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Thomson's Agamemnon
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( Thomson []'s Agamemnon.Fragment einer Uebersetzung.Nachdem Lessing in seinem Leben des Herrn Jakob Thomson aus einer früheren Uebersetzung des Agamemnon die Erzählung des Melisander von seinem Aufenthalt auf einer wüsten cycladischen Insel 1 angeführt hat, fährt er fort: Ich habe mich nicht enthalten können, diese Stelle abzuschreiben, und zwar nach der obgedachten Uebersetzung. Sie ist in Göttingen im Jahr 1750 auf 7 Bogen in Octav ans Licht getreten. Ihren Urheber weiß ich nicht zu nennen; zwar könnte ich mit einem Vielleicht angezogen kommen; doch dieses Vielleicht könnte sehr leicht falsch sein. Wie man wird gemerkt haben, so ist sie gleich dem englischen Originale in reimlosen Versen abgefaßt. Nur bei der Rolle der Kassandra ist eine Ausnahme beobachtet worden; als eine Prophetin redet Diese in Reimen, um sich von den übrigen Personen zu unterscheiden. Der Einfall ist sehr glücklich, und er würde gewiß die beste Wirkung von der Welt thun, wann wir uns nur Hoffnung machen dürften, diese Uebersetzung auf einer deutschen Bühne aufgeführt zu sehen. Sie ist, überhaupt betrachtet, treu, fließend und stark. Ihr Verfasser aber gestehet, daß er die zweite Hand nicht daran habe legen können, sondern daß er den ersten Entwurf dem Drucker ohne Abschrift habe ausliefern müssen. Diesem Umstande also müssen wir nothwendig einige kleine Versehen zuschreiben, die ich vielleicht schwerlich würde gemerkt haben, wenn ich nicht ehmals selbst an einer Verdolmetschung dieses Trauerspiels gearbeitet hätte. (Werke, Th. XI. 1. Abth. S. 246f.) Diese Uebersetzung ist es, welche sich unter den Breslauer Papieren befindet. Sie ist bis in die Mitte des fünften Auftritts des zweiten Aufzugs fortgeführt und erscheint hier zum ersten Male gedruckt. In seinen Anmerkungen zur Uebersetzung verweist Lessing öfter auf seinen Göttinger Vorgänger.)
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Agamemnon.

Ein Trauerspiel, aus dem Englischen des H. Thomson übersetzt.

Erster Aufzug.

Erster Auftritt.

Klytämnestra, in einer trostlosen Stellung sitzend, und ihre Wärterin.

Die Wärterin

Klytämnestra, meine königliche Gebieterin, kann kein Trost Deinen Schmerz auf kurze Zeit betäuben? Seitdem man in vorigen Nächten die Flamme gesehn, die der König zum Zeichen des gestürzten Troja festgesetzet hatte, seitdem ist keine Speise über Deine ekelnden Lippen gekommen, kein Schlaf hat Deine Augen beglückt. Und wenn ja ein überhingehender Schlummer Deine Seufzer einen Augenblick verstummen ließ und Deine Zähren unterbrach, so fuhrest Du doch plötzlich mit wildem Schrecken wieder auf und schriest: O Schuld! o Aegisthus! Troja! Agamemnon! Wahrhaftig, Königin, das ist zu viel!

Klytämnestra

Weg! Weg! Mein verlorener Zustand ist keiner Erleichterung fähig. Laß mir den kläglichen Trost aller Unglückseligen, daß ich mich meiner Betrübniß überliefern darf!

Die Wärterin

Höre mich, Gebieterin, ehedem theure Last meiner betagten Arme, Du meine zärtliche Sorge von der ersten aufbrechenden Blüthe des Lebens an, meine Freude, mein Ruhm, höre Deine getreue Dienerin, laß mich noch hinzusetzen, Deine Freundin! In den Augen der Vernunft, die nie nach parteiischen Absichten urtheilet, ist Dein Unglück weit größer als Deine Schuld. — — Deine Schuld? Verzeihe, das Wort ist für das zu hart [als daß es dem beigelegt werden könnte], was mehr Mitleiden als Tadel verdient. Ich weiß, durch was für verrätherische Griffe Du aus der angenehmsten Ruhe in diese unseligen Bekümmernisse, in diese ängstlichen Verwirrungen versunken bist.

Klytämnestra

Fort mit mir aus dem Angesichte der Welt! Aller Trost ist umsonst. — —

Die Wärterin

Erlaube, daß ich Deine nicht so schlimme Sache gegen Dich selbst führen darf! Als Agamemnon die Griechen nach Troja führte und Dich für das Gepränge des Kriegesverließ; als er Dich, Du Schmuck Griechenlands, Du holdseligste Mutter, Dich zärtlichstes Gemahl, in der vollen Blüthe Deiner
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Schönheit, wenn anders das Gerücht wahr redet, für Trojanische Sclavinnen vergaß — — Doch dieses beiseite! — — — Wie verließ er Dich? — sprich! Als eine betrübte, gereizte Königin und Mutter, die in Aulis mit ihrer erstgebornen Hoffnung, der blühenden Iphigenia, unter dem Vorwande ihrer gleich zu erfolgenden Verbindung mit dem Achilles verrathen ward. Kaum war die vom Winde aufgehaltene Flotte angelangt, als Du ihr unsträfliches Blut [auf dem befleckten Altar der Diana strömen sahest], den Preis der Winde und theuer erkauften Lüfte, die sie nach Troja bringen sollten, von dem befleckten Altare der Diana strömen sahest. [Durchdrungen] Du warst von Herzeleid durchdrungen, zur Raserei und beinahe zur Rache gegen einen grausamen, hochmüthigen Ehemann angereizt; alle Leidenschaften schwärmten in Dir unordentlich unter einander, sie waren auf dem Punkte, sich zu verändern; und doch ließ er Dich in der Gewalt eines schmeichelnden, unterthänigen Liebhabers, den er Dir in Verwaltung des Reichs zum Gehülfen gab, und der gegen Dich ebenso biegsam als Agamemnon übermüthig war.

Klytämnestra

(steht auf) 2

Ach, es ist nur allzu wahr! Du hast die Quelle meines Unglücks entdeckt. Warum verließest Du mich, barbarischer Agamemnon? und verließest mich weinend um die ermordete Tochter? Warum überließest Du mich hülflos meinem verwirrten Gemüthe? Ach, warum verkauftest Du mich selbst meinem Liebhaber? Ich weiß es allzu wohl, was Aegisthus für Künste anwendete, welche das Herz eines Frauenzimmersunvermerkt stehlen und süß bezaubern! Weg, theure, klägliche Ideen! Weg, Ihr Verderber! Und noch wagt Ihr es [mich in diesem Augenblicke], treulose Sirenen, mich in diesem Augenblicke zu versuchen? O Natur! warum hast Du uns, Natur, so widersprechend gebildet? Zu einem beständigen Spiele streitender Kräfte! Ach, warum hast Du einen solchen Krieg in uns gepflanzt, einen so ungleichen Streit zwischen der trägen Vernunft und der ungestümen Leidenschaft? Die Leidenschaft reißt uns ohne Widerstand mit sich fort, ehe uns die langweilige Vernunft zu
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Hülfe kommen kann, und dann nutzt sie uns nichts, als daß sie und Vorwürfe macht. [Hör auf!] Laß nach, Peiniger!

Die Wärterin

Du thust Dir selbst allzu viel Unrecht. Bedenke, wie Du der Liebe Jahre durch ausgewichen bist. Aegisthus, ob er gleich Dein Herz rührte, obgleich manche mitternächtliche Zähre, mancher verborgene Seufzer mir, und mir nur allein Deinen Schmerz entdeckte, der Deine verschwindenden Wangen verdunkelte, doch konnte er mit allen seinen Künsten und Reizen, mit aller seiner Liebe und Unterwürfigkeit den ringenden Vorsatz der Seele nicht überwältigen, bis er den Melisander in eine wüste Insel von Deinen Ohren verbannte.

Klytämnestra

Ach, Melisander! Du wardst eine Beute wilder Thiere oder des noch wilderen Hungers. 3 Ach, unglücklicher Freund! Hellas' führendes Licht, das mir Agamemnon, mein Reich zu regieren, hinterließ! Du, den alle Wissenschaften und alle Musen geschmückt hatten, weil Dein redliches, ehrliebendes Herz ihnen alle Ehre machte! O, wärest Du stets um mich geblieben so würde ich heute ebenso beglückt sein, als ich unglücklich bin! Die Gottheit strahlet empfindbar aus der Tugend, aus der
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reinen, großmüthigen, sich nichts anmaßenden Tugend. Selbst ihr Schweigen redet, und ohne stolze, förmliche Lehren bringt sie uns Verachtung des elenden beschimpfenden Lasters bei. Mit ihm aber, mit Melisander, verlor ich Vernunft, Namen, Ehrliebe, Wahrheit und lautre Ermahnungen; mit ihm entwich mein guter Genius. Ohne Freund, geschmeichelt, bestürmt, bezaubert, ward ich mit der Alles verführenden Liebe allein gelassen; der Liebe, die, blind für das Zukünftige, alle gesunden Gedanken, alle Folgerungen verachtet, über Alles spottet, außer was ihr die sie selbst bezaubernden Träume einblasen. Was konnte ich thun? — — — Doch weg, Dir selbst schmeichelnde Sünde! Ich hätte bedenken sollen, daß die Ehre, wann sie einmal befleckt ist, von keinen Thränen der winselnden Reue kann wieder reingewaschen werden; daß eine Beschimpfung wie die meinige die stolze Ehre eines vermählten Königs und meine Kinder, meine armen, unsträflichen Kinder, mit Schande überhäufen müsse; daß ihre Wange bei dem Namen ihrer Mutter entbrennen würde; ich hätte denken sollen — — Ach, könnte ich nur nicht mehr denken! Das Denken ist eine Marter!

Die Wärterin

Was hilft das, Königin?

Klytämnestra

Ach, Melisander! Itzt, könnte der Tod hören! itzt würde ich Deinen freundschaftlichen Beistand anrufen, in dieser Stunde der Verwirrung wollt' ich Deine Gegenwart erflehen. Vielleicht hat die Weisheit, die leutselige Weisheit, die unsere Schwäche kennt und sie also verzeihen kann, vielleicht hat sie einen heilenden Trost für ein schuldiges Gemüth, vielleicht hat sie einige Gewalt, es wieder zur Ruhe zu locken, und befiehlet ihm aufs Neue, ohne Verstellung zu lächeln. Doch fruchtloser Wunsch! Nein, er kann nicht, er kann nicht erfüllt werden! Aegisthus, der mir von nun an Gesetze geben mag, die Furcht der Entdeckung, der schrecklichste Tyrann der Schwachen, und mein eignes mitschuldiges, beflecktes Herz verbieten mir, zurückzugehen.

Die Wärterin

Hier ist, Gebieterin, der Mann, der auf seiner Wache das feurige Zeichen des überwundenen Troja's bemerket hat und itzt Deinen Befehl erwartet, Dir von Allem, was er sah, mehr Nachricht zu geben.

Zweiter Auftritt.

Klytämnestra. Ihre Wärterin und der Mann, der das Zeichen gesehen hat.

Klytämnestra

Bist Du denn gewiß, daß Du das Zeichen gesehen hast? Oder war es ein Hirngespinnst, das Dir Dein
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wachender Wunsch im Schlafe vormalte, oder auch vielleicht ein nächtliches Luftzeichen?

Der Mann

Meine Königin, Troja ist nun gewiß ein Steinhaufen. Ich sahe das Zeichen seines Schicksals allzu deutlich. Die Nacht war dunkel und stille. Mir bedeckte eine dichte Finsterniß die Erde. Die Sterne waren tief in traurige Wolken verhüllet, und auf der Erde schimmerte in und um Mycen kein Strahl: als schnell am entferntesten Ost 4 ein rothes Licht auffuhr und sich, weit um sich greifend, fortwälzte. Bald fiel es, bald stieg wieder, gleich feurigen Wellen. Die brennende Nachricht trug sich von Insul zu Insul, von Vorgebirge zu Vorgebirge weiter, bis sich die letzte Flamme ganz deutlich in Nauplia endigte. Welch herrlicher Anblick! Wie freute sich mein griechisches Herz! 5

Klytämnestra

Was ist für Wind?

Der Mann

Es bläset gerade von Troja her, stark und anhaltend.

Klytämnestra

Gut! Geh nur wieder! Deine Sorgfalt und treue Mühe soll Dir belohnt werden.

Dritter Auftritt.

Klytämnestra. Ihre Wärterin.

Klytämnestra

Er kommt! Er kommt, der unglückliche Sieger! Eben jetzt durchstreicht sein triumphirendes Schiff das hohe Meer und durchpflüget mit siegrischem Schnabel die Wogen. Vielleicht begrüßet er schon sein väterliches Ufer und wird von einer freudigen Menge empfangen und eilet zu seiner Schande. Mit Ehren überhäuft, fröhlich über den Sieg und gekrönt mit den Lorbeern der zehn berüchtigten Jahre, träumt er, den friedlichen Oelzweig damit zu verbinden und nach harten Bemühungen des gefährlichen Krieges in dem Myrtenbette einer ruhigen häuslichen Glückseligkeit sanft zu ruhen. Wie eitel ist die Hoffnung, wie kurz die Aussicht eines leichtgläubigen Menschen! Ich
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wag' es nicht, vor mich zu sehen, noch mir das sich aufziehende Wetter vorzustellen.

Die Wärterin

Aegisthus kommt, Königin!

Klytämnestra.

Verlaß mich!

Vierter Auftritt.

Klytämnestra. Aegisthus.

Aegisthus

(nach einem kurzen Stillschweigen)

Wie, Klytämnestra? begegnen Verliebte in Stunden der Gefahr einander so?

(Er hält inne.)

Währt das kalte Stillschweigen noch? Sind die Augen, woraus nichts als Zärtlichkeit strahlet, noch abgewandt? Zorn, Furcht, Ekel und kranke Reue verfinstern Deine veränderlichen Wangen. Es ist offenbar, Du hast mich nie geliebt.

Klytämnestra

O, wäre es wahr!

Aegisthus

Es ist nur allzu wahr. Selbst das Vermögen, so was zu wünschen, beweiset es.

Klytämnestra

Der hat meine Liebe nie verdient, der daran zu zweifeln wagt!

Aegisthus

Nicht daran zu zweifeln, würde Schwäche und Thorheit sein.

Klytämnestra

Zweifle nicht blos, glaube Deinen Zweifeln!

Aegisthus

Ich thue es schon.

Klytämnestra

Du thust es?

Aegisthus

Genug, ich bin von ihrer Wahrheit überzeugt.

Klytämnestra

Mir diesen niederträchtigen und undankbaren Vorwurf zu machen! Stürme nicht zu arg, Aegisthus, stürme nicht zu arg auf meinen schuldigen, niedergeschlagenen Geist! Ob Du gleich meine erhabne Tugend, den edeln Stolz meiner Seele, der keine Furcht kennet und keinen Vorwurf erträgt, unter Dich getreten hast, so will ich doch wenigstens gegen Dich, gegen Niemand als Dich so kühn sein, als hätt' ich nie gefühlt; Dir will ich Königin, Blut des Jupiter's und Klytämnestra sein!

Aegisthus

Mäßige Dich! Ich habe nichts gesagt, als daß ich Deiner Liebe unwerth bin.

Klytämnestra

Verflucht sei der Hochmuth, der sich mit verstellten Mienen unter der Demuth verstecket! Und bin ich denn so niederträchtig, habe ich denn Verstand und Ehre so gänzlich verloren, daß ich mich ohne die Alles bezwingende Furie, ohne die Liebe, die erniedrigende, sinnlose, blinde Liebe, von der Höhe eines glücklichen Lebens zu dem niedrigen, ängstlichen Stande der
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kleinmüthigen Scham herablassen muß? Verkenne mich nicht! — — Dich von der Eifersucht, der ärgsten Raserei, zu heilen, wollte ich, da ich so beschimpft bin, kein Wort, kein flüchtiges Wort verlieren, wenn nicht eine Art trauriger Gerechtigkeit, die ich mir leider selbst schuldig bin, dieses schimpfliche Bekenntniß der vollen Brust entriß. Wie bist Du gefallen! wie schimpflich bist Du gefallen, unselige Klytämnestra!

Aegisthus

Ungerechte Auslegung! Und doch gefallen mir diese verächtlichen Blicke, und doch bezaubert mich dieser Zorn. O mehr als liebenswürdige, o majestätische Schöne! Da Du die Stärke der eifersüchtigen Liebe kennest, so vergieb ihrer zärtlichen Furcht, ihrer schmeichelnden Beleidigung! Ich gedachte Dich nicht zu beleidigen.

Klytämnestra.

O Unglückselige, die vergeben muß!

Aegisthus

Nein, lieber verstoße mich, als daß Du mir eine so erzwungene Vergebung vorwirfst! O Klytämnestra! wo sind nun jene Blicke, jene Blicke des lächelnden Himmels, der strahlenden Freundlichkeit, die den Morgen unserer Liebe beglückten, dessen Bezirke sich kein Uebel, keine Traurigkeit nahen durfte, weil wir Beide, durch unsern Anblick entzückt, weder Furcht noch Gefahr kannten? Und sollten wir uns itzt in finstre Zänkereien einlassen? Weg mit dem Zanke! Warum sollten Liebhaber zanken? Das Leben ist darzu zu kurz, die Zeit darzu zu kostbar, und besonders diese Augenblicke, diese stürmische Augenblicke, die unser gemeinschaftliches Schicksal dem Verderben so nahe gebracht zu haben scheinen. Eben itzt — —

Klytämnestra

Es ist wahr, es ist wahr! So oft ein hohler Wind diesen Palast erschüttert, so oft denke ich, Agamemnon kommt. Und doch, und doch, Aegisthus, weil noch ein Zeichen, das vorzüglichste Zeichen meiner Liebe übrig ist, so will ich Dir es geben. Mit Freuden will ich das königliche Gepränge verlassen und mit Dir den Augenblick ein entlegnes Land suchen, ein thracisches dunkles Thal, wo uns ein fichtener Hämus in seinen undurchdringlichen Schatten verbergen mag. Da soll mir das abscheulichste Leben, die härteste Arbeit gegen das, was ich itzt fühle, gegen die herben Schmerzen, die mein Herz foltern und meine verwirrten Leidenschaften beängstigen, eine wollüstige Ruhe sein. Geschwind! laß uns fliehen, Aegisthus, laß uns diesen Augenblick fliehen, der zweite möchte uns ergreifen und uns der Schande, der gräulichsten Schande überliefern!

Aegisthus

Was, Klytämnestra, fliehen? Das nur ist der
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geradeste Weg zur Schande, zur ewigen Beschimpfung. Der Niederträchtigste auf der Welt ist Der, welcher flieht und seinen großen Vorsatz aufgiebt, es sei im Kriege oder Frieden. Der aber, welcher hartnäckig fortarbeitet, seinen Zweck erreicht, der Zweck sei, wie er sei, und sich durch den Ausgang krönet, der ist ein Kind des Glücks und der Ehre und wird von dem Niederträchtigen, von dem scheinheilig Niederträchtigen, der ihn sonst mit den schimpflichsten Vorwürfen belästiget hat, am Meisten bewundert. Und kannst Du Dir träumen lassen, daß Dein Ehemann, Dein eitler, ehrsüchtiger Ehemann, der stolze Agamemnon, welcher zehn ganze Jahre vor Troja gefochten hat, den Raub Deiner Schwester Helena zu rächen, daß dieser uns nicht verfolgen sollte, wenn wir auch in Cimmeriens Schatten unsere Zuflucht suchten; daß er uns nicht zur alsdann verdienten und unbeklagenswerthen Beschimpfung zurückschleppen und der Verachtung des spöttischen Griechenlands bloßstellen würde?

Klytämnestra

Entschuldige mein schwächeres Herz! Aber, Aegisthus, wie kann ich den Anblick eines beleidigten Ehemannes ertragen? Der schrecklichste Feind hat kein so entsetzliches Ansehn als ein Gemahl, den wir beschimpfen.

Aegisthus

Die Furcht, Klytämnestra, wirft ein falsches Licht auf Deine verwirrte Vernunft und blendet sie gänzlich. Er ein beleidigter Ehemann? Er beschimpft? Nein, nein, Klytämnestra kann den Agamemnon, ihren und des ganzen Griechenlands Wüthrich, nimmermehr beleidigen; nimmermehr kann sie einen Ehemann beschimpfen, der sie zehn Jahre, zehn einsame Jahre für die eitle Ehre eines närrischen Krieges vergessen konnte! Und wenn der Ruf wahr redet, so hat er nicht einmal diese zehn Jahre mit Krieg zugebracht, sondern anstatt zu kriegen, hat er sich mit seinen edlern Freunden gefangner Mägde halber schimpflich gezankt. Er zog eher verliebter Lustbarkeiten als des Krieges wegen fern von seinem Vaterlande, seinem Hause und seiner Königin. Wie kannst Du nun einem so Ungetreuen beleidigen? Gedenke an Aulis, wie schimpflich Du in diesem Hafen verrathen wurdest, und was für eine schreckliche Hochzeit Deiner Tochter daselbst wartete! Bedenke, durch welchen Preis er seine grausamen Siege erkaufte! Siehe die erstgeborne Blüthe Deiner Jugend, Deine Iphigenia: ihre holden Augen sind niedergeschlagen, ihre Wangen mit Furcht bedeckt, mit bloßer Brust stehet sie da, ein hülfloses, unschuldiges, unbeweintes Opfer, und wird von dem mörderischen Kalchas durchstochen! Ihr Vater, ihr un-beweglicher Vater stehet dabei, damit ja Niemand seinem Kindermorde hindere! Siehe, sie vergießt reiche Ströme Bluts, von Dir überkommenen Bluts; sie fällt gleich einer verwelkenden, zur Unzeit abgerissenen Blume, einem ungeduldigen Vater von einem grausamen Geiste, der sich betriegerisch für Dianen ausgab, günsti gen Wind erkaufen! Die Winde erheben sich und füllen die Segel. Er reist ab. Zufrieden reist er ab und verläßt die unglückliche Mutter, die ihr ermordet Kind beweinet! — — — Wenn noch ein Funken des vorigen Geistes in Klytämnestren brennt, wenn sie noch die Natur fühlt und dem Rechte noch lebt, so werden ihr dieses — — — dieses werden ihr Beleidigungen sein, die um Rache schrein. Und ich weiß, ich weiß die kühnen Hände, die Dich — — erstaune nicht! — — — die Dich rächen zu können, stolz sein werden.

Klytämnestra

Wie? was für Hände? was für Rache? Sprich! Falle nicht in einen so wilden Ton! er erweckt neuen Streit in meiner kämpfenden Seele. Den gerechten Göttern, nicht uns gehört die Rache. Nein, nimmermehr kann ich, nimmermehr will ich meine Einwilligung zu — — Götter! wohin verliert sich meine Zunge! — Nein, das war Deine Meinung nicht — — das hast Du nicht sagen wollen — — Ach, schone, Aegisthus, schone den letzten Rest meiner Tugend! Mache nicht, daß ich ihn unwiederbringlich verliere! Mache mich nicht zum Abscheu meiner selbst! — Wie elend sind sie, die ihre sterbende Tugend fühlen und sie nicht retten können!

(Man hört ein Freudengeschrei.)

— — Was soll das Frohlocken des unsinnigen Volkes? Ach — — dem Herzen ahnet — — Hilf mir! — — Von Neuem! — — Ach, wie wenig müssen sie mich durch ihre Freude zu schrecken glauben!

Aegisthus

Es kömmt Jemand 6 — — fasse Dich wieder, Klytämnestra!

Fünfter Auftritt.

Klytämnestra.Ein Hofbedienter.

Der Hofbediente

Der König ist in der Nähe. Er kömmt von Nauplia; allein die freudige Menge des ihn umringenden Volks verzögert seine Ankunft. Eben itzt kam Talthybius und brachte diese Nachricht. Er bittet, vorgelassen zu werden.

Klytämnestra

Führe ihn herein!

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Sechster Auftritt.

Klytämnestra (allein).

Klytämnestra

Ach! Nur allzu wahres Zeichen! Ich muß schon noch einen Schritt im Laster fortgehen. Herunter, unbiegsames Herz, und lerne Verstellung! ja, lerne lächeln, ob Dich schon der Kummer umringet hat; lerne Dich nur mit der Niederträchtigkeit verschwistern! Sieh, wie erfreut der Herold einhertritt! Betrogner Mann!

Siebenter Auftritt.

Klytämnestra. Talthybius mit einigen griechischen Soldaten, die ihn begleiten.

Klytämnestra

Willkommen, Talthybius! Willkommen, Ihr tapferen Griechen! Wie lebt der König?

Talthybius

Der König, Gebieterin, lebet wohl. Gesundheit, Glück und Ehre vereinigen sich, ihn zu krönen. Sein Herz ist voller Ungeduld, sich mit Deinem zu unterhalten. Er hat mich mit seinen brünstigsten Wünschen und seinen freudigsten Freudensbezeigungen vorausgesendet. Sage, sprach er, geh, sage meiner Klytämnestra, daß die Vorstellung, sie zu umarmen, eine angenehmre in mir erwecket, als mir alle Eroberung gemacht hat! Selbst die Liebe meines Volks sei mir zuwider, die mich sie einen Augenblick später sehen läßt. Diese Krone, die vordem die königliche Schläfe der Hekuba, der stolzen Königin des Priamus, umschloß, bittet er Dich anzunehmen.

Klytämnestra

Setze sie nur hin! Ich gestehe es, Talthybius, weichliche Thränen treten in meine weiblichen Augen, da ich an die plötzlichen Umstürzungen des Schicksals, an die traurigen Veränderungen des Glücks gedenke. Oft, wenn blinde Sterbliche auf der Höhe ihres Wohlstandes am Sichersten zu sein vermeinen, sind sie am Rande des Verderbens. Aber, in der That, Eure Reise ist sehr geschwind gewesen. Noch nicht drei volle Tage . . . Ist die ganze Flotte zurückgekommen?

Talthybius

Das einzige Schiff, das den König trug, ausgenommen, die übrigen alle sind weit verschlagen worden. Als wir den freudigen Winden unsere Segel übergaben und den Meerbusen verließen, wo sich Simois und Skamander mit dem reißenden Hellespont vermischen; als Troja oder vielmehr der wirbelnd gen Himmel steigende Rauch, der vormals Troja war,
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und die waldichte Spitze des Ida hinter dem aufwallenden Meer verschwand, war der Himmel noch heiter; mäßige Lüfte beflügelten unsern Lauf, und die ganze Nacht segelten wir unzertrennet mit einander fort. Doch eben als der Abend hereinbrach, wurden die flatternden Winde nach und nach stärker und bliesen vom röthlichen Nordost mit schrecklicher Gewalt. Endlich brach das Wetter heulend aus. Den Morgen darauf erblickten wir nichts als See und Himmel, beide im zornigsten Streite. Unterdessen trieb unser stärkres Schiff vor dem Winde her, der nun weniger tobte und uns eine glückliche, geschwinde Reise verschaffte. Wir strichen sicher bei den cycladischen Inseln vorbei, die auf der unruhigen Tiefe unter dem Alles vermengenden Sturme zu schwimmen schiennen. Einer einzigen näherten wir uns nicht ohne Mühe und mit vieler Gefahr.

Klytämnestra

Und warum?

Talthybius

Ein heiliges Erbarmen trieb uns dahin. Auf einer schäumenden Klippe stand eine armselige Figur und winkte. Die fürchterlich wilde, vom Hunger abgemattete Stimme ward halb von murmelnden Wellen verschlungen, und ihre Klage erreichte mit genauer Noth unsre Ohren. Er rufte auf Griechisch und beschwor uns bei den Göttern, die für Unglückliche besondere Sorge tragen, ihn aus dieser wilden Einöde zu retten und wieder in die freudige Gesellschaft der Menschen zu versetzen.

Klytämnestra

Und wie? — — Schien er von Stande zu sein?

Talthybius

Er schien es, ja, obgleich das hülflose, elende Leben sein Ansehn verdunkelte. Der König hat viel Achtung für ihn — — Doch verzeihe, Gebieterin, ich sehe, daß dieses jämmerlicheBild Deine großmüthige Seele beunruhiget.

Klytämnestra

Ich danke Dir, wackerer Talthybius; das Uebrige will ich von dem Könige selbst hören. Nimm diesen Ring für Deine Neuigkeiten, auf welchen eine Siegesgöttin mit seltner Kunst gegraben ist! Ich bleibe in Deiner Schuld, Soldaten, und auch in Eurer.

Ende des ersten Aufzugs.
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Zweiter Aufzug.

Erster Auftritt.

Klytämnestra und ihre Wärterin.

Klytämnestra

So plötzlich ist er angekommen! Und ich bin nicht halb vorbereitet! Gewissen und Scham schlägt noch meine Blicke nieder; noch sind meine Augen zu zart, sich verstellen zu können.

Die Wärterin

Fasse Dich, Gebieterin! Wische diese dunkelen Thränen ab, in welchen Deine unruhige Seele allzu deutlich zu lesen ist! Eben itzt verkündet die Trompete die Annäherung des Königs.

Klytämnestra

Endlich ist sie gekommen, die richterische Stunde! O, könnte sich mein Herz verhärten! Könnte mein Gesicht heucheln! Die Trompete schallt aufs Neue — —

Die Wärterin

Ein Augenblick, Königin, ein Augenblick kann Dich verrathen.

Klytämnestra

Und meine Scham verschlingen! — — Was soll ich thun? Wohin soll ich sehen? Was soll ich sagen? Verwirrung! Marter!

Die Wärterin

Königin — —

Klytämnestra

Ja! Ich Niederträchtige! War kein Dolch, der mich von diesem zehnfachen Tode retten konnte?

Die Wärterin

Höre! Der laute Einzug nähert sich.

Klytämnestra

Wohl, laß mich zu Athem kommen — —

(Indem sie sich von ihrer Verwirrung zu erholen sucht, sagt Agamemnon hinter der Scene.)

Agamemnon

Verlaßt mich auf einen Augenblick, meine Freunde!

Klytämnestra

Hörst Du seine Stimme? Ja, ja, er ist es.

Die Wärterin

Aber erinnere Dich — —

Klytämnestra

Himmel!

Zweiter Auftritt.

Agamemnon.Klytämnestra.

Agamemnon

Wo ist mein Leben, meine Liebe? Meine Klytämnestra! O, laß Dich an meine auf den Lippen flatternde Seele drücken — die eben auf dem Wege ist, sich mit Deiner zu vermischen! O Du, für die ich lebe, für die ich sorge, die Du
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mir reizender als die Ehre bist! o meine Klytämnestra! Itzt, in dieser zärtlichen Umarmung vergess' ich alle Beschwerden der kriegerischen Jahre. Dieser bezaubernde Augenblick vertilget alle Martern der Abwesenheit. Gütigste Götter! Nein, nie war ein Herz von Freuden so erfüllt — als meines — — —

(Er bemerkt ihre Unruhe.)

Aber, Schönste, was sollen diese Thränen? Das sind nicht Thränen der glücklichen Liebe, wie ich vergieße. — — Was will dieser finstre Blick, der mich seiner Anmuth nicht würdiget? Warum empfangen wir uns so kalt? Warum willst Du mein Feuer so unfreundlich ersticken? O rede, meine Klytämnestra!

Klytämnestra

Vergieb mir, Agamemnon! Ich kann Dein Gesicht, ach, ich kann es nicht wiedersehen, ohne zurückzudenken, wie ich es das letzte Mal gesehen habe. Aulis stellt sich von Neuem meinen Augen dar. Ich sehe die Schiffe, ihre Führer, die Wache, den blutigen Kalchas, das ganze schreckliche Gepränge des Opfers! Ich sehe meine schimpflich verrathene Tochter, ich sehe sie von Neuem bluten! Ich sehe die schreckliche Stirne — worauf ihr Urtheil geschrieben war, und Agamemnon darf sich über meine Thränen wundern?

Agamemnon

Warum will meine Klytämnestra neue Stacheln in mein Herz drücken, da die alten noch zu tief stecken? Ach, warum rechnest Du des Schicksals Härte mir zu? Nicht die weichliche Neigung gegen das, was uns angehöret, nicht die Eigenliebe ist es, welche die Welt erhält und ihre Regierer beliebt macht: nein, dieses sind nicht die Quellen der Ehre und unsterblicher Thaten. Wer würdig zu herrschen denket, in dem muß das allgemeine Beste, das Beste Anderer die angenehmsten Triebe der Natur unterdrücken; und wer am Besten herrschet, über den herrscht die Ehre am Meisten. Schickte es sich für mich — — — laß Deine eigne Neigung urtheilen — — schickte es sich für den Agamemnon, als er einmüthig zum Führer der Griechen erwählt wurde, als zwanzig Könige sich zu meiner Fahne hielten, als das ganze um mich versammelte Griechenland, durch den Raub Deiner Schwester erhitzet, sich an seinem alten Erbfeinde, dem treulosen Asien, zu rächen verlangte, schickte es sich damals für mich, das Feuer der Ehre zu ersticken? Konnte ich ein Leben Tausenden versagen, diesen großmüthigen Tausenden, die alle für meine Ehre, für die Ehre des Bluts meiner Klytämnestra zu sterben bereit waren? Wäre ich gegen die vereinte Stimme der Ehre, der Pflicht, der allgemeinen Wohlfahrt, der gebietenden Götter taub gewesen; wäre in dem schwachen Vater der Grieche, der Patriot,
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der König, und was noch mehr als der König ist, der Anführer der Griechen schimpflich verschwunden, so hättest Du mich selbst — — laß Dein Herz die Wahrheit gestehen —, meine Klytämnestra selbst hätte mich verachten müssen. Und glaubst Du, daß mir mein Entschluß leicht ward? Ach, Klytämnestra! hättest Du gesehen, was in mir, in meiner gefolterten Brust vorging! Alle meine Schlachten sind dagegen ein Spiel. Nein, die zärtlichste Mutter, die über ihrem mit dem Tode ringenden Kinde in Thränen zerfließt, fühlt das nicht, was ich erlitt! — — Erinnre Dich — — noch itzt zerschmelzt die Vorstellung den Vater in Thränen — — erinnre Dich, wie ich mein Gesichte verhüllte, weil ich mich schämte, den um mich stehenden Griechen Thränen sehen zu lassen, die sich für die Wangen ihres Anführers nicht schickten. Höre auf, das zu schelten, was Mitleiden, ja, ich möchte sagen, Ruhm verdienet! Wer ein zärter Vaterherz hat als ich, der hat ein allzu zartes. Ich liebe meine Kinder, wie sie ein Vater lieben soll, und liebe sie noch aus einem anderen, angenehmern Grunde: weil ich meine Klytämnestra liebe.

Klytämnestra

Ach, hätte mich Agamemnon geliebt, würde er mich in der rasenden Betrübniß, da meine blutende Tochter vor meinen (?Augen) 7 lag, wohl verlassen haben? Würde er mich so lange verlassen haben? Die überlegende Liebe hätte gewiß in dem weiten Raume von zehn Jahren ein Mittel, mich zu sehen und mich zu trösten, gefunden. Warum wurde ich so vergessen, Agamemnon?

Agamemnon

Laß mich diese Thränen aufküssen — o reizende Thränen! wenn Euch die zweifelnde Liebe, wenn Euch die Abwesenheit fließen läßt! Anstatt dieser Vorwürfe frage mich lieber, wie ich diese Abwesenheit ertragen habe! Hier sind alle Worte, alle Beredsamkeit ist hier stumm, den Kummer auszudrücken, der sich über die wilden Stürme des Krieges erstreckte. Wenn der schimmernde Tag verschwand und das Lager schwieg, ach, alsdann nagte unter tausend andern Sorgen diese mein Herz am Schmerzlichsten, die mich an Dich erinnerte, an meine lang verlassene Klytämnestra, an die wilden Seen und Berge, die uns trennten.

Klytämnestra

Unglücklicher Mann!

Agamemnon

Was sagt meine Klytämnestra?

Klytämnestra

Unglückliche Sterbliche, die ein eitles
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Wort betriegt, die sich zu Sclaven ihres eigenen Stolzes, zu Sclaven der freudenlosen Ehre machen!

Agamemnon

Nur Der hat einen Anspruch auf die Glückseligkeit, der den rauhen Weg der Ehre gegangen ist.

Klytämnestra

Aber was nutzt der Anspruch auf eine verschwundene Glückseligkeit?

Agamemnon

Ich beschwöre Dich nochmals, Klytämnestra, bei Allem, was den zärtlichen Namen der Liebe trägt, beschwöre ich Dich, übergieb unsern vergangnen — — wie gerne wollte ich ihn keinen Zank nennen — — übergieb ihn der liebreichen Vergessenheit! Ach, es war, es war eine Zeit — — — wie süß ist es, diesen Gedanken nachzuhängen! — — da unsre Seelen in einer immerwährenden Entzückung zerflossen, da im Frühling unsres Lebens der Frühling der Liebe sanft um uns wehte, da Himmel und Erde und die ganze lächelnde Natur uns mit Freuden erblickte. Und noch, wenn mir nur Klytämnestra hülfliche Hand reichet, kenn' ich eine Leidenschaft von weit eindringenderer Entzückung, als nimmermehr die unruhige Jugend fühlt: dieses ist die durch lange Erfahrung zur Freundschaft reif gewordene Liebe. Wie weit ist das verdrießliche Kind der Einbildung davon entfernt! Es ergetzet sich einige Augenblicke an der Schönheit; schnell wird es ihrer überdrüssig und sucht ein andres Spielwerk. Wie viel edler ist die Frucht der unveränderlichen Vernunft, die mit den Jahren angenehmer wird und immer ihren Reiz behält! — — Nur selten, Klytämnestra, lass' ich mich zu wiederholten Bitten herab — — Vernichte doch nicht meine zusammengesammelte Hoffnung der Liebe und des Lebens! — Mache mir meine Eroberungen nicht verhaßt! Ich muß sie verabscheuen, wenn sie mir Dich, wenn sie mir Deine kosten. Eine Tochter, eine zehnjährige Abwesenheit von Klytämnestra war schon zu viel. Setze keinen neuen Verlust hinzu! Dich zu verlieren, ist mir unerträglich, Dich, Du Geliebteste, vormals die Holdeste Deines Geschlechts!

Klytämnestra

Ach!

Agamemnon

Wende Dich nicht weg! Schon sehe ich sie in Deinen Blicken, die mitleidige Güte!

Klytämnestra

Ach, zur Unzeit zärtlicher Agamemnon! allzu großmüthiger Agamemnon! Du ängstigst mich! Wärst Du doch itzt minder freundlich, minder zärtlich! Oder wärst Du vielmehr niemals so grausam gewesen!

Agamemnon

Welche Ungerechtigkeit, mich grausam zu
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nennen! Das Schicksal, das Glück, die Götter waren für uns Beide grausam. — — Wie konnte ich Dir unsre getheilten Schmerzen mehr lindern, wie konnte ich Dir meine Abwesenheit mehr erleichtern? Ich ließ Dir Melisandern zum Rathgeber, den weisesten, den getreuesten, den besten — — — Ach, sanft redende Natur! — — Sind das nicht meine Kinder? —

Dritter Auftritt.

Agamemnon. Klytämnestra. Elektra. Orestes.

Agamemnon

Meine Tochter! meine Elektra!

Elektra

O mein Vater!

Agamemnon

Komm in meine Arme, mein Kind, mein theurer Orestes! Du, in dem ich neu lebe, Du mein verjüngtes Selbst! Und Du, Elektra, in Deinen offnen Wangen erkenne ich die Blüthe Deiner Mutter. So sah sie aus; so waren die sanften Blicke ihrer hervorbrechenden Schönheit. O Du angenehmstes Bild meiner Klytämnestra! meine andre Iphigenia!

Elektra

O mein Vater! meine Freude! mein Stolz! mein Ruhm! den ich oft im Traume, als käme er von Troja zurück, gesehn habe! Doch immer löschte der unwillkommne Morgen die werthen Täuschereien der Nacht mit Thränen aus. — — Ist es also kein unglaubliches Gesichte mehr? Nein, er ist's; es ist mein Vater, dessen Abreise von hier wie des Todes der Iphigenia ich mich noch wohl erinnere. Wie glorreich war Dein Tod, Iphigenia! ein Tod, den ich mehr beneide als beklage. Wer wollte nicht sterben, einen unsterblichen Ruhm zu gewinnen, Griechenland zu befreien und die Ehre eines Vaters zu vermehren!

Agamemnon

Umarme mich nochmals, großmüthige Tochter! Auch Du, mein Sohn! O, hätte es Dir Dein zartes Alter erlaubt, an unsern Thaten vor Troja Theil zu nehmen! Der Krieg ist es, was einen Fürsten bildet. Schweiß, Ermattungen, schlaflose Nächte und nimmer ruhige Tage, Sorge, Gefahr, verschmähter Tod, ein Allen gleiches Schicksal, veränderlichesGlück: die sind es, welche den Geist zur Ehre erheben, diese sind es, welche die edelsten Tugenden, die sanftmüthigsten Betragungen einprägen. Wo werde ich, Orestes, wo werde ich, Dir dies Alles zu lehren, ein neues Troja zu finden?

Orestes

O, wie glücklich wäre ich gewesen, wann ich es hätte sehen können, was ich itzt nur hören muß! Doch oft will
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ich es hören, täglich will ich die Geschichte lernen und Deinem Exempel nachdenken. Ich will mich bestreben, Deine Tugenden mit Deinem Blute zu verbinden, die geerbten Lorbeeren nicht zu entehren. In meiner Brust erhebt sich, ich weiß nicht was — — Verzeihe, Herr, ich bin zu jung, es Dir zu sagen — — doch hier fühle ich was, was mich hoffen läßt, daß ich meinen Vater nicht beschämen werde.

Agamemnon

Sohn meiner Seele! Siehe her, meine Klytämnestra, siehe her und weine mit mir Thränen der Zärtlichkeit und der Entzückung! Was sind alle geschmacklose Wollüste gegen diese eines Freundes, welche eine heilige Liebe schenkt! O Natur, o väterliche Natur, Du, Du bist allein der untriegliche Richter dessen, was uns glückselig macht.

(Ein Hofbedienter kömmt.)

Der Hofbediente

Aegisthus, Herr, erwartet Dich.

Agamemnon

Ach, laß ihn hereinkommen! Entferne Dich, Klytämnestra, entfernet Euch, werthe Kinder! bald werden wir wieder beisammen sein; unterdessen lebt wohl!

Vierter Auftritt.

Agamemnon.

Agamemnon

Gehorcht mir, Mienen, auf einen einzigen verstellten Augenblick! Ich will Euch nicht lange martern! Hier am Hofe muß man das ehrliche Gesicht des Kriegers ablegen. Wie wenig glaubt er, daß ich ihn durch Melisandern in der Falle habe, den ich auf meiner Rückfahrt von dem wüsten Eilande zu retten das Glück hatte, wohin ihn der Verdammte — —

Fünfter Auftritt.

Agamemnon. Aegisthus.

Aegisthus

Heil dem Agamemnon und Glückseligkeit, die seinem Ruhme gemäß ist!

Agamemnon

Ich grüß' Euch, Vetter!

Aegisthus

Vergieb mir, Herr! Du hast uns mit dieser schleunigen Rückkunft überrascht. Denn nach dem Zeichen, dessen herrliche Flamme ganz Griechenland erfreute, konnten wir Deine Gegenwart die ersten drei Tage darauf nicht hoffen. Verzeih also, daß wir Dich unbereitet, einzig mit der Freude, mit der Entzückung und dem Erstaunen, welches sich jeder griechischen Brust bemeistert
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hat, empfangen! Und wahrhaftig, so einen Ausbruch der Freude, als dieser vollkommene Triumph verursacht hat, habe ich noch nie gesehen. Stadt und Land und Alles drängte sich in einem lauten triumphirenden Ungewitter durch einander. Kaum konnte ich mich durchpressen. Der Schall der Trompete verlor sich in dem unzähligmal wiederholten Jauchzen, das Deinen Namen in Himmel erhob. Viel Tausend Augen stehen unten und glühen, den Ueberwinder von Troja zu sehen.

Agamemnon

Der edelste Ruhm, der mein Herz beglücken kann, die angenehmste Musik ist mir die Freude meines Volks. Aber, wahrhaftig, Deine Zunge kann ihr vortreffliche Gerechtigkeit widerfahren lassen. Glaube mir, Du kannst Deine Beschreibungen sehr artig ausmalen. Ich habe eine so verbindlicheSprache in langen Zeiten nicht gehört.

Aegithus

Mißdeute meinen Eifer nicht! Dem vollen Herze steht stets der dienstfertige Ausdruck bereit. Ich empfinde, Agamemnon, Deinen Ruhm so tief, daß sich mit meiner Freude eine Art von Leidenschaft vermengt, die fast dem Neide ähnelt. O Ihr Götter! Hat, weil ich lebe, ein Krieg, der allerberühmteste Krieg, den je ein Alter gesehen hat oder noch sehen kann; hat ein Krieg, dessen nimmer sterbender Ruhm die Welt überfliegen und die entferntesten Zeiten erreichen wird: hat so ein Krieg meine Tage geziert, und ich habe keinen Antheil an seiner Ehre gehabt? Entkräftet, unbekannt habe ich im ruflosen Frieden mein Leben verloren.

Agamemnon

Diese Hitze ist Mode! Doch wisse, Aegisthus, ein freies Volk im Frieden ohne Anmaßung, aber auch ohne Aufgebung der Gewalt wohl beherrschen; die Ehre der Gesetze unverletzlich erhalten, dann und wann aber ihr Urtheil, wann es strenger ist, als es der Glimpf erfordert, lindern; das Steuer des Staats unter den parteiischen Stürmen oder während der noch gefährlicheren Stille des durch die lange Dauer verderblichen Friedens klug regieren; und was noch mehr ist, die Bahn rennen, welche das Glück zu dem süßen Ruhme der beschützten Künste, der Gnade, des Wohlthuns, von welchem die Götter selbst ihren prächtigsten Glanz borgen, eröffnet: wahrlich, Aegisthus, dieses kömmt, der wahren Ehre nach, den täuschenden Eroberungen gleich, wo es sie nicht übertrifft, und erfordert nicht weniger Beherrschung, Muth, Sorge und anhaltende Arbeit.

Aegisthus

Sage danklose, rauhe, unangenehme Arbeit, welche anstatt des Preises und schuldiger Belohnung öftrer Ver-spottung, Vorwürfe, halsstarrige Widersetzungen gegen die lautersten Maßregeln, Ungerechtigkeit, Verbannung, ja wohl den Tod findet! Und so will es die Natur des übelgesinnten Menschen. Ganz anders aber ist die Belohnung des Siegers: ihn loben Alle, ihn bewundern Alle.

Agamemnon

Gut, ob es schon eine mühsame Beschäftigung, eine undankbare Arbeit ist, zu regieren, so wag' ich es doch nicht, Aegisthus, so hart von dem menschlichen Geschlechte zu urtheilen. Wahrheit, Weisheit, Muth, Gerechtigkeit, Wohlthun, ein durch wohl überlegte Unternehmungen wirksames ununterbrochenes Bestreben nach dem gemeinen Besten: diese müssen auch in den verderbtesten Zeiten angesehn, beliebt und werth sein, weil doch zuletzt Verdienst erweckt und Tugendanzündet. Unterdessen hat ja wohl er, den ich Klytämnestren zum Rathgeber ließ, Melisander, Dir Deine Arbeit um die Hälfte erleichtert.

Aegisthus

Wollte der Himmel, er hätte es gethan!

Agamemnon

Du bestürzest mich — — — Ist Melisander nicht weise, gerecht und treu?

Aegisthus

Ja, Herr, ich gesteh' es, er trug eine sehr schöne Larve.

Agamemnon

Sachte, Aegisthus! Ich kenne seine unbewegliche Tugend und werde nicht die geringste Erwähnung von etwas vertragen, was einen Mann, den ich liebe, beschimpft.

Aegisthus

Ich muß also, von der Wahrheit gedrungen, meine Vertheidigung selbst übernehmen. Kühnlich will ich behaupten, Agamemnon, daß er geschickter ist, einen Staat zu beunruhigen und zu verwirren, als ihn zu regieren.


1 Dieselbe Erzählung, aus der er auch im Laokoon (Werke, Th. VI. S. 38) eine Stelle nach dem Originale anführt.
2 Rising steht im Englischen; ich weiß nicht, warum es mein Vorgängerübersetzt hat: in einer starken Gemüthsbewegung. So lange hatte sie gesessen, und nunmehr steht sie auf. Freilich zeigt diese Bewegung zugleich ihre innerliche Verfassung mit an; deswegen aber kann man hier nicht Eines für das Andere setzen. Diese kleine Erinnerung ist für die Schauspielerin, welche die Meinung des Dichters schlecht erfüllen würde, wenn sie sich nur in einer heftigen Gemüthsbewegung zeigte und nicht zugleich aufstünde. - Lessing
3 Given to the beasts a prey, or wilder famine. Dieses hat mein Vorgänger ganz falsch übersetzt: Dich gab ich den Thieren preis; ihr wilder Hunger hat längst meinen Freund verdauet.(Vgl. hierzu die Stelle im Leben des Herrn Jakob Thomson (Werke, Th. XI. 1. Abth. S. 247): Zum Exempel in der ersten Scene des ersten Aufzuges werden die Worte given to the beasts a prey, or wilder famine übersetzt: Dich gab ich den Thieren preis; ihr wilder Hunger hat längst meinen Freund verdauet . Ich will hier nicht erinnern, daß zwar Aegisthus, aber nicht Klytämnestra den Melisander auf die wüste Insel setzen lassen, auch nicht, daß der Ausdruck: der wilde Hunger der Thiere hat ihn schon längst verdauet, der schönste nicht sei, sondern nur dieses muss ich anmerken, daß wilder famine gar nicht auf beasts gehet, und daß der Dichter die Klytämnestra eigentlich sagen läßt: entweder die Thiere haben ihn umgebracht, oder er hat verhungern müssen. — A. d. H.) — Erstlich ist es falsch, daß ihn Klytämnestra den Thieren preisgegeben habe; Aegisthus war es der ihn in die wüste Insel verwies. Zum Andern bezieht sich wilder famine nicht auf beasts, sondern sie will sagen: entweder die Thiere haben ihn daselbst umgebracht, oder er hat verhungern müssen. Drittens ist der Ausdruck: die Thiere haben meinen Freund verdauet, sehr niedrig und ekel. Ich bin kein Spötter, sonst würde ich fragen, warum der Uebersetzer nicht noch einen Schritt weiter über die Verdauung gegangen sei. Alsdann wäre es vielleicht noch nachdrücklicher. Doch sollte ich nicht bedenken, daß dergleichen Redensarten von unsern neuern Dichtern einen nicht geringen Platz unter dem Erhabenen bekommen haben? Wenigstens ist: die Thiere haben meinen Freund verdauet, nicht schlechter als ein: sie sind mir ein Gestank in der Nase. — L.
4 At farthest east. Mein Vorgänger hat es übersetzt: am allerersten Ost. Eine sehr gezwungene Undeutlichkeit. — L.
5 And as a Greek rejoic'd me: und als ein Grieche erfreute ich mich darüber, sagt das Original. Wenn der Göttingische Uebersetzer nur gesagt hätte: es schwoll mein treu und griechisch Herz vor Lust, so wäre es sehr wohl und poetisch ausgedrückt gewesen; allein sein Zusatz: und drohet dem überwundnen Troja, ist sehr elend. Der Engländer [] schildert diesen Griechen als einen Mann, den die Siege seines Volkes erfreuen; der Uebersetzer aber bildet ihn durch diesen Zug als einen Poltron. Denn was soll das für eine Tapferkeit sein, einer überwundnen Stadt zu drohen? — L.
6 Some move this way. Mein Vorgänger hat es übersetzt: Es nähert sich ein Theil des Volks. Weder die Sprache noch der Verstand erlauben die Auslegung. Die Annäherung des Hofbedienten ist es, die den Aegisthus vertreibet. — L.
7 Augen fehlt im Original. — A. d. H.

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