Text

Vorrede [zu Thomsons Trauerspielen]
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[] Ich komme nicht hierher, Eure Billigkeit in Beurtheilung eines Werks anzuflehen, dessenVerfasser, leider, nicht mehr ist. Er bedarf keines Vorsprechers; ihr werdet von selbst die gütigen Sachwalter des Verstorbnen seyn. Seine Liebe war auf keine Parthey, auf keine Sekte eingeschränkt; sie erstreckte sich über das ganze menschliche Geschlecht. Er liebte seine Freunde — verzeiht der herabrollenden Thräne. Ach! ich fühle es; hier bin ich kein Schauspieler — Er liebte seine Freunde mit einer solchen Inbrunst des Herzens, so rein von allem Eigennutze, so fern von aller Kunst, mit einer so großmüthigenFreyheit, mit einem so standhaften Eifer, daß es mit Worten nicht auszudrücken ist. Unsre Thränen mögen davon sprechen. O unverfälschte Wahrheit, o unbefleckte Treue,
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o männlich reizende und edel einfältige Sitten, o theilnehmende Liebe an der Wohlfahrt des Nächsten, wo werdet ihr eine andre Brust, wie die seinige, finden? So war der Mensch — den Dichter kennt ihr nur allzuwohl. Oft hat er eure Herzen mit süssem Weh erfüllt, oft habt ihr ihn, in diesem vollen Hause, mit verdientem Beyfalle, die reinsten Gesetze der schönen Tugend predigen hören. Denn seine keusche Muse brauchte ihre himmlische Leyer zu nichts, als zu Einflößung der edelsten Gesinnungen. Kein einziger unsittlicher, verderbter Gedanke, keine einzige Linie, die er sterbend, ausstreichen zu können, hätte wünschen dürfen! O möchte eure günstige Beurtheilung diesen Abend noch einen andern Lorbeer hinzuthun, sein Grab damit zu schmücken! Jetzt, über Lob und Tadel erhaben, vernimmt er die schwache Stimme des menschlichen Ruhms nicht mehr; wenn ihr aber denen, die er auf Erden am meisten liebte, denen, welche seine fromme Vorsorge nunmehr entzogen ist, mit welchen seine freygebige Hand und sein gutwilliges Herz, das wenige, was ihm das Glück zukommen ließ, theilte, wenn ihr diesen Freunden durch eure Gütigkeit dasje-nige verschafft, was sie nicht mehr von ihm empfangen können, so wird auch noch ietzt, in jenen seligen Wohnungen, seine unsterblicheSeele Vergnügen über diese Großmuth empfinden.


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