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Von Johann Dryden und dessen dramatischen Werken
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XIII.

Von Johann Dryden und des sen dramatischen Werken.

Dieser grosse Dichter ward gebohren den 6ten August 1631 zu Aldwincle, bey Oundle, in der Grafschaft Northampton, aus einer ganz ansehnlichen Familie. Seine erste Unterweisung bekam er in der Schule zu Westmünster, unter dem berühmten D. Busby . Von da kam er 1650 in das Dreyfaltigkeitscollegium zu Cam bridge. Man findet eben nicht, daß er sein grosses poetischesGenie sehr frühzeitig gezeigt habe.
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Er war bereits über dreyßig Jahr, als er sein erstes Lustspiel verfertigte. Ehe ich aber von diesem ein mehrers sage, erlaube man mir von seinem Versuch über die dramatische Poesie (Essay of Dramatick Poesie) zu reden. Wenn ein Schriftsteller in seiner Gattung beydes Re geln und Beyspiele gegeben, so erfordert es die Natur der Sache, sich jene zu erst bekannt zu machen. Der gedachte Versuch ward 1668 zum ersten male gedruckt; ich bediene mich aber eines neuen Abdrucks von 1693, zu London auf sieben Quart bogen. Dryden hat ihn Carln , Grafen von Dorset und Middlesex zugeeignet, und sagt in der Zuschrift, daß er ihnzu<ihn zu> der Zeit geschrieben, als ihn die Wuth der Pest aus der Stadt getrieben. Dieses war das Jahr 1665. Die Theater wa ren während dieser Landplage in London alle ge schlossen, und Dryden konnte sich mit nichts als den Gedanken davon auf dem Lande unterhal ten, und that dieses, wie er sagt, mit eben dem Vergnügen, mit welchem ein Liebhaber an seine abwesende Gebieterin denket. [] Es hat aber Dryden seinen Versuch in eine Unterredung zwischen vier Freunden, Namens Eugenius, Crites, Lisidejus und Neander, eingekleidet, und der Tag dieser Unterredung ist der merkwürdige Tag, an welchem der damalige Herzog von York (nachher JacobII.) über die
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holländische Flotte unter dem Admiral Obdam den grossen Sieg erhielt. Die vier Freunde befanden sich auf einem Boote, auf welchem sich<sie> nach Greenwich zufuhren, um das Ka nonenfeuer zwischen den streitenden Flotten von weiten mit anzuhören. Als sich nun der Schall immer nach und nach von den englischen Küsten entfernte, und Eugenius dieses für ein günsti ges Omen des für seine Nation ausgefallenen Sieges hielt, fielen ihm zwar alle bey, Crites aber, ein Mann von einer sehr scharfen Beur theilungskraft, und einen etwas allzueckeln Ge schmacke, der ihn oft in den Verdacht eines bös artigenGemüths brachte, sagte lächelnd: Wenn auf dieses Seegefecht nicht so gar viel ankäme, so würde er den Sieg kaum gewünscht haben, da er schon im voraus wisse, wie theuer er ihm wer de zu stehen kommen, und wie viel elende Verse er darauf werde hören und lesen müssen. Er setzte hinzu, daß diesen ewigen Reimern keine Ge legenheit entwischen könne, uud daß sie auf ein Treffen mit eben so heißhungriger Begierde, als Raben und andere Raubvögel, lauerten. — Einige von ihnen, fuhr Lisidejus fort, haben sich bereits, wie ich weis, auf jeden Fall so ge faßt gemacht, daß sie nicht allein mit einem Lob gesange auf den Sieg, sondern wenn es nöthig wäre, auch wohl mit einer Trauerode auf den Tod des Herzogs, sogleich bey der Hand seyn können et cetera — Die Unterredung kömmt allmä
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lig auf einige schlechte Dichter ins besondere und Crites schließt; daß es überhaupt itzt wenig gute Schriftsteller gebe, die man mit den Alten ver gleichen könne, oder sich auch nur zu der Würde des letzt vergangenen Weltalters erhieben. — (Er verstehet unter diesem letzt vergangenen Welt alter, die kurz vor dem bürgerlichen Kriege vorhergegangenen Jahre, die Regierung der Königin Elisabeth und Jacobs des ersten, unter welcher ShakesprarShakespear, Johnson und an dere grosse Genies lebten). [] Wenn sich ihr Unwille gegen die itzigen schlech ten Scribenten, erwiderte Eugenius dem Cri tes, bloß auf ihre Verehrungen des Alter thums gründet, so kann niemand williger seyn, jene grossen Griechen und Römer zu be wundern, als ich. Dem ohngeachtet aber kann ich doch auch von dem Zeitalter, in welchem ich lebe, und von meinem Lande unmöglich so verächt lich denken, daß ich nicht glauben sollte, wir kämen in den meisten Gattungen der Poesie den Alten gleich, und überträfen sie sogar in eini gen. Und warum sollte ich auch nicht für die Ehre meines Weltalters eben so eifrig seyn, als ich finde, daß die Alten für die Ehre des ihrigen gewesen sind? Denn auch Horaz sagt: Indignor quidquam reprehendi, non quia crasse Compositum, illepideve putetur, sed quia nuper,
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und darauf: Si moliora dies, ut vina, poemata reddit, Scire velim pretium chartis quotus arroget, annis? [] Doch ich sehe, daß ich in ein allzuweites Feld gerathe; die Poesie ist von allzu grossem Umfange; es haben sich in jeder Gattung der selben so manche Alte und Neue so sehr hervor gethan, daß es nöthig seyn wird unsern Streit auf eine einzelne Gattung einzuschränken. Eugenius fragt also den Crites, auf welche? Crites wehlt das Drama, und von diesem will er beweisen, daß sowohl die Alten die Neuern, als das vergangene Weltalter das itzige darinn übertroffen. [] Nachdem sie für gut befunden, eine etwanige Erklärung, oder vielmehr Beschreibung, von dem Schauspiele überhaupt voraus zu setzen; nehm lich, ein Schauspiel sey eine wahre und lebhafte Abschilderung der menschlichen Natur, welche die Leidenschaften und Lau nen derselben, (Humours) nebst den Abwech selungen des Glückes, denen sie ausgesegtausgesezt ist, zum Vergnügen und Unterricht, vor stelle: fängt Crites zum Behuf der Alten fol gender Gestalt an zu reden. [] „Wenn Zuversicht eine Vorbedeutung des Sieges ist, so hat Eugenius, seiner Mey nung nach, bereits über die Alten triumphiret.
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Nichts scheinet ihm leichter, als diejenigen zu übertreffen, welche wohl nachgeahmt zu haben, unser größter Ruhm ist; denn wir bauen nicht allein auf ihren Grund, sondern auch nach ihren Modellen. Die dramarischedramatische Poesie hatte, von dem Thespis (welcher sie zuerst erfand) bis auf den Aristophanes zu rechnen, Zeit genug, ge bohren zu werden, zu wachsen, und zu ihrer besten Reife zu gelangen. Man hat die An merkung von Künsten und Wissenschaften ge macht, daß sie immer in einem und eben dem selben Jahrhunderte ihre größte Vollkommen heit erreicht haben; und es ist auch kein Wun der, indem fast in jedem Weltalter ein gewisser allgemeiner Genius herrschet, der die darinn Lebenden zu gewissen besondern Studien geneigt macht. Das Werk wird alsdenn durch meh rere Hände betrieben, und muß nothwendig von Statten gehen. [] Jst es nicht augenscheinlich, daß uns in den letzten hundert Jahren, da das Studium der Weltweisheit das Geschäft fast aller guten Köpfe in der Christenheit gewesen, eine fast ganz neue Natur offenbaret worden? Daß mehr Jrrthümer der Schulen entdeckt, mehr nützliche Experimente in der Naturlehre ge macht, mehr Geheimnisse in der Optik, Me dicin, Anatomie, Astronomie aufgeschlossen worden, als in allen den leichtgläubigen und aber witzigen Jahrhunderten von dem Aristoteles
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bis auf uns? So wahr ist es, daß sich nichts geschwinder ausbreitet, als die Wissenschaften, wenn sie gehörig und durchgängig getrieben werden. [] Hierzu kömmt noch der mehr als gemeine Eifer, den man in diesen Zeiten, wohl zu schrei ben hatte. Zwar findet er sich in allen Zeit altern und bey allen Personen, die auf die nehm liche Ehre Anspruch machen; doch die Poesie war damals in grösserm Ansehen, als itzt, und auf die, welche sich darinn hervorthaten, war teten grössere Ehren; die Nacheiferung war folglich unter ihnen stärker; sie hatten ihre Rich ter, die über ihre Verdienste sprechen mußten, und Belohnungen, die sie zu erlangen hoffen konnten; die Geschichtschreiber vergassen eines Aeschylus, Euripides, Sophokles, Ly kophrons und anderer von ihnen nicht, son dern merkten fleißig an, wer sie gewesen, die in diesen Theaterkriegen, siegten, und wie oft sie gekrönet worden, indessen da die asiati schen Könige und griechischen Republiken ihnen keinen edlern Stof, als die unmännli chen Schwelgereyen eines wollüstigen Hofes, oder die leichtsinnigen Meutereyen einer unruhi gen Stadt darboten. Alit æmulatio ingenia, sagt Paterculus , & nunc invidia, nunc ad miratio incitationem accendit. [] Jtzt aber, da es keine Belohnungen der Ehre mehr giebt, hat sich diese tugendhafte Nacheife
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rung in offenbare Bosheit verkehret, und noch dazu in eine niederträchtige träge Bosheit die sich andere zu verschreyen und zu verdammen, be gnügt, und es besser zu machen, auch nicht einmal versucht. Der Ruhm, den man itzt erlangen kann, ist ein zu unfruchtbarer Ruhm, als daß man sich die nöthige Mühe darum geben sollte; man wünscht ihn unterdessen zu haben, und diese Begierde darnach, ist Anrei zung genug, andere an der Erhaltung dessel ben zu hindern. Und kurz, dieses ist die Ur sache, warum wir itzt so wenig gute Poeten und so viel scharfe Richter haben. Gewiß, die Alten wohl nachzuahmen, erfordert grosse Ar beit und ein anhaltendes Studium; diese Mühe aber, wie schon gesagt, zu übernehmen, dazu fehlt es unsern Dichtern an Aufmunterung, wenn sie auch schon Geschicklichkeit hätten, das Werk durchzusetzen. Die Alten sind getreue Nachahmer und weise Bemerker der Natur gewesen, die in unsern Schauspielen so gemiß handelt und so schlecht geschildert wird; sie haben uns die vollkommensten Aehnlichkeiten von ihr überliefert; wir aber haben sie, gleich elenden Nachzeichnern, wohl in Augenschein zu nehmen, vergessen, und dadurch ungeheuerlich entstellt. Damit Sie aber, wie viel Sie diesen ihren Meistern zu danken haben, sehen, und sich ihrer geringen Erkenntlichkeit schämen mögen, muß ich Jhnen zu Gemüthe führen, daß alle
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die Regeln, nach welchen wir itzt das Drama ausarbeiten (sie mögen nun die Richtigkeit und Symmetrie der Anlage, oder die episodischen Zierrathen betreffen, dergleichen die Beschrei bungen, Erzehlungen, und andre den Schau spielen eben nicht wesentliche Schönheiten sind) durch die Anmerkungen auf uns gebracht wor den, welche Aristoteles sowohl über die Dich ter, die vor ihm, als über die, die zu seiner Zeit gelebt, gemacht hat; wir haben von dem unsrigen nichts hinzu gethan, wir müßten denn sagen wollen, daß unser Witz besser sey, des sen sich aber zu unser Zeit niemand rühmet, als der, welcher den Witz der Alten nicht ver stehet. Ueber das Buch, welches uns Ari stoteles περι της Ποιητικης hinterlassen hat, scheinet mir die Dichtkunst des Horaz ein vor treflicher Commentar zu seyn, und sie ersetzt uns, wie ich glaube, das zweyte Buch, die Komödie betreffend, welches von jenem Werke verloren gegangen. [] Aus diesen zweyen hat man die bekannten Regeln gezogen, die wir, nach den Franzosen, die drey Einheiten nennen, und die in jedem regelmäßigen Schauspiele beobachtet werden müssen; nehmlich die Einheit der Zeit, des Orts und der Handlung. [] Die Einheit der Zeit schränkten sie auf vier und zwanzig Stunden, als die Dauer eines natürlichen Tages, ein, und verlangten, daß
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man sich, so viel möglich, in diesen Grenzen halten sollte. Die Ursache hievon leuchtet einem jeden in die Augen; weil nehmlich die Zeit der erdichteten Handlung oder der Fabel des Schau spiels, der Dauer der Zeit, in welcher es vor gestellt wird, so nahe als möglich kommen muß. Da also alle Schauspiele in einer weit geringern Zeit, als vier und zwanzig Stunden, auf der Bühne vorgestellt werden, so ist dasjenige Schauspiel für die genaueste Nachahmung der Natur zu halten, dessen Handlung in eben so vieler Zeit vorgehen kann. Und dieser nähm lichen Regel, die uns dieses allgemeine Ver hältniß der Zeit verschreibt, zu Folge, müssen auch alle Theile des Schauspiels der Zeit nach, unter sich, so viel möglich, gleich abgemessen seyn, daß z. E. kein Aufzug einen ganzen hal ben Tag wegnehmen muß, weil er alsdenn in Ansehung der übrigen, kein Verhältniß haben würde, und auf die andern viere auch nicht mehr als ein halber Tag käme. Denn ist es nicht unnatürlich daß die Zuschauer einen Auf zug, der, wenn er gelesen oder gespielt wird, nicht viel länger als ein anderer dauert, dennoch für viel länger halten sollen? Es ist daher des Dichters Pflicht, daß er in keinem Aufzuge viel mehr Zeit verstreichen läßt, als so viel er auf der Bühne vorgestellt zu werden braucht; und daß er die Zwischenräume und Ungleichheiten der Zeit, zwischen die Aufzüge zu bringen suchen muß.
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[] Wie genau diese Regel der Zeit von den Al ten beobachtet worden, können die meisten von ihren Schauspielen bezeugen. Man sieht in ihren Tragödien, (in welchem es gleichwohl am schwersten ist, wieder diese Einheit nicht zu verstoßen) daß sie ganz nahe vor demjenigen Theile der Geschichte anfangen, den sie zu ih rer Handlung oder vornehmstem Gegenstande ersehen haben; was weiter vorhergegangen ist, wird, wo es nöthig, durch eine Erzehlung bey gebracht; und so stellen sie gleichsam ihre Zu hörer an das Ende der Rennbahn, ersparen ihnen die eckele Erwartung, den Poeten auf steigen und ausreiten zu sehen, und zeigen ihnen denselben nicht eher, als bis er das Ziel bereits in Augen hat und ihnen ganz in der Nähe ist. [] Unter der zweyten Einheit, nehmlich der Ein heit der Zeit, verstanden die Alten, daß die Scene durch das ganze Schauspiel an eben demselben Orte bleiben sollte, an welchen sie zu Anfange verlegt worden. Denn da die Bühne, auf welcher es vorgestellet wird, nur ein und eben derselbe Ort ist, so ist es unnatürlich, ihn sich als viele, und noch dazu von einander weit entlegene Orte, vorzustellen. Jch will nicht leugnen, daß, mit Hülfe der Veränderung der gemahlten Scenen, die Einbildungskraft (die in dergleichen Fällen sich nicht ungern hin tergehen läßt) nicht! manchmal die Bühne für mehr als einen verschiednen Ort, mit einer Art
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von Wahrscheinlichkeit, sollte halten können; es kömmt doch aber immer der Wahrheit un gleich näher, wenn man annimmt, daß diese verschiedne Orte einander so nahe liegen, daß sie wenigstens in eben derselben Stadt sind, und solglichfolglich unter der weitläuftigen Benennung des einzigen Ortes mit können begriffen werden. Eine größere Entfernung würde zu der kurzen Zeit, in welcher die spielenden Personen, wäh rend der Vorstellung, von einem Orte zu dem andern kommen, kein Verhältniß haben. Nach den Alten sind, wegen Beobachtung dieser Re gel, die Franzosen am meisten zu loben. Sie binden sich so genau an die Einheit des Orts, daß man kein Schauspiel bey ihnen finden wird, in welchem sich die Scene mitten in einem Auf zuge änderte; wenn der Aufzug in einem Gar ten, auf einer Straße oder in einem Zim mer anfängt, so wird er auch an dem nähm lichen Orte zu Ende gebracht; und damit man es deutlich merken möge, daß die Bühne immer eben derselbe Ort bleibet, so lösen die Personen einander so darauf ab, daß sie nicht einen Au genblick leer bleibet; wenn denn die zweyte Per son auftritt, so muß sie mit der, die zuerst da war, zu thun haben; und die zweyte Person muß nicht ehr abtreten, als bis eine dritte da zu kömmt, die mit ihr zu thun hat. [] Dieses nennt Corneille la Liaison des Sce nes, die ununterbrochne Verbindung desder Sce
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nen; und es ist ein gutes Merkmahl eines wohl angelegten Schauspiels, wenn alle Per sonen einander kennen, und eine jede mit allen übrigen etwas zu thun hat. [] Was die dritte Einheit, die Einheit der Handlung, anbelangt, so verstanden die Alten nichts anders darunter, als was die Vernunft lehrer unter ihrem finis verstehen, den Endzweck oder die Absicht der Handlung; das Erste, dem Vorsatze nach, und das Letzte der Ausführung nach. Der Dichter soll eine große und voll ständige Handlung zum Zwecke haben, zu de ren Betreibung alles, was in dem Stücke vor kömmt, auch so gar die Hindernisse, behülf lich seyn müßen. Die Ursache ist bey dieser Regel eben so augenscheinlich, als bey den vor hergehenden. [] Denn zwey Handlungen, beyde zugleich bear beitet und betrieben, würden die Einheit des Gedichts aufheben: es würde nicht ein Schau spiel, sondern es würden zwey Schauspiele seyn. Dieses will aber nicht so viel sagen, daß über überhaupt nicht mehr als eine Action in einem Stücke seyn dürfte; sondern sie müssen nur alle einer einzigen grossen untergeordnet seyn. Eine solche Nebenhandlung ist z. E. in dem Evnu cho [] des Terenz die Uneinigkeit und Versöh nung der Thais und des Phädria, als worinn die vornehmste Handlung des Stücks zwar nicht liegt, wodurch aber die Verheyrathung des
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Chärea und der Schwester des Chremes, die der Dichter vornehmlich zur Absicht hatte, befördert wird. Es muß nur eine Handlung seyn, sagt Corneille , das ist, nur eine voll ständige Handlung, die das Gemüth der Zu hörer völlig befriediget; dieses kann aber nicht anders, als durch verschiedne andere unvoll ständige Handlungen geschehen, die zu der Haupthandlung das ihre beytragen, und die Zu hörer in einer angenehmen Ungewißheit des Aus ganges unterhalten. [] Wenn wir nach diesen Regeln (verschiedner anderer, die man gleichfalls den Vorschriften und Mustern der Alten zu danken hat, nicht zu ge denken) unsere neuern Schauspiele beurtheilen sollten, so würden, wahrscheinlicher Weise, sehr wenige die Probe aushalten; was in einem einzigen Tage|geschehen<Tage geschehen> sollte, nimmt in einigen von ihnen ein ganzes Weltalter weg; anstatt einer Handlung machen sie kurze Jnbegriffe des ganzen Lebens eines Mannes; und anstatt eines einzigen Ortes, den die Bühne vorstellen sollte, befinden wir uns manchmahl in mehr Ländern, als man auf einer Karte zusammen sehen kann. [] Wenn wir aber zugestehen wollen, daß die Alten ihre Schauspiele gut angelegt haben, so müssen wir auch bekennen, daß ihre Ausfüh rung nicht schlechter gewesen. Mit dem Me nander , unter den griechischen Dichtern, und
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mit den Cäcilius, Africanus und Varius unter den römischen, haben wir, ohne Wider spruch, einen grossen Vorrath an Witz verlo ren; Menanders Vortreflichkeit kann man aus den Lustspielen des Terenz abnehmen, der ver schiedne von ihm übersetzte, gleichwohl aber noch so weit hinter ihm zurück blieb, daß ihn Cä sar nur den halben Menander nennte; von dem Varius können wir uns aus den Zeug nissen des Horaz, Martial und Vellejus Paterculus einen Begriff machen. Wenn wir dieser ihre Werke wieder finden könnten, so würde, wahrscheinlicher Weise, der Streit auf einmal entschieden seyn. Doch so lange wir den Ari stophanes und Plautus noch haben; so lange die Trauerspiele des Euripides, Sophokles und Seneca noch in unsern Händen sind, kann ich keines von unsern neuerlich geschriebenen Schauspielen ansehen, ohne daß sich meine Bewunderung der Alten dadurch vermehrt. Dabey aber muß ich noch gestehen, daß um sie so zu bewundern, wie sie es verdienten, wir sie besser verstehen müßten, als es geschieht. Verschiednes scheinet uns, ohne Zweifel, bey ihnen plat, weil der Witz davon von irgend einer Ge wohnheit oder Geschichte abhängt, die uns nie mals zu Ohren gekommen; oder vielleicht auch von einer Feinheit in ihrer Sprache, die als eine todte, und nur noch in den Büchern vor handene Sprache, unmöglich volllommen
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von uns verstanden werden kann. Jch habe nur den Macrobius lesen dürfen, wo er die eigenthümliche Bedeutung und Zierlichkeit ver verschiedner Wörter des Virgils erklärt, die ich vorher als gemeine Dinge übergangen hatte, um mich zu überzeugen, daß ein gleiches auch wohl bey dem Terenz Statt haben könnte, und daß in der Reinigkeit seines Styls (welche Cicero so hoch schätzte, daß er seine Werke beständig um sich hatte) noch manches zu be wundern seyn möchte, wenn wir es nur erst wüßten. Unter dessen muß ich Sie zu erwä gen bitten, daß der größte Mann des nächft<nächst> vergangenen Weltalters ( Ben Johnson ) nicht anstand, den Alten in allen Stücken den Vorzug zu lassen. Er war nicht allein ein aus drücklicher Nachahmer des Horaz, sondern auch ein gelehrter Plagiarius aller andern; so daß wenn Horaz, Lucan, Peronius Arbiter, Seneca und Juvenal alle das ihrige von ihm wieder zurück fordern sollten, er wenig ernst hafte Gedanken, die neu bey ihm wären, behal ten würde. Sie werden mir also verzeihen, wenn ich glaube, daß der ihre Mode müsse ge liebt haben, der ihre Kleider getragen. Weil ich aber sonst eine grosse Hochachtung für ihn habe, und Sie, Eugenius, ihn allen andern Poeten vorziehen, so will ich itzt weiter keine. Gründe, als dieses seinen Exempel anführen Jch will Jhnen ihren Vater Ben mit allen Klei
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dern und Farben der Alten ausgeputzt zeigen, und das wird hinlänglich seyn, Sie auf unsere Seite zu ziehen. Denn Sie mögen nun ent weder die schlechten Schauspiele unsrer Zeit, oder die guten der nächst verflossenen betrachten, so werden beyde, die schlechtesten sowohl als besten neuen Dichter, Sie die Alten bewundern lehren.“ [] Kaum hörte Crites hier inne, als Eugenius, der mit einiger Ungeduld darauf gewartet hatte, also anfing: [] „Jch habe in ihrer Rede bemerkt, daß der erste Theil derselben, betreffend dasjenige, was die Neuern den Regeln der Alten zu danken haben, überzeugend war; allein in dem zweyten Theile haben Sie es sorgfältig zu verbergen gesucht, wie sehr jene diese übertroffen. Wir sind nicht in Abrede, daß wir den Alten vieles zu danken haben, und es fehlet uns weder an Hochachtung noch Dankbarkeit, wenn wir be kennen, daß wir uns, um sie zu übertreffen, der Vortheile bedienen müssen, die wir von ihnen erhalten haben. Allein zu diesem ihren Beystande ist unser eigener Fleiß hinzugekom men; denn hätten wir uns an ihrer blossen knechtischen Nachahmung begnügt, so würden wir manches von der alten Vollkommenheit verloren, und nie irgend eine neue dazu erlangt haben. Wir zeichnen also nicht sowohl ihnen, als der Natur nach; und da wir das Leben, nebst aller ihrer Erfahrung vor uns haben, so
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ist es kein Wunder, wenn wir einige Bildun gen und Züge, die sie verfehlt haben, treffen. Was Sie von den Künsten und Wissenschaf ten gesagt haben, daß sie nehmlich in einem Weltalter mehr als in dem andern geblühet, leugne ich gar nicht; das Beyspiel aber, das sie von der Philosophie hernehmen, kömmt mir zustatten. Denn wenn die Ursachen und Wir kungen der Natur itzt besser bekannt sind, als zu den Zeiten des Aristoteles , und zwar des wegen, weil man sich mehr darum bekümmert, so folget, daß auch die Poesie und andere Künste, mit eben der Mühe, der Vollkommen heit immer näher kommen können; und wenn Sie dieses einräumen, so werden Sie noch be weisen müssen, daß die Alten vollkommenere Schilderungen von dem menschlichen Leben ge macht haben, als wir. Denn in ihrer Rede sind Sie den Beweis hiervon schuldig geblicben; und daher will ich mir itzt angelegen seyn lassen, Jhnen einen Theil von den Fehlern der Alten, und zugleich einige wenige Vortreflichkeiten der Neuern zu zeigen. Jch glaube nicht, daß mich je mand hierunter irgend eines Neiders beschuldigen wird; denn welchen Vortheil an Ruhm oder Gewinn, können die Lebendigen durch die Ehre, die den Todten widerfähret, verlieren? Andern Theils aber ist es eine grosse Wahrheit, was Vellejus Paterculus sagt: Audita visis li bentius laudamus, & præsentia invidia, præ-
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terita admiratione prosequimur, & his nos obrui, illis instrui credimus. Das aufrich tigste Lob und der aufrichtigste Tadel, ist sicher lich der, den uns die unbestochene Nachwelt er theilen wird. [] Erlauben Sie mir also, Jhnen vors erste vorzustellen, daß die griechische Poesie, von welcher Crites vorgegeben, daß sie unter der Regierung der alten Komödie ihre Vollkom menheit erreicht habe, noch so weit davon ent fernt war, daß man nicht einmal die Einthei lung in Aufzüge kannte; oder wenn man sie ja kannte, so ist doch so wenig Nachricht davon auf uns gekommen, daß sich nichts gewisses da von sagen läßt. [] Alles was wir davon wissen, muß aus dem Singen ihrer Chöre geschlossen werden; und auch dieses ist noch so ungewiß, daß wir in ver schiedenen von ihren Schauspielen mit Grund vermuthen müssen, daß sie mehr als fünfmal gesungen haben. Aristoteles zwar giebt vier wesentliche Theile eines Schauspieles an: Erst lich, die Protasis, oder der Eingang, wor inn bloß die Charaktere der auftretenden Per sonen ins Licht gestellt werden, und von der Handlung selbst noch wenig vorkömmt; zwey tens, die Epitasis, wo die Verwicklung des Stückes anfängt, und man den Zweck oder die Handlung desselben von weiten erblickt; drit tens, die Ratastasis, von den Römern ge
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nannt, Status, der höchste Anwachs des Stü ckes gleichsam, wo alle unsere Erwartung ver nichtet, und die Handlung in neue Schwierig keiten verwickelt wird, so daß wir von der Hof nung, in welcher wir zu Anfange dieses Theils waren, wieder weit abkommen, gleich einem ge waltigen Strome, der sich an einem engen Durchgange stößt, wo das abbrellende Wasser ungleich geschwinder wieder zurück fließt, als es zugeflossen war; endlich, die Katastrophe, welche die Griechen auch λυσις, die Fran zosenle denouement, wir die Entwicklung oder den Ausgang der Handlung nennen, und wo alles wieder in sein erstes Gleiß fällt, die Hinder nisse, die sich bey der Handlung oder dem Zwecke hervorgethan, gehoben werden, und das ganze Stück sich so natürlich und wahrscheinlich endet, daß die Zuschauer mit dem Verfolge desselben zufrieden seyn können. Und dieses ist der Ab riß, welchen uns dieser grosse Mann von einem Schauspiele macht; ein sehr richtiger Abriß, muß ich bekennen, der zu der nachfolgenden vollkommenern Abtheilung in Aufzüge und Auf tritte ein grosses Licht aufgesteckt. Welcher Dichter aber die Anzahl der Aufzüge zuerst auf fünfe eingeschränkt habe, weis ich nicht; so viel sehen wir, daß es zu den Zeiten des Horaz bereits so fest gesetzt war, daß er es zu einer Regel der Komödie macht: Neu brevior quinto, neu sit productior actu: Sie sehen
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also, daß man den Griechen nicht nachrühmen kann, diese Kunst zur Vollkommenheit gebracht zu haben, in dem sie vielmehr in verschiedenen Ab sätzen als in gewissen Aufzügen geschrieben, und mehr einen allgemeinen unverdauten Begrif von einem Schauspiele gehabt haben, als daß sie hätten wissen sollen, welcher eigenthümlichen Schönheiten es hier und da fähig ist. [] Da aber die Spanier einem Schauspiele noch bis itzt nur drey Aufzüge verstatten, die sie Jornadas nennen; und da ihnen die Jta liäner hierinn sehr oft folgen, so will ich die Alten nicht deswegen verdammt wissen, weil sie nicht jedem von ihren Stücken fünf Aufzüge gegeben, sondern weil sie sich nicht an eine gewisse Anzahl derselben gebunden; denn das heißt ein Haus ohne ein Modell bauen; und wenn sie dem ohngeachtet in dergleichen Un ternehmungen glücklich waren, so hatten sie mehr dem Glücke als den Musen ein Dank opfer dafür zu bringen. [] Was nun die Fabel des Schauspiels anbe langt, welche Aristoteles ὁ μυθος und oft auch των πραγματων συνθεσις nennet, so hat bereits ein neuer Schriftsteller angemerkt, daß ihre Tragödien weiter nichts als irgend ein Mährchen von Theben und Troja, oder ein Geschichtchen aus dieser beyden Weltalter ent halten, welches von den Federn aller epischen Poeten, und selbst von der Tradition der ge
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schwätzigen Griechen bereits so abgenutzt war, daß es alle Zuhörer wußten, ehe es noch auf die Bühne kam. Sobald das Volk den Na men Oedipus hörte, so wußte es eben so gut wie der Poet, daß er vor dem Schauspiele unwissender Weise seinen Vater umgebracht, und mit seiner Mutter Blutschande getrieben; es wußte, daß man ihm nunmehr von einer grossen Pest, von einem Orakel, von dem Geiste des Lajus erzehlen werde, und saß also in einer Art von gähender Erwartung, bis er mit ausgestochenen Augen herauskam, und, sein Unglück zu beklagen, hundert oder mehr Verse in einem tragischen Tone hersagte. Ein Oedipus, ein Herkules, eine Medea wäre noch erträglich gewesen; allein so wohlfeil kam das arme Volk nicht weg; es ward ihm immer einerley aufgewärmter Kohl vorgesetzt, worüber es allen Appetit verlieren mußte. Da also die Neuigkeit wegfiel, so fiel auch das Ver gnügen weg, und einer von den vornehmsten Endzwecken der dramatischen Poesie, den wir mit in die Erklärung derselben gebracht haben, war folglich gänzlich vernichtet. [] Jn ihren Lustspielen borgten die Römer meisten Theils die Fabeln von den griechischen Dichtern. Und wie waren dieser ihre Fabeln? Gemeiniglich liefen sie auf ein junges Mädchen hinaus, das ihren Aeltern war gestohlen wor den, oder sich sonst von ihnen verloren hatte;
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sie kömmt unbekannter Weise wieder in die Stadt, und wird von einem lüderlichen jungen Menschen geschwängert, der, mit Hülfe seines Bedienten, seinen Vater ums Geld schnellt; wenn denn nun ihre Zeit da ist und sie, Juno Lucina fer opem! ruft, so wird dieser oder jener eine kleine Büchse oder Schachtel gewahr, die mit ihr zugleich gestohlen worden; er ent deckt sie also ihren Freunden wieder, wo ihm nicht etwa noch ein Gott zuvor kömmt, der in der Maschine herabfährt, und den Dank für sich selbst einerndtet. [] Von der Fabel mag man auf die Charaktere der Personen schliessen. Ein alter Vater, der gern, noch ehe er stürbe, seinen Sohn wohl verheyrathet wissen möchte; sein lüderlicher Sohn, voller Zärtlichkeit gegen seine Schöne und mit erbärmlich leerem Beutel; ein Be dienter oder Sclave, der witzig genug ist, sich seines jungen Herrn anzunehmen und den Alten betriegen zu helfen; ein großsprechrischer Sol dat; ein Smarutzer; und eine Buhlschwester. [] Was das arme ehrliche Mädchen anbelangt, auf welche die ganze Geschichte gebauet ist, und die folglich eine von den vornehmsten Personen des Stückes seyn sollte, so spielt sie gemeinig lich die stumme Rolle; sie ist nach der guten alten Weise erzogen, nach welcher sich die Mäd chen nur sollen sehen, aber nicht hören lassen; und genug, daß man von ihrer Bereitwillig
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keit überzeugt ist, sich, wenn es der fünfte Auf zug erfordert, heyrathen zu lassen. [] Es sind nun zwar diese Charaktere wirkliche Nachahmungen der Natur, aber so einge schränkte, furchtsame Nachahmungen, daß sie bloß ein Auge oder eine Hand nachgezeich net zu haben scheinen, ohne sich an die Züge des Gesichts, oder die schönen Verhältnisse des Körpers wagen zu dürfen. [] Doch ich wollte es ihnen gern übersehen, daß sie ihre Fabeln und Charaktere in so engen Schranken gehalten haben, wenn ihre Aus führungen nur sonst regelmäßig wären, und sie die drey Einheiten die wir, wie Sie sagen, von ihnen kennen gelernet, vollkommen beobachtet hätten. Vors erste aber erlauben Sie mir zu sagen, daß die Einheit des Orts, sie mögen sie noch so sehr beobachtet haben, doch niemals eine von ihren Regeln gewesen ist; wir finden sie weder bey dem Aristoteles , noch Horaz , noch bey sonst einem, der von der Kunst geschrieben, und sie ist nur erst neuerlich von den Franzosen zu einer Vorschrift der Büh ne gemacht worden. Die Einheit der Zeit hat selbst Terenz , der doch ihr bester und regel mäßigster komischer Dichter ist, vernachläßiget; sein Heavtontimorumenos oder Selbstpeini ger, braucht offenbar zwey Tage, sagt Scali ger ; die ersten zwey Aufzüge nehmen den ersten Tag weg, und die drey letzten den zwey
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ten. Euripides aber hat, da er sich an einen einzigen Tag binden wollen, eine Ungereimtheit begangen, die man ihm nimmermehr vergeben kann; denn in einer von seinen Tragödien läßt er den Theseus von Athen nach Thebenge gen<gehen>, (ein Weg von ohngefehr vierzig engli schen Meilen) läßt ihn vor den Mauern dieser letztern Stadt eine Schlacht liefern, und in dem nächst folgenden Aufzuge als Sieger zu rück kommen; und gleichwohl haben, von der Zeit seiner Abreise, bis auf die Zurückkunft des Bothen, welcher die Nachricht von dem Siege bringt, Aethra und der Chor nicht mehr als sechs und dreyßig Verse zu sagen, da denn auf jede Meile noch nicht ein Vers kömmt. [] Der nehmliche Jrrthum ist in dem Evnu cho [] [] des Terenz eben so augenscheinlich, wo der alte Laches von ungefehr in das Haus der Thais kömmt; denn zwischen seinen Ab tritte und dem Auftritte des Pythias, der herauskömmt und eine weitläuftige Beschrei bung von dem Lermm, den jener darinn ange richtet, macht, hat Parmenio, der auf der Bühne zurück geblieben, nicht viel über fünf Zeilen zu sagen; c'est bien employer un temps si court, sagt ein französischer Dichter, von dem ich eine dieser Anmerkungen entleht<entlehnt> habe. Und es warden sich fast in allen ihren Tragödien ähnliche Exempel finden lassen.
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[] Es ist wahr, die ununterbrochne Folge der Auftritte, (la Liaison des Scenes) haben sie etwas besser beobachtet; es treten nicht immer ihrer zwey mit einander auf, um mit einander zu plaudern, und auch wieder mit einander ab zutreten; es folgen jenen zwey nicht zwey an dere, und thun den ganzen Aufzug durch ein gleiches, welches die Engländereinzelne Sce nen (single Scenes) nennen. Allein die wahre Ursache hiervon ist, weil sie selten mehr als zwey oder drey eigentlich so genannte Scenen in jedem Aufzuge haben; denn es fängt sich eine neue Scene an, nicht bloß so oft die Bühne leer wird, sondern so oft eine Person auftritt, wenn sie gleich nur zu andern dazukömmt. Da nun die Fabeln ihrer Schauspiele sehr klein, und der Personen sehr wenige sind, so ist einer von ihren Aufzügen oft nicht einmal so groß, als bey uns ein etwas voller Auftritt; und den noch sind sie auch hierinn nicht ganz ohne Feh ler. So sieht man z. E., nur bey dem Terenz zu bleiben, in dem Evuncho [] [], den Antipho mitten in dem dritten Aufzuge ganz allein auf treten, nachdem Chremes und Pythias vor her abgegangen; in eben demselben Stücke fängt Dorias den vierten Aufzug gleichfalls ganz al lein an, und nachdem sie alles, was bey der Gasterey des Soldaten vorgefallen, erzehlt, (welches, im Vorbeygehen zu erinnern, von dem Dichter eben auch nicht sehr künstlich an
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gelegt war, indem er sie auf diese Weise gerade zu mit den Zuschauern sprechen, und ihnen, was sie wissen sollen, ohne Umstände erzehlen läßt, da es doch vielmehr eine spielende Person der andern hätte erzehlen, und auf solche Art dem Volke bekannt machen sollen) so verläßt sie die Bühne, und Phädria tritt nach ihr auf, und zwar abermals allein; er erzehlt abermals seine Zurückkunft vom Lande, und was ihn sonst angeht, in einer Monologue, welcher unnatür lichen Art der Erzehlung sich Terenz in allen seinen Lustspielen schuldig macht. Jn seinen Adelphis, oder Brüdern, treten Syrus und Demea auf, nachdem die Scene durch den Abtritt der Sostrata, des Geta und der Canthara unterbrochen worden; kurz man kann kaum einen Blick in eines von seinen Lustspielen thun, ohne auf eine solche Unter brechung zu stossen. [] So wie sie aber, beydes in der Anlage und Einrichtung ihrer Fabeln fehlerhaft sind, in dem sie von den Regeln ihrer eigenen Kunst abweichen, und uns die Natur mißschildern, wo durch sie dem Ganzen einem Endzwecke des Schauspiels, dem Vergnügen nehmlich, ein schlechtes Gnüge leisten; so haben sie in Anse hung des zweyten Endzwecks, der Unterrich tung, noch weit gröber geirrt. Denn anstatt das Laster zu bestraffen, und die Tugend zu belohnen, haben sie nicht selten die Ruchlosig
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keit glücklich und die Frömmigkeit unglücklich seyn lassen; sie zeigen uns in der Medea ein blutiges Bild der Rache, und geben ihr Dra chen, um der verdienten Strafe damit zu ent kommen. Ein Priamus und Astyanax wer den ermordet, und eine Cassandra wird ge schändet, und Mord und viehische Lust werden am Ende durch den Sieg ihrer Verbrecher ge krönet; kurz, man soll mir keine Unanstän digkeit in einem von unsern neuern Schauspie len nennen, die ich zu entschuldigen, nicht mit einem Beyspiele aus den Alten bemänteln könnte. [] Und noch eine Anmerkung muß ich zum Schluße über sie machen. Es schrieb damals nicht eine und eben dieselbe Person, ohne Unter schied Tragödien und Komödien; sondern wenn jemand zu dieser oder jener Fähigkeit zu haben glaubte, so gab er sich mit der andern ganz und gar nicht ab. Dieses ist so offenbar, und die Beyspiele davon sind so bekannt, daß ich sie kaum anzuführen brauche; Aristophanes, Plautus und Terenz haben nie ein Trauer spiel geschrieben; Aeschylus, Euripides, Sophokles und Seneca haben sich nie an das Lustspiel gewagt; den tragischen Stiefel, und die komische Socke, war eben derselbe Dich ter nicht gewohnt zu tragen. Da sie es also ihre ganze Sorge seyn ließen, nur in der einen Art groß zu werden, so hat man es ihnen um
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so viel weniger zu verzeihen, wenn es ihnen nicht gelungen ist. Und hier würde ich Gele genheit haben ihren Witz in Erwägung zu zie hen, wenn mich nicht Crites so ernstlich gewar net hätte, in meinem Urtheile darüber nicht zu kühn zu seyn; denn da es todte Sprachen wären, und manche Gewohnheit oder kleiner Umstand, von welchem das feinere Verständniß abgehan gen, für uns verloren gegangen, so könnten wir, meinet er, keine rechtmäßige Richter darü ber abgeben. Doch ob ich gleich zugestehe, daß es uns hier und da an der Anwendung eines Sprichworts, oder einer Gewohnheit, fehlen kann, so muß doch gleichwohl, was in einer Sprache Witz ist, es auch in allen seyn; und wenn es auch schon in der Uebersetzung etwas verlieret, so muß es doch für den, der das Original lieset, immer das nehmliche bleiben. Er wird von der Vortreflichkeit desselben einen Begriff haben, ob er ihn gleich in keinem an dern Ausdrucke, oder in keinen andern Wor ten, als in welchen er es findet, von sich geben kann. Wenn Phädria, in dem Evnucho [] [] zwey Tage von seiner Geliebten abwesend seyn soll, und sich selbst, diesen Zwang auszuhalten, mit den Worten ermuntert: Tandem ego non illa caream, si opus sit, vel totum triduum? so erhebt Parmenio, um über die Weichlich keit seines Herrn zu spotten, Augen und Hände, und ruft gleichsam voller Verwunderung aus:
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Hui! universum triduum! Die Zierlichkeit dieses universum kann nun zwar in unsrer Sprache nicht aasgedrückt<ausgedrückt> werden, es bleibt aber doch ein Eindruck davon in unsern Seelen zurück. Viele dergleichen Stellen kommen bey dem Terenz nicht vor, mehrere aber bey dem Plautus , welcher in seinen Metaphern und neugeprägten Wörtern unendlich kühner ist; in diesen bestehen nicht selten sein ganzer Witz, daher Horaz auch ohne Zweifel ein so strenges Urtheil von ihm gefällt hat:“ Sed Proavi nostri Plautinos & numeros, & Laudavere sales, nimium patienter utrum- Ne dicam stolide &c.         que [] „Bey dem Seneca fährt Eugenius fort, nach einer kurzen Ausschweifung über die harte, unnatürliche Art sich auszudrücken, deren sich unter den englischen Dichtern besonders der Satyricus Cleveland schuldig gemacht,) „finde ich zwar manchen vortreflichen Gedanken; doch derjenige der unter den römischen Dichtern die größten Gaben für das Theater hatte, war, mei nem Bedünken nach, Ovidius . Er weis die angenehme Bewunderung und das zärtliche Mitleid, welches die Gegenstände des Trauer spiels sind, so glücklich zu erregen, und die ver schiednen Bewegungen einer mit verschiednen Leidenschaften kämpfenden Seele zu schildern, daß, wenn er in unsern Zeiten gelebt hätte, oder er zu seinen Zeiten unsere Vortheile gehabt
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hätte, ihn niemand hierinn würde übertroffen haben. Jch kann mir auch daher nicht einbil den, daß die Medea, die sich unter den Sene caischen Trauerspielen befindet, sein Werk seyn sollte; denn ob ich sie schon wegen ihres spruch richen Ernstes schätze, der, wie er selbst sagt, der Tragödie vornehmlich zukömmt, Omne genus scripti gravitate Tragoedia vincit: so rührt sie mich doch bey weitem nicht so, daß ich glauben sollte, der Dichter, der in der Epischen Dich tungsart verschiednes dem Drama so nahe kom mendes, als die Geschichte von der Myrrha, von Caunus und Byblis, geschrieben, hätte mich da nicht stärker rühren können, wo es auf die Rührung vornehmlich angesehen war. Das Meisterstück des Seneca , halte ich dafür, ist die Scene in den Trojanerinnen, wo Ulysses den Astyanax sucht, um ihn umzubringen; die Zärtlichkeit einer Mutter ist daselbst, in der Per son der Andromacha so vortreflich geschildert, daß unser Mitleiden kaum höher steigen kann; es ist auch diese Scene dasjenige, was aus allen alten Trauerspielen den rührenden Sce nen im Shakespear und Fletcher am näch sten kömmt. Verliebte Scenen wird man wenige bey ihnen finden; ihre tragischen Dich ter machten sich mit dieser sanften Leidenschaft nicht viel zu thun, sondern mehr mit sträflicher Brunst, mit Grausamkeit, mit Rache und Ehr geitz und deren blutigen Folgen, wodurch sie
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nicht sowohl Mitleiden als Schrecken bey ihren Zuschauern erregten et cetera [] Unter ihren Lustspielen finden wir eine oder zwey zärtliche Scenen, und zwar wo man sie am wenigsten vermuthen sollte, bey dem Plau tus . Ueberhaupt aber davon zu reden, so sagen ihre Liebhaber wenig mehr, als anima mea, vita mea, ζωη και ψυχη, so wie das Frauen zimmer zu Juvenals Zeiten in ihren zärtlichen Entzückungen auszurufen pflegte. Der plötzliche Ausbruch einer Leidenschaft (z. E. die Ekstasis der Liebe bey einer unerwarteten Zusammen kunft) kann zwar nicht besser als durch ein Wort, und einen Seufzer, die einander unterbrechen, ausgedrückt werden; denn die Natur ist bey solchen Gelegenheiten stumm, und sie hier viel reden lassen, würde eine ganz falsche Vorstel lung von ihr machen heissen. Doch fallen ja tausend andere Dinge zwischen Liebhabern vor, als Eifersucht, Klagen, Anschläge sich einander zu überkommen, worüber sie sich nothwendig gegen einander umständlich erklären müssen, wenn sie ihrer Liebe und der Erwartung der Zuhörer ein Genüge leisten wollen, die auf ihre Gemüthsveränderungen eben so aufmerksam warten, als auf die Veränderungen ihres Glücks; denn die Erdichtung der erstern ist das eigentli che Geschäfte des Dichters, indem er die an dern von dem Geschichtschreiber entlehnet.“
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[] Hier unterbrach Crites den Eugenius. „Jch sehe wohl, sagte er, daß ich und Euge nius in dieser Streitigkeit schwerlich zusammen kommen werden; denn er behauptet, daß die Neuern im Schreiben eine neue Vollkommenheit erlangt haben, und ich kann ihm auf höchste nur zugestehen, daß sie die Art und Weise verändert haben. Homer beschreibet seine Helden als Männer von gutem Appetite, als Liebhaber von geröstetem Rindfleische und gute Gesellen; die Helden der französischenRomanen hingegen füh ren sich ganz anders auf; sie essen und trinken nicht, und thun für Liebe kein Auge zu. Vir gil läßt seinen Aeneas sich kühnlich seiner eige nen Tugenden rühmen, [] Sum pius Aeneas fama super æthera notus; welches bey unsern Dichtern, die besser zu leben wissen, der Charakter eines Windbeutels und Bramarbas ist; sie führen ihren Ritter lieber ein wenig spatzieren, oder lassen ihn schlafen, da mit er seine Geschichte nicht selber erzehlen darf, die sie seinem getreuen Stallmeister dafür in den Mund legen. So ist es auch mit den verlieb ten Scenen, von welchen Eugenius zuletzt sprach; die Alten waren treuherziger, und wir sind schwatzhafter; sie schrieben von der Liebe so, wie man sie damals zu treiben gewohnt war, und ich will es dem Eugenius gern zugestehen, daß vielleicht dieser und jener von ihren Dichtern, wenn er zu unsern Zeiten lebte,
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Si foret hoc nostrum fato delapsus in ævum, [] (sagt Horaz von dem Lucilius ) verschiedenes ändern würde; nicht zwar, weil das, was er geschrieben, nicht natürlich genug wäre, sondern um sich nach dem Zeitalter, in welchem er lebte, mehr zu bequemen. Wir müssen uns daher nicht übereilen, zum Nachtheile dieser großen Män ner etwas daraus zu schliessen, sondern sie viel mehr für unsere Meister erkennen, und ihrem Andenken (quod Libitina sacravit) diejenige Ehre erweisen, die wir zum Theil von unsern Nachkommen werden verlangen und erwarten dürfen.“ [] Diese bescheidene Mäßigung des Crites macht dem ganzen Streite ein Ende, oder gab vielmehr Gelegenheit ihn auf eine andere Seite zu lenken. Lisidejus wirft nehmlich die Frage auf, ob man die englischenSchauspiele den Schauspielen andrer Völker vorziehen könne? — Die Franzosen kommen hier vornehmlich in Be trachtung, für die sich Lisidejus selbst in folgen genden erkläret. [] „Wäre die Frage, ob die Franzosen oder ob Engländer am besten geschrieben hätten, vor vierzig Jahren aufgeworfen worden, so würde diese Ehre unstreitig unserer Nation zu Theil geworden seyn. Aber seit dieser Zeit sind wir, leider, so schlimme Engländer gewesen, daß wir nicht Zeit gehabt haben, gute Dichter
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zu seyn. Beaumont, Fletcher, Johnson , (die allein fähig waren, uns auf die Staffel der Vollkommenheit, auf der wir uns befin den, zu erheben) verliessen eben die Welt; gleich als ob in dieser Zeit des Greuels und der Verwüstung, der Witz und jene sanftern Kün ste nichts mehr unter uns zu schaffen hätten. Allein die Musen, die stets dem Frieden nach folgen, zogen in ein ander Reich, ihre Woh nungen da aufzuschlagen; Richelieu nahm sie zuerst in seinen Schutz, und auf seine Veran lassung machten sich Corneille und einige an dere Franzosen, an die Verbesserung ihres Theaters, welches vorher eben so weit unter dem unsrigen war, als es nun über dasselbe, und über alle andere Theater in Europa, erha ben ist. Weil mir aber Crites in seiner Rede für die Alten zuvorgekommen, und die ver schiednen Regeln der Bühne, welche die Neuern von ihnen geborgt haben, bereits angemerkt hat; so will ich Sie nur kurz fragen, ob Sie nicht überzeugt sind, daß unter allen Völkern die Franzosen diese Regeln am besten beobach tet haben? Jn der Einheit der Zeit sind sie so gewissenhaft, daß sich ihre Dichter noch nicht darüber verglichen haben, ob Aristoteles nicht vielmehr den bürgerlichen Tag von zwölf Stunden, als den natürlichen von vier und zwanzig Stunden, verstanden habe, und ob man folglich nicht alle Schauspiele innerhalb
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dieser Zeit einschliessen müsse? So viel kann ich bezeugen, daß ich unter allen ihren Stücken, die in diesen letzten zwanzig Jahren, oder drü ber, geschrieben worden, nicht ein einziges be merkt habe, in welchem die Zeit bis auf dreys sig Stunden ausgedehnet wäre. Jn der Ein heit des Orts sind sie nicht weniger genau, denn verschiedne von ihren Kunstrichtern schränken ihn auf den nehmlichen Platz und Boden ein, auf welchem das Spiel anfängt; alle aber hal ten sich doch wenigstens in dem Bezirke einer und ebenderselben Stadt. [] Die Einheit der Handlung fällt in allen ih ren Stücken noch deutlicher in die Augen; denn sie überhäufen sie nicht mit Nebenhand lungen, wie wir Engländer; daher es denn kömmt, daß so manche Scenen in unsern Tra gikomödien auf etwas hinaus lauffen, was mit der Hauptsache gar keine Verwandtschaft hat, und daß wir in einem Schauspiele, wie in einem schlechtgearbeiteten Zeuge zwey ganz verschiedne Weben, zwey ganz verschiedne Handlungen, das ist zwey Schauspiele wahrnehmen, die man, den Zuhörer bloß verwirrt zu machen, mit Fleiß durch einander geflochten zu haben scheinet; denn kaum hat dieser sich für den einen Theil zu in teressiren angefangen, als ihn der andere davon abzieht, so daß ihm am Ende beyde gleichgül tig geblieben sind. Daher kömmt es ferner, daß die eine Helfte unsrer spielenden Personen
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die andre gar nicht kennt. Sie machen sich so wenig mit einander zu thun, als ob sie Moun tagues und Capulets wären, und werden oft nicht eher als in der letzten Scene des fünf ten Aufzuges, wo sie alle zusammen auf die Bühne kommen, mit einander bekannt. Es muß kein Theater in der Welt etwas so abge schmacktes haben, als die englische Tragiko mödie ist. Es ist dieses ein Drama von unsrer eignen Erfindung, welches man ihm auch sogleich aus dem Schnitte ansiehet; bald kömmt ein Strom von lustigen Einfällen, bald von Traurigkeit und zärtlichen Leidenschaften, bald von Bedenklichkeiten der Ehre, die sich mit einem Zweykampfe enden; kurz in zwey und einer halben Stunde müssen wir durch alle Anfälle des Tollhauses hindurch. Die Fran zosen können uns mit eben so viel Veränderungen in einem Toge<Tage> ergetzen, sie thun es aber nur nicht so zur Unzeit und so mal à propos als wir. Unsere Dichter mengen die Tragödie und das Possenspiel in eins; denn sie kennen ihre Zuhörer, die noch — ursum & pugiles media inter carmina poscunt. [] Der Ausgang des Trauerspiels, sagt Aristo teles , soll Bewunderung und Mitleiden erre gen; sind aber nicht Lustigkeit und Mitleiden ganz widersprechende Dinge? uudund ist es nicht augenscheinlich, daß der Dichter das eine, durch
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die Vermischung mit dem andern vernichten muß? daß er die vornehmste Absicht, den ein zigen Endzweck des Trauerspiels aufgeben muß, um etwas mit einzumischen, was sich ihm nicht anders als mit Gewalt einverleiben läßt? Würde man einen Arzt nicht für toll halten, der erst eine Purganz, und gleich darauf ein Restringens verschriebe? [] Doch von unsern Schauspielen wieder auf ihre zu kommen, so habe ich einen sehr großen Vortheil, den sie bey der Anlage ihrer Tragö dien haben, zu bemerken geglaubt; diesen nehm lich, daß sie allezeit auf irgend eine bekannte Geschichte gegründet sind; und hierinn haben sie die Alten so nachgeahmt, daß sie ihnen so gar vorzuziehen sind. Denn die Alten, wie schon zuvor angemerkt worden, gründeten ihre Trauerspiele auf wenige poetische Erdichtungen, deren Ausgang den Zuschauern schon so bekannt war, daß sie wenig davon gerühret werden konnten; der Franzose aber gehet weiter, Atque ita mentitur; sic veris falsa re miscet, Primo ne medium, medio ne discrepet imum. [] Er weis die Wahrheit mit der wahrscheinlichen Erdichtung so zu verweben, daß er uns auf die angenehmste Weise hintergehet; er lindert die strengen Schlüsse des Schicksals und verläßt in
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etwas die Genauigkeit der Geschichte, um die Tu gend zu belohnen, die uns jene als unglücklich vor gestellet hat. Manchmal hat auch die Geschichte den Ausgang so zweifelhaft gelassen, daß der Scribent, nach der dem Dichtern zukommenden Freyheit, sich auf eine Seite lenken kann, auf welche es ihm beliebt; so ist es zum Exempel mit dem Tode des Cyrus , von dem Justinus und einige andere melden, daß er in dem Scy thischen Kriege umgekommen, da Xenophon doch von ihm behauptet, daß er in einem hohen Alter auf seinem Bette gestorben sey. Ja auch alsdenn noch, wenn der Ausgang schon außer allem Streite ist, lassen wir uns nicht ungern betriegen, und der Dichter hat sicherlich, wenig stens so lange, als die Vorstellung dauert, und wenn er nur die Wahrscheinlichkeit beobachtet hat, alle Zuhörer auf seine Seite; denn wo unser eigen Jnteresse nur nicht mit im Spiele ist, lieben wir die Tugend von Natur so sehr, daß wir sie als die allgemeine Sache der Mensch heit betrachten. Erwägen wir aber auf der andern Seite die historischen Schauspiele des Shakespear , so finden wir, daß sie so manche Chroniken von Königen sind, wo die Begeben heiten oft von dreyßig bis vierzig Jahren, in eine Vorstellung von zwey und einer halben Stunde zusammen gepreßt sind, welches aber nicht sowohl die Natur nachahmen und schildern, als vielmehr verkleinern und in Miniatur brin
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gen heißt. Man betrachtet sie gleichsam durch das verkehrte Ende des Perspectivs, da ihre Bilder denn nicht bloß unendlich kleiner, son dern auch unendlich unvollkommener, als sie wirklich sind, erscheinen; und dieses macht ein Schauspiel unstreitig mehr lächerlich als ange nehm. Quodcunque ostendis mihi sie, incredu lus odi. [] Denn die menschliche Seele begnügt sich mit nichts andern, als mit Wahrheit, oder wenig stens Wahrscheinlichkeit; und ein Gedicht muß, wo nicht ἑτυμα, doch ἑτυμοισιν ὁμοια, wie es ein alter griechischer Dichter ausdrückt, ent halten. [] Noch ein Punct, worinn die Franzosen von uns und den Spaniern abgehen, ist, daß sie sich nicht mit allzuviel Fabel und Verwicklung ver wirren und überhäuffen. Sie stellen von der Geschichte nur so viel vor, als nöthig ist, Eine ganze und grosse Handlung für Ein Schauspiel auszumachen; wir aber, die wir mehr auf uns zu nehmen wagen, vervielfältigen nur bloß die Begebenheiten, und da diese nicht eine aus der andern, als Wirkungen aus ihren Ursachen, fliessen, sondern bloß der Zeit nach auf einander folgen, so bringen wir verschiedne Handlungen in das Drama und machen folglich mehr als ein Schauspiel daraus.
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[] Jndem die Franzosen aber genau bey einer Sache bleiben, die nicht alle Augenblicke unter brochen wird, so haben sie dadurch für ihre Verse, in welchen sie schreiben, mehr Freyheit gewonnen; sie können sich bey jedem Umstande verweilen, der sich der Mühe verlohnt, und können die Leidenschaften, (die eigentlich, wie wir bereits erkannt haben, des Dichters Werk sind) mit aller Bequemlichkeit vorstellen, ohne beständig von einem auf das andere gerissen zu werden, so wie es in den Stücken des Calderon geschieht, die wir neulich unter dem Titel der spanischen Lustspiele, auf unserm Theater gesehen haben. Jch habe bey uns nur eine einzige Tragödie finden können, welche die Regelmäßigkeit und Einheit der Handlung hätte, die ich an den französischen gerühmt habe; und dieses ist Rollo, oder vielmehr, unter dem Namen Rollo, die Geschichte des Baßianus und Geta beym Herodian; in dieser ist die Handlung weder vielfach noch zu verwickelt, sondern gerade groß genug, das Gemüth der Zuhörer zu füllen, ohne es zu überladen. Uebrigens ist sie auf die historische Wahrheit gegründet, und nur die Zeit der Handlung will sich unter die Strenge der Regeln nicht brin gen lassen; auch guckt an einigen Orten noch das Possenspiel vor, welches mit der Würde der übrigen Theile nicht übereinstimmt. Aber hierinn sind alle unsere Dichter ungemein feh
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lerhaft, und selbst Ben Johnson hat uns in seinem Sejanus und Catilina ein solches dramatisches Ragout vorgesetzt; eine unnatür liche Vermischung nehmlich von Komödie und Tragödie, die wir eben so lächerlich vorkömmt, als die Geschichte Davids mit den Lustbarkei ten des Goliaths. Jm Sejanus gehöret hierher die Scene zwischen der Livia und dem Arzte, welches eine feine Satire wider die künst lichen Hülfsmittel der Schönheit ist; und im Catilina, das Parlament der Weiber, und alles was zwischen dem Curio und der Fulvia vorgehet: alles zwar in ihrer Art vortrefliche Scenen, die sich aber zu den übrigen nicht schicken. [] Doch ich komme auf die französischen Scri benten wieder zurück, die, wie ich schon gesagt habe, sich nicht mit allzuviel Handlung überla den, welches ihnen von einem witzigen Manne aus unsrer Nation als ein Fehler vorgeworfen worden; denn er giebt ihnen Schuld, daß sie in ihren Spielen gemeiniglich nur eine Person bemerkungswürdig machen; bey ihm und bey allen, was ihn angehet, verweilten sie sich al lein, und die übrigen Personen wären bloß da, um ihn hervorstechen zu lassen. Wenn er hier mit meinet, daß in ihren Stücken beständig eine Person vorkomme, die von größrer Würde als die übrigen ist, so muß er nicht allein ihre Schauspiele, sondern auch alle Schauspiele der
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Alten, und, was er gewiß nicht gern thun würde, die besten von den unsrigen tadeln; denn es kann unmöglich anders seyn, als daß sich eine Person mehr als die andere ausnehmen muß, weil immer ein grosser Theil der Handlung mehr auf diese, als auf jene fällt. Wir sehen dieses ja bey Verwaltung aller Geschäfte in der Welt; selbst in der alle gleich getheiltesten Aristokratie, kann das Gleichgewicht nicht so genau beobach tet werden, daß die Wage nicht für diesen oder jenen den Ausschlag geben sollte, es sey nun in Ansehung seiner natürlichen Gaben, oder seiner Glücksgüter, oder der Ehre wegen seiner rühm lichen Thaten, wovon eines schon genug ist den grössern Theil der Geschäfte in seine Hände fal len zu lassen. [] Hat aber der gedachte Kunstrichter so viel damit sagen wollen, daß durch die Erhebung des einen Charakters alle übrigen vernachläßi get werden, und daß sie nicht alle einen oder den andern Antheil an der Handlung des Stücks haben, so wollte ich ihn wohl ersuchen, nur eine einzige Tragödie vom Corneille zu nennen, in der nicht jede Person, gleich so vie len Bedienten in einer wohlregierten Familie, ihre gewisse Verrichtung habe, und nicht zur Betreibung der Handlung, oder wenigstens zum Verständnisse derselben, nothwendig sey. [] Es giebt zwar bey den Alten einige protati sche Personen, deren sie sich in ihren Schau
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spielen, entweder eine Erzehlung zu machen, oder mit anzuhören, bedienen; allein die Fran zosen vermeiden dieses mit vieler Geschicklich keit, indem sie ihre Erzehlungen bloß solchen und durch solchen Personen machen lassen, die gewissermaassen an der Hauptabsicht Antheil haben. Und da ich itzt von den Erzehlungen spreche, so kann ich nicht unterlassen, zum Lobe der Franzosen, noch dieses hinzuzufügen, daß sie sich derselben oft mit mehr Ueberlegung, und zu gelegenerer Zeit bedienen, als wir Engländer. Jch will zwar die Erzehlungen überhaupt nicht anpreisen; es giebt aber eine doppelte Gattung derselben. Die eine nehmlich betrift diejenigen Dinge, die vor dem Schauspiele vorhergegan gen, und deßwegen beygebracht werden müssen, um uns das Nachfolgende verständlich zu ma chen; es ist aber ein Fehler, daß man einen solchen Stoff für die Bühne wählet, der uns an diese Klippe nothwendig treiben muß. Denn wir sehen ja, daß die Zuhörer selten dar auf Achtung geben, welches sehr oft den Fall des ganzen Stücks verursacht. Sie dürfen auch nur eine Kleinigkeit manchmal überhören, und sie werden durch das ganze Spiel durch nicht wissen, woran sie sind. Jst es also nicht in der That unbillig, daß man es ihnen so sauer macht, daß sie das, was vor ihren Augen vorgeht, nicht verstehen können, ohne ihre
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Zuflucht zu dem, was zehn oder zwanzig Jahr vorher geschehen, zu nehmen? [] Man hat aber noch eine andre Art Erzeh lungen; von solchen Dingen nehmlich, die während der Handlung des Stücks vor fallen, und als hinter der Scene geschehen zu seyn, betrachtet werden. Solche Erzehlungen sind sehr oft so bequem, als schön; denn durch ihre Hülfe vermeiden die Franzosen allen Tumult, dem unsere Bühne so sehr ausgesetzt ist, indem wir Zweykämpfe, Schlachten und dergleichen darauf vorgehen lassen. Es kann auch leicht nichts lächerlicher seyn, als wenn ein Trommelschläger, und fünf Mann hinter ihm, eine ganze Armee vorstellen, die der Held von der andern Seite vor sich hertreiben muß; oder wenn bey einem Zweykampfe einer den andern mit ein Paar Stößen eines stumpfen Rappiers zu Boden setzet, mit welchem er Mühe haben sollte, seinem Mann im Ernste in Zeit einer guten Stunde umzubringen? [] Jch habe auch angemerkt, daß sich die Zu schauer in allen unsern Trauerspielen des La chens auf keine Weise enthalten können, so oft eine von den spielenden Personen sterben soll; es ist dieses allezeit der lustigste Theil des Schau spiels. Es können alle Leidenschaften auf der Bühne lebhaft vorgestellt werden, wenn sie von dem Dichter nur wohl ausgedruckt sind, und es dem Schauspieler dabey an einer gefäl
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ligen Stimme und an einem sich wohl und leicht tragenden und bewegenden Körper nicht fehlet; gewisse Handlungen aber können nim mermehr mit der gehörigen Vollkommenheit nachgeahmet werden; das Sterben insbesondre ist eine Sache, die nur ein römischer Fechter auf der Bühne gut verrichten konnte, wenn er es nicht sowohl nachahmte und vorstellte, als viel mehr wirklich vollzog; und folglich ist es am besten, die Vorstellung davon zu unterlassen. [] Die Worte eines guten Dichters, die es lebhaft beschreiben, werden einen weit tiefern Eindruck machen, und sich unsrer Ueberzeu gung weit gewisser versichern, als wenn sich der Schauspieler noch so viel Mühe giebt, vor unsern Augen für todt niederzufallen; so wie auch der Dichter durch der Beschreibung einer schönen lieblichen Gegend unsre Einbildungs kraft weit mehr vergnügen kann, als der wirk liche Anblick derselben unsere Augen vergnügen würde. Wenn wir den Tod vorgestellt sehen, so sind wir überzeugt, daß es nur eine Erdich tung ist; wenn wir ihn aber bloß erzehlen hö ren, so fehlen die stärksten Zeugen, unsere Au gen, die uns von dem Jrrthume überführen könnten, und wir kommen dem Betruge des Dichters, weil er so grob nicht ist, selbst zu Hülfe. Wer sich also einbildet, daß derglei chen Erzehlungen keinen Eindruck auf die Zu hörer machen könnten, der irret sich sehr, in
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dem er sie mit den erst gedachten Erzehlungen lange vor dem Schauspiele geschehener Dinge, vermengt; jene werden größten Theils den Zu hörern bey kaltem Blute gemacht, bey diesen aber hilft uns unser Mitleiden, das in dem Schau spiele erregt worden, in Feuer und Affect setzen. Was die Weltweisen von der Bewegung sa gen, daß, wenn sie einmal angefangen, sie von sich selbst, bis in alle Ewigkeit fortdaure, wenn sie durch keine Hindernisse aufgehalten würde, ist auch bey dieser Gelegenheit augenscheinlich wahr; die Seele, die einmal durch die Cha raktere und Glücksfälle dieser eingebildeten Per sonen in Bewegung gesetzt worden, gehet ihren Gang fort, und wir hören das, was mit ihnen ausser der Bühne vorgegangen, mit eben der Be gierde an, mit welcher wir die Nachricht von einer abwesenden Geliebten vernehmen. Aber, wirft man ein, wenn ein Theil des Schau spiels erzehlt werden darf, warum erzehlen wir nicht alle? Jch antworte hierauf: einige Stü cke der Handlung lassen sich besser vorstellen, und andere besser erzehlen. Corneille sagt sehr wohl, daß der Poet nicht verbunden ist, uns alle einzelne Handlungen, welche die Haupt handlung bewirken, vor Augen zu stellen; er muß nur solche zu sehen geben, deren Anblick wirklich schön ist, es sey nun in Ansehung ih res Gepränges, oder der Heftigkeit der dabey vorkommenden Leidenschaften, oder eines an
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dern ihnen beywohnenden Reitzes; das übrige alle muß man den Zuhörern durch Erzehlun gen beybringen. Es ist ein großer Jrrthum, wenn wir glauben, daß die Franzosen keinen Theil der Handlung auf der Bühne vorstellen; jede Veränderung, jedes Hinderniß, das sich bey einer Absicht äußert, jede neu entstehende Leidenschaft und Abänderung derselben, ist ein Theil der Handlung, und zwar der edelste der selben, wir müßten denn glauben, daß nichts eher Handlung sey, als bis es mit den spielen den Personen zu Thätlichkeiten komme; gleich als wäre die Schilderung des Gemüths der Helden nicht weit eigentlicher des Dichters Werk, als die Stärke ihres Körpers. Auch widerspricht dieses im geringsten nicht der Mey nung des Horaz, wenn er sagt:“ Segnius irritant animos demissa per aurem, Quam quæ sunt oculis subjecta fideli bus — [] „Denn er sagt gleich darauf:“ — — — — Non tamen intus Digna geri promes in scenam; multaque tolles Ex oculis, quæ mox narret facundia præsens. [] „Und von diesen vielen, nennt er einiges:“ Nec pueros coram populo Medea trucidet, Aut in avem Progne mutetur, Cadmus in anguem &c.
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[] „Das ist: solche Handlungen, die, wegen ihrer Grausamkeit, Abscheu in uns erregen, oder die wir, wegen ihrer Unmöglichkeit, nicht glauben können, müssen von dem Dichter entweder gänzlich vermindern, oder bloß durch die Er zehlung beygebracht werden. Hierzu können wir auch mit Recht alle diejenigen Handlungen setzen, die wir zur Vermeidung des Tumults, (wie ich schon zuvor angemerkt habe) oder we gen ihres Mangels an Schönheit, oder zu Er haltung einer regelmäßigern Dauer der Zeit, besser erzehlen als dem Auge vorstellen lassen. Beyspiele von allen diesen Arten kommen häu fig so wohl bey den Alten, als bey unsern besienbesten englischen Dichtern vor. Wir finden, daß Ben Johnson in einem seiner Lustspiele (Magne tick Lady) dieses in Acht genommen hat, wo einer vom Tische kömmt, und die Zänkereyen und Unordnungen, die dabey vorgefallen, er zehlt, um die ungeziemende Vorstellung dersel ben auf der Bühne zu vermeiden, und die Ge schichte abzukürzen; und dieses zur ausdrück lichen Nachahmung des Terenz , welcher vor ihm in seinem Evnucho [] ein gleiches gethan, und den Pythias alles, was bey des Soldaten Gasterey vorgefallen, bloß erzehlen läßt. Die Erzehlungen von dem Tode des Sejanus und den vorhergegangenen Wunderzeichen, sind gleichfalls in dieser Absicht merkmürdig; jener mußte den Zuschauern aus den Augen gebracht
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werden, um das Abscheuliche und Tumultuöse der Vorstellung zu vermeiden, und diese durften nicht gezeigt werden, weil es lauter unglaubliche Dinge waren. Fletcher gehet in seinem vor treflichen Stücke: The King and no King noch weiter; denn die ganze Auflösung geschiehet in dem fünften Aufzuge, nach dem Muster der Alten, durch eine blosse Erzehlung, welche die Zuschauer dennoch ungemein rühret, ob sie gleich nur Dinge enthält, die viel Jahre vor dem Stücke geschehen. Jch könnte noch mehr Bey spiele anführen; doch diese sind bereits hinläng lich, zu beweisen, daß man gar wohl einen Stoff wählen kann, der dergleichen Erzehlun gen erfordert; da liegt der Fehler noch nicht, aber in der schlechten Ausführung und Bear beitung kann er liegen. [] Doch ich finde, daß ich mich bey diesem Puncte allzulange aufhalte, indem die Franzo sen noch viele andere Vortreflichkeiten besitzen, deren wir uns nicht rühmen können; diese zum Exempel, daß sich bey ihnen niemals ein Stück mit einer Bekehrung oder blossen Willensän derung endet, welches der gewöhnliche Schluß ist, den unsere Dichter ihren Schauspielen ge ben. Man zeigt bey dem Ausgange eines dramatischen Gedichts wenig Kunst, wenn die jenigen, die während den vier ersten Aufzügen die Hindernisse der Glückseligkeit gewesen, in dem fünften auf einmal es zu seyn aufhören, ohne
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daß sie eine wichtige Ursache dazu bewogen; und ob ich gleich nicht leugne, daß sich eine solche Ursache wohl finden läßt, so ist es doch immer ein sehr gefährlicher Schritt, und der Dichter muß ganz gewiß wissen, daß er die Zuhörer von der hinlänglichen Stärke derselben überzeugen werde. So scheinet mir, zum Exempel, die Aenderung des Wucherers in dem Lustspiele The scoruful Lady, ein wenig zu ge zwungen; denn da er ein Wucherer, und folg lich ein Liebhaber des Geldes bis zum höchsten Grade des Geitzes ist, (wie ihn denn auch der Dichter als einen solchen vorstellt,) so ist die Ursache, die er von seiner plötzlichen Verände rung giebt, weil er nehmlich von dem wilden jungen Menschen betrogen worden, nicht sehr natürlich; denn diese Ursache sollte ihn vielmehr bewogen haben, in Zukunft behutsamer zu gehen, und sich selbst mit geringerer Kost und elenderer Kleidung zu bestrafen, um auf diese Weise, was er verloren, wieder zu ersparen; daß er aber seinen Verlust als eine gerechte Strafe an sehen und Reue dabey empfinden sollte, das hätte sich nicht übel in eine Predigt geschickt, nur in einem Schauspiele ist es durchaus nicht zu dulden. [] Jch will hiervon nichts weiter sagen; auch will ich mich bey ihrer Sorgfalt nicht aufhalten, keine Person, nach ihrem ersten Auftritte, wie der erscheinen zu lassen, ohne daß ihr Geschäfte
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sie offenbar auf die Bühne bringt. Wenn diese Regel gehörig beobachtet wird, müssen uns nothwendig alle Begebenheiten in dem Schau spiele weit natürlicher erscheinen; denn man siehet von jeder einen wahrscheinlichen Grund, woraus sie geflossen, und alles, was wir in dem Schauspiele sonst für blossen Zufall gehalten hätten, kömmt uns nunmehr nicht bloß ver nünftig, sonst fast nothwendig vor, indem keine Person abtritt, ohne daß wir auf ihr Vorhaben und Absehen, bey dem nächstfolgenden Auftritte derselben, vorbereitet werden, obgleich in einer wohl ausgearbeiteten Scene der Ausgang mit unserer Erwartung selten übereinkommen wird. Nichts kann abgeschmackter seyn, sagt Corneille, als wenn eine Person bloß deswegen abtritt, weil sie nichts mehr zu sagen hat. [] Jch sollte nunmehr auch von der Schönheit ihrer Reime, und von der Ursache reden, war um ich diese Art Tragödien abzufassen, der un srigen in ungereimten Versen vorziehe. Doch weil sie auch zum Theil bey uns angenommen, und ihnen folglich nicht eigenthümlich ist, so will ich nichts weiter davon sagen et cetera [] Hier bricht Lisidejus, nachdem er nur noch etwas weniges hinzugesetzt, ab, und Neander antwortet ihm in folgenden: [] Jch will dem Lisidejus, ohne lange zu strei ten, einen grossen Theil von dem, was er wider uns beygebracht, zugeben; denn ich bekenne es,
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daß die Franzosen ihre Trauerspiele regelmäßi ger anlegen, und daß sie die Gesetze der Komö die und das Decorum der Bühne, überhaupt zu reden, genauer beobachten als die Engländer; ich leugne auch nicht, daß wir wegen verschied ner von ihm erwähnter Unregelmäßigkeiten mit Recht zu tadeln sind: doch bin ich, bey dem allen, noch der Meinung, daß weder unsere Fehler, noch ihre Tugenden von der Beträcht lichkeit sind, ihnen den Vorzug vor uns einzu räumen. [] Denn da die lebhafte Nachahmung der Na tur mit in die Erklärung des Schauspiels gehört, so müssen auch diejenigen, die dieses Gesetz am besten erfüllen, auch vor den andern am meisten geschätzt werden. Wahr ist es, die Schönhei ten der französischen Poefie<Poesie> sind von der Be schaffenheit, daß sie die Vollkommenheit, wo sie schon vorhanden ist, erhöhen; allein diese Voll kommenheit, wo sie fehlet, zu verschaffen, das sind sie nicht im Stande. Es sind Schönhei ten einer Bildsäule, aber nicht eines Menschen, weil sie nicht durch die Seele der Poesie belebt sind, welche in der Nachahmung der Leiden schaften und Launen bestehet; und dieses wird weder Lisidejus, noch ein anderer, wenn er für ihre Parthey auch noch sehr eingenommen ist, in Abrede seyn können, so bald er die Lau nen in unsern Lustspielen, und die Charaktere in unsern ernsthaften Schauspielen mit den ih
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rigen vergleicht. Wer die Stücke durchgehen will, die sie ohngefehr seit zehn Jahren geschrie ben haben, dem soll es schwer werden zwey oder drey erträgliche Launen darinn aufzutreiben. Was hat Corneille selbst, ihr vornehmster Dichter, in dieser Art hervorgebracht, ausge nommen seinen Lügner, dieses in Frankreich so gepriesene Stück? Und dennoch, als es in einer recht guten Uebersetzung auf die englische Bühne kam, und der Charakter des Dorante auch so gut gespielt wurde, als er in Frankreich nur immer hat können gespielt werden, woll ten es keine auch von seinen eifrigsten Lob rednern wagen, es mit irgend einem quten Stücke des Fletchers den Ben Johnsons in Vergleichung zu setzen. Jn den übrigen Stücken des Corneille kömmt noch weniger Laune vor; er sagt uns selbst, seine Gewohnheit sey, zu Anfange ein Paar Liebhaber in gutem Verständnisse zu zeigen, hierauf, gegen die Mitte des Stücks, durch irgend einen Jrrthum, Uneinigkeit und Verwirrung unter ihnen zu stistenstiften, und endlich am Ende den Streit zu schlichten und sie wieder mit einander zu ver söhnen. [] Jn den letztern Jahren aber scheinen Mo liere , der jüngere Corneille, Quinault und einige andere, die launigten Einfälle und An nehmlichkeiten der englischen Bühne, von wei tem nachgeahmt zu haben. Sie haben ihre
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ernsthaften Stücke mit lustigen Einfällen un termengt; und sich auf diese Weise, seit dem Tode des Cardinals Richelieu , unsern Tragi komödien genähert, welches Lisidejus und viele andere hätten bedenken sollen, damit sie nicht etwas als eine Tugend an ihnen lobten, was sie selbst nicht mehr ausüben. Die mei sten von ihren neuen Stücken sind eben so wie viele von unsern, aus Spanischen Novellen ge zogen; fast kein einziges ist ohne eine Florkappe, und einen getreuen Diego, nach dem Schlage der irrenden Ritter. Jhre Launen aber, wenn sie anders diesen Namen verdienen, sind so dünne gesäet, daß in einem Stücke niemals mehr als eine vorkömmt; und ich getraue mir in einem einzigen Stücke von Ben Johnson mehrere und verschiedenere zu finden, als in allen ihren Stücken zusammen. [] Jch gebe es zu, was sich nur immer auf den Grund eines spanischen Stückes hat bauen lassen, das haben die Franzosen darauf ge bauet; was vorher lustig und ergetzend war, das haben sie regelmäßig gemacht. Es läßt sich aber nicht mehr als ein einzig gutes Stück über alle diese Jntriguen machen; sie sind ein ander zu ähnlich, als daß sie oft gefallen könn ten, welches wir nicht erst durch die Erfahrung auf unsrer eignen Bühne bestätigen dürfen. Was ihre neue Gewohnheit anbelangt, lustige Scenen in ernsthafte Stücke zu mischen, so
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will ich nicht, wie Lisidejus, die Sache selbst verdammen, sondern nur die Weise, wie es bey ihnen geschieht, kann ich nicht billigen. Er sagt, wir könnten nach einer rührenden und affectvollen Scene, nicht so geschwind wieder zu uns kommen, um gleich darauf an einer lau nigten und lustigen Geschmack zu finden. Aber warum sollte die Seele des Menschen träger seyn, als seine Sinne? Kann nicht das Auge in einer weit kürzern Zeit, als in jenem Falle erfordert wird, von einem unangenehmen zu einem angenehmen Gegenstande übergehen? Und macht nicht die Unannehmlichkeit des er stern, die Schönheit des andern um so viel rei tzender? Die alte Regel der Logik hätte sie schon überzeugen können: Contraria juxta se posita magis elucescunt. Eine anhaltende Ernsthaf tigkeit strenget den Geist allzusehr an; wir müs sen uns manchmal erhohlen, so wie wir auf einer Reise dann und wann einkehren, um sie desto gemächlicher fortsetzen zu können. Eine lustige Scene in einer Tragödie hat eben die Wirkung, welche die Musik zwischen den Auf zügen hat, die uns auch nach dem interessan testen Aufzuge, wenn er nur ein klein wenig zu lange gedauert hat, eine willkommene Erhoh lung gewähret. Man muß mir daher erst stärkere Gründe bringen, wenn ich überzeugt seyn soll, daß Mitleiden und Fröhlichkeit in eben demselben Gegenstande einander aufrei
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ben; bis dahin aber werde ich zur Ehre meiner Nation glauben, daß wir eine weit angeneh mere Weise für die Bühne zu schreiben, erfun den, ausgebildet und zur Vollkommenheit ge bracht haben, als allen Alten und Neuern ir gend einer Nation bekannt gewesen; die Tragi komödie nehmlich. [] Jch muß mich daher sehr wundern, wie Lisi dejus und viele andere, die Unfruchtbarkeit der französischen Jntriguen über die Mannigfal tigkeit und den Reichthum der englischen, er heben können. Jhre Jntrigue ist einfach; sie haben nur eine einzige Absicht, die alle spie lende Personen betreiben, und welcher uns jede Scene immer näher bringt; unsre Stücken aber haben, außer der Haupthandlung, noch Nebenhandlungen und kleinere Jntriguen, die mit jener zugleich fortgeführet werden; so wie man sagt, daß der Kreiß der Fixsterne, und der Kreiß der Planeten, ob sie gleich ihre eigene Bewegung haben, durch die Bewegung des Primum mobile zugleich mit fortgerissen wer den. Und dieses Gleichniß passet auf die en glische Schanbühne<Schaubühne> sehr wohl; denn wenn selbst in der Natur entgegengesetzte Bewegungen bey einander Statt haben, wenn sich ein Planet zu gleicher Zeit gegen Abend und Morgen be wegen kann; das eine, Kraft seiner eignen Be wegung, und das andre durch die Gewalt des ersten Bewegers: so läßt es sich ja auch gar
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wohl einbilden, wie eine Nebenhandlung, die von der Haupthandlung nur unterscheiden, und keinesweges ihr entgegengesetzt ist, ganz natür lich mit ihr zugleich fortgeführet werden kann. [] Eugenius hat uns bereits, dem eignen Be kenntnisse der französischen Dichter zu Folge, gezeigt, daß die Einheit der Handlung genug sam beobachtet ist, wenn alle die unvollkomme nen Handlungen des Stücks zu der Haupt handlung etwas beytragen; wenn aber freylich diese kleinen Jntriguen weder mit jener, noch unter sich zusammenhangen, so hat Lisidejus Recht, diesen Mangel der gehörigen Verbindung zu tadeln; denn die Coordination ist in einem Schauspiele eben so unnatürlich und gefährlich als in dem Staate. Unterdessen muß er doch bekennen, daß unsere Mannigfaltigkeit, wenn sie wohl geordnet ist, den Zuhörern ein weit grösseres Vergnügen gewähren kann. [] Was seinen andern Grund anbelangt, daß sie bey Betreibung nur einer einzigen Handlung, Musse und Gelegenheit haben, die Leidenschaf ten wirksamer zu zeigen und besser auszudrü cken, so wollte ich wohl wünschen, daß er sein Vorgeben mit irgend einem Beyspiele erhär tet hätte; denn ich muß bekennen, ihre Verse sind für mich die kältesten, die ich jemals gele sen habe. Es ist auch nach ihrer Methode nicht wohl möglich, die Leidenschaften so stark auszudrücken, daß das Gemüth der Zuhörer
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dadurch in Regung gesetzt würde, indem ihre Reden fast nichts als langweilige Declamatio nen sind, die uns nicht den eingebildeten Hel den, sondern uns selbst zu betauern zwingen, daß wir ein so eckeles Gewäsche mit anhören müssen. Als sich der Cardinal Richelieu der französischen Bühne annahm, so kamen diese langen Reden auf, um sich nach der Gravität des geistlichen Herrn zu bequemen. Betrach ten sie einmal den Cinna und Pompejus, ob sie wohl Schauspiele, oder nicht vielmehr lange Unterredungen über die Staatskunst zu nennen sind, so wie der feyerliche Polyeuct über die Religion? Seit dem ist es bey ihnen auch eingerissen, daß ihre Schauspieler gleich sam nach den. Stundenglase, wie unsere Pre diger, reden, und es für das schönste in ihrer Rolle halten, wenn ihnen der Poet den Gefal len erwiesen, die Zuhörer in einem Stücke wenig stens zwey bis dreymal mit einer Rede von ein Hundert Zeilen unterhalten zu dürfen. Es kann wohl seyn, daß sich dieses zu dem Naturelle der Franzosen recht gut geschickt; denn so wie wir, als ein weit mürrischer Volk in die Komö die gehen, um uns da aufgeräumt zu machen, so gehen sie, die von einer weit leichtsinnigern und lustigern Gemüthsart sind, in der Absicht dahin, eine kurze Zeit ernsthafter als gewöhn lich zu seyn. Und dieses, so viel ich einsehe, mag eine von den vornehmsten Ursachen seyn,
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warum wir lieber Komödien, und sie lieber Tragödien haben mögen. Ueberhaupt aber davon zu reden, so ist es unleugbar, daß kurze Reden und Antworten, die Leidenschaften zu erregen und uns in Hitze zu setzen, geschickter sind, als andre. Denn es ist unnatürlich, wenn eine Person in einem aufwallenden Af fecte viel hintereinander spricht, oder wenn die andere, die in gleicher Gemüthsverfassung ist, ihr lange ohne Unterbrechung zuhört et cetera — Besonders ist in der Komödie eine geschwinde Antwort, eine von den größten Annehmlichkei ten derselben; und das größte Vergnügen, das die Zuschauer haben können, ist, wenn die Per sonen einander ihre Einfälle, gleichsam wie in einem Ballspiele, geschickt und geschwind zu werfen. Und dieses hatten unsere Vorältern, wenn auch wir schon nicht mehr, in Fletchers Stücken in einem weit höhern Grade der Voll kommenheit, als die französischen Dichter je mals erreichen werden. [] Es ist noch ein Punet<Punct> in der Rede des Li sidejus, wo er unsere Nachbarn nicht so wohl gelobt, als entschuldiget hat; dieser nehmlich, daß sie in ihren Stücken immer nur eine Per son sich ausnehmen lassen. Es ist zwar ganz richtig was er sagt, daß in allen Schauspie len, auch ohne Beyhülfe des Dichters, ein Charakter immer vor dem andern vorstechen,
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und den größten Theil an der Handlung des ganzen Drama haben wird. Doch das hin dert nicht, daß nicht mehrere glänzende Cha raktere, und verschiedne Personen von einer zweyten aber der ersten so ähnlichen Größe darinn seyn könnten, daß man Größe gegen Größe setzen kann, und alle Personen nicht bloß ihrem Range sondern auch ihrer Handlung nach in Betrachtung kommen. Es ist augenschein lich, je mehr Personen sind, desto größer ist die Mannigfaltigkeit des Stücks. Wenn nun ihre verschiednen Rollen so wohl verbunden sind, daß die Schönheit des Ganzen nichts dar unter leidet, und die Mannigfaltigkeit kein verwirrtes Gemenge von Zufällen wird, so wird man finden, daß es kein geringes Vergnügen ist, in einem Labyrinth von Absichten herum zu gehen, wo man zwar manchen Weg vor sich hat, den Ausgang aber doch nicht eher vorher sieht, als bis man ganz nahe dabey ist et cetera — [] Doch endlich auf den letzten Theil der Rede des Lisidejus zu kommen, welcher die Erzeh lungen betraf, so muß ich mit ihm bekennen, daß die Franzosen wohl daran thun, wenn sie diejenigen Stücke der Handlung, die auf dem Theater einen Tumult verursachen würden, ver bergen und sie den Zuschauern nur durch eine Erzehlung bekannt werden lassen. Ferner halte ich es auch mit ihm für sehr zuträglich,
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daß alle unglaubliche Handlungen aus dem Ge sichte gebracht werden. Es sey nun aber, daß die Gewohnheit unter unsern Landsleuten schon so tief eingerissen, oder daß wir von Natur wilderer Art sind; Zweykämpfe und andere Ge genstände des Schauders und Schreckens lassen wir unsern Blicken nicht gerne entziehen. Und in der That ist die Unanständigkeit des Tu mults alles, was man wider das Fechten ein wenden kann; denn warum sollte sich unsere Einbildung nicht eben so gern durch die Wahr scheinlichkeit dieses, als eines andern Vorfalls in dem Schauspiele hinter gehen lassen? Jch wenig stens kann mich eben so leicht überreden, daß die Stöße in allem Ernste gethan werden, als daß die, die sie thun, Könige, Prinzen und die nehmlichen Personen sind, die sie vorstellen. Was unglaubliche Gegenstände anbelangt, so wünschte ich vom Lisidejus wohl zu hören, ob auf unserm Theater wohl etwas von allem An scheine der Wahrheit so weit entferntes vorkom me, als in der Andromeda des Corneille , welches Stück so viel Beyfall, als irgend eines von seinen übrigen erhalten hat? Wessen Glau ben stark genug ist, den Perseus, den Sohn einer hendnischenheidnischenGottheit, den Pegasus und das Ungeheuer zu verdauen, der mag nur ja keine von unsern Vorstellungen tadeln. Es sind dieses nun zwar angenehme Gegenstände; allein in Ansehung der Wahrscheinlichkeit ist es
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alles eins; denn der Dichter macht kein Bal let, keine Masquerade daraus, sondern ein Drama, welches der Wahrheit gleichen soll. Jn Ansehung des Sterbens aber, welches nicht vorgestellt werden sollte, haben wir, ausser den vom Lisidejus angeführten Gründen, das An sehen Ben Johnsons selbst, der es in seinen Tragödien vermieden hat; denn sowohl der Tod des Sejanus als des Catilina werden erzehlt, ob ich mich gleich nicht enthalten kann in dem letztern eine Unregelmäßigkeit dieses großen Dichters anzumerken. Er verlegt nehmlich in eben demselben Aufzuge die Scene von Rom zu der Armee des Catilina, und von da wie der gen Rom; und über dieses verstattet er, nach der Rede des Catilina, zu Lieferung des Treffens bis zu der Zurückkunft des Pe trejus, der dem Senate die Nachricht davon bringen soll, viel zu wenig Zeit. Jch würde dieses Versehen an ihm, der das πρεπον der Bühne sonst so ängstlich beobachtet, nicht ein mal gerügt haben, wenn er nicht selbst gegen den unvergleichlichen Shakespear , wegen eines ähnlichen Fehlers, eine ganz ausserordentliche Strenge geäussert hätte. Um diesen Punct von den Erzehlungen endlich zu schließen, so darf ich wohl sagen, daß wenn wir zu tadeln sind, weil wir allzuviel Handlung zeigen, so sind es die Franzosen noch weit mehr, weil sie uns zu wenig davon sehen lassen; ein jeder ver
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nünftiger Scribent sollte daher die Mittelstraße zwischen beyden beobachten, damit die Zuhö rer, wenn man ihnen gar nichts sehen läßt, wenn es sich auch noch so schön ausnähme, nicht verdrießlich gemacht, und auch nicht beleidiget würden, wenn man ihnen unglaubliche oder unanständige Dinge zeiget. Jch hoffe, in dieser meiner Rede bereits gezeigt zu haben, daß, ob wir gleich die Gesetze der Komödie nicht so pünctlich erfüllen, als die Franzosen, unsere Fehler doch so wenig und so gering, die jenigen Stücke aber, worinn wir sie übertref fen, so beträchtlich sind, daß wir mit Recht ihnen vorgezogen zu werden verdienen. Was wird aber Lisidejus sagen, wenn er hört, daß sie selbst, durch diese Regeln allzusehr einge schränkt zu seyn bekennen, deren Uebertretung er an den Engländern getadelt hat. Jch will die Worte des Corneille anführen, die ich am Ende seiner Abhandlung über die drey Einhei ten finde: Il est facile aux Speculatifs d'etre se veres &c. Die Runstrichter<Kunstrichter> können leicht streng seyn; wenn sie aber nur zehn oder zwölf Gedichte von dieser Art ans Licht stellen wollten, sie würden gewiß die Re geln noch viel weiter ausdehnen, als ich es gethan habe, so bald sie aus der Erfah rung erkennten, was ihre genaue Befol gung für ein Zwang sey, und wie viel Schönes deswegen nicht auf die Bühne
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gebracht werden kann. Um was er hier sagt ein wenig zu erleutern; so sind sie eben durch ihre knechtische Beobachtung der Einheiten der Zeit und des Orts, und ihre Ununterbro chenheit der Scenen, in jene Magerkeit der Jn trigue und Unfruchtbarkeit der Einbildungs kraft verfallen, die man an allen ihren Stücken bemerken kann. Wie viel schöne Zufälle kön nen sich nicht ganz natürlich in zwey oder drey Tagen ereignen, die sich in dem Umfange von vier und zwanzig Stunden mit keiner Wahr scheinlichkeit zutragen können? Da hat man doch noch Zeit genug, einen Anschlag reif wer den zu lassen, welches unter grossen und klugen Leuten, dergleichen meistentheils in der Tragödie vorgestellt worden, in so wenig Augenblicken mit ganz und gar keinem Anscheine von Wahr heit geschehen kann. Ferner sind sie dadurch, daß sie sich so genau an die Einheit des Orts und die Ununterbrochenheit der Scenen binden, nicht selten gezwungen, verschiedne Schön heiten wegzulassen, die man an dem Orte, wo der Aufzug angefangen, nicht zeigen kann, wohl aber sehr gut hätte zeigen können, wenn die Scene wäre unterbrochen und geleeret worden, damit andere Personen an einem vermeintlich andern Orte auftreten können. Denn wenn der Aufzug in einem Zimmer anfängt, so müssen alle spielende Personen eines oder das andere daselbst zu thun haben, oder sie können in dem
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ganzen Aufzuge nicht gezeigt werden, und manch mal verstattet es ihr Charakter gar nicht, da zu erscheinen: als gesetzt, die Scene wäre in des Königs Schlafzimmer, so muß auch die aller geringste Person in der Tragödie, was sie zu thun hat, nirgends als da verrichten, ob sie sich gleich weit besser in das Vorzimmer, oder in den Schloßhof geschickt hätte, nur damit die Bühne nicht leer und die Folge der Auf tritte nicht unterbrochen werde. Manchmal verfallen sie hierdurch noch in grössere Ungereimt heiten; denn sie unterbrechen die Scene nicht, und ändern gleichwohl den Ort, wie es in einem von ihren neuesten Stücken geschehen, wo der Aufzug in einer Strasse anfängt, her nach aber fast jeder Austritt einen besondern Ort erfordert, ob sich gleich die Personen richtig ab wechseln. et cetera [] Und nun sagen Sie mir, ich bitte Sie, was ist leichter, als ein regelmäßigesfranzösisches Schauspiel zu schreiben? Und was ist schwerer, als ein unregelmäßiges englisches, dergleichen Fletchers oder Shakespears Stücke sind? Wenn man sich, wie Corneille gethan, mit ei ner einzigen kahlen Jntrigue begnügen will, die man, wie ein schlechtes Räthsel, schon ganz weis, ehe sie noch halb vorgetragen ist, so können wir eben so leicht regelmäßig seyn als sie. Wenn sie hingegen ein reiches Stück von einer mannigfal tigen Verwicklung machen wollen, wie es einige
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von ihnen versucht haben, seit dem Corneille nicht mehr in solchem Ansehen steht, so schrei ben sie eben so unregelmäßig als wir, und wissen es nur ein wenig künstlicher zu verstecken. Daher ist die Ursache auch augenscheinlich, war um noch kein übersetztes französisches Stück auf der englischen Bühne Beyfall gefunden hat, und auch nie finden wird. Denn unsere Stücke sind, in Betrachtung der Anlage, von weit mehr Abwechslung, und in Ansehung der Ausführung, weit reicher an Witz und Einfäl len. Es ist auch ein seltsamer Jrrthum, wenn man die Gewohnheit, Schauspiele in Versen abzufassen, als etwas, daß wir den Franzosen nachgemacht hätten, verschreyen will. Wir haben von ihnen nichts geborgt; unsere Stücke sind auf unsern eigenen englischen Stühlen ge webt; in der Mannigfaltigkeit und Grösse der Charaktere, bemühen wir uns dem Shakespear und Fletcher nachzufolgen; den Reichthum und die geschickte Verbindung der Jntriguen haben wir vom Johnson ; und selbst in den Versen haben wir englische Muster, die weit älter sind als die Stücke des Corneille . Denn ohne unsere alten Lustspiele vor Shakespearn zu gedenken, welche alle in sechsfüßigen Versen, oder Alexandrinern, wie sie die Franzosen itzt brauchen, geschrieben waren, kann ich sowohl beym Shakespear , als auch in Ben John sons Tragödien, manche gereimte Scene weisen;
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im Catilina und Sejanus nehmlich oft dreyßig bis vierzig Zeilen hinter einander, ausser den Chören und Monologen, welches genugsam zeiget, daß Ben kein Feind von dieser Art zu schreibeu war, besonders wenn man seinen be trübten Schäfer lieset, der bald aus gereim ten, bald aus ungereimten Versen bestehet, nicht anders als ein Pferd, das zu seiner Erleichte rung mit Paß und Trab abwechselt. Er selbst preiset auch Fletchers Pastorelle von der ge treuen Schäferin an, welche größtentheils in Reimen abgefaßt ist, obgleich freylich nicht in so reinen und fliessenden, wie man sie nachher gemacht hat. Und diese Beyspiele sind hin länglich, die Beschuldigung einer knechtischen Nachahmung der Franzosen, von uns abzuleh nen. [] Doch wieder auf das vorige zurück zu kom men, so kann ich kühnlich behaupten, Erstlich daß wir verschiedene Schauspiele haben, die eben so regelmäßig sind als ihre, und über die ses noch reicher au<an> Jntriguen und Charakte ren; und zweytens, daß sich in den meisten unregelmäßigen Stücken von Shakespear und Fletcher (denn Ben Johnsons sind größten Theils regelmäßig) eine männlichere Einbildungskraft und mehr Geist und Witz zei get, als in irgend einem französischen Stücke. Auch unter Shakespears und Fletchers Werken könnte ich verschiedne zeigen, die bey
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nahe vollkommen richtig angelegt sind, als The merry Wives of Windsor und The scornful Lady; doch weil, überhaupt zu reden, Sha kespear , der zuerst schrieb, die Gesetze der Ko mödie nicht vollkommen beobachtete, und Flet cher , der sich der Vollkommenheit mehr nä herte, aus Unachtsamkeit manche Fehler be gieng, so will ich das Muster eines vollkomm nen Stücks vom Johnson nehmen, der ein sorgfältiger Beobachter der dramatischenRegeln war, und will von seinen Lustspielen, The si lent Woman dazu wehlen, das ich nach den Regeln, welche die Franzosen beobachten, kürz lich untersuchen will. [] Ehe es hierzu kömmt, ersuchet Eugenius den Neander, den Charakter ihrer vier vor nehmsten dramatischen Dichter zu entwerffen, welches er in folgenden thut. [] Shakespear , um mit diesem anzufangen, sagt Neander, war von allen neuern, und vielleicht auch alten Dichtern derjenige, der den ausgebreitesten, uneingeschränktesten Geist hatte. Alle Bilder der Natur waren ihm stets gegenwärtig, und er schilderte sie nicht sowohl mühsam als glücklich; er mag beschreiben was er will, man sieht es nicht bloß, man fühlt es so gar. Die ihm Schuld geben, daß es ihm an Gelehrsamkeit gefehlt habe, erheben ihn um so viel mehr; er war gelehrt, ohne es gewor den zu seyn; er brauchte nicht die Brillen der
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Bücher, um in der Natur zu lesen; er blickte in sich selbst, und da fand er sie. Jch kann nicht sagen, daß er sich beständig gleich sey; wäre er dieses, so würde ich ihm Unrecht thun, wenn ich ihn mit dem allergrößten unter den Men schen vergliche. Er ist oft plat, abgeschmackt; sein komischer Witz artet in Possen aus; sein Ernst schwellet zu Bombast auf. Er ist alle zeit groß, wenn sich ihm eine grosse Gelegen heit darbietet. Kein Mensch kann sagen, daß er jemahls einen würdigen Gegenstand für sei nen Witz gehabt hätte, ohne sich alsdenn eben so weit über alle andere Poeten zu schwingen.“ Quantum lenta solent inter viburna cu pressi. [] „Und daher hat auch Hales gar wohl sagen kön nen, daß man nichts gutes bey irgend einem Dichter finden müsse, welches er nicht beym Shakespear weit besser zeigen wollte et cetera [] Beaumont und Fletcher hatten, ausser dem Gebrauche den sie von Shakespears , als ih res Vorgängers, Geiste machen konnten, grosse natürliche Gaben, die durch gute Studien aus gebildet waren. Beaumont besonders war ein so genauer Kunstrichter in dem Dramatischen Theile der Poesie, daß ihm Ben Johnson , so lange er lebte, alle seine Werke zur Beur theilung unterwarf, und, wie man meint, sich seiner Einsichten nicht allein zum Ver bessern, sondern auch zum Entwerffen be
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diente. — Das erste Stück welches Flet chern und Beaumont in Ansehen brachte, war Philaster; denn vorher hatten sie zwey oder drey Stücke mit schlechtem Glücke geschrie ben, wie denn das nehmliche auch vom Ben Johnson erzehlt wird, ehe er mit seinem Every Man in his Humour zum Vorschein kam. Jhre Anlagen und Jntriguen sind meistenthels regelmäßiger als Shakespears ; besonders diejenigen, die vor Beaumonts Tode gemacht worden; sie kannten auch den Ton der großen Welt besser, und wußten die wilden Ausschwei fungen, und den geschwinden Witz im Ant worten, der den Personen aus ihr eigen ist, so vortreflich zu schildern und nachzuahmen, als noch kein Dichter vor ihnen gethan hatte. Mit der Laune, welche Ben Johnson von einzeln Personen nachschilderte, gaben sie sich nicht sehr ab; sie stellten dafür alle Leidenschaften, und be sonders die Liebe, ungemein lebhaft vor. Jch bin nicht ungeneigt zu glauben, daß in ihnen die englischeSprache zu ihrer höchsten Voll kommenheit gelangte; alle Wörter, die man seitdem darinn aufgenommen hat, sind mehr zum Ueberflusse als zur Zierde. Jhre Stücke werden itzt am häufigsten, und mit dem meisten Beyfall gespielt; durch das Jahr durch immer wenigstens zwey gegen eines von Shakespear und Johnson ; und die Ursache ist, weil in ih ren Komödien eine gewisse Lustigkeit, und in
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ihren ernsthaftern Stücken so etwas Pathetisches herrscht, das überhaupt allen Menschen gefällt. Shakespears Sprache ist zugleich ein wenig altvätrisch, und Ben Johnsons Witz kömmt dem ihrigen nicht gleich. [] Jch komme nunmehr auf Johnson . Wenn wir diesen Mann betrachten, als er noch Er war, (denn seine letzten Stücke sind Träume reyen seines Alters,) so müssen wir ihn für den gelehrtesten und vernünftigsten Scribenten hal ten, den jemals ein Theater gehabt hat. Er war der strengste Richter sowohl seiner selbst, als anderer. Man kann nicht so wohl sagen, daß es ihm an Witz gemangelt habe, als vielmehr, daß er sparsam damit umgegangen. Jn seinen Werken findet man wenig, was man auszu streichen oder zu ändern Ursach hätte. Witz, Sprache und Humor haben wir in gewissem Maaße bereits vor ihm; allein an Kunst fehlte es dem Drama noch in etwas, bis er sich da mit abgab. Er kannte seine Stärke besser und wußte sie vortheilhafter zu gebrauchen, als irgend ein Dichter vor ihm. Man wird wenig verliebte Scenen, oder wo er Affect zu erregen bemüht gewesen wäre, bey ihm finden; denn sein Geist war zu mürrisch und saturninisch, als daß es ihm damit hätte gelingen sollen, und er sahe auch wohl, daß er nach Männern ge kommen, die es in beyden zu einer mehr als gewöhnlichen Vollkommenheit gebracht hatten.
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Humor war seine eigentliche Sphäre, und in dieser war es besonders seine Lust, Handwerks leute und dergleichen vorzustellen. Er war mit den Alten, sowohl Griechen als Latei nern sehr genau bekannt, und borgte von ihnen frey und keck; es ist fast kein einziger Dichter oder Geschichtschreiber unter den römischen Scribenten, aus dem er in seinem Sejanus und Catilina nicht etwas übersetzt hätte. Er begeht aber seine Räubereyen so öffentlich, daß man deutlich sieht, er müsse durchaus keine Verurtheilung der Gesetze befürchten. Er fällt über die Autores wie ein Monarch her, und was man bey einem andern Dichter für Dieb stahl halten würde, das ist bey ihm bloß Sieg. Mit der Beute, die er diesen Scribenten abge nommen, stellt er uns das alte Rom, nach sei nen Gebräuchen, Ceremonien und Sitten, so vollständig vor, daß wenn einer vor ihm selbst diese oder jene seiner Tragödien geschrieben hätte, wir davon weit weniger bey ihm würden gefun den haben. Wenn er einen Fehler in seiner Sprache hatte, so war es dieser, daß er sie allzu dicht und mühsam in einander webte, beson ders in seinen Komödien; vielleicht romanisirte er auch ein wenig zu sehr, indem er die Worte, die er übersetzte, beynahe eben so lateinisch ließ, als er sie fand, welches sich für unsere Spra che nicht allzuwohl schicken wollte. Wenn ich ihn mit Shakespearn vergleichen wollte, so
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müßte ich sagen, daß er ein correctrer Dichter, Shakespear aber ein grösser Genie sey. Sha kespear war der Homer , oder Vater unsrer dramatischen Dichter; Johnson war der Vir gil , das Muster der sorgfältigen Ausarbeitung; ich bewundre ihn, aber ich liebe Shake spearn .“ [] Hierauf folgt die Beurtheilung des gedachten Stücks vom Johnson , die ich mir bey einer andern Gelegenheit zu Nutze machen werde. Vor itzo will ich nur die Erklärung mitnehmen, welche Dryden von dem, was die Engländer Humor nennen, giebt. Jch erinnere zugleich, daß ich Humor, wo ich das Wort übersetzen will, durch Laune gebe, weil ich nicht glaube, daß man ein bequemers in der ganzen deutschen Sprache finden wird. [] „Humor, sagt Dryden , ist die lächerliche Ausschweifung im Umgange, wodurch sich ein Mensch von allen übrigen unterscheidet. — Die Alten hatten in ihren Lustspielen sehr wenig davon, denn das γελοιον der alten griechischen Komödie, deren Haupt Aristophanes war, hatte nicht sowohl den Zweck, einen gewissen Menschen nachzuahmen, als vielmehr das Volk durch einen seltsamen Einfall, der meistentheils etwas unnatürliches oder unflätiges bey sich hatte, lachen zu machen. Zum Exempel, wenn Sokrates auf die Bühne gebracht ward, so ward er nicht durch die Nachahmung seiner
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Handlungen, sondern dadurch lächerlich ge macht, daß man ihn etwas begehen ließ, das sich für ihn gar nicht schickte; etwas so kindi sches und abgeschmacktes, daß es, mit der Ernsthaftigkeit des wahren Sokrates vergli chen, ein lächerlicher Gegenstand für die Zu schauer ward. Jn ihrer darauf folgenden neuen Komödie suchten nun zwar die Dichter, das ἠδος, so wie in ihren Tragödien das παθος des Menschen auszudrücken. Allein dieses ἠδος enthielt bloß die allgemeinen Charaktere der Menschen und ihre Sitten; als da sind alte Leute, Liebhaber, Bediente, Buhlerinnen, Schmarutzer, und andere solche Personen, wie wir sie in ihren Lustspielen finden. Und diese alle machten sie einander so ähnlich, einen Alten oder Vater dem andern, einen Liebhaber dem andern, eine Buhlerin der andern, als ob der erste alle übrigen von seiner Art erzeugt hätte: ex homine hunc natum dicas. Eben diese Gewohnheit beobachten sie auch in den Tragö dien. Was aber die Franzosen anbelangt, ob sie gleich das Wort Humeur in ihrer Sprache haben, so machen sie doch nur einen sehr gerin gen Gebrauch in ihren Komödien und Possen spielen davon, die weiter nichts als schlechte Nachahmungen des γελοιου, oder des Lächer lichen der alten Komödien sind. Bey den Engländern aber ist es ganz anders, die unter Humor irgend eine ausschweifende Gewohn
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heit, Leidenschaft oder Neigung verstehen, die, wie ich schon gesagt habe, einer Person eigen thümlich ist, und durch deren Seltsamkeit sie sich sogleich von allen übrigen Menschen unter scheidet. Wenn dieser Humor lebhaft und natürlich vorgestellt wird, so erzeugt er meisten theils das boshafte Vergnügen, welches sich durch das Lachen verräth, wie denn alle Abwei chungen von dem Gewöhnlichen am geschickte sten sind, es zu erregen. Das Lachen aber ist dabey nur zufällig, wenn nehmlich die vorge gestellten Personen fantastisch und närrisch sind; das Vergnügen hingegen ist ihm wesentlich, so wie einer jeden Nachahmung der Natur. Jn der Beschreibung dieser Humors oder Launen nun, die er an gewissen einzeln Personen be merkt hatte, bestand das eigentliche Genie und die größte Geschicklichkeit unsers Ben John sons .“ [] Zu Ende des Versuchs wird die Unterredung auf den Gebrauch der Reime in den Schauspie len gelenkt, wider welchen sich Crites mit sehr guten Gründen erklärt. „Jch bin der Meinung sagt er, daß der Reim in den Schauspielen höchst unnatürlich ist, weil die Unterredung darinn als die Wirkung des plötzlichen Den kens vorgestellt wird. Denn das Schauspiel ist eine Nachahmung der Natur; und da nie mand, ohne vorhergegangene Ueberlegung, in Reimen spricht, so muß es auch auf der Bühne
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niemand thun. Die Reden und der Ausdruck können zwar erhabner seyn, als sie im gemeinen Leben zu seyn pflegen; denn es ist nicht unwahr scheinlich, daß ein Mann von vortreflichen und allezeit bereitem Geiste, sehr edle Dinge ex tempore sagen kann. Allein diese edeln Din ge werden doch niemals in Sylbenmaaß und Reime gefesselt seyn, ohne daß er darauf stu diret hat. — Und wenn man einwenden wollte, daß man auch ungereimte Verse nicht aus dem Stegreife mache, so sind sie doch deswegen vorzuziehen, weil sie der Natur am nächsten kommen.“ [] Er wendet hierauf zwey Gründe, die man für den Reim hat brauchen wollen, wider den selben sehr geschickt an. „Man giebt zwar vor, sagt er, das die Geschwindigkeit der Antwor ten in den Scenen, wo Gründe gegen Gründe gesetzt werden, durch den Reim eine besondre Zierde erlange. Allein was kann man ich<sich> schwerer einbilden, als daß ein Mensch nicht allein auf den Witz, sondern in der Geschwin digkeit auch auf den Reim denken werde? Jn des andern Sylbenmaaß so einzufallen, daß sich am Ende auch ein ähnlicher Schall mit dem Vorhergehenden findet, ist so ein ausser ordentliches Glück, daß man die Personen des Stücks wenigstens alle für gebohrne Poeten halten muß; Arcades omnes & cantere pa res & respondere parati; sie müssen die Fer
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tigkeit des Quicquid conabar dicere erlangt haben; sie müssen Verse machen können, sie mögen wollen oder nicht et cetera [] Ferner, sagt man, soll der Reim eine all zu flüchtige und schwelgerische Einbildungskraft zurückhalten und einschränken, die sich sonst über jede Gegenstände allzuweit ausbreiten würde, wenn ihr nicht die Mühe, welche gute gereimte Verse erfordern, Grenzen setzte. Al lein wenn man diesen Grund schon zugeben wollte, so würde er doch nur beweisen, daß man in gereimten Versen besser, aber nicht natürlicher schreiben könne. Und auch dieses läßt sich noch nicht behaupten; denn derjenige dem es an Beurtheilungskraft fehlt, seine Ein bildung in ungereimten Versen im Zaume zu halten, dem wird sie auch sicherlich in gereim ten Versen mangeln; und wer sie hingegen be sitzt, der wird den Fehler der Ausschweifung in beyden Arten zu vermeiden wissen. Die la teinischen Verse waren der Einbildung ihrer Dichter ein eben so guter Zaum, als der Reim für unsere Dichter ist; und dennoch siehet man, daß Ovidius fast von allen Dingen zu viel sagt. Nescivit, sagtSeneca, quod bene ces sit, relinquere; wovon er uns das bekannte Beyspiel aus seiner Beschreibung der Wasser fluth giebt:“ Omnia pontus erat, deerant quoque litora Ponto.
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[] Neander sucht auf diese Gründe verschiednes zu antworten. Er erinnert besonders gegen den letzten Grund, daß Crites das Wort Beurthei lungskraft allzu unbestimmt genommen habe. „Freylich, sagt er, wird ein Dichter von einer so tiefen, so starken, oder vielmehr so untrieglichen Beurtheilungskraft, daß er durchaus keiner fremden Hülfe, sie aufrecht zu erhalten, bedarf, niemals Fehler begehen, er mag in Reimen oder ohne Reime schreiben. Und derjenige Gegentheils, der eine so schwache und armselige Beurtheilungskraft hat, daß sie durch kein Hülfsmittel zu bessern oder zu stärken ist, wird elend ohne Reime, und noch weit elender in Reimen schreiben. Allein jene Beurtheilungs kraft ist nirgends zu finden, und diese dienet zum Schreiben überhaupt nicht. Von der Beurtheilungskraft also zu sprechen, wie sie bey den besten Dichtern anzutreffen ist, so ha ben auch diejenigen, die das reichste Maaß da von besitzen, noch andre Hülfsmittel außer ihr, vonnöthen. Wollten Sie zum Exempel wohl sagen, daß ein Mann von gesunder Beurthei lungskraft, weder Historie, noch Geographie noch Moral, um richtig zu schreiben, brauche? Die Beurtheilungskraft ist zwar der vornehm ste Werkmeister bey Verfertigung eines Schau spiels; er hat aber noch viel andere unterge ordnete Mitarbeiter, noch eine Menge Werk zeuge nöthig; und hierunter, behaupte ich, ist
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auch der Reim mit zu rechnen. — Kurz, rei men ist zwar die langsamste und beschwerlichste, aber doch die sicherste Weise zu arbeiten.“ Neander ist Dryden selbst, wie er nicht undeutlich zu verstehen giebt. Er hatte die wenigen Stücke, die er damals noch für die Bühne gemacht hatte, alle gereimt, und er ver theidiget also seine eigene Sache, indem er dem Reime das Wort spricht. Sobald er aber mehr und geschwinder zu schreiben, durch äusserliche Umstände gezwungen ward, setzte er seine Theorie bey Seite, und opferte, wie wir in der Folge sehen werden, den widerspänstigen Reim reellen Vortheilen auf. Die Fortsetzung in dem nächsten Stücke.


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