühlten sich mit dem Ursprung eins. Sie nannten ihn ihren 'Geliebten', ihren 'Führer', ihren 'Gott', dem sie sich unterwarfen."
"Sie sprechen von Mystikern", unterbrach der Maler, "ich glaube gern, daß es Menschen gegeben hat und noch gibt, die einen Gott als ihren Führer anerkennen und sich ihm restlos hingeben. Viele ziehen sich dabei von der Welt zurück und schaffen in völliger Abgeschiedenheit. Doch wie sollen heute diese Verborgenen ihre Werke verbreiten? Wird ihr Werk bekannt werden, wenn sie sich sozusagen anonym dazu verhalten?" Träumend schaute der Wanderer auf: "Es wäre manchem Künstler besser, er würde nicht so viel Wert darauf legen, seinen Namen unter seinem Werke gedruckt zu sehen. Es ist ja genügend bekannt, daß mancher dadurch am Weiterstreben behindert wurde. Einer unser größten Dichter ist in diesem Fall treu geblieben: William Shakespeare."
"Shakespeare?"
"Ja, Shakespeare in seinen Sonetten! Sie kennen doch die Sonette?"
Es entstand eine Pause. – "Die Sonette sind doch Liebesgedichte, die einem schönen Jüngling zugeeignet waren", kam es zögernd von den Lippen des Malers.
"Warum ist denn in der Sonette so viel die Rede von einer Frau", entgegnete der Wanderer. "Diese gilt manchen als die Geliebte des Dichters, die ihm vom Freund abspenstig gemacht wird und der er erst Verzeihung gewährt, später aber bittere Vorwürfe macht. Diese Auffassung ist gewiß etwas spießbürgerlicher als die Angelegenheit mit dem schönen Jüngling, aber wie ist es denn möglich, daß der Dichter so verschieden verstanden wird?"
"Diese Frage hat Professor Delius gelöst", antwortete der Mediziner. "Der Inhalt der Sonette ist mir unbekannt, aber ich war Zuhörer einer Diskussion, aus der ich entnahm, die Sonette seien eine poetische Fiktion, sie schilderten uns die Liebe, die Eifersucht, die Freundschaft und die Reue, all die Regungen des menschlichen Herzens in ihrer unmittelbarsten Wahrheit, aber nicht speziell Shakespeares Liebe, Eifersucht, Freundschaft und Reue, nicht die Regungen in Shakespeares eigenem Herzen."
Der Wanderer erwiderte: "Ich halte die Sonette für eine Selbstbiographie, in welcher sich der Kampf eines Gottsuchers widerspiegelt; alles Abstrakte wird reales Erleben, das Erleben eines Menschen, der fühlt und ringt und leidet wie wir!"
"Gestatten Sie eine Frage", sagte der Maler ernst: "wie können Sie nach Jahrhunderten beurteilen, was der Verfasser bei der Niederschrift empfunden haben mag? Grade die verschiedene Auffassung der Sonette beweist doch das Fließende der Wahrheit: Jeder erlebt ein Kunstwerk nach dem Maß seiner Empfänglichkeit!"
Des Wanderers Augen leuchteten voll Begeisterung: "Das ist auch der Zweck eines Kunstwerkes, wenn man überhaupt in der Kunst von Zweck sprechen darf! Nun ist aber in den Sonetten erwiesen, daß Shakespeare die Veröffentlichung nicht gewollt hat; der Buchhändler hat dieselben anonym herausgegeben und durch den rätselvollen Tel erst recht Verwirrung hervorgerufen." –
"Sie sprechen von einem 'rätselvollen Titel": bekanntlich sind Rätsel da, gelöst zu werden! Könnten Sie uns nicht mit diesem geheimnisvollen Titel bekannt machen?"
Ich habe die Sonette bei mir. Der Wanderer zog ein Buch aus der Tasche und schlug die erste Seite auf:
TO THE ONLIE BEGETTER
OF THESE INSUING SONNETS
MR. W. H. ALL HAPPINESSE
AND THAT ETERNITE
PROMISED
BY
OUER EVERLIVING POET
WISHETHTHE WELL WISHING
ADVENTURER IN
SETTING FORTH
T. T.
Der Maler wurde verlegen: "Meine englischen Sprachkenntnisse sind nicht so geläufig, um dieses Rätselraten mitmachen zu können. Besitzen Sie keine deutsche Übersetzung?"
Lebhaft erwiderte der Wanderer: "Diesen Titel auf deutsch wiederzugeben ist ungeheuer schwierig! In der Übersetzung würde derselbe etwa so lauten:
Dem einzigen Erzeuger
dieser nachfolgenden Sonette
Herrn W. H. alles Glück
und jene Ewigkeit, die
unser ewig-lebender Dichter
versprach,
wünscht der
wohlwollende Abenteurer
beim Scheiden
T. T.
"Sehen Sie, nach meiner Auffassung ist der 'einzige Erzeuger' der Sonette, der Herr W. H. William Himself! Der Dichter selbst! Das Leitmotiv der Sonette klingt in diesem Titel: die große Sehnsucht des Verfassers nach jener Unsterblichkeit, die uns vom 'ewiglebenden Dichter versprochen' wurde! Es gibt nur einen 'ewiglebenden Dichter', den Schöpfer Himmels und der Erde. Dieser 'Dichter' ist dem Verfasser der Sonette der Inbegriff der Vollkommenheit, vollkommene Göttlichkeit. Immer wieder stoßen wir in der Sonette auf den Ausdruck 'Schönheit'. Schönheit ist aber nach Plato: 'vollkommene Göttlichkeit'."
Der Mediziner schaute immer noch nachdenklich auf die Titelseite des Werkes, dann begann er langsam die Seiten umzublättern. "Ich finde allerdings das Wort 'Schönheit' in häufiger Lesart, doch muß ich zugeben, der Inhalt ist nicht leicht verständlich. Meinen Sie, es sei bestimmte Absicht des Dichters gewesen, den Inhalt zu verbergen?"
"Wie ich Ihnen schon sagte, handelt es sich in den Sonetten um ein Bekenntnis, das nicht, wie es oft genug geschieht, für Außenstehende geschrieben wurde, sondern eine Innenschau ist. Diese setzt strengstes Für-sich-sein voraus. Immer wieder spricht es der Dichter in seinen Sonetten aus, daß keiner seinen heiligsten Schatz berühren dürfe. Nach der Hinrichtung der Maria Stuart und nach dem Untergang der Armada blühte der Anglikanismus unter der Herrschaft der Königin Elisabeth auf, strenge Maßregeln wurden gegen jene eingeführt, die sich dem vorgeschriebenen Glauben nicht beugen wollten. Die Macht eines Herrschers war in jener Zeit unbegrenzt; wer in Diensten der Königin Elisabeth stand, wurde ihr Vasall. Wir wissen, Shakespeare war ihr Vasall und schuf Werke zur Erheiterung des Hofes. Doch auch er, der arme Komödiant, hatte ein eigenes, ganz persönliches Innenleben, mit dem er sich in den Sonetten auseinandersetzt.
"Dieses Innenleben muß ja der Dichter mit einem meisterhaften Gewand umkleidet haben", rief der Maler.
Der Wanderer war erregt aufgesprungen: "Form und Inhalt sind ein vollendeter Guß, ein Meisterwerk! Wie sind wir Menschen so kleinlich und könnten doch so groß sein! Hier trank einer aus der Quelle höchster Begeisterung; hier erlebte einer die Liebe des Mystikers. Keinem durfte er damals sein Glück verkünden. Der Welt fehlte die Reife des Verstehens – wird sie jetzt Verständnis haben?"
Der Mediziner war zu dem Wanderer getreten und legte die Hand auf dessen Schulter: "Da Sie solch hohe Auffassung von den Sonetten haben, möchte ich Sie bitten, uns mit dem Inhalt derselben bekannt zu machen!"
Verlegen antwortete der Wanderer: "Ich will Sie gern mit dem Inhalt, so wie ich ihn erfasse, bekannt machen, aber der Inhalt ist nichts ohne formvollendete Wiedergabe. Wer darf sich vermessen, Wort und Inhalt im Shakespeareschen Geist wiederzugeben?"
Hier trat auch der Maler zu beiden und bat: "Sie sagten von einer Niederschrift, die Sie gemacht, könnten wir nicht dieselbe sehen?"
Der Wanderer antwortete: "Gern will ich Ihnen die Niederschrift zeigen, doch zum leichteren Verstehen müßte ich Ihnen schon vorher einige Worte sagen und es ist schon sehr spät geworden!"
"An Schlag ist nicht zu denken", rief der Maler lebhaft, "draußen wütet der Sturm, das ist grad die richtige Stimmung, den Worten eines großen Dichters zu lauschen!"
Die drei Männer setzten sich wieder um den runden Eichentisch. Der Wanderer holte ein Notizbuch hervor und sprach: "Bevor wir zu dem eigentlichen Lesen kommen, möchte ich folgendes einschalten: In den ersten Sonetten ringt der Dichter mit dem Entschluß, sich mit der Schönheit zu vermählen, damit aus dieser Ehe ein Sohn erwachse. Aus dieser platonisch-mystischen Verbindung läßt er einen Sohn heranreifen, dem er sich nach und nach unterordnet. Dieser bekommt im weiteren Verlauf der Sonette immer mehr das Gepräge christlicher Mystik. Er wird zum 'Geliebten' zur 'Herr-Herrin', doch bleibt er, wenn auch dem Dichter zugefügt, mit seiner Mutter, der Schönheit, verbunden. Die innige Verbindung dieser Drei wird in den Sonetten besungen. Hören Sie, was der Dichter uns darüber zu sagen hat!"

Wiederabdruck:

Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 117 (=1110)

Sonett 66

Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 29 (=2085)

Sonett 18

Literatur:

Diedrich Barnstorff, Schlüssel zu Shakspeare's Sonnetten (Bremen: Verlag von J. Kühtmann's Buchhandlung, 1860).

Online verfügbar.

Wolfgang Keller, "Shakespeares Lied an die Schönheit. Übers. der Sonette von Beatrice Barnstorff Frame", ShJb, 67 (1931), S. 73-74.

Käthe Stricker, "Deutsche Shakespeare-Übersetzungen im letzten Jahrhundert (etwa 1860-1950)", ShJb, 92 (1956), 45-89, bes. S. 83.