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Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften
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Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften

Aus dem Spanischen übersetzt

von Gotthold Ephraim Leßing

Zweyte verbesserte, mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrte Auflage

von Johann Jakob Ebert Prof. der Mathem.

Wittenberg und Zerbst bey Samuel Gottfried Zimmermann

1785.

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Vorrede des Uebersetzers.

Von den spanischen Gelehrten werden wenige unter uns so bekannt seyn, als Johann Huarte, nicht so wohl nach seiner Person, als nach seinem Werke, dessen Uebersetzung wir hier liefern. Denn in Ansehung jener trift der Aus spruch des Seneca, oder wenn man ihn lieber einem Franzosen zuschreiben will, des Herrn de la Bruyere, auch an ihm ein: viele kennt man, undviele sollte man kennen. Unzählige Halbgelehrte haben sich mit ihren Geburts tägen und Sterbestunden, mit ihren Weibern und Kindern, mit ihren Schriften und Schrift
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chen in die Register der Unsterblichkeit einge schlichen; nur einen Mann, der über die Gren zen seines Jahrhunderts hinaus dachte, der sich mit nichts gemeinem beschäftigte, und kühn genug war, neue Wege zu bahnen, findet man kaum dem Namen nach darinnen, da doch die geringsten seiner Lebensumstände auf den und jenen Theil seines Werks ein sehr artiges Licht werfen könnten. Unterdessen können gleichwohl meine Leser mit Recht von mir ver langen, ihnen davon so viele mitzutheilen, als sich hier und da auftreiben lassen. Jch will es thun; man schreibe mir es aber nicht zu, wenn sie nur allzutrocken und unzulänglich scheinen sollten. Johann Huarte wurde zu St. Jean Pie de Port, einer kleinen Stadt in dem nie dern Navarra, an dem Flusse Neve, gebohren. Dieser Umstand ist gewiß, weil er sich selbst auf dem Titel seines Werks natural de sant Juan del pie del Puerto genannt hat. Seine Geburtszeit ist desto ungewisser; und Anto nius in seiner spanischen BiblothekBibliothek weiß selbst nichts mehr zu sagen, als daß er um 1580 gelebt habe. Wer sie ein klein wenig näher wissen will, der begnüge sich mit folgender Muthmassung. Das Bücherschreiben, sagt er gleich im Anfange dieses Werks, sollte man
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bis in dasjenige AltetAlter versparen, in welchem der Verstand alle diejenige Stärke erlangt hat, deren er fähig ist. Er setzt dieses Alter zwi schen das ein und dreyßigste bis zum ein und funfzigsten Jahre. Wenn man nun glaubt, wie man es mit größter Wahrscheinlichkeit glauben kann, der, welcher diese Regel giebt, werde sie selbst beobachtet haben, so kann man von dem Jahre 1566, in welchem er dieses sein einziges Werk zum erstenmale herausgegeben hat, zurückgerechnet, unmaß geblich behaupten, daß er gegen das Jahr 1520 gebohren sey. Und wenn man sich auf die Umstände dieser Zeit und der vorhergehen den Jahre besinnt; so wird es nicht schwer fallen, eine wahrscheinliche Muthmassung an zugeben, wie unser Huarte als ein Spanier, ausser seinem Vaterlande, zu St. Jean Pie de Port, welches itzt der Krone Frankreich zustehet, damals aber zu dem Königreiche Navarra gehörte, sey gebohren worden. Wer weiß nämlich nicht, daß um das Jahr 1512 der König von Spanien, Ferdinandus Katholi cus, den päbstlichen Bann an dem Könige Johannes Labretanus vollzogen, und sich in den Besitz des ganzen Königreichs Navarra gesetzt hat? Wie leicht kann es also nicht seyn, daß die Aeltern unsers Huarts mit der spani schen Armee in diese Gegend kamen?
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Daß er in Alcala de Henares studirt habe, ist aus dem einigermassen zu schliessen, was er von dem Leichenredner des Antonius Nebrissensis erzehlt; ob es gleich nach dem Jahre, welches wir unterdessen für sein Ge burtsjahr angenommen haben, nicht wohl möglich ist, daß er selbst könne dabey gewesen seyn, indem Antonius schon 1522 gestorben ist. Er mag nun aber hier, oder in Salaman ca studirt haben, so ist es doch gewiß, daß er sich besonders der Arzneykunst gewidmet, und in dieser Facultät die Würde eines Doctors angenommen hat. Er hat hierauf practicirt und sich größten Theils in Madrid aufgehal ten, wo er ohne Zweifel auch gestorben ist. Von der Zeit seines Todes aber weiß ich nichts, als daß er um das Jahr 1590 nicht mehr gelebt hat. Und das ist es alles, was ich von seinem Leben sagen kann. Eine Kleinigkeit will ich noch beyfügen, welche wenigstens ihres Lächer lichen wegen, angemerkt zu werden verdienet. Huarte hat das Unglück gehabt, unter die Wahnwitzigen gerechnet zu werden, und zwar von dem D. Seligman, welcher in seiner sciagraphia virium imaginationis von ihm schreibt: Huartus, Hispanus, se regem in delirio arbitratus prudentissimos de
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regimine faciebat discursus. Diesen wunderlichen Jrthum zu widerlegen, darf ich den Leser nur auf das verweisen, was Hu arte auf der 56 Seite von einem wahnwitzi gen Pagen erzehlt; und sogleich wird man ohne mein Erinnern sehn, daß der, welcher er zählt, mit dem, von welchem erzählt wird, ent weder von dem D. Seligman selbst, oder dem le Grand, auf dessen natürliche Geschichte er sich beruft, sey verwechselt worden. So wenig ich von des Huartes Leben zu sagen gehabt, so viel würde ich von seinem Werke sagen können, wenn es die Zeit und die Grenzen einer Vorrede erlaubten. Er hat es in seiner Sprache Examen de Ingenios para las sciencias überschrieben. Jn Deutsch land ist es unter dem Namen Scrutinium ingeniorum bekant geworden. Dieses näm lich ist der Titel der lateinischen Uebersetzung, welche Joachim Cäsar, oder, wie er sich durch die Buchstabenversetzung nennt, Aeschacius Major, 1612 herausgegeben. Dieser Mann hat seine Sachen allzugut machen wollen, in dem er die spanischen Ausgaben, so viel er deren habhaft werden können, nicht allein mit einander vergliechen, sondern auch alle zu gleich zum Grunde seiner Uebersetzung gelegt hat. Huarte war einer von denjenigen Ge
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lehrten, welche von ihren Schriften niemals die Hand abzuziehen wissen. So oft seine Prüfung aufgelegt wurde, so oft sah sich die eine Ausgabe der andern fast nicht mehr ähn lich. Er änderte, er strich aus, er zog ins Enge, er setzte hinznhinzu. Anstatt nun, daß sich der lateinische Uebersetzer bloß nach der letzten Ausgabe hätte richten sollen, so hat er alle in eine zusammen geworfen, und an den meisten Orten das Werk so dunkel, verwirrt, und widersprechend gemacht, daß man es nicht anders als mit Ekel lesen kann. Darf man sich also wundern, daß er sich durch dieses Verfahren so gar in den Verdacht gesetzt, als habe er sein Original verfälscht, und von dem seinigen vieles hinzugesetzt? Jch würde ihm über dieses noch Schuld geben, daß er an unzählichen Orten den Sinn des Spaniers verfehlt habe, wenn man dieses nicht für ei nen Kunstgrif, meiner Arbeit dadurch einen Vorzug zu geben, ansehen möchte. Wenig stens aber wird mir dieses zu sagen vergönnt seyn, daß eine von den vornehmsten Ursachen, warum ich mich an eine deutsche UabersetzungUebersetzung gemacht, eben der geringe Werth der lateini schen, an der man sich bisher hat müssen be gnügen lassen, gewesen sey. Das Buch an sich selbst hat seine Vortreflichkeit noch nicht verloren, ob gleich die Art zu philosophiren,
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welche man darinnen antrifft, itzt ziemlich aus der Mode gekommen ist. Es ist immer noch das einzige, welches wir von dieser Ma terie, deren Einfluß in die ganze Gelehrsam keit ganz unbeschreiblich ist, haben. Und so gewiß es ist, daß Väter und Lehrer unzählige Wahrheiten, welche viel zu fein sind, als daß sie durchgängig bekannt seyn sollten, daraus lernen können, so gewiß ist es auch, daß man mir nicht etwas überflüßiges gethan zu haben vorwerfen kann. Wenn übrigens Huarte auf der 88. Seite dieses Werks behauptet, daß es nur den gros sen und erfindenden Genies erlaubt seyn sollte, Bücher zu schreiben, so muß er sich ohne Zweifel selbst für ein solches gehalten haben. Sollte man ihn nun nach seinen eignen Grund sätzen beschreiben, so würde man von ihm sa gen müssen: er ist kühn, er verfährt nie nach den gemeinen Meynungen, er beurtheilt und treibt alles auf eine besondere Art, er entdeckt alle seine Gedanken frey, und ist sich selbst sein eigner Führer. Man weiß aber wohl, daß solche Geister auch auf unzählige Para doxa verfallen; und der billige Leser wird sich
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deren eine ziemliche Anzahl auch hier anzutref fen, nicht wundern. Man überlege das Jahrhundert des Verfassers, man überlege seine Religion, so wird man auch von seinen Jrthümern nicht anders als gut urtheilen können. Mit den allzugroben aber, welche so beschaffen sind, daß sie bey der itzt weit erleuchtetern Zeit gleich in die Augen fallen, und daher der Kürze wegen hier übergangen werden, wird man Mitleiden haben. Jch vergleiche ihn übrigens mit einem muthigen Pferde, das niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert.
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Vorrede zur neuen Auflage.

Das Buch des Huarte hat, ungeach tet seiner Mängel, auch in Deutsch land unter den Gelehrten so viel Lieb haber gefunden, daß sie aus Mangel an Exemplaren nicht mehr befriediget werden konnten, und in einigen Gegen den ausdrücklich eine neue Aufiage ver langt wurde; wozu sich auch der Herr Verleger sogleich entschloß. Nur wä re es zu wünschen gewesen, daß der sel. Leßing diese neue Auflage noch selbst hätte besorgen koenen. Denn wie könnte ich mir zutrauen, dasjeni
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ge geleistet zu haben, was dieser scharf sinnige Mann in seinen ältern Jahren gewiß geleistet haben würde, da er die se Uebersetzung, wovon die erste Ausga be schon 1752 herauskam, noch als ein sehr junger Mann verfertiget, und da mals wahrscheinlicher Weise nicht viel Zeit übrig gehabt hat, oder vielleicht durch andere Umstände abgehalten wor den ist, seiner Uebersetzung einige An merkungen beyzufügen. Jch habe die ses auf Verlangen des Herrn Verle gers gethan, und diejenigen Materien, die für eigentliche Anmerkungen zu weit läuftig gewesen wären, in besondern Zusätzen abgehandelt. Doch wird der Leser gar bald sehen, daß ich nicht über all Anmerkungen oder Zusätze gemacht habe, wo man Ursache hat, anderer Mey nung zu seyn, als Herr Huarte; weil heut zu Tage, nachdem die medicinischen Wissenschaften zu einer weit grössern Vollkommenheit gebracht worden sind, als sie in den ältern und zu Huarts Zeiten hatten, die offenbaren Jrthümer und Grillen der alten griechischen Aerzte, auf welche Huarte so viel baut, und wodurch er seine eigenen sonderbaren Einfälle un terstüzt, wohl von selbst einem jeden in die
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Augen fallen, und nicht leicht jemanden verführen werden. Da aber vom Ver fasser selbst hin und wieder Anmerkun gen vorkommen, so muß ich noch bemer ken, daß diese durch das Zeichen* von den meinigen unterschieden worden sind, zu denen ich allemal das Zeichen † und noch überdieses den Buchstaben E. ge setzt habe. Das 15te Hauptstück, wel ches der V. für das wichtigste hält, hätte ich gern weggelassen, wenn ich nicht besorgt hätte, daß einige Leser die se Weglassung sehr möchten. Von den Lebensumständen kann ich meinen Lesern nichts mehr sagen, als Leßing schon in seiner Vorrede ange führt hat, ungeachtet ich nicht nur selbst alles durchgesucht habe, was ich hier durchsuchen konnte, sondern auch von zwey würdigen Männern in Leipzig mit Auszügen aus verschiedenen Schriften unterstützt worden bin. Man läßt sich aber nirgends auf ausführliche biogra phische Nachrichten ein, sondern redet nur von der Schrift des Huarte, und von den verschiedenen Ausgaben und
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Uebersetzungen. Unter den lateinischen wird in dem Dict. hist. de la Medicine diejenige für die beste erklärt, die Ant. Possevin herausgegeben hat. Die franz. Uebersetzung, die von Gabr. Chappuis herrührt, hat den Titel: Anacrise ou parfait jugement et examen des esprits propres auxsciences. Eine Kritik über das Huartesche Werk hat Jourdain Guibelet herausgegeben, unter der Auf schrift: Examen de l'examen des esprits. Paris 1631. Auch macht sich Morhof in seinem Polyhist. Tom. I. Lib. II. Cap. I. §. 6. über die Vorschläge des Hrn. Huarte zur Erzeugung kluger Kinder sehr lustig. Wittenberg an der Ostermesse 1785.
Johann Jakob Ebert.
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Der Verfasser an den Leser.

[] Wenn die Werke der Künstler die Voll kommenheit erlangen sollten, wel che dem gemeinen Besten, am dienlichsten wäre; so dächte ich, sollte man ein Gesetz geben, daß kein Zimmermann dem Ackers manne, kein Weber dem Baumeister in das Handwerk greifen dürfe; daß es keinem Ju risten, zu kuriren, und keinem Arzte, Processe zu führen, erlaubt sey; sondern daß jeder nur diejenige Kunst, mit Ausschliessung aller an dern, treiben müsse, zu der er ein natürliches Geschick habe *). Denn da das menschliche 1
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Genie so schwach und eingeschränkt, und nicht mehr als zu einer Sache aufgelegt ist; so ha be ich allezeit geglaubt, daß es kein Mensch in zwo Künsten zur Vollkommenheit bringen könne, ohne in einer zu fehlen. Damit aber niemand in der Wahl derjenigen Beschäfti gung, die seiner Natur am gemässesten ist, ir ren könnte, so sollten in der Republik Leute von grosser Weisheit und Klugheit bestellt seyn, welche eines jeden Genie in dem zartesten Al ter entdeckten, und ihn mit Gewalt in der Wis senschaft, die sich für ihn schickte, anhielten, oh ne seiner eigenen Wahl dabey etwas zu über lassen. Der Nutzen, der in einem so eingerich teten Staate daraus erfolgen müßte, würde dieser seyn, daß er die größten Künstler in der Welt, und die allervollkommensten Kunstwer ke haben würde, bloß, weil seine Bürger die Kunst mit der Natur verbänden. [] Ein gleiches wollte ich auf den hohen Schulen unsers Königreichs beobachtet wis sen. Man sollte es durchaus nicht erlauben, daß ein Studirender zu irgend eine Wissen
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schaft schreiten dürfe, wenn er nicht vorher in der lateinischen Sprache erfahren wäre. Es sollten hernach gewisse Lehrer bestellt werden, die es untersuchen müßten, ob der, welcher die Dialektik, die Weltweißheit, die Arzney kunst, die Gottesgelahrheit, oder die Rechte studiren wolle, das Genie habe, welches je de von diesen Wissenschaften erfordert. Denn ausser dem Schaden, der dem Staate aus der Ausübung einer schlecht erlernten Kunst oder Wissenschaft entspringt, ist es etwas recht er barmenswürdiges, wenn man einen Menschen arbeiten, und sich über eine Sache den Kopf zerbrechen sieht, in der er es unmöglich zu et was bringen kann *). Eben dadurch, weil man diese Behutsamkeit unterlassen hat, ist in unsern Tagen die christliche Religion von Männern verwirrt worden, welche kein Ge nie zur Theologie hatten. Gleichfalls ist die Gesundheit der Menschen in nicht geringer 2
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Gefahr, da sich Leute die ganz ungeschickt zur Medicin sind, damit abgeben. Auch die Rechtsgelahrheit hat die Vollkommenheit nicht, die sie haben könnte, weil man nicht weiß, welcher vernünftigen Vermögenheit die gute Auslegung und Anwendung der Gesetze zu komme. Alle alte Weltweisen kommen dar innen überein, und die Erfahrung lehrt es, daß, wenn die Natur den Menschen nicht zu den Wissenschaften geschickt macht, aller Fleiß, den man auf die Erlernung ihrer Regeln wen det, vergebens sey. Keiner von ihnen aber hat es deutlich zu erklären gewußt, was das für eine Natur sey, die den Menschen zu ei ner Wissenschaft fähig und zu einer andern unfähig macht. Keiner hat es bestimmt, wie viel Arten des Genies in dem menschlichen Geschlecht anzutreffen sind, und welche Künste und Wissenschaften einer je den davon zukomme. Keiner, welches das Hauptwerk ist, hat uns die Merkmahle, wor an man diese Verschiedenheiten erkennt, an gegeben.
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[] Auf diesen vier Stücken, so unmöglich sie scheinen, beruht die ganze Materie, die wir in diesem Werke abhandeln; doch aber wird man auch sehr viel andre Sachen darin nen finden, welche mit unserm Vorhaben, die Väter die Kunst zu lehren, wie sie das Genie ihrer Söhne erkennen und es zu der Wissen schaft anhalten sollen, die ihm eigentlich zu kömmt, einige Verwandschaft haben. Dieses ist es, was ein Dämon, *) wie Galenus erzehlt, seinem Vater beygebracht haben soll, da er ihm im Schlafe den Rath gegeben, seinen Sohn die Arzneykunst lernen zu lassen, weil er zu dieser Wissenschaft ein ganz besondres Genie habe. Hieraus nun kann man sehen, wie dienlich es der Republick seyn würde, wenn sie eine Prüfung der Köpfe zu den Wissen schaften anstellte; da aus dem einzigen Falle, daß Galenus die Medicin studirte, so viel Vortheile nicht nur auf die Kranken seiner 3
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Zeit, sondern auch aller nachfolgenden Zeiten, denen er die Hülfsmittel schriftlich hinterließ, flossen. Wenn hingegen Baldus, dieser grosse Mann in der Rechtsgelahrsamkeit, *) die Me dicin zu studiren fortgefahren hätte; so würde er Zeitlebens ein sehr mittelmäßiger Arzt, wie er es schon war, geblieben seyn, weil ihm das Ge nie fehlte, welches die Arzneykunst erfordert: die Rechte aber würden an ihm einen Mann verlohren haben, der eine von den größten Geschicklichkeiten, sie auszulegen, besaß. 4
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Einleitung.

[] Wenn Plato eine wichtige, schwere, und wider die Meynung des Pö bels laufende Lehre vortragen wollte, so wählte er von seinen Schülern die jenigen, welche ihm das beste Genie zu haben schienen; und diesen allein theilte er seine Ge danken mit: denn er wußte aus der Erfah rung, daß der, welcher Leuten von einem nie drigen Verstande schwer zu begreifende Wahr heiten beybringen wollte, seine Zeit verliere, den Kopf sich umsonst zerbreche, und die Lehre schände. Das zweyte, was er nach dieser Wahl that, war, daß er gewisse wahre und deutliche Sätze voraus schickte, die seine Zuhörer den Folgerungen, die er daraus ziehen wollte, ganz nahe brachten: denn die Aussprüche und Meynungen, die den gewöhnlichen Begriffen des Pöbels zuwider laufen, wenn sie unver muthet vorgetragen werden, dienen anfangs zu weiter nichts, als daß sie die Zuhörer, welche man nicht darauf vorbereitet hat, verwirren, und sie endlich so verdrüßlich machen, daß sie die Hochachtung gegen den Lehrenden verlie ren, und seinen Vortrag verabscheuen. [] Jch wünschte, neugieriger Leser, daß ich auf eben diese Art auch mit dir verfahren könn te. Jch wollte, daß ich anfangs das Talent
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deines Genies entdecken und untersuchen könnte, damit ich dich, wenn es so beschaffen wäre, als es die gegenwärtige Lehre erfordert, von den gemeinen Genies absondern, und dir im Geheim solche neue und so besondre Wahrhei ten entdecken könnte, als du nimmermehr ge glaubt hast, daß sie einem Menschen in den Sinn kommen könnten. Da aber dieses nicht angeht, indem dieses Werk zum allgemeinen Gebrauch an das öffentliche Licht treten soll, so werde ich dich freylich nicht anders als stu tzig machen können. Denn bist du eines von den gemeinen und pöbelhaften Genies, so wirst du dir, wie ich gar wohl weiß, die Mey nung nicht benehmen lassen, daß schon vor lan ger Zeit von den Alten die Wissenschaften insgesammt erfunden und zur Vollkommenheit wären gebracht worden; und zwar aus dem seichten Grunde: weil in den Gegenständen selbst seitdem nichts neues vorgefallen sey, so könne man auch nichts mehr davon sagen, als das, was sie schon gesagt hätten. Wenn du also vielleicht diese Meynung hegen solltest, so bleib nur hier stehen, und erspare dir die Mü he weiter zu lesen; weil du nur das Mißver gnügen haben möchtest, in der Folge bewiesen zu sehen, was du für ein elendes Genie ha best. Bist du aber verständig, überlegend und geduldig, so will ich dir drey vollkommen rich tige Grundsätze sagen, welche wegen ihrer Neuigkeit deine Bewunderung verdienen. Der
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erste ist dieser: von allen verschiednen Gat tungen des Genies, die unter dem menschli chen Geschlechte Statt haben können, kannst du nur eine einzige vorzüglich besitzen; die Natur müßte denn zur Zeit, als sie dich bil dete, sehr stark gewesen seyn, und alle ihre Kräf te zusammen genommen, und dir deren zwey oder drey gegeben haben; oder sie müßte ganz und gar ohnmächtig gewesen seyn, daß sie dich dumm und von allen Arten des Genies ins gesammt entblößt gelassen hätte †). Der zweyte ist dieser: einer jeden Gattung des Genies ist nur eine einzige WissenfchastWissenschaft vorzüglich gemäß; so daß, wenn du nicht gleich diejenige wählest, welche sich zu deiner natürlichen Fähigkeit schickt, du es in allen übrigen zu nichts bringen wirst, wenn du auch Tag und Nacht darüber studiertest. Der dritte ist dieser: wenn du nun entdeckt hast, welche Wissenschaft deinem Genie am ge mässesten sey, so ist noch eine Schwierigkeit übrig, die Schwierigkeit nämlich auszuma chen, ob sich deine Fähigkeit mehr zur Theo= 5
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rie als zur Ausübung dieser Wissenschaft schickt; denn diese zwey sind in allen Thei len der Gelehrsamkeit einander so entgegen, und erfordern so verschiedne Genies, daß ei nes das andere schwächt, als ob sie in der That von ganz widriger Natur wären. Diese drey Sätze, †) ich bekenne es selbst, klingen hart: doch andre Sachen sind noch schwieriger und noch schwerer zu begreifen, die man gleichwohl nicht in Zweifel ziehen oder gar verwerfen darf. Denn da GOtt der Urheber der Natur war und sahe, daß diese, wie ich oben gesagt, dem Menschen nur eine Gattung des Genies, we gen der untereinder streitenden Beschaffenhei ten derselben, geben könne; so bequemte er sich nach ihr, und theilte auch von den übernatür lichen Gnadengaben einem Menschen nicht mehr, als eine in einem hohen Grade mit. Es sind mancherley Gaben, aber es ist ein Geist. Es sind mancherley Aemter, aber es ist ein Herr. Und es sind man cherley Kräfte, aber es ist ein GOtt, der da wirket alles in allen. Jn einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des Geistes zum gemeinen Nutz. Einem wird gegeben durch den Geist zu reden von der Weis heit, dem andern wird gegeben zu reden 6
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von der Erkenntniß, nach demselbigen Geist. Einem andern der Glaube in demselbigen Geist; einem andern die Gabe gesund zu machen, in demselbigen Geist. Einem an dern Wunder zu thun, einem andern Weis sagung, einem andern Geister zu unterschei den, einem andern mancherley Sprachen, einem andern die Sprachen auszulegen. Dieß aber alles wirkt derselbige einige Geist, und theilt einem jeglichen seines zu, nachdem er will. (1. Corinth. XII.) [] Diese Eintheilung der Wissenschaften beob achtet GOtt ohne Zweifel nach Maßgebung des Genies und der natürlichen Fähigkeit; weil auch dort in dem Gleichnisse die Cent ner (Matth. XXV.) einem jeden nach sei nem Vermögen zugetheilet wurden. Es ist daher ein sehr grosser Jrrthum, wenn man glaubt, diese übernatürlichen Gnadengaben er forderten, ehe sie mitgetheilet würden, keine ge wisse Eigenschaften des Subjects. Denn als GOtt den Adam und die Eva bildete, hat er unwidersprechlich, ehe er ihnen die Weisheit beylegte, erst ihr Gehirn so organisirt, daß es derselben fähig seyn, und der vernünftigenSee le ein bequemes Werkzeug zum Schliessen und Ueberlegen werden könnte. *) An dem Bey spiele dieser ersten Aeltern siehet man es ganz 7
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deutlich, daß G O T T dem Menschen diese und keine andre Gabe, in diesem und keinem anderm Grade ertheilt, als es sein Genie er fordert; weil er zwar beyden Weisheit gab, der Eva aber offenbar weniger als dem Adam. Die Gottesgelehrten behaupten daher, daß der Teufel eben deswegen sich an das Weib, und nicht an den Mann, vor dessen Weisheit er sich fürchten mußte, gemacht habe. **) Die Ursache aber, wie wir in der Folge dieses Werks beweisen werden, ist diese, weil die na türliche Beschaffenheit des Gehirns einer Weibsperson keines grossen Genies und kei ner grossen Weisheit fähig seyn kann. [] Auch mit dem Wesen der Engel hat es gleiche Bewandniß: denn wenn GOtt einem Engel einen höhern Grad der Herrlichkeit und vorzüglichere Gaben hat geben wollen, so muß er ihm vorher eine feinere Natur gegeben ha ben. Und wenn man die Gottesgelehrten fragt, zu was diese feinere Natur nütze, so ant worten sie, daß derjenige Engel, welcher einen grössern Verstand und eine bessre Natur habe, sich leichter zu GOtt wenden und seine Gaben nachdrücklicher brauchen könne; nicht anders als es bey den Menschen zu geschehen pflege. 8
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[] Wenn nun zu den übernatürlichen Gna dengaben eine Wahl der Genies erfordert wird, und nicht eine jede Art des Genies ein bequemes Werkzeug für dieselben ist: so folgt unwidersprechlich daraus, daß die menschlichen Wissenschaften noch weit eher diese Wahl nö thig haben, weil diese der Mensch durch die eignen Kräfte seines Geistes erlernen muß. [] Die Natur und verschiednen Gattungen des menschlichen Genies nun gehörig zu be stimmen, und einer jeden diejenige Wissen schaft anzuweisen, welche ihr vorzüglich zu kömmt, ist die Absicht des gegenwärtigen Werks. Bin ich darinnen so glücklich, als ich wünsche, so gehöret GOtt allein die Ehre; weil allein von ihm Wahrheit und Gewißheit kömmt. Bin ich es aber nicht, so wirst du, billiger Le ser, bedenken, daß es eine Unmöglichkeit ist, ei ne Kunst zugleich erfinden und vollkommen zu machen: weil die menschlichen Wissenschaften sich so weit erstrecken, daß eines Menschen Le ben nicht zureicht, sie zu entdecken, und ihnen auch zugleich alle Vollkommenheiten, die sie haben sollten, zu geben. Genug, wenn der er ste Erfinder verschiedne merkwürdige Grund sätze an die Hand gegeben hat, welche seinen Nachfolgern Gelegenheit geben können, die Kunst zu erweitern, und sie so einzurichten, wie sie eigentlich eingerichtet werden sollte. Hierauf zielt Aristoteles, wenn er sagt, daß man die Jrrthümer derjenigen, welche zuerst zu
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philosophiren angefangen hätten, sehr hoch achten müsse; weil es sehr schwer sey, neue Sachen zu erfinden, hingegen sehr leicht, etwas zu dem schon erfundenen hinzuzusetzen. Die Fehler des Er finders verdienen also nicht sehr getadelt, noch die Zusätze seiner Nachfolger sehr gelobt zu wer den. †) Jch will es ganz gern gestehen, daß in diesem meinem Werke einige Fehler vielleicht mit untergelaufen sind; weil die Materie all zu fein ist, und ich mir selbst die Bahn bre chen mußte. Sollten sie sich aber nur in den jenigen Stücken befinden, wo der menschliche Verstand zu muthmassen berechtiget ist, so bit te ich dich, scharfsinniger Leser, vorher das gan ze Werk zu lesen und dein eigen Genie zu erforschen. Findest du nun etwas, was dei nem Bedünken nach unrichtig ist, so untersu che mit Fleiß die Gründe, die dich am meisten darwider aufbringen; und kannst du sie nicht auflösen, so lies nochmals das zwölfte Haupt stück, worinnen du ganz gewiß die Antwort darauf finden wirst. Lebe wohl! 9
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Erstes Hauptstück. Worinnen durch ein Beyspiel gezeigt wird, daß, wenn der Knabe nicht die Fä higkeit besitzt, welche zu der Wissenschaft, der er sich widmet, erfordert wird, alles vergebens ist, ob er schon die besten Lehr meister höret, viel Bücher besitzt, und seine ganze Lebenszeit darüber zubringt.

[] Cicero glaubte zwar, um seinen Sohn Mar cus in demjenigen Theile der Gelehrsam keit, welchen er sich erwählet hatte, so weit zu bringen, als er es wünschte, sey es schon genug, wenn er ihn auf eine so bekannte und durch die ganze Welt so berühmte Hoheschule schickte, als Athen war; wenn er ihm den Kratippus, den größten Weltweisen seiner Zeit, zum Lehrmei ster gäbe, und ihn seinen Aufenthalt in einer
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so volkreichen Stadt nehmen liesse, wo ihm we gen des grossen Zusammenflusses von allerley Leuten, die daselbst anlangten, nothwendig viel Beyspiele und besondre Fälle vorkommen müß ten, die ihn durch die Erfahrung verschiednes lehren würden, was mit der Wissenschaft, auf die er sich legte, einige Verwandschaft haben könnte. Dieser und vieler andern Vorsorgen aber ungeachtet, die er als ein guter Vater für ihn trug, da er ihm Bücher schafte, und sogar selbst für ihn schrieb, erzählen die Geschicht schreiber, daß nichts aus ihm geworden sey; daß er wenig in der Beredsamkeit, und noch weniger in der Weltweisheit gethan habe; wie es denn ein sehr gemeines Schicksal unter den Menschen ist, daß der Sohn den grossen Ver stand des Vaters bezahlen muß. Jn der That konnte sich Cicero zwar einbilden, daß, obgleich sein Sohn aus den Händen der Natur das Ge nie und die Fähigkeit nicht bekommen habe, welche die Beredsamkeit und Weltweisheit er fordern, durch den redlichen Fleiß eines solchen Lehrmeisters, durch viele Bücher und viele Bey spiele in Athen, durch ununterbrochene Bemü hungen des Jünglings mit der Zeit den Fehlern seiner Seelenkräfte würde können abgeholfen wer den. Am Ende aber sehen wir, daß er sich geirrt habe; worüber ich mich aber gar nicht verwundre, weil er nicht wenig Beyspiele vor Augen hatte, die ihn zu hoffen verleiteten, es könne ein gleiches auch mit seinem Sohne ge
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schehen. Er selbst, Cicero, erzählet, (in seinem Buche vom Schicksale) daß Xenokrates ei nen sehr unlehrsamen Kopf, sowohl zur morali schen als natürlichen Weltweisheit, gehabt habe, so daß Plato von ihm gesagt, dieser sein Schü ler bedürfe der Sporen: gleichwohl wurde er durch den redlichen Fleiß seines Lehrmeisters und durch seinen eigenen unablässigen Eifer ein sehr grosser Weltweise. Eben derselbe führt auch das Beyspiel des Kleantes an, welcher so dumm und ungeschickt gewesen seyn soll, daß ihn kein Lehrmeister in seine Schule habe nehmen wol len; der dadurch empfindlich beschämte Knabe aber habe hierauf so eifrig zu studiren angefangen, daß er endlich der zweyte Herkules in der Gelehrsamkeit sey genannt worden. Eben so ungeschickt schien das Genie des Demosthenes†) zur Beredsamkeit, da er als ein erwachsener Jüngling, wie man sagt, noch nicht einmal recht reden konnte. Besonders, wie Cicero erzählt, konnte er das R nicht aus sprechen, weil er ein wenig lispelte. Durch sei nen Fleiß aber lernte er es endlich so wohl ausspre 10
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chen, als wenn er niemals diesen Fehler gehabt hätte. Daher kömmt das Sprichwort, welches ungefähr sagt: es sey mit dem Genie des Menschen zu den Wissenschaften, wie mit einem, der im Brete spielet; wenn der Wurf unglück lich ist, so muß er ihn durch eine geschickte Se tzung erträglich zu machen, und also sein schlech tes Glück zu verbessern wissen. Doch keines von den Beyspielen, welche Cicero anführt, ist eigent lich wider meine Meynung, weil es, wie wir weiter unten beweisen wollen, in jungen Leuten eine gewisse Ungelehrigkeit giebt, welche auf ein andres Alter ein grösseres Genie prophezeyt, als wenn sie von Kindheit an viel Fähigkeit ge wiesen hätten. Das allzufrühe Vernünfteln und Klugseyn ist sogar eine Anzeige eines künftigen Narren. Hätte Cicero die wahren Merkmale eingesehen, welche in der ersten Jugend ein Ge nie verrathen, so würde er es sowohl bey dem Demosthenes, als bey dem Xenokrates, für ein gutes Zeichen gehalten haben, daß jener lang sam und schwer reden lernte, und dieser in sei nem Studiren angespornt zu werden bedurfte. Jch spreche in der Ausbesserung, sowohl der langsamen als fähigen Genies, dem guten Lehr meister, der Kunst und dem Fleisse nicht alle Kraft und Tugend ab. Jch will nur so viel sagen, daß, wenn der Knabe nicht von der Na tur einen Verstand bekommen hat, welcher gleich sam schon von den Grundsätzen und Regeln der Kunst, die er erlernen will, schwanger ist und ihn
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nur zu dieser und sonst zu keiner andern be stimmt, alle Sorgfalt, welche Cicero für seinen Sohn anwandte, und jeder Vater für den sei nigen anwenden kann, vergebens ist. Die Wahrheit dieser Lehre wird jeder leicht begrei fen, welcher bey dem Plato*) gelesen hat, daß Sokrates, wie er selbst von sich erzählt, eine Hebamme zur Mutter hatte, und daß, so wie diese, ob sie gleich eine Meisterinn in ihrer Kunst war, keine Frau konnte gebähren lassen, wenn sie nicht schon schwanger war, ehe sie unter ih re Hände kam, auch er, als einer, welcher ähn liche Verrichtungen mit seiner Mutter hätte, kei ne Wissenschaft aus seinen Schülern hervorzie hen könnte, wenn ihr Verstand nicht schon da mit schwanger sey. Er hatte es eingesehen, daß die Wissenschaften nur denjenigen Menschen gleich sam natürlich wären, welche ein Genie hätten, das darnach eingerichtet sey, und daß es eben die Bewandniß damit habe, die es, wie uns die Er fahrung lehret, mit denen hat, welche etwas, das sie vorher wußten, vergessen haben: wenn man ihnen nur auf ein Wort hilft, so besinnen sie sich sogleich wieder auf alles das übrige. So viel ich einsehe, thun die Lehrmeister mit ih ren Schülern nichts, als daß sie die Wissenschaft in ihnen anblasen. Denn haben sie ein fähiges Genie, so ist dieses fähige Genie hinreichend, aus ihnen die vortreflichsten Begriffe hervorzu bringen; haben sie aber keines, so plagen sie 11
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sich, und die, die sie unterweisen, ohne es iemals dahin zu bringen, wohin sie es bringen wollen. *) Jch wenigstens, wenn ich ein Lehrmeister wäre, würde, ehe ich einen Knaben in meine Schule nähme, vielerley Proben und Erfahrungen mit ihm anstellen, sein Genie zu erforschen, und wenn ich eine gute natürliche Geschicklichkeit zu der Wissenschaft, die ich lehrte, bey ihm fände, so würde ich ihn mit Freuden annehmen, weil es kein geringes Vergnügen für einen Lehrer ist, wenn er ein fähiges Genie zu unterweisen hat. Fände ich aber das Gegentheil, so würde ich ihm rathen, sich auf diejenige Wissenschaft zu legen, welche sich für seinen Kopf schickte, und hätte er zu gar keinem Theile der Gelehrsam keit Neigung und Fähigkeit, so würde ich voller Liebe und mit den sanftesten Worten zu ihm sa gen: mein Sohn, auf dem Wege, welchen ihr euch erwählt habt, werdet ihr kein brauchbarer Mensch werden. Um des Himmels willen! verlieret eure Zeit und eure Arbeit nicht, und sucht euch eine andere Lebensart aus, welche we niger Fähigkeit erfordert, als die Wissenschaften. [] Die Erfahrung kömmt hiermit auf das genau ste überein. Eine grosse Anzahl von Schü lern, wie wir sehen, begeben sich in einerley Schranken, deren einige am Ende ihres Laufs, der Lehrer mag gut oder schlecht gewesen seyn, 12
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als grosse, einige als mittelmässige Gelehrte her auskommen; einige aber auf dem ganze We ge nichts als die Zeit verlohren, ihr Vermögen zugesetzt, und sich den Kopf vergebens zerbro chen haben. [] Jch weiß nicht, wo diese Verschiedenheit her kommen soll, da sie alle eben denselben Lehrmei ster gehöret, und ihn mit einerley Aufmerksam keit und Begierde gehöret haben; da wohl gar die langsamen Köpfe noch arbeitsamer gewesen sind, als die fähigen. Die Schwierigkeit wird noch grösser, wenn ich sehe, daß diejenigen, wel che in einer Wissenschaft ungeschickt sind, in ei ner andern viel Fähigkeit haben, und diejenigen, welche in einem Theile der Gelehrsamkeit noch so sinnreich sind, wenn sie sich in einen andern wagen, ihn nicht begreifen können. Jch kann von dieser Wahrheit selbst einen Zeugen abge ben. Wir waren ihrer drey, welche zugleich Lateinisch lerneten; der eine von uns begriff es sehr leicht, die andern beyden aber konnten es nie mals dahin bringen, daß sie eine zierliche Rede hätten machen lernen. Da wir aber alle drey zur Dialektik kamen, so wurde einer von denen, welche in der Sprachlehre nichts begreifen konn ten, ein recht scharfsichtiger Adler darinnen. Als wir endlich alle drey zur Astrologie schritten, schien es etwas recht wunderbares zu seyn, daß der, welcher weder das Lateinische noch die Ver nunftlehre fassen konnte, in wenig Tagen sogar mehr, als unser Lehrer, wußte, und mehr, als
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die andern bey ihm lernen konnten. Jch stutz te, und fing sogleich an, meine Betrachtungen darüber zu machen, und brachte durch mein ei genes Nachsinnen heraus, daß jede Wissenschaft ihr besondres und bestimmtes Genie erfordre, welches nur in diesem, in den andern Theilen der Gelehrsamkeit aber nichts tauge. Wenn dieses nun wahr ist (wie es denn ist, und wir weiter unten beweisen wollen) und einer heut zu Tage in unsre Schulen kommen sollte, eine Musterung und Prüfung der Köpfe anzustellen; wie vielen würde er nicht andre Wissenschaften anweisen, wie viele würde er nicht als Dumme und zum Studiren gänzlich Ungeschickte, auf das Feld verweisen, und wie viele von denen, welche ihre kümmerliche Umstände zu den nie drigsten Handthierungen verdammen, deren Kö pfe aber die Natur allein zu den Wissenschaften erschaffen hat, würde er nicht hervorziehen müs sen? Doch, da diesem nicht mehr abzuhelfen ist, muß man es so hingehen lassen. [] Wenigstens ist das, was ich gesagt habe, nicht zu leugnen, daß es nämlich Köpfe giebt, welche zu einer Wissenschaft durchaus gebohren, zu jeder andern aber durchaus ungeschickt sind. Ehe also der Knabe zu studiren anfängt, muß man seine Seelenkräfte erforschen, sehen, welche Wissenschaft mit seiner Fähigkeit überein kömmt, und ihn nur diese und keine andere lernen las sen. Doch muß man nicht vergessen, daß das, was ich gesagt habe, noch nicht hinlänglich sey,
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einen vollkommenen Gelehrten zu machen, son dern, daß man auch noch andre Stücke in Acht zu nehmen habe, welche nicht weniger nothwen dig, als die natürliche Fähigkeit, sind. Daher sagt Hippokrates, *) daß das Genie des Menschen gegen die Wissenschaft eben die Bewandniß habe, welche die Erde gegen den Saamen hat; obgleich die Erde von sich selbst fruchtbar sey, so müsse man sie doch bebauen und untersuchen, zu welcher Art des Saamens sich ihre natürli che Beschaffenheit am besten schicke, weil nicht jede Erde ohne Unterschied jeden Saamen fort bringen könne. Jn dieser Erde geräth der Waitzen besser als die Gerste; in jener die Gerste besser als der Waitzen; und auch gegen den Waitzen ist die Erde nicht einerley, weil ei nige nur den besten Waitzen annimmt, welchen sie hundertfältig wieder giebt, den schlechtern Waitzen aber durchaus nicht fortbringt. Doch auch mit diesen Unterscheidungen ist ein guter Landmann noch nicht zufrieden. Nachdem er das Feld zur rechten Zeit bestellet hat, wartet er auf die bequemste Zeit zum Säen, welche nicht durch das ganze Jahr ist. Wenn die Saat endlich aufgeschossen, so begätet er sie, da mit sie ohne Verhinderung des Unkrautes zur Reife kommen, und die erwünschten Früchte tragen möge. Aus eben der Ursache muß man, sobald man weiß, zu welcher Wissenschaft der Knabe die meiste Geschicklichkeit habe, sie ihn 13
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sogleich von Kindheit an lernen lassen; denn die se, sagt Aristoteles, *) ist die allergeschickteste Zeit zum Lernen. Da übrigens das menschliche Le ben sehr kurz ist, und die Künste sehr langwie rig und weitläuftig sind; so muß er nicht allein gnugsame Zeit sie zu lernen haben, sondern auch Zeit übrig behalten, sie auszuüben, und dem Staate damit zu dienen. Das Gedächtniß ei nes Kindes, sagt Aristoteles am angeführten Or te, weil es noch nicht lange auf der Welt gewe sen, ist noch leer und ohne Eindruck, und kann also alles gar leicht annehmen. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Gedächtnisse er wachsener Leute, welches nicht viel mehr anneh men kann, weil es schon mit so vielen unzähli chen Sachen angefüllet ist, †) die sie durch ihr 14 15
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ganzes Leben gesehen haben. Plato*) rieth daher, man solle den Kindern nützliche Fabeln und lehrreiche Historien erzählen, welche sie zu tugendhaften und grossen Handlungen anreizten; denn das, was man in diesem Alter lerne, ver gesse man nimmermehr. Die Erlernung der Künste muß man also nicht, ob es gleich Ga lenus**) verlangt, so lange verschieben, bis unsre Natur alle die Stärke erlangt hat, de ren sie fähig ist. Diese Meynung hat keinen Grund, man müsse sie denn mit Unterscheid an nehmen. Wer Lateinisch, oder eine andre Sprache lernen soll, der muß gleich in der Kindheit anfangen: denn wenn er warten will, bis der Körper zu seiner Reife und zu derjeni gen Vollkommenheit gelangt ist, deren er fähig ist, so wird er nimmermehr damit zu Stande kommen. ***) Jn dem zweyten Alter, wel ches die Jugend ist, muß er zur Vernunftleh re schreiten, weil alsdann der Verstand sich zu entwickeln anfängt, gegen welchen die Vernunft= 16 17 18
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lehre eben das ist, was die Stricke in Ansehung des wilden Maulesels sind, die man ihm an die vordern und hintern Füsse legt, und durch die er, wenn er einige Tage darinnen gegangen ist, gesetzt und anständig gehen lernt. Eben so nimmt unser Verstand, wenn ihn die Grundsä tze und Regeln der Vernunftlehre gebändiget haben, in den Wissenschaften und Streitunter redungen eine gesetztere und anständigere Art zu schliessen und zu untersuchen an. Mit zuneh mender Jugend kann man sodann alle übrige Wissenschaften erlernen, welche von dem Ver stande abhängen, weil er nunmehr entwickelt ge nug ist. Zwar nimmt Aristoteles die Natur lehre davon aus, und behauptet, ein Jüngling sey nicht geschickt genug dazu. Er hat auch Recht, weil es diejenige Wissenschaft ist, welche ein weit tieferes Nachdenken, und weit mehr Vorsichtigkeit erfordert, als jede andere. [] Wenn man nunmehr weiß, in welchem Al ter man die Wissenschaften erlernen müsse, so ist es nöthig, sich nach einem Orte umzusehen, wo nichts als Gelehrsamkeit getrieben wird, der gleichen die Universitäten sind. Der Jüngling muß das väterliche Haus verlassen, weil die Schmeicheleyen, die ihm seine Mutter, sein Ge schwister, seine Anverwandte und Freunde, wel che mit ihm nicht einerley Wissenschaft treiben, erzeigen, kein geringes Hinderniß in seinem Stu diren sind. Dieses siehet man deutlich an den Studirenden, welche an den Orten gebohren sind,
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wo es Universitäten giebt. Keiner von ihnen, oder es wäre ein grosses Wunder, wird sehr ge lehrt werden. Diesem aber ist leicht abzuhel fen, wenn man die Universitäten verwechselt, und die, welche in Salamanca gebohren sind, nach Alcale, die aber, welche in Alcale geboh ren sind, nach Salamanca auf die Hoheschule schickt. Daß ein junger Mensch seine Hey math verlasse, groß und gelehrt zu werden, ist ein sehr wichtiger Punkt. Diese Aenderung des Orts muß ihm mehr Vortheile bringen, als ihm ein Lehrmeister in der Welt schaffen kann; besonders wenn er sieht, daß er nunmehr aller väterlichen Nachsichten und Verzärtlungen be raubet ist. Gehe aus deinem Vaterlande, sagte GOtt zu dem Abraham, (1. Buch M. 12.) und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause, in ein Land, das ich dir zeigen will; Und ich will dich zum grossen Volk machen, und will dich segnen. Eben dieses sagt GOtt zu allen Men schen, welche nach Tugend und Weisheit stre ben. Denn ob er sie gleich in ihrem Vaterlan de segnen könnte; so will er doch, daß die Menschen die Mittel, die er ihnen vorgeschrie ben hat, gebrauchen, und die Weisheit nicht von seiner unmittelbaren Gnade erwarten sollen. Bey diesem allen aber wird voraus gesetzt, daß der Mensch ein gutes Genie ha be: denn wenn er das nicht hat, so wird ein Vieh nach Rom reisen und ein Vieh wie
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derkommen. *) Was hilft es, daß ein Unfähi ger nach Salamanca, des Studirens halber, reiset? Fähigkeit und Verstand zu haben, wird ihn kein Meister lehren, und wie er sie haben könne, wird er von keinem Katheder hören. [] Die dritte Sorge muß seyn, daß man sich einen solchen Lehrmeister aussucht, welcher Deut lichkeit und Ordnung in seinem Vortrage ver bindet, dessen Lehre brauchbar und gründlich und keine sophistische Grübeley sey: denn al les, was der Schüler thut, so lange er Schüler ist, bestehet darinnen, daß er alles glaubt, was ihm der Lehrer vorsagt, weil ihm die Kraft, das Gehörte zu beurtheilen, und das Falsche von dem Wahren zu unterscheiden, noch fehlt. Es beruht aber mehr auf dem Glücke, als der Wahl des Studirenden, daß er gleich zu der Zeit auf die Hoheschule kömmt, wenn sie gute oder schlech te Lehrer hat. Das letztere war gewissen Aerz ten wiederfahren, von welchen Galenus**) er zählt, sie hätten, als er sie aus verschiedenen Er fahrungen und Gründen überführt, ihre Praris<Praxis> sey irrig und der menschlichen Wohlfahrt nachtheilig, die bittersten Thränen geweinet, und in seiner Gegenwart ihren Unstern verflucht, welcher sie in ihren Lehrjahren zu so schlechten Lehrern ge bracht habe. Zwar ist es wahr, es giebt Schü ler von so glücklichen Köpfen, daß sie den Au 19 20
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genblick die Stärke des Lehrmeisters, und das, was er vorträgt, einsehen. Jst es etwas schlechtes, so wissen sie es zu widerlegen, und wissen es zu bil ligen, wenn es etwas gutes ist. Von dergleichen Schülern lernt der Lehrer in einem Jahre mehr, als sie von ihm; weil ihn ihre Zweifel und spitzi gen Fragen, auf die er antworten muß, auf so feine und besondre Sachen führen, auf die er nimmermehr würde gefallen seyn, wenn der Schü ler, vermöge seines glüklichen Kopfs, nicht dar auf gefallen wäre. Doch, dergleichen Köpfe giebt es einen oder zwey, da der Unfähigen ei ne unzählige Menge ist. Es ist daher, weil die se Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften nicht so leicht angestellt werden kann, sehr gut, wenn sich die Universitäten allezeit mit guten Lehrern versehen, welche gesunde Grundsätze und einen aufgeräumten Kopf haben, damit sie den Unwissenden keine Jrrthümer oder falsche Be griffe beybringen. [] Die vierte Sorgfalt, welche man anzuwen den hat, ist: daß man die Wissenschaften mit Ordnung treibt; daß man von den Grundsätzen anfängt, und von diesen Schritt vor Schritt bis zum Ende fortgehet; daß man nichts höret, was schon etwas, das man noch nicht gehört hat, voraus setzt. Jch habe es daher allezeit für einen Fehler gehalten, viele Vorlesungen von verschiedenen Materien zugleich zu hören, und sie zu Hause alle mit einander zugleich zu wie derholen. Es verursacht in dem Kopfe eine
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allzugrosse Verwirrung, daß der Mensch her nach bey Ausübung dessen, was er gelernet hat, die Regeln der Kunst weder zu brauchen, noch an dem rechten Orte anzuwenden weiß. Es ist viel besser, daß man eines nach dem andern, und jedes nach der natürlichen Ordnung der Zu sammensetzung erlernt: denn so, wie man eine Sache erlernt, so behält man sie auch. Dieses ist besonders bey denen in Acht zu nehmen, wel che von Natur einen verwirrten Kopf haben; dem man aber leicht abhelfen kann, wenn man sie jede Materie besonders hören, keine andere eher, als bis sie die vorhergehende begriffen ha ben, anfangen, und dieses durch die ganze Wissen schaft beobachten läßt. Galenus sah es wohl ein, wie viel an der Ordnung bey dem Studi ren gelegen sey; er schrieb daher ein eignes Buch, in welcher Folge man seine Werke lesen solle, damit sich der angehende Arzt nicht ver wirre. Einige fügen noch hinzu: ein Studi render solle, so lange als er studiret, nicht mehr, als ein Buch haben, welches die Wissen schaft, die er treibt, völlig in sich fasse; in die em allein, und in keinem mehr, solle er studiren, damit er sich nicht zerstreue oder verirre. Und gewiß, sie haben nicht Unrecht. Das letzte end lich, was einen Menschen zu einem grossen Ge lehrten macht, ist, daß er viel Zeit auf die Wis senschaften wendet, und die Zeit erwartet, bis das, was er gelernt hat, in ihm feste Wurzeln schlägt. Denn wie sich der Leib nicht davon
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erhält, was er an einem Tage ißt oder trinkt, sondern von dem, was der Magen verdauet und in Säfte verwandelt; so wird auch unser Ver stand nicht davon stark, was wir in weniger Zeit lesen, sondern von dem, was wir nach und nach begreifen, und, so zu reden, wiederkauen. Unser Genie muß von Tag zu Tage stärker werden, und mit der Zeit es dahin bringen, daß es Sachen begreift, die es vorher nicht begreifen konnte. Der Verstand hat seinen Anfang, sein Wachsthum, seine höchste Staffel und sein Ab nehmen, so gut als der Mensch und alle übri ge Thiere und Pflanzen. Sein Anfang ist in der Kindheit; sein Wachsthum in der Jugend; seine höchste Staffel in den männlichen Jah ren, und sein Abnehmen in dem Alter. Wer also zu wissen verlangt, wenn sein Verstand al le diejenige Stärke erlangt habe, deren er fähig ist, der wisse, daß dieses ohngefähr zwischen dem drey und dreyssigsten bis funfzigsten Jahre sey. Jn diesem Zeitalter kann man grossen Schrift stellern sicher glauben, wenn sie etwa vorher an derer Meynung sollten gewesen seyn. Das Bücherschreiben aber überhaupt sollte man erst in diesem Zeitalter, und weder eher noch später anfangen, wenn man nicht der Gefahr zu wi derrufen, oder seine Meynung zu ändern, aus gesetzt seyn will. Doch sind die Alter der Men schen nicht durchgängig bey allen von einerley
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Beschaffenheit. *) Bey einigen endet sich die Kindheit im zwölften, bey einigen im vierzehen ten, bey einigen im sechzehenten, auch wohl bey einigen im achtzehenten Jahre. Bey diesen dauert jedes Alter weit länger, weil ihre Jugend beynahe auf das vierzigste, und ihre männlichen Tage auf das sechzigste Jahr reichen, wozu noch zwanzig Jahre für ihr Alter kommen, daß sie also ihr Leben auf achtzig bringen, welches das Ziel der stärksten Naturen ist. Die erstern aber, deren Kindheit sich mit dem zwölften Jah re schliesset, haben gemeiniglich ein weit kürze res Leben. Sie fangen zeitig an, ihre Vernunft zu brauchen; der Bart schießt ihnen zeitiger hervor, und zeitiger verliert sich ihre Einbildungs kraft, so, daß sie mit dem fünf und dreyssigsten Jahre schwach zu werden beginnen, und gegen das acht und vierzigste gar abfahren. [] Jedes von den Stücken, auf die man, wie ich gesagt habe, sorgfältig Acht haben muß, ist noth wendig, und trägt das seine zu dem Fortgange eines iungen Menschen in den Wissenschaften bey; das meiste aber kömmt noch immer auf das Genie an: denn haben wir nicht Beyspie le, daß Leute, welche dieses gehabt haben, ob sie gleich erst nach ihrer Jugend zu studiren angefangen, ob sie gleich schlechte Lehrer gehö ret, ob sie gleich nicht aus ihrem Orte gekom 21
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men, und in ihrem Fleisse sehr unordentlich ge wesen sind, in weniger Zeit sehr grosse Gelehrte geworden sind? Wenn aber das Genie fehlt, sagt Hippokrates, so ist alle andre Sorgfalt ver gebens. *) Cicero drückt dieses noch stärker aus, wenn er, bey Gelegenheit seines Sohnes, der aller angewandten Mittel ohngeachtet, nichts lernte, und zu des Vaters größter Betrübniß, ein dummer Kopf blieb, sagt: **) „Was sieht dem Streite der Riesen wider die Götter ähnlicher, als wenn sich ein Mensch auf die Wis senschaften legt, dem das Genie dazu fehlt?“ Wie die Riesen die Götter nicht überwanden, sondern allezeit von ihnen überwunden wurden, so wird auch ein Studirender, der mit seinem schlechten Kopfe kämpfet, ihm allezeit unterlie gen müssen. Cicero giebt daher selbst den Rath, uns nicht wider unsre Natur zu zwingen, und mit Gewalt Redner werden zu wollen, weil alle Mühe vergebens seyn würde, wenn das Genie darzu mangele. 22 23
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Zweytes Hauptstück. Nur die Natur ist es, von welcher der Knabe die Geschicklichkeit zum Lernen bekommen muß.

[] Es ist ein bekannter und von den alten Welt weisen sehr oft wiederholter Ausspruch *): die Geschicklichkeit zum Lernen giebt die Natur; die Leichtigkeit erlangt man durch die Grundsä tze und Vorschriften der Kunst; die unfehlbare Fertigkeit aber durch Uebung und Erfahrung. Keiner hat hat uns erklärt, worinnen diese Na tur bestehe, und zu welcher Gattung von Ursa chen sie zu rechnen sey: alle nur bekräftigen, wann diese den Lernenden fehle, so wären Kunst, Erfahrung, Lehrer, Bücher und Fleiß umsonst. **) Der Pöbel, wenn er einen Mann von grossem Geist und grosser Fähigkeit siehet, macht GOtt zum Urheber, bekümmert sich um keine andere Ursache, und hält alles für Grillen, was von die ser abweicht. Der Philosoph aber ist mit dieser Art zu reden nicht zufrieden. Gesetzt auch, daß sie einem Gottesfürchtigen anständig ist, so ent stehet sie doch nichts desto weniger aus der Un 24 25
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wissenheit der natürlichen Ursachen und der Ord nung, welche GOtt gleich in der Schöpfung fest gesetzet hat. Damit aber der Pöbel seine Un wissenheit bescheinige und ungetadelt dabey blei ben könne, so behauptet er, alles sey so, wie es GOtt haben wolle, und nichts entstehe in der Welt, was nicht unmittelbar aus seinem göttli chen Willen fliesse. So unleugbar diese Wahr heit ist, so tadelhaft macht sie den, der sie bestän dig im Munde führet: denn da, wie Aristote les anmerkt, nicht alle Fragen auf einerley Art vorgelegt werden, so muß auch nicht die Ant wort immer auf einerley Art abgefaßt seyn. [] Ein Naturforscher besprach sich einst mit einem Sprachgelehrten, als ein neugieriger Gärt ner darzu kam, und sie fragte: woher es doch komme, daß das Erdreich, so vielen Fleiß er auch daran wende, so oft er es auch durchacke re, dünge, und begiesse, dennoch keine Gartenge wächse, deren Saamen er ihm anvertraue, so leicht und so glücklich hervorbrächte, als sie das Unkraut, ohne daß man es säen darf, hervor bringt? Der Sprachgelehrte antwortete: die ses käme daher, weil es GOtt so haben wollte, und weil es zur Erhaltung der Welt so seyn müsse. Allein, der Naturforscher lachte, und sahe wohl, daß jener bloß deswegen seine Zu flucht zu GOtt genommen, weil er die natür lichen Ursachen und die Art, wie dieselben wir ken, nicht wisse. Der Sprachgelehrte sah ihn lachen, und fragte ihn, ob das Lachen ihm gel
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ten sollte? Nein, sagte der Weltweise; nicht dich, sondern den lache ich aus, der dich so unter richtet hat. Die Erklärung derjenigen Dinge, fuhr er fort, welche unmittelbar von der göttlichen Vorsehung abhängen, dergleichen die übernatür lichen Wirkungen sind, stehet den Metaphysikern zu, (heut zu Tage nennen wir sie Gottesge lehrte,) die Frage aber des Gärtners betrift die Natur, und hänget also von der Entscheidung des Naturforschers ab; dieser weiß bestimmte und ganz deutliche Ursachen anzugeben, die ei ne solche Wirkung hervorbringen können. *) Die wahre Antwort wird also diese seyn: das Erdreich gleichet einer Stiefmutter, welche ihre leibliche Kinder sehr zärtlich hält, den Kindern ihres Mannes aber die Nahrung entziehet: die ersten sind stark und blühen, wenn die andern welkend und verfallen da stehen. Das Unkraut, welches die Erde hervorbringt, bringt sie aus ih rem eigenen Eingeweide hervor; diejenigen Kräuter aber, die ihr der Gärtner mit Gewalt fortzubringen aufdringt, sind Kinder einer andern Mutter; sie entzieht ihnen also den Saft und die Nahrung, welche zum Wachsthum erfor dert werden, und theilt sie den Kräutern mit, die sie selbst erzeuget. [] Jn gleicher Absicht erzählt Hippokrates, (in dem Briefe an den Damaget ) daß er 26
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einstmals jenen grossen Weltweisen, den Demo krit, besucht, und sich mit ihm von den Mey nungen unterredet habe, die der Pöbel von der Arzeneykunst heget, indem er, sobald er sich ge sund siehet, behauptet, GOtt habe ihn gesund gemacht, ohne dessen Willen die geschickteste Sorgfalt des Arztes ganz umsonst wäre. Die se Art zu urtheilen ist so alt, und so unzählig mal von den Naturforschern widerlegt worden, daß es sehr überflüssig, ja einigermassen nach theilig seyn würde, wenn ich mich, hier sie gänz lich abzuschaffen, bemühen wollte: weil es in der That besser ist, daß der Pöbel, der die näch sten Ursachen einer jeden Wirkung nicht weiß, die allgemeine Ursache, den Willen GOttes an führet, als daß er eine Ungereimtheit vorbringt. Unterdessen habe ich mich doch, mehr als ein mal, den Grund auszuforschen bestrebt, warum das gemeine Volk so gar gerne alle Dinge gleich GOtt zuschreibt, die Natur verläßt, und alle natürliche Mittel, deren sich die Allmacht be dient, übersieht. Jch weiß nicht, ob ich es ge troffen habe; so viel aber läßt sich leicht begreif fen, daß der Pöbel, weil er nicht weiß, welche Wirkungen er unmittelbar GOtt, und welche er der Natur zuschreiben soll, beynahe gedrun gen ist, so zu reden. Erstlich, weil die Men schen größtentheils sehr ungeduldig sind. Sie sehen nichts lieber, als wenn das, was sie ver langen, sogleich geschieht, und haben selten kal tes Blut genug, die natürlichen Mittel ruhig
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abzuwarten, welche sich sehr weit erstrecken, und ihre Wirkungen nur mit der Folge der Zeit äus sern. Sie wissen, daß GOtt allmächtig ist, und daß er in einem Augenblicke alles schaffen kann, was er will; und nach den Beyspielen, welche ihnen ihr Gedächtniß darbietet, verlan gen sie eben so unmittelbar gesund, wie der Gicht brüchtige; weise, wie Salomo; reich, wie Hiob; und, wie David, von ihren Feinden befreyet zu werden. Zweytens sind wir Menschen ein ver messenes und stolzes Geschöpfe. Es giebt nicht wenige, welche sogar verlangen, GOtt solle ih nen eine besondere Gnade, nicht eine so allge meinnützige erzeigen, als etwa der Gebrauch der Sonne ist, die er über Gute und Böse aufge hen läßt; weil ihnen die Wohlthaten desto grös ser scheinen, je wenigern sie erwiesen werden. Daher kömmt es, daß gewisse Leute Oertern, welche der Andacht gewidmet sind, Wunder, die daselbst geschehen seyn sollen, andichten. Der Pöbel besucht sie, und er verehrt sie als Perso nen, mit welchen GOtt eine besondre Rechnung hat, und theilt ihnen, wenn sie arm sind, reich liche Allmosen mit, so, daß ihr Aberglaube je nen zum Wucher wird. Drittens sind die Menschen sehr zur Bequemlichkeit geneigt; die natürlichen Ursachen aber sind so geordnet und so an einander gekettet, daß man nicht ohne Mühe zu ihren Wirkungen gelangen kann. Sie wollen also, daß GOtt mit ihnen nach sei ner Allmacht handle, und daß ihre Wünsche oh
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ne ihren Schweiß erfüllt werden. Der Bos heit derjenigen will ich hier nicht gedenken, wel che von GOtt Wunder verlangen, um seine Allmacht auf die Probe zu stellen, und zu sehen, ob er sie thun kann; oder um Feuer vom Himmel und andre grausame Strafen bitten, ihr rachbe gieriges Herz zu befriedigen. Endlich will der größte Theil des Pöbels sehr fromm seyn. Er dringt auf die Verherrlichung GOttes, und glaubt, daß diese weit eher durch Wunder, als durch natürliche Wirkungen erlangt werde. Er weiß aber nicht, daß GOtt nur alsdenn über natürliche Begebenheiten verrichtet, wenn er sei ne Allmacht an denjenigen, die sie nicht erken nen, beweisen, oder seine Lehre bestärken will; und daß ausser diesen Fällen sich GOtt natürli cher Mittel bedient. *) Dieses läßt sich leicht lich daher begreifen, weil GOtt heut zu Tage keine Wunder mehr thut, wie er in dem alten Testamente und zu Anfange des neuen gethan hat. Er thut sie aber deßwegen nicht mehr, weil er nunmehr auf seiner Seite alle Vorsor ge angewandt hat, daß die Menschen ihre Un wissenheit nicht mehr vorwenden können. Zu glauben aber, GOtt werde eben die Beweise noch einmal führen, und werde seine Lehre mit neuen Wundern, z. E. durch Erweckung der 27
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Todten, durch Sehendmachung der Blinden, durch Heilung der Lahmen nnd Gichtbrüchtigen, aufs neue bestärken, ist ein sehr grosser Jrrthum, weil GOtt, was den Menschen zu wissen nöthig ist, nur einmal lehrt, und nur einmal mit Wundern beweiset, ohne sie jemals zu wiederholen. *) Jch weiß kein Merkmal, aus welchem man sicherer schliessen könnte, daß ein Mensch keine Fähig keit zur Naturlehre habe, als wenn man siehet, daß er geneigt ist, aus allen Sachen ohne Un terschied Wunderwerke zu machen: da man im Gegentheile demjenigen, welcher nicht eher ruhet, als bis er die besondre Ursache einer Wir kung entdecket hat, das dazu erforderliche Genie sicher zutrauen kann. Dieser weiß, daß es Wirkungen giebt, mit welchen man unmittelbar auf GOtt zurück gehen muß, dergleichen die Wunder sind; daß es aber weit mehrere giebt, die ihre bestimmten Ursachen haben, die man al so aus der Natur erklären muß, ob man gleich in diesem Falle sowohl als in jenem nur GOtt zum ersten Urheber angiebt. Wenn daher Ari stoteles sagt: GOtt und die Natur thun nichts umsonst; so ist seine Meynung nicht, als wäre die Natur eine von GOtt abgesonderte und mit ihm gleich allgemeine Ursache. Er verstehet vielmehr unter der Natur diejenige Ordnung, welche GOtt in der Welt festgesetzt hat, und 28
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nach welcher die Ursachen und Wirkungen so verbunden sind, als es die Erhaltung der Welt erfordert. Auf eben die Art sagt man: der König und das Gesetz thun niemanden Unrecht. Hier heißt das Gesetz nicht etwas gewisses, wel ches mit dem Könige, ohne von ihm abzuhän gen, die oberste Gewalt zugleich führet; son dern es ist nichts, als der Name, welcher alle Gesetze und Verordnung unter sich begreift, die der König zur Erhaltung der Ruhe in seinem Staate hat bekannt machen lassen. Wie sich also der König gewisse Fälle vorbehalten hat, welche durch das Gesetz nicht entschieden werden können, weil sie allzu besonders und wichtig sind; eben so hat sich GOtt die wunderbaren Wir kungen vorbehalten, welchen er natürliche Ursa chen weder geben konnte, noch wollte. Hier muß man aber wohl merken, daß es nur eine Sache für einen sehr grossen Naturforscher sey, die übernatürlichen Wirkungen zu erkennen, und sie von den natürlichen zu unterscheiden, weil er die bestimmten Ursachen aller und jeder Wir kungen kennen muß; welches aber gleichwohl noch nicht genug ist, wenn nicht die rechtgläu bige Kirche dasjenige, was er für Wunder er kennet, gleichfalls für Wunder annimmt. Die Naturlehrer müssen eben das thun, was die Rechts gelehrten thun. *) Diese lesen das bürgerliche 29
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Gesetz und drücken es ihrem Gedächtnisse fest ein, damit sie in dem oder jenem Falle untrüglich wissen mögen, was des Königs Wille sey; je ne bestreben sich die Ordnung und Folge zu er kennen, welche GOtt, gleich von dem ersten Ta ge der Schöpfung an, in der Welt feststellte, damit sie die Art einsehen können, nach welcher er eine Wirkung aus der andern hat wollen ent springen lassen. Wie es also sehr lächerlich wä re, wenn ein Rechtsgelehrter in seinen Schrif ten als etwas ausgemachtes anführte, der Kö nig wolle diesen oder jenen Fall so und nicht an ders entschieden wissen, ohne das Gesetz zu nen nen, nach welchem er entschieden werden muß; eben so lächerlich kömmt es den Naturforschern vor, wenn sie jemanden sagen hören: dieses oder jenes Werk ist von GOtt, ohne daß er die Reihe der besondern Ursachen, aus welchen es entspringen kann, angiebt. Und wie der Kö nig denjenigen nicht erhören will, welcher von ihm die Abschaffung eines gerechten Gesetzes, oder die Entscheidung eines Falles wider die Art, nach welcher er will, daß in den Gerichten entschieden werden soll, bittet; so will auch GOtt denjeni gen nicht erhören, welcher ohne Noth Wunder oder Thaten, die in dem Zusammenhange der Welt ihren Grund nicht haben, verlangt. Denn obgleich ein König fast alle Tage Gesetze giebt und aufhebt, und die gerechtlichen Verfahrun gen ändert, theils, weil sich die Umstände der Zeit ändern, theils, weil die menschliche Klug
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heit viel zu schwach ist, als daß sie gleich auf das erstemal alles nach der schärfsten Wahrheit und Gerechtigkeit anordnen sollte; so hat doch der einmal von GOtt festgesetzte Zusammenhang, nach welchem in der Welt eins aus dem andern folgt, und welchen wir die Natur nennen, nicht nöthig, daß er nur in dem geringsten Stücke aufgehoben oder verändert werde, weil ihn GOtt mit einer so unendlichen Weisheit angeordnet hat, daß derjenige, welcher von ihm etwas aus ser und wider diesen Zusammenhang zu thun bittet, durch diese Bitte sein Werk für unvoll kommen erkläret. [] Damit wir aber auf den von den alten Weltweisen so oft gebrauchten Ausspruch: die Natur giebt die Fähigkeit, zurückkommen; so muß man wissen, daß es gewisse Fähigkeiten giebt, welche GOtt gewissen Menschen ausser der natürlichen Ordnung beygelegt hat, wie zum Beyspiel die Weisheit der Apostel gewesen ist, welches einfältige und gemeine Leute waren, die aber auf einmal auf eine wunderbare Weise er leuchtet, und mit Weisheit und Gaben ausge rüstet wurden. Von dieser Art der Weisheit und Gaben trift der Ausspruch: die Natur giebt die Fähigkeit, nicht ein; weil man da mit nicht auf die Natur, sondern unmittelbar auf GOtt zurückgehen muß. Gleiche Bewand niß hat es mit der Weisheit der Propheten, und mit allen denen, welche GOtt mit übernatürli chen Gaben begnadiget. Es giebt aber eine an
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dere Art von Fähigkeiten in den Menschen; da sie nämlich mit allen den Ursachen, welche GOtt dazu festgesetzt hat, gleichsam befruchtet, gebohren werden; und hier ist es, wo der an geführte Ausspruch eintrift. Jn dem letzten Hauptstücke dieses Werks aber werden wir es beweisen, daß es allerdings eine gewisse bestimm te Folge natürlicher Ursachen giebt, vermöge wel cher, wenn sie von den Vätern zur Zeit der Er zeugung sorgfältig beobachtet wird, alle ihre Kin der, ohne Ausnahme, eines fähigen Geistes gebohren werden. [] Unterdessen, weil die angegebene Bedeutung des Worts Natur zu allgemein und unbestimmt ist, der Verstand aber sich nicht eher zufrieden giebt, als bis er zu der allerletzten Ursache hin durchgedrungen ist; so wird es nöthig seyn, ei ne andere Bedeutung dieses Worts aufzusuchen, welche meinem Endzwecke näher kömmt. [] Aristoteles, *) und die übrigen Philosophen, drücken sich näher aus, und erklären die Natur durch die selbstständige Form, welche einem Din ge das Seyn giebt, und die Grundursache al ler seiner Wirkungen ist. Nach dieser Erklä rung würde unsere vernünftige Seele die Na tur zu nennen seyn, weil sie es ist, die uns zu Men schen macht, und von ihr alle unsre Handlungen und Verrichtungen herrühren. Da aber alle vernünftige Seelen von einerley Vollkommen 30
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heit sind, sowohl die Seele des Weisen als des Narren, so kann man nicht behaupten, daß die Natur in dieser Bedeutung dasjenige sey, wel ches den Menschen die Fähigkeit gäbe; weil sonst alle Menschen ohne Ausnahme einer ley Genie, und einerley Seelenkräfte haben müß ten. Aristoteles selbst sucht daher *) eine andre Bedeutung des Worts Natur, in so ferne sie die Ursache ist, warum die Menschen fähig oder unfähig sind. Er sagt nämlich, die verschiednen Vermischungen der Wärme, Kälte, Feuchtig keit und Trockenheit wäre es, welche man die Natur nennen müsse, weil nur von dieser Ver mischung alle Fähigkeiten des Menschen, seine Tugenden und seine Laster, und die grosse Ver schiedenheit ihrer Genies abhängen könnten. Dieses erhellet deutlich, wenn man die verschied nen Lebensalter auch des weisesten Menschen betrachtet. Er ist in seiner Kindheit nichts als ein unvernünftiges Thier, an welchem sich keine andere Kräfte äussern, als Zorn und Be gierde. Jn seiner Jugend fängt er allmälig an, das vortrefliche Genie zu entdecken, welches aber, wie die Erfahrung lehret, nur eine gewisse Zeit und nicht länger dauert; denn wenn das Al ter herannahet, so vermindern sich seine Kräfte von Tag zu Tage, bis sie sich endlich gar verlie= 31
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ren. *) Daß diese Verschiedenheit des Genies nicht von der vernünftigen Seele herrührt, ist un widersprechlich, weil sie in allen Lebensaltern eben dieselbe ist, ohne an ihren Kräften oder an ih rem Wesen die geringsten Veränderungen zu er dulden; sondern daher, daß jedes Alter sein be sondres Temperament, und seine verschiedne Lei besbeschaffenheit hat, vermöge welcher die See le gewisse Handlungen in der Kindheit, andre in der Jugend, und andre im Alter vornimmt. Da aber, welches unleugbar ist, eben dieselbe Seele in eben demselben Körper ganz verschie dene Handlungen wirken kann, weil sie in jedem Alter ein ganz verschiednes Temperament hat; so kann ja wohl auch der Unterschied zweyer Knaben, wovon der eine fähig, der andre aber dumm ist, nirgends anders herrühren, als aus beyder durchaus verschiednem Temperamente, welches die Arzneygelehrten und Weltweisen, weil von ihm alle Handlungen der vernünftigen Seele bestimmt werden, die Natur nennen. Jn dieser Bedeutung nun hat der Ausspruch seine vollkommene Richtigkeit: die Natur macht 32
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uns fähig. Zur Bestärkung dieser Lehre schrieb Galenus ein ganzes Buch, worinnen er bewies, daß die Eigenschaften der Seele von dem Temperamente des mit ihr verbundenen Körpers abhängen, und daß, nach Beschaffen heit der Wärme, Kälte, Trockenheit oder Feuch tigkeit des Landes, nach Beschaffenheit der Spei sen, des Wassers, und der Luft, die Menschen bald dumm, bald klug; bald tapfer, bald feige; bald grausam, bald barmherzig; bald zurückhal tend, bald offenherzig; bald lügenhaft, bald auf richtig; bald verrätherisch, bald treu; bald unru hig, bald stille; bald verschmitzt, bald einfältig; bald geitzig, bald freygebig; bald verschämt, bald unverschämt; bald schwer, bald leicht zu überre den wären. Er führt in dieser Absicht eine ziem liche Anzahl Stellen aus dem Hippokrates, Pla to und Aristoteles an, welche alle behaupten, daß die Verschiedenheit der Völker, sowohl in Ansehung des Baues ihrer Körper, als der Aeus serungen ihrer Seelen, von der Verschiedenheit des Temperaments herrühre. Und man darf nur die Erfahrung zu Rathe ziehen. Wie un endlich sind nicht die Griechen von den Scy then, die Franzosen von den Spaniern, die Jn dianer von den Deutschen, die Aethiopier von den Engländern unterschieden! Doch, was brau chen wir so weit entlegene Länder gegen einan der zu halten? Wir dürfen ja nur die Pro vinzen betrachten, die das einzige Spanien um schließt, und es wird nicht schwer seyn, eine Aus
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theilung der nur gedachten Tugenden und Laster unter ihnen zu machen. Man betrachte nur einmal das Genie und die Sitten der Catalo nier, der Valencianer, der Murcianer, der Gra nadiner, der Andalusier, der Estremenger, der Portugiesen, der Galleger, der Asturianer, der Montangesen, der Biscajaner, der Navarrer, der Arragonesen, und der innersten Einwohner Castiliens. Wer sieht nicht, wie sehr sie nicht allein nach ihrer Gesichtsbildung, und nach dem Baue ihres Körpers, sondern auch nach den Tu genden und Lastern ihrer Seelen von einander abweichen? Alle diese Abweichungen aber ent stehen bloß daher, weil jede Provinz ihre beson dere, und von andern unterschiedene natürliche Einrichtung hat. Doch auch diese Provinzen mögen noch zu weit auseinander liegen; der Unterschied der Sitten äussert sich schon an Oer tern, die kaum eine kleine Meile von einander entfernet sind, so daß die Mannigfaltigkeit der Genies unter den Einwohnern eines sehr klei nen Strichs ganz unglaublich ist. [] Kurz, was Galenus in seinem Buch vor trägt, alles das nehme ich zum Grunde meines Buchs an, ob er sich gleich nicht auf die ver schiedenen Fähigkeiten der Menschen, noch auf die Wissenschaften, welche sich für jede derselben schickt, besonders einläßt. Sonst erkannte er es aber sehr wohl, wie nothwendig es sey, daß man die Wissenschaften unter die Knaben ver theile, und jedem diejenige zuerkenne, welche sei
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ner natürlichen Fähigkeit gemäß ist; indem er sagt: *) es wäre billig, daß jede wohlgeordnete Re publik gewisse verständige und gelehrte Männer unterhielte, welche jedes Menschen Genie und na türliche Wirksamkeit in der zartesten Jugend er forschten, damit ieder diejenige Kunst erlerne, zu welcher er aufgelegt sey, und keiner seinem eignen Gutdünken überlassen würde. †) 33 34
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Drittes Hauptstück. Welcher Theil des Körpers beson ders wohl beschaffen seyn muß, wenn der Knabe Fähigkeiten besitzen soll.

[] Der menschliche Körper hat so viel verschie dene Glieder und Kräfte, welche alle nach einer besondern Absicht eingerichtet sind, daß es von unserm Vorhaben nichts entferntes, vielmehr etwas dazu nothwendiges seyn wird, vor allen Dingen zu untersuchen, welches Glied die Na tur zu dem vornehmsten Werkzeuge bestimmt habe, den Menschen verständig und fähig zu ma chen. Denn es ist gewiß, daß wir nicht mit den Füssen denken, noch mit dem Kopfe gehen, noch mit der Nase sehen, noch mit den Augen hören; sondern jedes von diesen Gliedern hat seinen be stimmten Gebrauch und seinen besondern, zu die sem Gebrauche eingerichteten Bau. [] Vor den Zeiten des Hippokrates und Plato war es eine von den Naturforschern fast durch gängig angenommene Meynung, das Herz sey
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der vornehmste Theil, wo die Seele ihren Sitz habe, und das Werkzeug, wodurch sie alle Hand lungen der Klugheit, der Scharfsinnigkeit, des Gedächtnisses und des Verstandes verrichte. *) Sogar die heilige Schrift bequemt sich nach der damals gewöhnlichen Art zu reden, indem sie hin und wieder des Herzens, als des vorzüg lichsten Theiles des Menschen gedenkt. Als aber jene zwey grossen Weltweisen auftraten, so bewiesen sie aus unzähligen Gründen und Erfah rungen, daß das Gehirn der vornehmste Sitz der vernünftigen Seele sey. Diese Entdeckung nahmen alle an, nur Aristoteles nicht, welcher aus Begierde, dem Plato in allen zu widerspre chen, die alte Meynung wieder aufwärmte, und sie mit topischen Argumenten wahrscheinlich zu machen suchte. Welches die wahrscheinlichste Meynung sey, ist jetzt nicht mehr Zeit zu fra gen; denn keiner von den jetzigen Weltweisen wird es noch in Zweifel ziehen, daß das Gehirn dasjenige Werkzeug sey, welches die Natur be stimmt habe, den Menschen verständig und fä hig zu machen. Nur kömmt es darauf an, daß man erkläret, wie dieser Theil beschaffen seyn müsse, wenn er die gehörige Vollkommenheit haben, und der Knabe aus diesem Grunde von Genie und Fähigkeit seyn soll. 35
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[] Vier Eigenschaften muß das Gehirn haben, wenn die vernünftige Seele zu den Verrichtun gen des Verstandes und der Klugheit geschickt seyn soll. Die erste Eigenschaft ist, daß es eine gute Struktur habe; die zweyte, daß seine Thei le wohl verbunden sind; die dritte, daß weder die Wärme die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteige; die vierte, daß seine Substanz aus den feinsten und zärtesten Thei len zusammengesetzt sey. [] Zu dem guten Baue des Gehirnes gehören abermals vier Stücke. Das erste Stück ist die gute Figur; das zweyte die hinlängliche Menge; das dritte die genaue Absonderung sei ner vier Ventrikeln, wovon jedes an seiner ge hörigen Stelle liegen muß; das vierte der Raum derselben, welcher weder grösser noch geringer seyn muß, als es ihre Wirkungen erfordern. [] Die gute Figur schließt Galenus*) aus der äussern Gestalt des Kopfes. Diese, spricht er, ist alsdann so, wie sie seyn muß, wenn in einer vollkommenen runden hohlen Kugel von Wachs, die man ganz sachte auf den Seiten zusam men angedrückt hat, die Stirne und das hinte re Theil des Haupts einen kleinen Buckel ma chen. Wenn folglich der Knabe eine sehr plat te Stirne hat, und der hintere Theil des Hauptes sehr abschiessend ist, so ist es ein Zeichen, daß sein Gehirn die Figur nicht hat, welche es ha ben muß, wenn er geschickt und fähig seyn sollte. 36
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[] Was die Menge des Gehirnes anbelangt, welche die Seele zum Denken und Schliessen braucht, so ist es etwas sehr bewundernswürdi ges, daß es kein einziges unvernünftiges Thier giebt, welches so viel Gehirne hat, als der Mensch. †) Und wenn man sogar das Gehirn von zwey der größten Ochsen zusammen neh men wollte, so würde es doch noch nicht so viel ausmachen, als ein einziger Mensch hat, wenn er auch noch so klein ist. Was aber noch mehr angemerkt zu werden verdienet, ist, daß diejeni gen unvernünftigen Thiere, die der menschlichen Vernunft am nähesten kommen können, als der Affe, der Fuchs und der Hund, weit mehr Gehirne haben, als andre Thiere, die ungleich grösser sind, als sie. [] Galenus sagt daher, *) daß ein kleiner Kopf allezeit ein Fehler an einem Menschen sey, weil nur wenig Gehirn darinnen seyn könne; doch sey auch ein grosser Kopf oft ein schlechtes Merk mal, wenn ihn nämlich nur die viele, und zur Zeit, als ihn die Natur bildete, unzugerichtete 37 38
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Masse groß mache, weil er alsdenn nur aus Knochen und Fleisch bestehe, und eben so we nig Gehirn habe; nicht anders als die grossen Pommeranzen, die, wenn man sie eröfnet, we nig Fleisch und Saft, wohl aber eine desto di ckere Schale zeigen. Nichts ist der vernünfti gen Seele hinderlicher, als ein Körper von all zustarken Knochen, und von allzuviel Fleisch und Fett. Daher sagt Plato, daß die Köpfe kluger Leute sehr schwach, und bey der geringsten Kleinigkeit empfindlich wären; die Natur ha be sie mit Fleiß nur mit einer ganz leichten Rinde bedeckt, damit sie ihren Geist nicht mit allzuviel Masse belästigen möchte. Diese An merkung des Plato ist so gegründet, daß sogar der Magen, wenn er mit allzuviel Fleisch und Fett angefüllet ist, das Gehirn beleidiget, so weit er auch davon entfernt ist. Zum Beweise führt Galenus das Sprichwort an: ein dicker Bauch, ein dicker Verstand; worunter nichts wei ter verborgen liegt, als, daß das Gehirn und der Magen durch gewisse Nerven mit einander ver bunden sind, wodurch eines dem andern, wenn es beleidiget wird, seine Empfindungen mittheilt. Ein leerer und von Speisen unbelästigter Ma gen gegentheils trägt sehr vieles zur Scharfsin nigkeit bey, wie man an den Ausgehungerten 39
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und Dürftigen sieht, worauf ohne Zweifel Per sius zielet, wenn er sagt: der Bauch sey es wel cher Künste lehre, und Scharfsinnigkeit schen ke. Dieses aber verdienet hier vorzüglich an gemerkt zu werden, daß, wenn die übrigen Glie der auch fleischigt sind, und der Körper also überhaupt stark ist, die Scharfsinnigkeit, wie Ari stoteles*) sagt, gleichfalls verlohren gehet. Jch bin daher gewiß überzeugt, daß derjenige, welcher einen grossen Kopf hat, ob er ihn schon seiner stärkern Natur und der grössern Menge einer von ihr wohl zubereiteten Masse zu danken hat, weniger Fähigkeit besitzt, als er besitzen würde, wenn der Kopf von einer mässigern Grösse wäre. †) [] Sonst ist Aristoteles**) einer ganz entge gengesetzten Meynung, wenn er die Frage unter sucht: warum der Mensch das klügste unter allen Thieren sey? Er antwortet auf diese Auf gabe, weil keines von allen Thieren, in Verglei chung mit seinem Körper, einen so kleinen Kopf habe, als der Mensch: und unter den Men schen, sagt er, sind dieienigen die klügsten, wel che den kleinsten Kopf haben. Allein Aristote 40 41 42
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les hat Unrecht; denn wenn er einen Menschen kopf jemals geöfnet hätte, so würde er gesehen haben, daß er mehr Gehirn habe, als zwey Pferdeköpfe nicht einmal zusammen haben. Was ich hierbey aus der Erfahrung weiß, ist die ses, das es an kleinen Personen besser ist, wenn sie einen etwas grossen Kopf haben, und an gros sen Personen, wenn sie einen etwas kleinen ha ben; die Ursache ist, weil alsdann gleich so viel Gehirn da ist, als die Seele zu ihren Wir kungen braucht. [] Ausser diesem muß das Gehirn seine vier Ventrikel haben, wenn die vernünftige Seele schliessen und überlegen soll. Der eine muß auf der rechten, der zweyte auf der linken Seite des Haupts, der dritte zwischen diesen beyden inne, und der vierte in dem Hintertheile des Kopfs liegen, wie man aus den anatomischen Zeich nungen ersehen kann. Zu was aber je des dieser Ventrikel dient, und wie weit oder wie enge sie für die vernünftige Seele seyn müs sen, werden wir im folgenden erklären, wenn wir von der Verschiedenheit der menschlichen Fähigkeiten handeln werden. [] Es ist aber nicht genug, daß das Gehirn eine gute Figur habe, daß es in erforderlicher Menge da sey, und daß seine vier Ventrikel in der gehörigen Lage, und so weit oder so enge sind, als sie seyn müssen: seine Theile müssen auch unter sich eine gewisse Art der Festigkeit haben, und nicht von einander abgesondert seyn. Da
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her kömmt es, daß einige, wie die Erfahrung gelehret hat, durch Verwundungen des Kopfes das Gedächtniß, andere den Verstand, und an dere die Einbildungskraft verlohren haben; und gesetzt auch, daß sich das Gehirn, nachdem sie wieder hergestellet worden, von neuem zusam men gegeben, so hat es doch nimmermehr zu seiner ersten natürlichen Verbindung wieder ge langen können. [] Die dritte der vier Haupteigenschaften war, daß das Gehirn eine gemässigte Wärme habe, und daß keine von den übrigen Beschaffenhei ten die andern besiege. Diese Eigenschaft ha ben wir in dem vorhergehenden die gute Natur genannt, weil sie vornämlich den Menschen fä hig, ihr Gegentheil aber ihn unfähig macht. [] Die vierte Haupteigenschaft endlich, da näm lich die Substanz des Gehirnes aus den feinsten und zärtesten Theilen zusammengesetzt seyn soll, ist, wie Galenus sagt, die wichtigste von allen. Wenn er daher die Merkmale angeben will, ob das Gehirn von einer feinen Zusammensetzung sey, so sagt er: die Scharfsinnigkeit des Ver standes sey ein sichres Zeichen, daß das Gehirn aus feinen und zarten Theilen zusammengesetzt sey; ein langsamer Verstand aber zeige an, daß es von einer groben Substanz sey; und hierbey kömmt das Temperament in keine Betrachtung. †) 43
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Diese Eigenschaften muß also das Gehirn ha ben, wenn die vernünftige Seele ihre Folgerun gen und Schlüsse soll machen können: nur mischt sich noch eine grosse Schwierigkeit dabey ein. Wenn wir nämlich den Kopf eines jeden unvernünftigen Thieres öfnen, so finden wir, daß sein Gehirn von eben der Beschaffenheit ist als das Gehirn des Menschen, ohne daß ihm die geringste der oben genannten Eigenschaften fehlen sollte. Hieraus folgt, daß entweder die sogenannten unvernünftigen Thiere vermittelst ihres Gehirns gleichfalls Vernunft und Klug heit besitzen, oder daß unsere vernünftige Seele sich des Gehirns zum Werkzeuge ihrer Verrichtun gen nicht bedienet: welches aber durchaus nicht behauptet werden kann. Auf diese Schwierig keit antwortet Galenus dieses: Ει μεν μηδο- λως λογου μετεϛι τοις ἀλογοις ὀνομαzομε- νοις zωοις, ἀδηλον ἐϛι. Ισως γαρ εἰ και του μη κατα την φωνην, ὁν και προφορι- κον ὀνομαzουσιν, ἀλλα τουγε την ψυχην, ὁν ἐνδιαθετον καλουσι, μετεχει παντα, τα μεν μαλλον, τα δ' ἡττον. Οτι μεν- τοι πλειϛον ὁσον ἀυτων διενηνοχασιν οἱ ἀν- θρωποι, προδηλον ἡμιν ἑϛιν. Mit diesen Worten giebt Galenus, obgleich ziemlich furcht sam, zu verstehen, daß die Thiere allerdings ei
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nige mehr, andre weniger, an der Vernunft Theil nehmen, daß sie in ihrer Seele Schlüsse und Ueberlegungen machen, ob sie sie gleich nicht mit Worten ausdrücken können, und also der Unter schied zwischen den Menschen und Thieren dar innen bestehe, daß jene nur vernünftiger sind, als diese, und die Klugheit in einem höhern Grade der Vollkommenheit ausüben. [] Galenus beweiset sogar durch verschiedene Erfahrungen und Gründe, daß selbst die Esel, die doch unter allen Thieren die dümmsten sind, mit ihrem Verstande tiefsinnigere Sachen, als weder Plato noch Aristoteles erfunden hätten, begreifen können; und schließt endlich: Και τοσουτον τοινυν δεον τους παλαιους φιλοσο- φους ἐπαινειν, ὡς μεγα τι και σοφον ἐjευρον- τας, ὁτι το ταυτον και τον ἑτερον και το ἑν και το οὐχ ἑν, οὐ μονον κατ' αριθμον, ἀλλα και κατ' εἰδος χρη νοειν, ὡϛε και τοις ονοις (οἱπερ ἁπαντων των θρεμματων ἀνοητοτα) φημι τουτο ὑπαρχειν φυσει. Eben dieses will Aristoteles zu verstehen geben, wenn er *) die Frage aufwirft: warum der Mensch klü ger als alle Thiere sey? und wenn er an ei nem andern Orte die Aufgabe vorlegt: warum der Mensch das ungerechteste unter allen Thie ren sey? Er sagt daselbst eben das, was Ga lenus sagt, daß nämlich der Mensch von den Thieren nicht anders unterschieden sey, als ein 44
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Weiser von einem Narren; das ist, nicht wei ter als nach dem mehrern. So viel wenigstens ist ausser allem Zweifel, daß die unvernünftigen Thiere Gedächtniß und Einbildungkraft, und auch noch etwas anders haben, welches wenigstens dem Verstande eben so ähnlich ist, als der Affe einem Menschen; und daß ihre Seele sich des Gehirns, als ihres Werkzeugs bedient, welches, wenn es so ist, wie es seyn soll, macht, daß die Handlungen vernünftig genug scheinen, die ge gentheils ganz unsinnig sind, wenn das Gehirn übel organisirt ist. Daher sehen wir, daß es Esel giebt, die es nach ihrer Dummheit recht eigentlich sind, da andre oft so viel verschmitzte Bosheit zeigen, daß man sie fast nicht zu ihrem Geschlechte rechnen sollte. Auch unter den Pferden findet man Unarten und Tugenden, so, daß diese besser und andre schlechter zuge ritten werden können; welches nirgends anders, als von der guten oder übeln Einrichtung des Gehirns herrühret. Die Gründe und die Auf lösung dieses Zweifels werden wir in dem fol genden Hauptstücke anführen, als in welches diese Materie eigentlich einschlägt. [] Es giebt noch andre Theile des Körpers, deren Bau zu den Fähigkeiten der Seele eben so viel beyträgt, als das Gehirn; und von die sen werden wir in dem letzten Hauptstücke die ses Werks handeln. Doch auch ausser diesen und ausser dem Gehirn ist eine gewisse Sub stanz in dem Körper, dessen sich die Seele zu
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ihren Verrichtungen bedienet, und welche, eben sowohl als das Gehirn, die drey letzten Eigen schaften, nämlich eine erforderliche Menge, eine feine Zusammensetzung, und eine gute Tempera tur haben muß. Diese Substanz sind die Le bensgeister und das Blut der Pulsadern, wel che sich durch den ganzen Körper ergiessen. Die Verrichtung dieser geistigen Substanz ist, die Kräfte des Menschen anzufrischen, und ihnen Stärke und Lebhaftigkeit zu ihren Verrichtun gen mitzutheilen. Daß dieses ihre Verrichtung sey, sieht man deutlich aus der Einbildungskraft, und aus dem, was dabey vorgeht. Wenn ein Mensch sich, zum Beyspiel, einbildet, eine Be leidigung erlitten zu haben, alsbald tritt das Blut näher zum Herzen und reizt das Erzürn liche, und giebt ihm Feuer und Stärke, sich zu rächen: oder, wenn eine Mannsperson ein schö nes Frauenzimmer lebhaft betrachtet, und sie her nach entweder umfängt, oder, sie zu umfangen, sich einbildet, alsbald schiessen diese Lebensgeister in die Zeugungsglieder, und ermuntern sie zu dem Werke. Eben diese Bewandniß hat es, wenn uns ein schmackhaftes Gerichte vorkömmt: die Lebensgeister ziehen sich sogleich aus dem gan zen Körper in den Magen zusammen, und ma chen das Maul wässerigt, wobey ihre Bewegung so schnell ist, daß eine schwangere Frau, wenn sie nach diesem Gerichte lüstern ist, und mit ih rer Einbildungskraft darauf bestehet, wohl gar, wie man aus der Erfahrung weiß, mit einer un
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zeitigen Geburth niederkömmt, wenn man es ihr nicht bald giebt. Die natürliche Ursache hiervon ist diese: die Lebensgeister sind, ehe die Frau lüstern wird, in dem Leibe, wo sie die Frucht halten; sobald sich aber die Einbildungs kraft nur mit dem Gerichte beschäftiget, so zie hen sie sich in dem Magen zusammen, den Ap petit zu erwecken. Wenn nun die Gebährmut ter unterdessen nicht für sich Kräfte genug hat, die Frucht zu halten, so muß nothwendig eine unzeitige Geburth erfolgen. [] Galenus hat die Beschaffenheit dieser Le bensgeister sehr wohl eingesehen, wenn er den Aerzten *) den Rath giebt, den Kranken nichts essen zu lassen, so lange die Natur noch die dicken und ungesunden Säfte zu verzehren habe; weil die Lebensgeister, sobald sie merken, daß Speise in dem Magen ist, dasjenige, wo mit sie vorher beschäftiget waren, augenblicks verlassen, und dem Magen zu Hülfe eilen: ἐτι τε προς τουτοις ἀμεινον ἐπιτρεψαι τῃ φυσει χολαzειν τῃ πεψει του νοσου κατα τας ακ- μας, και μη περιελκειν ἀυτην εἰς την των ἀρτι ληφθεντων σιτιων κατεργασιαν. [] Gleichen Beystand erhält das Gehirn von den Lebensgeistern, wenn die vernünftige Seele etwas überlegen, begreifen, behalten, oder sich vorstellen will, so, daß sie, ohne die Lebensgei 45
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ster, alles dieses nicht verrichten kann; und wie die Fähigkeiten durch die grobe Substanz und durch die üble Temperatur des Gehirns ver lohren gehen, eben so verhindern auch die Lebens geister und das Blut der Pulsadern, wenn sie nicht aus feinen und wohl gemässigten Theilen bestehen, den Menschen an dem vollkommenen Gebrauche der Vernunft. Plato sagt daher: *) ein weiches und zartes Herz mache, daß der Mensch geschwind und durchdringend im Be greifen sey, ob er schon vorher bewiesen hatte, daß |{??}das Gehirn, und nicht das Herz, der vor nehmste Sitz der vernünftigen Seele wäre. Die Ursache aber ist diese: weil die Lebensgeister in dem Herzen erzeugt werden, und daselbst die jenige Beschaffenheit annehmen, von welcher der Ort ihrer Erzeugung ist. Von dem Blute der Pulsadern ist das zu verstehen, was Aristote les**) sagt: daß diejenigen Menschen von einer guten Beschaffenheit des Körpers wären, welche warmes, zartes und reines Blut hätten; weil nicht allein ihre Leibesstärke sehr groß, son dern auch ihr Verstand sehr fein zu seyn pflegte. Auch die Lebensgeister nennen die Aerzte ***) die Natur, weil sie mit das vornehmste Werk zeug der vernünftigen Seele sind, so, daß auch 46 47 48
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in diesem Verstande der Ausspruch von der Natur wahr ist: von ihr haben wir die Fähigkeit.

Drittes<Viertes> Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß die vegetativische, die sensitivische und ver nünftige Seele weise sind, ohne den ge ringsten Unterricht empfangen zu haben, wenn ihnen nur das Temperament nicht fehlet, welches ihre Verrichtun gen erfordern.

[] Die Mischung der vier Hauptbeschaffenhei ten, welche wir in dem vorhergehenden die Natur genannt haben, ist von solcher Ge walt, daß sie Pflanzen, Thiere und Menschen, jedes zu denjenigen Verrichtungen antreibt, wel che seinem Geschlechte zukommen. Wenn sie so vollkommen ist, als sie seyn kann, so wissen, ohne jemands Unterricht, die Pflanzen sogleich in der Erde Wurzel zu schlagen, durch dieselbe Nahrung an sich zu ziehen, sie zu behalten, sie in Säfte zu verwandeln, und das Unbrauchba re derselben wieder von sich zu stossen. Die Thiere kennen sogleich von ihrer Geburt an das, was ihrer Natur zuträglich ist, und fliehen das,
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was ihr zuwider und verderblich ist. Was aber diejenigen, die keine Kenntniß der Natur ha ben, zu noch grösserm Erstaunen bringen muß, ist, daß der Mensch, wenn er ein wohleingerich tetes Gehirn hat, das zu dieser oder jener Wis senschaft besonders bequem ist, aus dieser Wis senschaft sogleich, ohne daß er sie jemals erlernt hat, so feine und versteckte Sachen vorzubrin gen weiß, daß man es kaum glauben sollte. Die gemeinen Philosophen, wenn sie die wun derbaren Handlungen der unvernünftigen Thiere sehen, sagen, man dürfe sich eben darüber nicht wundern, weil sie alles aus einem eingepflanz ten Triebe der Natur thäten, welcher jedes Thier lehre, was ihm nach seiner Art zu thun zukom me. Und sie haben auch nicht Unrecht, weil, wie wir schon bewiesen haben, die Natur nichts anders ist, als die Mischung der vier Hauptbe schaffenheiten, nach welcher eine jede Seele, was ihr zukömmt, wirket: wenn sie nur unter dem eingepflanzten Triebe der Natur nicht einen Mischmasch von Dingen verständen, wovon sie nur die Hülle kennen, keines aber zu er klären und deutlich zu machen wissen. Die tiefsinnigern Weltweisen, Hippokrates, Plato und Aristoteles schränken alle diese wunderbaren Handlungen auf die Wärme, Kälte, Feuchtig keit und Trockenheit ein, und nehmen diese zu der ersten Ursache an, ohne einen Schritt wei ter zu gehen. Wenn man also fragt: wer ist es, der den Menschen schliessen lehret? so ant
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wortet Hippokrates: *) φυσιες παντων ἀδι- δακτοι; gleich als ob er sagen wollte: die Vermögenheiten oder das Temperament, wel ches diese Vermögenheiten ausmacht, sind alle verständig, ohne daß sie von jemanden den ge ringsten Unterricht bekommen hätten. Dieses scheinet sehr deutlich aus der Betrachtung der Seele, von welcher der Mensch regieret wird, zu erhellen, besonders der Pflanzenseele, die aus einem Stäubchen menschlichen Saamens, nach dem sie es wohl durchwirkt und zubereitet, und ihm die gehörige Temperatur mitgetheilet hat, einen so schönen und so wohl organisirten Kör per macht, daß alle Künstler in der Welt ihn so schön nicht nachmachen können. Galenus**) selbst erstaunt über dieses wundervolle Gebäu de, über die Anzahl seiner Theile, über die Ge stalt und über den Gebrauch eines jeden Thei les insbesondere so sehr, daß er gar behauptet, es wäre unmöglich, daß die vegetativische See le, oder das Temperament, ein so erstaunliches Werk machen könnten, ohne daß GOtt oder ein anderes weises Wesen der Urheber davon sey. Ακραν γαρ ὁρω ἐν τη διαπλασει σοφιαν τε ἁμα και δυναμιν, οὐτε την ἐν τω σπερματι ψυχην, φυτικην μεν ὑπο των περι τον Αρι- ϛοτελην καλουμενην, ἐπιθυμιτκην δε ὑπο Πλατωνος, ὑπο δε των ϛωικων οὐδε ψυχην ὁλως ἀλλα φυσιν, ἡγουμαι διαπλαττειν το 49 50
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ἐμβρυον, οὐ μονον, οὐκ οὐσαν σοφην, αλλα και πανταπασιν ἀλογον u. s. w. Doch diese Art von GOtt zu reden, welche zwar überhaupt ih ren Grund hat, ist schon in dem vorhergehen den von uns verworfen worden, weil es einem Naturforscher unanständig ist, mit den Wir kungen unmittelbar auf GOtt zurückzugehen, und die nächsten natürlichen Ursachen zu über springen. Besonders aber ist es ihm in die sem Falle unanständig, wo uns die Erfahrung nicht selten lehret, daß, wenn der menschliche Saamen nicht beschaffen ist, wie er seyn soll, die vegetativische Seele tausend Fehler begehet. Jst er z. E. feuchter und kälter, als er seyn soll, so kommen, sagt Hippokrates, *) Untüchtige oder Zwitter daraus; ist er allzutrocken und warm, sagt Aristoteles, **) so entstehen Dick lippigte, Krummbeinigte und Stumpfnäsigte, wie die Mohren sind; ist er allzu feuchte, sagt Galenus, ***) so wird der Körper groß und unförmlich; ist er aber zu trocken, so wird der Körper zu klein. Alles dieses sind Mängel an dem menschlichen Geschlechte, derentwe gen die Natur weder gelobt, noch weise ge nannt werden kann, und deren keiner da seyn würde, wenn GOtt die unmittelbare Ursache von dem Baue des menschlichen Kör pers wäre. Die ersten Menschen allein, sagt Plato, ****) sind von GOtt erschaffen worden; 51 52 53 54
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die andern alle hat die Folge natürlicher Ursa chen hervorgebracht. Wenn diese Folge so ist, wie sie seyn soll, so bringt die vegetativische Seele ihre Wirkungen glücklich zu Stande: ist sie es aber nicht, so begeht diese Seele in ihrem Baue tausend Fehler. Worinnen besteht aber die gute Verbinduug der zu dieser Absicht be stimmten natürlichen Ursachen? Jn nichts anders, als in dem guten Temperament der vegetativischen Seele. Wenn sie darinnen nicht besteht, so sa ge mir einmal Galenus, oder ein anderer Welt weise, er sey wer er wolle, warum die vegetati vische Seele in dem zartesten Alter des Men schen so viel Weisheit und Macht hat, daß sie den Körper bilden, wachsen lassen, und erhalten kann; und warum sie im Alter diese Weisheit und Macht nicht hat? Warum, wenn einem Alten ein Backzahn ausfällt, dieser Backzahn nimmermehr wieder wachsen kann, und warum gleichwohl ein Kind die Zähne, wenn sie ihm auch alle ausfielen, wieder bekömmt? Jst es wohl möglich, daß eine Seele, die Zeit ihres Daseyns mit nichts anders beschäftiget gewe sen ist, als Nahrung an sich zu ziehen, sie zu behalten, sie zu verdauen, das Unnütze von sich zu stossen, und die fehlenden Theile zu ersetzen, al les dieses am Ende ihres Daseyns so sehr ver gessen sollte, daß sie keines mehr thun könnte? Was Galenus hierauf antworten könnte, ist un widersprechlich, daß nämlich die vegetativische Seele darum in ihrer Jugend so weise und
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mächtig sey, weil sie viel natürliche Wärme und Feuchtigkeit habe: daß sie es aber in ihrem Al ter nicht sey, weil der Körper alsdann allzu trocken und kalt ist. [] Auf eben die Art hänget die Weisheit der sensitivischen Seele von der Mischung in dem Gehirne ab. Wenn diese gut ist, und so wie sie ihre Verrichtungen erfordern, so gehen ihre Ver richtungen auch wohl von statten; wo aber nicht, so fällt sie in eben so viel Fehler als die vegetativische Seele. Galenus hat ein Mittel ausfindig gemacht, die Weisheit der sensitivi schen Seele mit Augen zu sehen und zu betrach ten. Er nahm nämlich ein junges Böckchen, das nur erst geworfen worden: sobald man es auf die Erde setzte, fieng es an zu ge hen, nicht anders, als wenn man es gelehrt hätte, daß die Beine zu diesem Gebrauche ge macht wären; hierauf schüttelte es sich die über flüssige Feuchtigkeit ab, die es mit aus der Mutter gebracht; es hob den Fuß auf, und kratzte sich damit hinter dem Ohre, und als man ihm verschiedene kleine Näpfe vorsetzte, wovon eins mit Wein, das andre mit Was ser, das dritte mit Essig, und endlich eins mit Milch, gefüllet war, so beroch es zwar alle, aus keinem aber trank es, als aus dem mit der Milch. Verschiedne Weltweise, die diese Er fahrung zugleich mit dem Galenus anstellten, 55
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gestanden einmüthig, Hippokrates habe das größ te Recht gehabt, zu sagen, die Seelen wären weise, ohne einigen Unterricht bekommen zu ha ben. Hierbey aber blieb Galenus noch nicht stehen. Als zwey Monate verflossen waren, nahm er es halb todt vor Hunger auf das Feld, wo es verschiedene Kräuter beroch, keine andre aber fraß, als die, welche die Thiere sei nes Geschlechts zu fressen pflegen. Hätte er aber seine Bemerkungen, so wie er sie mit ei nem jungen Bocke vorgenommen, mit drey oder vieren zugleich angestellt, so würde er gesehen haben, daß einer besser, als der andere gehe, sich mehr, als der andere schüttele, oder kratze, kurz, daß jeder alle gedachte Handlungen besser oder schlechter zeige, alsdie andern. Hätte er ferner ver schiedene Füllen aufgezogen, so würde er gesehen haben, daß immer eines die Füsse mit mehr Ge schwindigkeit und Anmuth hebe, oder stärker laufestärkerlaufe, oder leichter anzuhalten sey, oder auch mehr Treue beweise, als das andre; gesetzt, sie wären auch alle nur von einem Vater und einer Mutter gewesen. Er hätte auch nur ein Nest junger Falken nehmen, und diese aufziehen dürfen; einer würde ohne Zweifel schneller im Fluge; ein anderer geschickter zur Jagd; ein dritter ge frässiger oder sonst unfähiger geworden seyn. Eben dieses kann man an jungen Hünerhun den sehen; der eine, ob sie gleich alle von ei nem Wurfe sind, kann mit wenig Mühe zur Jagd abgerichtet werden, wenn aus dem andern
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kaum ein guter Hirtenhund wird. Das alles kann man unmöglich jenem von den Philoso phen erdachten und nichts erklärenden Natur triebe zuschreiben. Denn, wenn man sie fragt, woher es denn nun komme, daß unter Hunden von einer Art und von einem Wurfe einer immer einen stärkern Naturtrieb habe, als der andere? was können sie anders, als die Ausflucht vor bringen: GOtt hat es so haben wollen. Fragt man sie ferner: warum ist denn dieser und je ner Hund, wenn er jung ist, ein guter Jäger, und warum ist er es nicht mehr, wenn er alt wird? oder umgekehrt; warum ist dieser Hund wann er jung ist, zur Jagd untüchtig und war um wird erst in seinem Alter fähig und ver schmitzt? Jch sehe nicht, was sie vernünftiges antworten können, wann sie nicht sagen wollen: der eine Hund ist deswegen geschickter zur Jagd, als der andere, weil das Temperament seines Gehirns dazu fähiger ist; und der eine ist des wegen in der Jugend auf der Jagd zu gebrau chen, im Alter aber nicht, weil er in der Jugend das zur Jagd erforderliche Temperament hat, und weil er es im Alter verliert. Hieraus al so fließt, daß die Mischung der vier Hauptbe schaffenheiten der Grund ist, warum sich dieses oder jenes Thier zu dieser oder jener Verrich tung seiner Art fähiger oder unfähiger zeiget, und daß das Temperament dasjenige ist, von dem die sensitivische Seele was ihr zu thun ob liegt, lernet. Hätte Galenus die Wege der Amei
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sen, ihre Klugheit, ihre Barmherzigkeit, ihre Ge rechtigkeit, ihre Regierungsart betrachtet, so wür de er vielleicht sein Urtheil noch weiter getrie ben haben, voller Erstaunen, daß ein so klei nes Thier solche Weisheit, ohne einen Lehr meister gehabt zu haben, besitze. *) Wenn man aber das Gehirn der Ameise betrachtet, und vor züglich dieses überlegt, welches wir im folgen den zeigen werden, wie vortheilhaft es zur Weis heit eingerichtet sey, so muß das Erstaunen auf hören, und man lernt einsehen, daß die unver nünftigen Thiere zu den Geschicklichkeiten und Ueberlegungen, die wir an ihnen wahrnehmen, vermöge des Temperaments und der Bilder, welche durch die fünf Sinne in dasselbe gebracht werden, gelangen; daß der Unterscheid unter Thieren von einer Art, da immer eines leichter abzurichten ist, als das andre, daher rühret, weil das Gehirn des einen immer von einer bessern Einrichtung ist, als des andern; und daß, wenn diese gute Einrichtung entweder durch den langen Gebrauch, oder durch Krankheiten verlo ren geht, sich die Klugheit und Fähigkeit, eben 56
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sowohl, wie bey dem Menschen, sogleich auch verliere. *) [] Wir kommen nun auf die vernünftige See le, wo es etwas schwer zu begreifen seyn wird, daß auch diese einen Naturtrieb zu den Verrich tungen ihrer Art, welches Weisheit und Klug heit sind, habe, und daß sie, vermöge des guten Temperaments, Wissenschaften sogleich fassen könne, von welchen sie niemals etwas gehört hat, da wir doch aus der Erfahrung wissen, daß niemand mit demselben gebohren wird, sondern daß man sie lernen muß. [] Plato und Aristoteles haben sich über die Fra ge, woher eigentlich die Weisheit des Menschen komme? nicht wenig gestritten. Jener sagt, unsre vernünftige Seele wäre älter, als der Kör per, und ehe die Natur diesen gebauet habe, wäre sie im Himmel in der Gesellschaft der Götter gewesen; aus diesem komme sie voller Weisheit und Wissenschaft auf die Erde herab, die sie aber, sobald sie in den Körper zöge, we gen des übeln Temperaments, in welchem sie ihn fände, gänzlich verlöre, bis sich dieses üble Temperament mit der Zeit verbessere, und ein anders an dessen Stelle komme, vermöge dessen 57
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sie sich nach und nach, weil es den verlornen Wissenschaften bequemer sey, auf das Vergesse ne besänne. Diese Meynung ist falsch; und ich muß mich sehr wundern, daß so ein grosser Weltweise, als Plato war, die Ursache der mensch lichen Weisheit nicht hat angeben können, da er doch eingesehen, daß auch die unvernünftigen Thiere ihre Klugheit und natürliche Fähigkeiten haben, ohne daß ihre Seele aus dem Körper kömmt, und in den Himmel steigt, wo sie ver ständig zu seyn lernen könnte. Er ist daher nicht ausser allem Tadel, besonders, da er es aus den Büchern des Moses, die bey ihm in sehr grossem Ansehen standen, hat wissen kön nen, daß GOtt den Körper Adams eher, als seine Seele, erschaffen habe. *) Dieses geschieht noch alle Tage, nur daß den Körper die Natur bauet, in welchem, wenn sie die Hand daran gelegt hat, GOtt die Seele erschafft, so daß die se auch nicht einen Augenblick ausser ihrer Woh nung gewesen ist. [] Aristoteles, **) geht einen andern Weg und und spricht: πασα διδασκαλια, και πασα μαθησις διανοητικη, ἐκ προ{!D}ϋπαρχουσης γι- νεται γνωσεως. Dieses will so viel sagen: 58 59
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alles, was die Menschen lernen und wissen, ler nen und wissen sie durch das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen; und der Ver stand kann von nichts einige Erkenntniß haben, was nicht durch einen von diesen fünf Sinnen in ihn gekommen ist. Er spricht daher an ei nem andern Orte, *) diese Vermögenheiten kämen, gleich einer polirten Tafel, auf welche noch nichts gezeichnet worden, aus den Händen der Natur. Doch auch diese Meynung ist falsch. Damit wir es aber desto besser beweisen können, müssen wir erst mit den gemeinen Weltweisen darinnen einig werden, daß nur eine Seele in dem mensch lichen Körper sey, nämlich die vernünftige, wel che der Grund von allem ist, was wir thun und wirken; obgleich ganz verschiedne Meynungen davon sind, und es auch an Leuten nicht fehlt, welche behaupten, daß die vernünftige Seele noch zwey oder drey andre Seelen **) neben sich habe. [] Da die vernünftige Seele in ihren Hand lungen eben so verfährt, als die vegetativische, so haben wir schon bewiesen, daß sie den Men schen bauen, ihm seine gehörige Bildung geben, Nahrung an sich ziehen, diese Nahrung behal ten und verdauen, das Unnütze von sich ausstos sen, und, wenn ein Theil an dem Körper fehlt, 60 61
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diesen Theil ersetzen, und ihm die Bildung ge ben kann, welche er zu dem bestimmten Ge brauche haben muß. Was die Handlungen der sensitivischen und bewegenden Seele anbelangt, so weiß ein Kind gleich den Augenblick nach sei ner Geburt, wie es saugen, und die Lippen be wegen soll, daß sie die Milch an sich ziehen kön nen. Es verrichtet dieses alles auch mit solcher Geschicklichkeit, daß kein erwachsener Mensch, so verständig er auch sey, es ihm nachmachen kann. Mit eben der Fertigkeit erlangt es alle übrige Eigenschaften, die ihm zur Erhaltung sei ner Natur nothwendig sind; es weiß das Schädliche und Verderbliche zu fliehen; es kann weinen und lachen, ohne es von jemanden erlernt zu haben. Wenn dieses die gemeinen Weltweisen nicht zugeben wollen, so mögen sie doch sagen, von wem es das neugebohrne Kind gelernt hat, oder durch welchen Sinn diese Ge schicklichkeiten in dasselbe gekommen sind? Jch weiß zwar wohl, sie werden antworten, GOtt habe ihm diesen Naturtrieb eben sowohl, wie den unvernünftigen Thieren eingepflanzt. *) Sie haben auch so unrecht nicht, wenn sie nur unter diesem Naturtriebe nichts anders, als das Tem perament, verstehen. 62
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[] Zu den eigentlichen Verrichtungen der ver nünftigen Seele, als dem Ueberlegen, dem Ein bilden, dem Behalten und Erinnern, ist der Mensch nicht gleich nach seiner Geburt ge schickt; weil das Temperament eines neugebohr nen Kindes dazu ganz unfähig, hingegen zu den vegetativischen und sensitivischen Verrichtungen desto fähiger ist; so wie das Temperament ei nes Alten mehr Fähigkeit zu jenen, als zu diesen hat. Wenn also das Temperament, welches zur Klugheit erfordert wird, und sich nur nach und nach in dem Gehirne einfindet, auf einmal da seyn könnte, so würde auch der Mensch auf einmal besser schliessen und philosophiren können, als wenn er es in den Schulen gelernet hätte: da aber die Natur nichts, als mit der Folge der Zeit thun kann, so kann auch der Mensch nicht anders, als nach und nach zur Weisheit gelan gen. Daß dieses die wahre Ursache sey, erhellet deutlich daraus, daß auch der allerweiseste Mensch nach und nach wiederum unverständig wird, weil sich sein Temperament alle Tage, je näher er dem hohen Alter kömmt, mehr und mehr verändert. [] Jch bin also bey mir gewiß überzeugt, daß, wenn die Natur, so wie sie den Menschen aus einem feuchten und warmen Saamen macht, (welcher dasjenige Temperament hervorbringt, das zu den vegetativischen und sensitivischen Verrichtungen erfordert wird,) ihn aus einem kalten und trocknen Saamen machte, so würde
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der Mensch gleich nach seiner Geburt überle gen und schliessen, nicht aber saugen können, als wozu dieses Temperament ganz ungeschickt ist. *) Damit man aber auch aus der Erfahrung er kennen möge, daß man keinen Lehrmeister braucht, wenn das Gehirn das zu den Wissen schaften erforderliche Temperament hat; so darf man nur auf einen einzigen Fall Acht geben, welcher sich fast alle Tage zuträgt. Wenn näm lich der Mensch in eine Krankheit fällt, welche das Temperament des Gehirnes auf einmal ver ändert, dergleichen Schwermuth und Raserey sind, so verliert er augenblicklich, wenn er ver ständig gewesen ist, allen seinen Verstand, und redet tausend ungereimte Sachen; wenn er aber ein Narr gewesen ist, so erlangt er weit mehr Fähigkeit und Einsicht, als er vorher gehabt hat. †) 63 64
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Von einem Landmanne kann ich aus meiner eignen Erfahrung erzählen, daß er in einer phre netischen Krankheit in meiner Gegenwart eine Rede gehalten, worinnen er die Umstehenden für seine Seligkeit zu beten, und, wenn er von diesem Lager nicht aufkommen sollte, für seine Kinder und seine Frau zu sorgen, mit solchem oratorischen Nachdruck und mit so ausgesuchten Worten ermahnte, daß Cicero auch vor dem Rathe nicht hat beredter seyn können. *) Alle, die mit mir zugegen waren, erstaunten darüber, und fragten mich, woher doch einem Menschen so viel Weisheit und Beredsamkeit kommen könne, der bey gesunden Umständen kaum habe reden können? So viel ich mich besinne, ant wortete ich ihnen damals, daß die Beredtsamkeit eine Wissenschaft sey, die aus einem gewissen Grade der Wärme entstünde, und daß das Ge hirn des Bauers durch die Krankheit gleich diesen Grad bekommen hätte. 65
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[] Von einem andern gleichfalls phrenetischen Kranken *) kann ich versichern, daß er länger, als acht Tage lang nicht ein Wort geredet, wor auf er nicht gleich einen Reim gesucht hätte, so daß oft sehr artige Zeilen und Strophen heraus kamen. Als die Umstehenden über diese Fer tigkeit in Versen zu reden, die der Kranke in seinen gesunden Tagen niemals gehabt hatte, er staunten: so sagte ich, es geschehe sehr selten, daß derjenige auch in der Phrenesie ein Poet sey, welcher es bey gesundem Körper wäre, weil das Temperament des Gehirns, das ihn, als er ge sund gewesen, dazu gemacht, in der Krankheit gemeiniglich so verändert wird, daß es zu ganz entgegen gesetzten Verrichtungen aufgelegt ist. Jch besinne mich, daß die Frau und Schwester dieses Wahnwitzigen, welche Mari Garcia hieß, ihn einmal bestraften, daß er von den Heiligen so verächtlich rede. Hierüber ward der Kranke ganz zornig und schrie: Pues reniego de Dios por amor de vos, y de sancta Maria por amor de Mari Garcia; y de S. Pedro por amor 66
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de Juan de Olmedo. Auf diese Art gieng er noch viel andre Heilige durch, deren Namen mit den Namen der Herumstehenden einigen Gleichlaut hatten. [] Doch alles dieses ist nichts, und bloß ein Werk von wenig Augenblicken, wenn man es mit den Besonderheiten vergleicht, die sich an einem wahnsinnig gewordenen Pagen eines der Vornehmsten dieses Königreichs geäussert ha ben. Jn gesunden Tagen hatte man ihn durch gängig für einen Menschen von sehr wenigem Verstande gehalten. Als er aber in die Krank heit verfiel, brachte er so viel anmuthige Sachen, so viel sinnreiche Gleichnisse, so viel vortrefliche Antworten, wenn man ihn fragte, und so viel unverbesserliche Vorschläge, das Reich, (dessen Herr er zu seyn, sich einbildete,) wohl zu regie ren vor, daß nicht wenig Leute aus fremden Orten so was wunderbares zu hören, herbey kamen, daß selbst sein Herr sein Bette selten oder gar nicht verließ, und nichts eifriger von GOtt wünschte, als daß er nie wiederhergestellt werden möchte. Dieses gab er ganz deutlich zu verstehen, als der Page gesund worden war, und der Arzt, in der gewissen Hofnung, Lob und Belohnung davon zu tragen, sich von ihm beurlauben wollte: „mein Herr, sagte er zu dem Arzte, ich kann sie versichern, daß mich niemals ein Unfall mehr geschmerzt hat, als die Gene sung meines Pagen. Eine so weise Narrheit hatte man gar nicht wieder in eine so langsa
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me gesunde Vernunft, wie er sie jetzo hat, da er genesen ist, verwandeln sollen. Es kömmt mir vor, als wenn sie ihn mit gutem Bedacht wieder zum Narren gemacht hätten, welches doch die elendeste Krankheit ist, in die ein Mensch verfallen kann.“ Der arme Arzt sah, daß seine Cur sehr übel aufgenommen worden, und glaubte wenigstens von dem Pagen einen bessern Abschied zu bekommen; doch auch die ser, nach vielem Hinundwiederreden, sagte ihm zum Schlusse: „mein Herr Arzt, ich danke ih nen, daß sie haben wollen so gütig seyn, mir zu meinem gesunden Verstande wieder zu verhel fen. Einigermassen aber, ich versichere sie, es hei lig, verdrießt es mich, daß ich wieder gesund bin. *) Jn meiner sogenannten Unsinnigkeit lebte ich in der größten Achtung vor der Welt, und ich schien mir ein so grosser Herr zu seyn, daß kein Kö nig auf der Welt wäre, der nicht seine Krone von mir zur Lehn hätte. Ob es gleich eine falsche Einbildung war, was schadet das? Ge nug, sie vergnügte mich eben so sehr, als wenn sie wahr gewesen wäre. Wie viel schlechter stehet es jetzt um mich, da ich sehe, daß ich nichts, als ein armer Page bin, und daß ich vielleicht morgen demjenigen wieder aufzuwar ten anfangen muß, den ich in meiner Krank= 67
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heit nicht würdig genug geachtet hätte, mein Bedienter zu seyn.“ [] Alle die jetzt erzählten Fälle sind so beschaf fen, daß sie die Weltweisen leicht als mögliche und geschehene Fälle annehmen können. Was werden sie aber sagen, wenn ich sie aus unleug baren Begebenheiten versichere, daß einige in ihrem Wahnwitze lateinisch geredet haben, ohne daß sie es jemals vorher erlernt hatten? Daß eine phrenetische Weibesperson allen und jeden, die sie besuchten, ihre Tugenden und Laster ge sagt, und sehr oft die Wahrheit mit einer sol chen Gewißheit getroffen hat, als man sie nur immer aus Muthmassungen und Merkmalen haben kann, so daß endlich aus Furcht, ver drüßliche Wahrheiten zu hören, niemand mehr zu ihr kommen wollte. Worüber man aber bey dieser Frau am meisten erstaunte, war, daß sie dem Balbirer, welcher ihr zur Ader ließ, sagte: mein Freund, bedenkt ja, was ihr thut; denn ihr habt nur noch wenig Tage zu leben, und eure Frau wird sich an den und den wie der verheyrathen. Jhre Prophezeyhung war so richtig, daß beydes noch, ehe ein halb Jahr vergieng geschahe. [] Es scheint mir, als wenn ich diejenigen, wel che sich um keine natürliche Weltweisheit be kümmern, sagen hörte: alles das sind Possen und Lügen, und, wenn es ja wahr seyn sollte, so hat der Teufel, welcher ein sehr kluger und verschmitzter Geist ist, mit Zulassung GOttes,
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den Körper dieser Frau, und der andern ange führten phrenetischen Kranken besessen gehabt; und er ist es gewesen, der so wunderbare Sachen aus ihnen geredet. Allein diese Antwort würde ihnen schwer zu vertheidigen werden, weil der Teufel, der keinen prophetischen Geist hat, un möglich das Zukünftige wissen kann. Jhr wich tigster Beweis ist, dieses oder jenes ist falsch, weil ich nicht begreifen kann, wie es zugehen sollte: als wenn dergleichen schwere und ver wickelte Sachen für einen kleinen Verstand ge hörten, und von ihm sich einsehen liessen. Die jenigen, denen es an der erforderlichen Fähig keit fehlt, mag ich hier gar nicht überzeugen, weil alle Mühe umsonst angewandt wäre, und sie doch nimmermehr mit dem Aristoteles beken nen würden, daß ein Mensch, wenn er das ge hörige Temperament dazu habe, unzählige Din ge wissen könne, ohne sie jemals empfunden oder gelernt zu haben: πολλοι δε και δια το εγ- γυς εἰναι του νοερου τοπου την θερμοτητα ταυτην, νοσημασιν ἁλισκονται μανικοις ἠ ἐνθουσιαϛικοις .Οθεν σιβυλλαι και βακιδες και οἱ ἐνθεοι γινονται παντες, ὁταν μη νοση- ματι γενωνται αλλα φυσικη κρασει. Μα- ρακος δε ὁ Συρακουσιος και ἀμεινων ἠν ποιη- της ὁτ' ἐκϛαιη. Οσοις δ' ἀν ἐπανθη την ἀγαν θερμοτητα προς το μεσον, οὑτοι με- λαγχολικοι μη εισι, φρονιμωτεροι δε. Jn diesen Worten bekennt der PhilosophPhilosoh ganz deut lich, daß durch die allzugrosse Hitze des Gehirns
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viele Menschen das Zukünftige voraus sehen könnten, dergleichen die Sibyllen gewesen wä ren; *) und dieses, setzt er hinzu, wird nicht durch die Krankheit, sondern durch die Ungleich heit der natürlichen Wärme verursachet. Daß aber die Wärme die wirkliche Ursache sey, beweiset er unwidersprechlich durch das Bey spiel des Syrakusaners Marakus, welcher ein weit besserer Dichter war, wenn er durch die allzugrosse Hitze des Gehirns ausser sich ge rieth, und die Fertigkeit zu Dichten verlor, so bald diese Hitze mässiger und er also gesetzter und verständiger ward. Aristoteles giebt also nicht nur das Temperament des Gehirns, als die Ursache solcher wunderbaren Wirkungen an, son dern er tadelt auch diejenigen, welche das zu ei ner göttlichen Eingebung machen, was doch nichts, als ein natürlicher Zufall ist. [] Der erste, welcher bey dergleichen wunder baren, Begebenheiten das Göttliche zu Hülfe rief, war Hippokrates: (προγνωϛ.) ἁμα δε και εἰ τι θειον ενεϛιν ἐν τησι νουσησι, {??}και του- 68
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του την προνοιαν ἐκμανθανειν. *) Hiermit will er den Aerzten rathen, daß sie sich auch das Göttliche, was etwa ein Kranker sagen möchte, zu verstehen, und was es für einen Ausgang haben würde, vorher verkündigen zu können, be streben sollten. Worüber ich mich aber bey die ser Materie nicht genug verwundern kann, ist, daß Plato, als man ihn fragte: woher es doch komme, daß von zwey Söhnen eines Vaters der eine Verse machen könne, ohne es jemals gelernt zu haben, der andre aber, der Mühe un geachtet, die er daran wende, keine machen ler ne; daß, sage ich, Plato hierauf hat antworten können: es käme daher, weil der eine, welcher als ein Dichter gebohren worden, begeistert sey; der andre aber es nicht sey. Aristoteles hatte also Grund, ihn zu tadeln, weil er nur auf das Temperament hätte zurück gehen dürfen, wie er es sonst schon gethan hatte. [] Daraus, daß ein phrenetischer Kranker la teinisch reden kann, ohne es jemals gelernt zu haben, erhellet nicht nur, daß die lateinische Sprache mit der vernünftigenSeele genau über einstimme, sondern auch, daß (wie wir weiter 69
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unten beweisen werden,) ein besondres Genie zur Erfindung der Sprachen gehöre. Die Wör ter und Redensarten, welche die lateinische Spra che hat, kommen auch in der That dem Gehö re so vernünftig vor, daß die Seele, wenn sie das Temperament bekömmt, das zur Erfindung der zierlichsten Sprache erfordert wird, sogleich auf diese, und auf keine andere fallen würde. Daß aber zwey Spracherfinder, wenn sie einer ley Genie und Fähigkeit hätten, auch einerley Worte erdenken würden, kann man sich durch folgendes Beyspiel begreiflich machen. Wenn GOtt, als er den Adam erschuf, und ihm alle Dinge, sie zu benennen, vorstellte, sogleich einen andern Menschen mit eben der Vollkommenheit, und mit eben den übernatürlichen Gaben aus gerüstet, erschaffen hätte; was würde wohl erfolgt seyn, wenn auch dieser die ihm vorgeführten Ge schöpfe hätten benennen sollen? Die Namen des letztern würden mit den Namen des Adams ohne allen Zweifel übereingestimmet haben. Die Ursache ist leicht zu begreifen: weil beyde auf die Natur der vorgestellten Geschöpfe gesehen hätten, diese Natur aber nur eine einzige ist. Auf eben die Art nun hat der phrenetische Kran ke auf die lateinische Sprache fallen, und sie, oh ne sie jemals gelernt zu haben, sprechen können. Das natürliche Temperament seines Gehirns hatte sich nämlich durch die Krankheit verändert, und war auf eine zeitlang so geworden, wie das Temperament des Erfinders der lateinischen
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Sprache gewesen ist, daß er also nothwendig eben die Worte erfinden mußte, ob er sie gleich nicht in eben der Ordnung, und in eben der an einanderhängenden Zierlichkeit erfand, welches sonst, wie die Kirche ihre Exorcisten lehret, ein Merkmal gewesen wäre, daß ein Geist die Zunge bewege. Fast eben dieses sagt Aristote les, *) wenn er die Ursache untersucht, warum manchmal Kinder gleich nach ihrer Geburt ver schiedne Worte ganz deutlich reden könnten, und bald darauf wieder stumm würden? Er vergißt bey dieser Gelegenheit nicht die gemei nen Weltweisen seiner Zeit zu widerlegen, wel che diese Wirkung bloß, weil sie die natürliche Ursache davon nicht wußten, den Geistern zu schrieben. [] Die wahre Ursache, warum manchmal Kin der gleich nach ihrer Geburt reden, und hernach wieder stumm werden, hat Aristoteles nicht fin den können, ob er sich gleich ziemlich weitläuf tig dabey aufhält. Dennoch aber kam es ihm niemals ein, eine Erfindung der Geister oder sonst eine übernatürliche Wirkung daraus zu machen, wie die gemeinen Philosophen thun, die, wenn sie sich von allzufeinen und verworrenen Aufgaben aus der Naturwissenschaft umringt se hen, den unwissenden Pöbel bereden, die Geister wären die Urheber der seltenen und wunderbaren Wirkungen, von welchen sie die natürlichen Ur sachen nicht wissen noch einsehen. 70
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[] Die Kinder, welche aus kaltem und trocknen Saamen erzeugt werden, dergleichen alle dieje nigen sind, welche die Aeltern in ihrem Alter bekommen, fangen sehr wenig Tage oder Mo nate nach ihrer Geburth an zu denken und zu schliessen: weil das kalte und trockene Tempe rament, wie wir unten beweisen werden, zu den Verrichtungen der vernünftigen Seele am ge schicktesten ist, und die erforderliche Beschaffen heit des Gehirns, welche aus vielen Ursachen sich so früh einfindet, dasjenige ersetzt, was sonst nur die Länge der Zeit wirken kann. Andre Kin der, sagt Aristoteles am angeführten Orte, kön nen gleich nach ihrer Geburt reden, und werden hernach so lange wieder stumm, bis sie zu dem Alter gelangen, in welchem man gewöhnlicher Weise reden lernt. Diese Wirkung hat eben die Ursache, die wir bey Gelegenheit des Pagen, der übrigen Wahnwitzigen, und des Kranken, welcher auf einmal lateinisch reden konnte, ohne daß er es jemals gelernt hatte, angeführet ha ben. Daß aber die Kinder gleich nach ihrer Geburt, ja sogar schon im Mutterleibe, in eben diese Krankheiten fallen können, ist eine Sache, die man schwerlich leugnen wird. [] Wie man aber die Prophezeyhung der phre netischen Weibsperson begreifen solle, werde ich mit den Worten des Cicero besser, als mit ir gend eines Philosophen, erklären können. Er sagt nämlich, wenn er die menschliche Natur mit wenig Worten beschreiben will: Animal
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prouidum, sagax, multiplex, astutum, memor, plenum rationis et consilii; quem vocamus hominem. Besonders sagt er, daß gewisse menschliche Naturen in Erkenntniß zukünftiger Dinge vor andern einen grossen Vorzug ha ben. *) Der Fehler der Philosophen bestehet darinnen, daß sie, wie es gleichwohl Plato that, die Aehnlichkeit nicht in Betrachtung ziehen, nach wel cher der Mensch mit GOtt erschaffen ward, und vermöge welcher er an der göttlichen Vorherse hung Theil nimmt, so daß er alle drey Verschie denheiten der Zeit zu erkennen fähig ist, die ver gangene durch das Gedächtniß, die gegenwärtige durch die Sinne, und die zukünftige durch die Einbildung und den Verstand. Wie es nun Menschen giebt, welche andre in Erinnerung ver gangener Sachen, oder in Empfindung des Ge genwärtigen übertreffen; so giebt es auch Men schen, welche mehr natürliche Fähigkeit, sich das Zukünftige vorzustellen, besitzen, als andre. Ei ner von den stärksten Bewegungsgründen, wel che den Cicero, die Unvergänglichkeit der vernünf tigen Seele zu glauben, zwangen, war die Ge wißheit, mit welcher die Kranken das Zukünf tige vorher sagten, besonders, wenn sie dem To de sehr nahe wären. Der Unterschied aber zwi schen dem prophetischen Geiste und dieser na 71
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türlichen Fähigkeit bestehet darinnen, daß das jenige, was GOtt durch den Mund der Prophe ten verkündiget, untrieglich seyn muß, weil es sein ausdrückliches Wort ist, da dasjenige, was der Mensch, vermöge seiner natürlichen Einbil dungskraft vorher sagt, diese untrügliche Ge wißheit nicht hat. [] Diejenigen, welche es für ein Kunststück des Teufels ausgeben, daß jene phrenetische Kran ke die Tugenden und Laster derjenigen, die sie zu besuchen kamen, zu sagen gewust, sollen wissen, daß GOtt manchem Menschen die übernatürli che Fähigkeit zu erkennen, welche Werke von GOtt, und welche von dem Teufel sind, ertheilt. Diese Gabe rechnet Paulus unter die göttlichen Gnadengaben, und nennt sie διακρισιν πνευμα- των, weil man durch sie erkennet, ob es ein böser oder ein guter Engel sey, welcher uns treibet. Denn da uns oft der Teufel unter der Gestalt eines guten Engels zu verführen sucht, so ist die se übernatürliche Gabe höchst nöthig, um ihn von den guten Engeln zu unterscheiden. Diese übernatürliche Gabe aber anzunehmen, sind die jenigen, welche kein Genie zur Naturforschung haben, weit ungeschickter, als alle andre, weil diese Wissenschaft und jene von GOtt ertheilte übernatürliche Gabe einerley Vermögen, näm lich den Verstand betreffen: wenn es anders wahr ist, daß sich GOtt meistentheils, wie ich oben gesagt habe, in Austheilung seiner unmit
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telbaren Gnade, nach der natürlichen Fähig keit eines jeden richtet. [] Als Jacob eben sterben wollte, (welches die Zeit ist, da die vernünftige Seele am unge bundesten und also am geschicktesten ist, in die Zukunft zu dringen,) traten alle seine zwölf Söhne vor ihn, und jedem von diesen zwölfen sagte er nicht nur seine Tugenden und seine La ster, sondern prophezeyhete ihm auch, was mit ihm und seinen Nachkommen geschehen werde. Es ist gewiß, daß Jacob dieses von dem Geiste GOttes getrieben, that. Wenn uns nun aber die heilige Schrift und unser Glaube davon nicht überzeugten; woran sollten es denn jene Natur forscher erkennen, daß dieses ein Werk GOttes gewesen wäre, jenes aber ein Werk des Teufels, da die phrenetische Kranke allen, die sie zu be suchen kamen, ihre Tugenden und Laster gesagt hat? Sie glauben zwar, die Natur der ver nünftigen Seele sey von der Natur des Teufels ganz unterschieden, und ihre Kräfte, ich meyne den Verstand, die Einbildungskraft und das Ge dächtniß, wären von einer ganz andern Art. Al lein, sie irren sehr. Wenn die vernünftige See le sich in einem vortheilhaften Körper befindet, wie etwa der Körper des Adams war, so weiß sie fast eben so viel, als der verschmitzteste Teu fel, und wenn sie ausser dem Leibe ist, so hat sie eben so feine Fähigkeiten als er. Können also die Teufel das Zukünftige durch Muthmassun gen, und aus den und jenen Merkmalen gezoge
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ne Folgerungen erkennen, so muß es auch die vernünftige Seele erkennen können, wenn sie im Begriffe ist, von dem Körper getrennt zu wer den, oder dasjenige Temperament hat, welches den Menschen, in die Zukunft zu dringen, ge schickt macht. Dem Verstande aber ist es gleich schwer zu begreifen, wie die Teufel diese Fä higkeit haben können, oder wie sie die vernünf tige Seele haben kann. Uebrigens haben sich diejenigen, welche wider unsre vorgebrachte Mey nung streiten, niemals in Sinn kommen lassen, daß es in den natürlichen Ursachen gewisse Zei chen geben könne, aus welchen sich das Zukünf tige einigermassen schliessen liesse. Jch versiche re sie also, daß es nicht nur Merkmale giebt, aus welchen man das Vergangene und Gegen wärtige erkennen kann, sondern auch Merkma le, aus welchen sich das Zukünftige, ja sogar Geheimnisse des Himmels, muthmassen lassen. *) Wer das natürliche Vermögen dazu besitzt, der wird gewiß, sowohl in diese, als in jene, ein dringen, wenn es von den andern, wie Homerus sagt, heissen wird: der Dumme sieht das, was vergangen ist, nicht das, was kommen soll, ein: der Kluge aber ist der Affe der Götter. Er ah met ihnen in unzähligen Sachen nach, und ob= 72
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gleich seine Nachahmungen die vollkommensten nicht sind, so wird er ihnen doch dadurch schon gewissermassen ähnlich, daß er ihnen nachahmet.

Fünftes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß bloß aus den drey Hauptbeschaffenheiten der Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit, alle Verschiedenheiten des menschli chen Genies entsprin gen.

[] Da die vernünftige Seele in dem Körper ist, so wäre es unmöglich, daß sie verschiede ne und oft einander entgegengesetzte Wirkun gen hervorbringen könnte, wenn sie nicht zu je der dieser Wirkungen ihre besondern Werkzeu ge hätte. Dieses erhellet deutlich aus der ani malischen Vermögenheit, welche in den äusserli chen Sinnen ganz verschieden wirket, weil jeder seinen besondern Bau hat. Einen besondern Bau haben die Augen, einen besondern die Oh ren, einen besondern der Geschmack, einen beson dern der Geruch, und einen besondern das Ge fühl. Wenn dieses nicht wäre, so würde die animalische Vermögenheit nur eine Art der Ver richtungen haben, und alles würde entweder se
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hen, oder schmecken, oder fühlen seyn; weil das Werkzeug die Vermögenheit nur zu einer, nicht aber zu mehrern Handlungen einrichten und bestimmen kann. [] Aus dem, was an den äusserlichen Sinnen so klar und deutlich ist, können wir schliessen, wie es mit den innern Sinnen beschaffen seyn müsse. Durch eben diese animalische Vermö genheit haben wir Verstand, Einbildung und Gedächtniß. Wenn es also wahr ist, daß jede Wirkung ihr besonderes Werkzeug erfordert, so muß nothwendig in dem Gehirne ein besonderes Werkzeug zum Verstande, ein besonderes zur Einbildung, und ein besonderes zum Gedächt nisse seyn; weil, wenn das Gehirn nur auf einer ley Art organisirt wäre, alles entweder nur Ge dächtniß, oder Verstand, oder Einbildung seyn würde. Da wir aber die Verschiedenheit der Wirkungen erkennen, so müssen wir auch die Verschiedenheit der Werkzeuge eingestehen. Laßt uns also den Kopf öfnen, und das menschliche Gehirn untersuchen. Alles ist darinnen auf ei nerley Art und von einerley homogenischer Ma terie, ohne die geringste Vermischung heteroge nischer Theile zusammmengesetzt; nur vier kleine Ventrikel fallen in die Augen, die aber auch alle viere von einerley Zusammensetzung und Gestalt sind, so daß man auch nicht das geringste wahr nehmen kann, woran sie etwa unterschieden seyn möchten.
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[] Welches aber der besondere Gebrauch und Nutzen dieser Ventrikel sey, und warum sie ei gentlich in dem Gehirne da sind, ist sehr schwer zu sagen. Weder Galenus, noch die übrigen sowohl alten als neuen Zergliederer, die sich mit dieser Untersuchung abgeben, wissen genau zu be stimmen, zu was der rechte oder linke, der mitt lere oder hinterste Ventrikel des Gehirns diene. Kaum, daß sie (und auch dieses noch ganz furchtsam,) uns versichern, diese vier Höhlun gen wären die vier Werkstäte, wo die Lebens geister zubereitet, und in animalische ver wandelt würden, damit sie in alle Theile des KörpersEmpfindung und Bewegung bringen könnten. Bey dieser Beschäftigung, sagt Ga lenus an einem Orte, thut der mittelste Ventri kel das Vornehmste; an einem andern Orte aber giebt er zu verstehen, daß es der hinterste Ventrikel sey, auf welchen das Hauptwerk an komme *) [] Doch diese Lehre ist nichts weniger, als wahr, oder in der Naturwissenschaft gegründet; weil es in dem ganzen menschlichen Körper keine Verrichtungen giebt, die so verschieden und ein ander so verhinderlich wären, als das Denken und das Verdauen der Säfte. Das Denken erfordert Ruhe, Stille und Klarheit der anima 73
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lischen Geister; die Verdauung aber geschiehet mit grosser Bewegung und vielem Geräusche; daher nicht wenig Dünste dabey in die Höhe getrieben werden, welche die Lebensgeister so ver wirren und verdunkeln, daß die vernünftige See le die Gestalten der Dinge dadurch unmöglich erkennen kann. So unvorsichtig aber ist die Natur gewiß nicht gewesen, daß sie zwey einan der so widerstreitende Verrichtungen an einen Ort sollte gelegt haben. Plato erhebt vielmehr *) ihre Weisheit ganz ausserordentlich, daß sie in unserm Baue die Leber so weit von dem Ge hirne gelegt habe, damit durch den Lerm, wel chen die Untereinandermengung der Nahrung verursacht, und durch die Dunkelheit und den Nebel, welcher von den aufsteigenden Dünsten in den animalischen Geistern entstehet, die ver nünftige Seele in ihrem Denken und Schliessen nicht gestöret würde. Doch, ohne daß uns Pla to dieses durch seine Philosophie hätte lehren dür fen, sehen wir denn nicht aus der täglichen Er fahrung, daß, so weit die Leber und der Magen auch von dem Gehirne entfernet sind, der Mensch gleichwohl eine ziemliche Zeit nach dem Essen zum Studiren gar nicht aufgelegt ist? [] Was das Wahrscheinlichste hierbey zu seyn scheinet, ist dieses, daß der vierte und hinterste Ventrikel das Amt habe, die Lebensgeister zu bereiten, und sie in animalische zu verwandeln, damit sie zu besagtem Gebrauche dienlich wer 74
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den. Die Natur entfernte ihn daher mit Fleiß so weit von den andern dreyen, und machte, so zu reden, ein besonderes Gehirn daraus, damit er mit seinen Verrichtungen die übrigen drey in ihren Betrachtungen nicht störete. Die drey vordersten Ventrikel bestimmte die Natur ohne Zweifel zum Schliessen und Nachdenken; welches man daraus deutlich genug erkennet, daß bey allzuvielem und starken Nachdenken nur derjenige Theil des Kopfes Schmerzen empfin det, welcher diesen drey Höhlungen entgegen steht. Die Stärke dieses Schlusses aber erhel let daher, daß, wenn die übrigen Kräfte in ih ren Verrichtungen ermüdet sind, allezeit dieje nigen Theile schmerzen, welche in den Verrich tungen sind angegriffen worden; z. E. von all zuvielem Sehen schmerzen die Augen, und von allzuvielem Gehen die Fußsohlen. [] Die vornehmste Schwierigkeit ist nunmehr, wie wir erkennen wollen, welcher Ventrikel dem Verstande, welcher der Einbildung, und welcher dem Gedächtnisse bestimmt sey, da sie so nahe und verbunden unter einander sind, daß man weder aus dem vorhin angeführten Grunde, noch durch irgend ein andres Zeichen einen Unter schied an ihnen entdecken kann. Wenn wir aber überlegen, daß der Verstand nicht wirken kann, ohne die Gegenwart des Gedächtnisses, welches ihm die Bilder vorstellen muß; noch das Gedächtniß, ohne Beystand der Einbil
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dungskraft: *) so begreifen wir gar leicht, daß alle drey Vermögenheiten in einem jeden Ven trikel beysammen seyn müssen, und daß nicht in dem einen der Verstand allein, in dem andern al lein das Gedächtniß, und in dem dritten allein die Einbildungskraft ihren Sitz haben könne, wie sich die gemeinen Weltweisen eingebildet ha ben. Diese Verbindung der Vermögenheiten ist auch sonst in dem menschlichen Körper anzu treffen, da keine ohne Beyhülfe der andern wir ken kann, wie zum Beyspiel aus den vier na türlichen Kräften erhellet, der Kraft zu verdauen, der Kraft an sich zu behalten, der Kraft an sich zu ziehen, und der Kraft von sich auszustossen, welche die Natur, weil jede der andern unent behrlich ist, an einen einzigen, und nicht an verschiedene Oerter legte. [] Wenn dieses nun aber wahr ist, warum machte denn die Natur drey besondere Ventri keln, und warum verband sie in allen dreyen al le drey Vermögenheiten, da ein einziger hinläng lich gewesen wäre, die Werke des Verstandes, des Gedächtnisses, und der Einbildung, zu voll ziehen? Hierauf kann man antworten: daß sich eben diese Schwierigkeit finden würde, wenn man untersuchen wollte, warum uns die Natur zwey Augen und zwey Ohren gegeben habe, da doch in einem jeden Ohre, und in einem jeden Auge das Vermögen zu hören und zu sehen sey, und 75
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wir also mit einem Ohre hören, und mit einem Auge sehen könnten? Die Ursache davon ist diese: weil ein Thier seiner Vollkommenheit de sto sicherer seyn kann, je zahlreicher an ihm die jenigen Vermögenheiten sind, die diese Vollkom menheit ausmachen. Wie leicht können eine oder zwey aus der oder jener Ursache daran feh len, daß es also sehr gut ist, wenn es mehrere von gleicher Art hat, die es brauchen kann. Jn derjenigen Krankheit, welche die Aerzte den Schlag oder die Paralysis nennen, verlieret ge meiniglich derjenige Ventrikel seine Wirksam keit, welcher auf der Seite liegt, die der Schlag getroffen hat. Wenn also die übrigen zwey nicht unverletzt blieben, so würde der Mensch aller seiner Seelenkräfte beraubt seyn, da man ohnedem schon merkt, daß die Werke des Ver standes, der Einbildungskraft, und des Gedächt nisses um ein grosses geschwächt werden, wenn auch nur eines von den Ventrikeln untüchtig ge worden ist. Empfindet man doch schon an dem Gesichte eine grosse Abnahme, wenn man ein Auge verlieret, da man vorher mit zweyen zu sehen gewohnt war. Es ist daher unwider sprechlich, daß in jedem Ventrikel alle drey Ver mögenheiten verbunden sind, weil, wenn eine da von verletzt wird, alle drey geschwächt werden. [] Da nun offenbar ist, daß alle drey Ventri kel auf einerley Art zusammengesetzt sind, und daß in ihnen keine Verschiedenheit der Theile anzutreffen ist; so müssen wir nothwendig zu den
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vier Hauptbeschaffenheiten unsre Zuflucht neh men, und aus ihrer Anzahl die Anzahl der Hauptverschiedenheiten der Genies zu bestim men suchen: denn sich einzubilden, daß die ver nünftige Seele, so lange sie in dem menschlichen Körper ist, ohne Mithülfe eines körperlichen Werkzeuges wirken könne, ist wider alle natür liche Philosophie. Von den vier Hauptbeschaf fenheiten aber, der Wärme und Kälte, der Tro ckenheit und Feuchtigkeit, verwerfen alle Aerzte einmüthig die Kälte, als diejenige, welche zu den Wirkungen der vernünftigen Seele ganz und gar ungeschickt ist. Auch alle übrige Ver mögenheiten, wenn die Kälte die Wärme über steigt, sind, wie die Erfahrung lehret, in ihren Wirkungen sehr träge und schläfrig, so, daß we der der Magen verdauen, noch die Testikel frucht baren Saamen zubereiten, noch die Muskeln den Körper bewegen, noch das Gehirn überle gen kann. Galenus spricht daher: *) Φανε- ρως γαρ ψυχροτης πασι τοις ἐργοις της ψυ- χης λυμαινεται; als wollte er sagen: die Kälte macht, daß die Seele alle ihre Wirksam keit verlieret, und dient in dem Körper zu nichts, als die natürliche Hitze zu mässigen. Nur Ari stoteles*) scheint einer andern Meynung zu seyn, wenn er behauptet, das warme und dicke 76 77
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Blut verursache Stärke und Kräfte, das dün ne und kalte aber mache, daß der Mensch einen grossen Verstand habe. Aus der Kälte also müßte die größte Verschiedenheit der Genies, die in dem Menschen sind, entstehen; denn diese ist ohne Zweifel der Verstand. Von gleichem Jn halte ist die Antwort, die er*) auf die Frage er theilet: warum die Einwohner in heissen Län dern, zum Beyspiel die Aegyptier, sinnreicher und weiser wären, als die Einwohner in kalten Ländern? Er sagt nämlich, die allzugrosse Hi tze des Erdstrichs verderbe und verzehre die na türliche Hitze des Gehirns, und lasse nichts als Kälte zurück, welche eben dasjenige sey, was einige Menschen vernünftiger als andere mache; die allzugrosse Kälte der Luft aber stärke die na türliche Hitze des Gehirns, und lasse sie nicht zum Ausduften kommen. Daher sind, fähret er fort, diejenigen, welche ein hitziges Gehirn haben, zum Nachdenken und Philosophiren gar nicht aufgelegt; sie sind vielmehr sehr unruhig, und bleiben selten lange bey einer Meynung. Auf diesen Satz scheinet Galenus zu zielen, wenn er **) sagt: die Hitze des Gehirns sey die Ur sache, daß diese und jene so unbeständig wären, und jeden Augenblick eine andre Meynung hät ten; da hingegen die Beständigkeit, mit wel cher man bey den einmal gefaßten Gedanken bliebe, aus der Kälte des Gehirns entstünde. 78 79
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[] Jn Wahrheit aber entstehet aus dieser Be schaffenheit keine Verschiedenheit des Genies, und Aristoteles hat eigentlich auch nicht sagen wollen, daß ein kaltes, sondern, daß ein am we nigsten hitziges Geblüte die Ursache eines grös sern Verstandes sey. Gleichfalls rühret die Un beständigkeit eines Menschen nur von der allzu grossen Hitze her, welche die Bilder in dem Gehirne erhebet, und so zu reden zum Aufsie den bringt, so daß sich deren allzuviele dem Gei ste darstellen, und ihn, sie zu betrachten, einladen; da er denn, weil er sie alle geniessen will, von ei nem auf das andre springen muß. Das Ge gentheil hiervon äussert sich bey der Kälte, die, weil sie die Bilder unterdrückt, und nicht aufkom men läßt, den Menschen bey einer Meynung fe ste erhält, indem keine andre aufsteigen, die ihn davon abziehen könnten. Ueberhaupt ist das die Eigenschaft der Kälte, daß sie die Bewegun gungen nicht allein der körperlichen Dinge, son dern auch der Bilder und Begriffe, welche die Weltweisen für etwas geistiges halten, verhin dert, und sie in dem Gehirne unbeweglich macht; diese Festigkeit aber ist vielmehr für eine Träg heit, als für eine Verschiedenheit des Genies zu halten. Doch giebt es auch noch eine andre Art der Festigkeit, welche daher entstehet, weil der Verstand allzusehr eingeschlossen ist, nicht aber, weil das Gehirn zuviel Kälte hat. Es bleiben also bloß die Trockenheit, die Feuchtigkeit, und die Wärme, die Werkzeuge der vernünfti
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gen Vermögenheiten. Welcher Weltweise aber kann denn bey jeder Gattung des Genies das jenige bestimmen, was eigentlich ihre Verschie denheit ausmacht? Heraklitus*) sagte: ἀυγη jηρη, ψυχη σοφωτατη, und will uns durch diesen Ausspruch zu verstehen geben, die Trocken heit wäre es, welche den Menschen weise ma che; er sagt aber nicht, welche Art der Weisheit er hier verstehe. Eben dieses sagt Plato, wenn er vorgiebt, unsere Seele komme sehr weise in den Körper; durch die viele Feuchtigkeit aber, die sie in demselben fände, würde sie träge und thöricht, bis sich diese mit der Zeit verlöre, und die Trockenheit ihre erste Weisheit wieder entdecke. Unter den unvernünftigen Thieren, sagt Aristoteles, sind diejenigen die klügsten, in deren Temperamente die Kälte und Trockenheit herrschet, dergleichen die Ameisen und Bienen sind, welche an Klugheit mit den allervernünftig sten Menschen um den Rang streiten. Jm Ge gentheil ist das Schwein dasjenige Thier, wel ches die meiste Feuchtigkeit und also den wenig sten Verstand hat; daher auch Pindarus, wenn er die Dummheit der Böotier beschreiben will, sagt: ἠν ὁτε συας βοιωτιον οὐθνος ἐνεπον, **) 80 81
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Sogar das Blut, sagt Galenus, *) macht die Men schen wegen der allzuvielen Feuchtigkeit einfältig. Er erzählt daher, die Komödienschreiber hätten über die Söhne des Hippokrates, als über Leute gespottet, die viel natürliche Wärme hätten, als welches eine sehr feuchte und flüchtige Substanz ist. **) Diesem Fehler sind fast alle Söhne weiser Leute unterworfen, wovon wir weiter un ten den Grund angeben wollen. Unter den vier Flüssigkeiten endlich ist die Melancholie die käl teste und trockenste von allen; und gleichwohl versichert Aristoteles, ***) daß alle, die sich je mals in der Welt durch die Gelehrsamkeit her vorgethan hätten, Melancholici gewesen wären. Kurz, alle kommen darinnen überein, daß die Trockenheit den Menschen geschickt mache; kei ner aber bestimmt zu welchen Wirkungen der vernünftigen Seele eigentlich die Trockenheit am vortheilhaftesten sey. Der einzige Prophet Je saias nennt sie mit Namen, wenn er (im 28. Hauptst.) sagt: Anfechtung giebt Ver stand; denn die Anfechtung, die Traurigkeit, die Betrübniß verzehret nicht allein die Feuchtigkeit des Gehirns, sondern trocknet auch die Gebeine aus, daß sie also durch die Trockenheit, welche sie verursacht, den Verstand weit schärfer und 82 83 84
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durchdringender macht. Einen unwidersprechli chen Beweis kann man daraus nehmen, wenn man überlegt, daß oft Leute, so lange sie in Ar muth und Verachtung gelebt, die bewunderns würdigsten Lehren gesagt und geschrieben haben; sobald sie aber in bessere Umstände, zum guten Essen und Trinken gekommen sind, haben sie selten was gescheutes mehr reden können, weil das köstliche Leben, die Ruhe, der gute Fortgang, die Erlangung aller Wünsche das Gehirn schlaff und feuchte machen. Dieses ist es, was Hip pokrates*) unter dem ἡ ἐυθυμιη ἀφιει καρ- διην verstehet; die Zufriedenheit erweitert das Herz, und giebt ihm Wärme und Fettigkeit. Man kann dieses auch auch ganz leicht auf eine andre Art beweisen: wenn nämlich die Traurig keit und die Anfechtung das Fleisch austrocknet und verzehret, und also den Verstand des Men schen vermehret, so muß ihr Gegentheil, welches die Freude ist, nothwendig das Gehirn feuchte, und den Verstand schwach machen. **) Dieje nigen also, die ein solch Genie bekommen sollen, legen sich sogleich auf Zeitvertreib, wohnen den Schmausereyen, der Musik, und andern lustigen Gesellschaften bey, und fliehen im Gegentheil al les, was ihnen vordem Freude und Vergnügen machte. Hieraus mag das gemeine Volk die 85 86
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Ursache einsehen lernen, woher es komme, daß ein weiser und tugendhafter Mann, der vorher in Armuth und Verachtung gelebt hat, wenn er zu einer grossen Ehrenstelle erhaben wird, sogleich alle seine Gewohnheiten, und sogar seine Art zu denken ändert. Diese Veränderung nämlich entsteht daher, weil er ein ganz anderes, feuch tes und dunstiges Temperament bekommen hat, welches die Bilder, die er vorher im Gedächt nisse hatte, auslöscht, und den Verstand trä ge macht. [] Von der Feuchtigkeit ist es schwer zu be stimmen, welche Gattung des Genies aus ihr entstehe, weil sie sogar sehr den vernünf tigen Vermögenheiten widerstrebet. Nach der Meynung wenigstens des Galenus, machen alle Feuchtigkeiten unsers Körpers, wenn sie allzuflies send sind, den Menschen dumm und unverstän dig. Το μεν ὀjυ, spricht er, *) και συνετον ἐν τῃ ψυχῃ δια τον χολωδη χυμον ἐϛαι. Το δ' ἑδραιον και βεβαιον δια τον μελαγχο- λικον. Το δ' ἁπλουν και ἠλιθιωτερον δια το ἁιμα. Του δε φλεγματος ἡ φυσις εἰς μεν ἠθοποιϊαν ἀχρηϛος. Die Klug heit, will er sagen, und die Stärke des Geistes, entstehen von der Galle; die Beständigkeit des Menschen entspringt aus der melancholischen Feuchtigkeit; die Dummheit und Einfalt aus dem Blute; das Phlegma aber kann die See 87
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le zu nichts brauchen, als zum Schlafen. Das Blut also, weil es flüssig ist, und das Phlegma ma chen, daß die Seele ihre vernünftigen Vermögen heiten und ihr Genie verliert; doch ist dieses nur von den thätigen, und nicht von den leidenden ver nünftigen Vermögenheiten zu verstehen, wie zum Beyspiel das Gedächtniß ist, welches von der Feuchtigkeit abhänget, so wie der Verstand von der Trockenheit. Wir nennen aber das Gedächt niß deswegen eine vernünftige Vermögenheit, weil ohne dasselbe der Verstand und die Einbil dungskraft ohne allen Nutzen ist. *) Beyden muß es den Stoff zum Schliessen und die Bil der hergeben; daher Aristoteles sagt: ὁταν δε θεωρῃ, ἀναγκη ἁμα φαντασμα τι θεωρειν. Diese Bilder muß das Gedächtniß beständig in Bereitschaft halten, so oft sie der Verstand be trachten will. Wenn also das Gedächtniß ver loren geht, so ist es unmöglich, daß die übrigen Vermögenheiten wirken können. Daß aber sei ne ganze Verrichtung in weiter nichts besteht, als in Behaltung dieser Bilder, ohne daß sie ei gene Erfindungen hat, dieses drückt Galenus**) folgender Gestalt aus: την μνημην ἀποτι- 88 89
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θεσϑαι τε και φυλαττειν ἐν ἀυτῃ γνωσϑεν- τα δἰ αἰσϑησεως και νου, ταμειον τι των εἰρημενων ἀτοις οὐσα, οὐκ ἀυτην ἑυρισκουσαν ἑκαϛου πραγματος φυσιν. Seine Verrich tung erhellet auch daraus, daß es von der Feuch tigkeit abhänget, weil diese das Gehirn weich macht, und die Bilder sich ihm, vermittelst des Eindrucks, einverleiben. Dieses zu beweisen, kann man keinen stärkern Beweis, als die Kind heit anführen, als in welchem Alter man mehr in das Gedächtniß faßt, als in allen übrigen, weil das Gehirn zu der Zeit am feuchtesten ist. Auch Aristoteles legt *) die Frage vor: δια τι πρεσβυτεροι μεν γινομενοι μαλλον νουν ἐχο- μεν, νεωτεροι δε ὀντες, θαττον μανθανο- μεν; das ist: warum wir im Alter mehr Ver stand haben, und in der Jugend leichter lernen? Er antwortet hierauf: weil das Gedächtniß al ter Leute von allen den Sachen, die sie Zeit ihres Lebens gesehen und gehört haben, schon so erfüllt sey, daß es nichts mehr fassen könne, was sie auch noch hereinbringen wollten, indem kein lee rer Platz in dem Gehirne zu finden wäre; bey jungen Leuten aber, die seit noch nicht langer Zeit gebohren worden, sey das Gedächtniß noch ganz unbesetzt, und können also alles, was man sie lehre, ganz leichte fassen. Dieses noch deut licher zu machen, vergleiche ich das Morgenge dächtniß mit dem Abendgedächtnisse, und sage, daß man des Morgens weit besser lerne, weil 90
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das Gedächtniß noch leer sey, daß man aber des Abends sehr schwer lerne, weil das Gedächt niß mit allem angefüllet sey, was uns den Tag über begegnet ist. Doch die Antwort des Ari stoteles auf diese Aufgabe ist nichts weniger als richtig. Wenn die Bilder in dem Gedächtnis se körperlich und also einen Platz einnähmen, so möchte sie ganz gut seyn; da diese Bilder aber unkörperlich und geistig sind, so können sie den Ort, wo sie sind, weder voll noch leer machen. Und sehen wir nicht aus der Erfahrung, daß das Gedächtniß von Tag zu Tag stärker, und desto fähiger wird, je mehr man es angreift? Aus meinen Grundsätzen folgt eine weit klärere Auf lösung dieses Problems, diese nämlich: die Al ten haben viel Verstand, weil sie viel Trocken heit haben, und haben wenig Gedächtniß, weil sie wenig Feuchtigkeit haben. Die Substanz ihres Gehirns wird also hart, und kann den Eindruck der Bilder nicht annehmen; so wie das harte Wachs den Abdruck des Siegels sehr schwer, das weiche aber sehr leicht annimmt. Das Gegentheil ereignet sich an iungen Leuten, welche wegen der vielen Feuchtigkeit ihres Ge hirns die verständigsten nicht sind, wegen seiner grossen Weiche aber ein weit stärkeres Ge dächtniß haben; weil die Bilder, welche von aus sen in das Gehirn kommen, in dasselbe, vermö ge seiner Feuchtigkeit, einen weit grössern, leich tern, tiefern und deutlichern Eindruck machen können. Daß das Gedächtniß des Morgens weit fähiger sey, als des Abends, kann man
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nicht leugnen; nur trift Aristoteles die rechte Ursache nicht, welche diese ist: der Schlaf der vergangenen Nacht hat das GehirnGehien befeuchtet und gestärkt, da es das Wachen den ganzen Tag über austrocknet und harte macht. Daher sagt Hippokrates*): ὀκοσοισι δε πινειν ὀρεjιες νυκτωρ τοισι πλην διψωσιν, ἠν ἐπικοιμη- θωσιν, αγαθον; das ist: diejenigen, welche des Nachts grossen Durst empfinden, verlieren ihn durch das Schlafen, weil der Schlaf das Fleisch befeuchtet, und alle Kräfte, durch die der Mensch regieret wird, stärket. Daß aber der Schlaf diese Wirkung habe, bekennet Aristo teles selbst. **) [] Aus dieser Lehre fliesset unwidersprechlich, daß der Verstand und das Gedächtniß ganz entgegengesetzte und widrige Vermögenheiten sind, so, daß der, welcher ein starkes Gedächt niß hat, nothwendig am Verstande Mangel haben muß, und der, welcher einen grossen Verstand besitzet, kein gutes Gedächtniß besitzen kann, †) weil das Gehirn ohnmöglich zugleich übermässig trocken und übermässig feuchte seyn 91 92 93
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kann. Auf diesen Grund stützt sich Aristote les, *) wenn er beweisen will, daß das Gedächtniß und das Erinnern ganz verschiedne Vermögen heiten wären. Sein Schluß ist dieser: Leute, bey welchen das Erinnern stark ist, sind Leute von grossem Verstande; Leute aber, bey wel chen das Gedächtniß stark ist, sind Leute von wenig Verstande: folglich müssen das Erinnern und das Gedächtniß entgegengesetzte Vermögenheiten seyn. Der Vorsatz ist nach meiner Lehre falsch, weil diejenigen, bey welchen das Erinnern sehr stark ist, wenig Verstand und eine grosse Ein bildung haben, wie ich jetzo gleich beweisen wer de: der Nachsatz aber hat seine gute Richtig keit, obgleich Aristoteles die Ursache nicht traf, in welcher die Feindschaft des Verstandes und des Gedächtnisses gegründet ist. [] Aus der Wärme, welches die dritte Haupt beschaffenheit ist, entstehet die Einbildungskraft; weil weder eine andere vernünftige Vermögen heit in dem Gehirne, noch eine andere Haupt beschaffenheit, die sie verursachen könnte, mehr übrig ist; und weil überdieses die Wissenschaf ten, welche Wahnwitzige in ihrer Krankheit be sitzen, lauter solche Wissenschaften sind, die von der Einbildungskraft abhängen, und niemals solche, die dem Verstande, oder dem Gedächt nisse zugehören. Da aber der Wahnwitz, die Schwermuth, und die Raserey, nichts als hitzi ge Krankheiten des Gehirns sind, so ist der Be= 94
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weis stark genug, daß die Einbildungskraft in der Hitze bestehen müsse. Eine einzige Schwie rigkeit finde ich hierbey, und zwar diese, daß die Einbildungskraft sowohl dem Verstande, als dem Gedächtnisse entgegen ist. Hier nun kömmt der Grund mit der Erfahrung nicht überein, weil nicht nur viel Hitze und viel Trockenheit, sondern auch viel Hitze und viel Feuchtigkeit vollkommen wohl in dem Gehirne beysammen seyn, und also ein Mensch ganz wohl mit einer grossen Einbildungskraft sowohl einen grossen Verstand, als auch ein starkes Gedächtniß verbin den könnte. Und gleichwohl ist es ein wirkliches Wunder, wenn man einen Menschen von grosser Einbildungskraft findet, welcher zugleich einen grossen Verstand oder ein starkes Gedächtniß besitzet. Die Ursache aber ist ohne Zweifel die se, daß, wenn der Mensch verständig seyn soll, das Gehirn aus den allerfeinsten und zärtesten Theilen zusammengesetzt seyn muß, wie wir oben aus dem Galenus bewiesen haben. Die allzu grosse Hitze aber verderbt und verzehrt das Zarte, und läßt das Grobe und Jrrdische unbeschädi get. Aus eben diesem Grunde kann ein star kes Gedächtniß bey einer starken Einbildungs kraft nicht bestehen, weil die allzugrosse Hitze die Feuchtigkeit des Gehirns auflöset, und es tro cken und hart zurück läßt, daß es die Bilder so leicht nicht annehmen kann. *) 95
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[] Es sind also in dem Menschen nicht mehr als drey Hauptverschiedenheiten, weil es nicht mehr als drey Hauptverschiedenheiten des Ge hirns giebt, aus welchen sie entstehen könnten. Unter diesen drey Hauptverschiedenheiten aber sind sehr viel andre besondre Verschiedenheiten begriffen, nach den Graden, welche die Wärme, die Feuchtigkeit und die Trockenheit haben können. [] Doch entstehet auch nicht aus einem jeden Grade dieser drey Hauptbeschaffenheiten eine Ver schiedenheit des Genies; weil die Trockenheit, die Wärme und die Feuchtigkeit zu einem sol chen auschweifenden Grade steigen können, daß die Vermögenheiten der Seele gänzlich vernich tet werden, wie solches Galenus bekräftiget, wenn er *) sagt: πασαν ἁμετρον δισκρασιαν ἐκ- λυειν τας ἐνεργειας. Dieses ist so gewiß, daß selbst die Trockenheit, so zuträglich sie auch dem Verstande ist, einen solchen Grad erlangen kann, daß seine Wirkungen dadurch vernichtet werden. Galenus**) und die alten Philosophen wollen dieses zwar nicht zugeben: sie versichern viel mehr, daß, wenn das Gehirn der Alten nicht erkältete, ihr Verstand nimmermehr schwach und ohnmächtig werden würde, wenn ihre Trocken heit auch schon bis zu dem vierten Grade gestie gen wäre. Allein ihr Vorgeben hat keinen Grund, wie wir bey der Einbildungskraft zei 96 97
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gen wollen, die ihre Wirkungen vermittelst der Wärme verrichtet, sobald sie aber den dritten Grad derselben übersteigt, verwirrt zu werden anfängt. Eben dieses ereignet sich mit dem Ge dächtnisse, wenn die Feuchtigkeit allzugroß ist. [] Wie viel Verschiedenheiten des Genies aus den verschiednen Graden der drey Hauptbeschaf fenheiten eutstehen<entstehen>, können wir eher nicht beson ders bestimmen, bis wir alle Wirkungen und Handlungen des Verstandes, der Einbildungs kraft, und des Gedächtnisses werden durchgegan gen haben. Jm voraus aber darf man nur so viel wissen, daß der Verstand drey verschiedene Verrichtungen hat. Die erste ist das Schlies sen; die andere das Unterscheiden; die dritte das Erwählen; und aus diesen drey Stücken entstehen drey Verschiedenheiten des Verstandes. Gleichfalls in drey Verschiedenheiten theilt sich das Gedächtniß: das eine begreift schnell und vergißt gleich wieder; das andre begreift schwer und behält lange Zeit; das dritte ist eben so schnell im Begreifen als langsam im Vergessen. [] Weit mehr Verschiedenheiten finden sich bey der Einbildungskraft. Sie hat nicht allein drey Hauptverschiedenheiten, wie der Verstand und das Gedächtniß, sondern aus jedem Gra de, dessen sie fähig ist, entspringen drey andere. Hiervon werden wir in der Folge deutlicher handeln, wenn wir jeder diejenige Wissenschaft, die sich für sie schickt, bestimmen werden.
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[] Wer will, kann noch drey andre Verschieden heiten des Genies, nach den verschiedenen Fä higkeiten der Studirenden, bemerken. Einiger ihre Fähigkeit erstreckt sich nicht weiter, als auf die deutlichsten und leichtesten Theile der Wis senschaft, die sie erlernen; sobald sie auf etwas Dunkles und Verwirrtes darinnen kommen, so bald ist alle Mühe des Lehrers, ihnen durch aus gesuchte Beyspiele einen Begrif davon zu ma chen, und alle ihre eigene Anstrengung der Ein bildungskraft vergebens angewandt. Zu dieser Art gehören alle die Halbgelehrten aus jeder Fa cultät, die, wenn sie in den deutlichsten Din gen zu Rathe gezogen werden, nichts zu ant worten wissen, als was jedermann einsieht, und tausend Ungereimtheiten vorbringen, wenn sie von einer etwas besondern Sache reden sollen. [] Andre Genies stehen einen Grad höher, weil sie alles geschwind und ohne Mühe fassen können, sowohl die deutlichsten als dunkelsten, sowohl die leichtesten als schwersten Regeln und Untersuchungen ihrer Kunst. Die Lehre aber selbst, die Zweifel, die Unterscheidungen, alles dieses muß für sie schon erfunden seyn. Sol che Genies müssen die Wissenschaften von den besten und gelehrtesten Meistern lernen, müssen viel Bücher haben, und in diesen Büchern oh ne Unterlaß studiren; denn nur so viel wer den sie weniger wissen, als sie zu lesen und zu begreifen unterlassen haben. An ihnen trift der
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Aussprnch<Ausspruch> des Aristoteles*) ein: ὡσπερ ἐν γραμματειῳ ᾡ μηδεν ὑπαρχει ἐντελεχειᾳ γεγραμμενον, ὁπερ συμβαινει ἐπι του νου. Denn alles, was sie wissen und begreifen sollen, müssen sie erst von einem andern gehöret haben; aus sich selbst erfinden sie nichts. [] Der dritte Grad endlich ist der, da die Na tur gewisse Genies so vollkommen macht, daß sie gar keinen Lehrmeister brauchen, der ihnen, wie sie philosophiren sollten, sagen müßte. Aus einer Betrachtung, die ihnen der Lehrer vorträgt, ziehen sie hundert andere; und wenn er ihnen auch nichts vortrüge, so würde ihr Mund doch immer voller Weisheit und Wissenschaft seyn. **) Diese Art von Genies betrog den Plato, und brachte ihn dahin, daß er die ganze menschliche Wissenschaft für nichts, als eine Art des Erin nerns hielt; weil er sie Sachen vorbringen hör te, die niemals in eines Menschen Sinn ge kommen waren. 98 99
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[] Diesen letztern allein ist es erlaubt, Bücher zu schreiben, den andern aber nicht. *) Denn, wenn die Wissenschaften von Tag zu Tag zu nehmen und vollkommener werden sollen; so muß dasjenige, was uns die Alten in ihren Schriften hinterlassen haben, mit den neuen Er findungen der jetzt lebenden vermehrt werden. Wenn jeder zu seiner Zeit dieses thäte, so wür den die Künste nothwendig steigen, und die Nachwelt würde die Erfindungen und Arbeiten der vergangenen Zeiten nützen können. Allen denen, welche keine Erfindungskraft haben, soll te man es in einem Staate gar nicht erlauben, daß sie Bücher schrieben, und ans Licht stellten; weil alles, was sie thun, darinn besteht, daß sie in beständigen Zirkeln von Meynungen und Aus sprüchen grosser Schriftsteller, die sie ohn Un terlaß anführen und wieder anführen, herum laufen. Wenn man hier ein Stück borgen und dort ein Stück stehlen darf, so wird jeder ein Werk schreiben können. Die toscanische Spra che nennt die erfindenden Köpfe wegen der Gleichheit, die sie mit den Ziegen im Gehen 100
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undnnd in dem äusserlichen Betragen haben, ca- pricciosi. *) Die Ziege geht nicht gern auf dem Ebenen; sie liebt die Hügel und Felsen, auf welchen sie ganz allein herumklettert, und die Abgründe überschauet; sie bleibt auf keinem ge bahnten Wege, und sondert sich immer von der Heerde ab. Eben diese Eigenschaften hat die vernünftige Seele, wenn sie in einem wohlorga nisirten und gemässigten Gehirne wohnet; sie kann sich bey keiner Betrachtung lange aufhal ten; sie geht, ohne sich wo aufzuhalten, immer weiter fort, und sucht stets neue Sachen zu ent decken und zu begreifen. Von solchen Seelen trift der Ausspruch des Hippokrates ein: ψυ- χης περιπατος φροντις ἀνθρωποισιν. **) Jm Gegentheile giebt es andere Leute, die an einer einzigen Betrachtung hängen bleiben, und sich nicht einbilden können, daß in der Welt noch etwas mehr zu entdecken sey. Diese haben die Eigenschaften der Schafe, welche niemals die Fuß tapfen ihres Vorgängers verlassen, noch in wü sten und ungebähnten Orten herumzuschweifen sich getrauen; sie müßten denn dem betretenen Wege, oder dem, der sie anführt, folgen. Bey de Gattungen des Genies sind unter den Ge= 101 102
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lehrten nicht selten: die einen sind kühn, ver fahren nie nach den gemeinen Meynungen, beur theilen und treiben alles auf eine besondere Art, entdecken alle ihre Gedanken frey, und sind sich selbst ihre eignen Führer. Die andern sind furchtsam, demüthig, ruhig, und haben zu den Meynungen eines angesehenen Gelehrten ge schworen, welchem sie in allen folgen, dessen Mey nungen und Aussprüche sie für lauter Wahr heiten und unwidersprechliche Beweise halten, und dem allein zu glauben sey, wenn andre, die von ihm abgehen, nichts als Grillen und Lü gen vorbringen müssen. *) [] Diese zwey Gattungen der Genies zu sammen, schaffen sehr grosse Vortheile. Denn wie die Hirten zu einer grossen Heerde Schafe gemeiniglich ein Dutzend Ziegen gesellen, die sie beleben, und ihr mit geschwinden Schritten auf neue und unbetretene Weiden vorgehen müssen: so müssen auch in den menschlichen Wissenschaf ten einige erfindende Geister seyn, welche den Schafen in der Gelehrsamkeit neue Wunder der Natur entdecken, und sie auf niemals erhör te Betrachtungen, in welchen sie sich üben kön nen, bringen müssen. Nur auf diese Art wach sen die Wissenschaften, und nur auf diese Art lernen die Menschen von Tag zu Tage mehr. 103
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Sechstes Hauptstück. Worinnen verschiedne Gründe und Zweifel wider die Lehre des vorhergehen den Hauptstücks vorgetragen und gehoben werden.

[] Eine von den Ursachen, warum die Weisheit des Sokrates noch bis auf den heutigen Tag so ausnehmend gepriesen wird, ist, daß er, als ihn schon das Orakel für den weisesten Men schen auf der Welt erklärt hatte, noch immer sagte: das einzige, was er wisse, sey, daß er nichts wisse. Von allen denjenigen, wel che diesen Ausspruch gelesen oder gehört haben, ist er dahin ausgelegt worden, daß Sokrates ein sehr demüthiger Mann gewesen sey, der al les Menschliche verachtet, und in Ansehung des Göttlichen nichts wichtig und würdig genug be funden habe. Jn der That aber haben sich die se Ausleger geirret; weil keiner von den alten Philosophen die Tugend der Demuth erreicht, ja nicht einmal gekannt hat, †) bis GOtt selbst in die Welt herab kam, sie zu lehren. 104
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[] Alles, was Sokrates damit zu verstehen ge ben wollte, war, daß alle menschliche Wis senschaften höchst ungewiß wären, und daß der Verstand eines Weltweisen in allem, was er wisse, nicht anders, als unruhig und furchtsam seyn könne, weil alles voller Zweifel und nichts in der Welt sey, das man ohne Furcht des Gegen theils glauben könne. Salomo selbst sagt: der sterblichen Menschen Gedanken sind miß lich, und unsre Anschläge sind gefährlich. Wer eine wahrhafte Wissenschaft besitzen will, der muß ruhig und beständig bleiben, und muß niemals befürchten dürfen, er habe sich vielleicht geirret. Derjenige Weltweise aber, der in die sen Umständen nicht ist, kann mit Grunde der Wahrheit von sich behaupten, er wisse nichts. [] Eben diese Betrachtung macht Galenus, *) wenn er sagt: ἐπιϛημη γαρ ἐϛι γνωσις ἀρα- ρυια και βεβαια και ἀμεταπτωτος ὑπο 105
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λογου!ἀυτη δε οὐδε παρα τοις φιλοσοφοις ἐϛι, μαλιϛα ἐν τῳ φυσιολογειν!πολυ δε δη μαλλον οὐκ ἀν εἰη ἐν ἰατρικη, ἀλλ' ουδ' ὁλως εἰς ἀνθρωπους ἐρχεται. Diesem Aus spruche zu Folge möchte wohl die wahre Wis senschaft ganz und gar wegfallen, und dem Men schen nichts als eine Art von Meynungen übrig bleiben, die ihn voller Ungewißheit und Furcht, ob das, was er bejahet, wahr sey, oder nicht, lassen. Was aber Galenus an diesem Orte be sonders anmerkt, ist, daß unter allen Wissenschaf ten, deren sich die Menschen bedienen, die Welt weisheit und Arzeneykunst die allerungewissesten sind. Wenn dieses wahr ist, was wird man von der Weltweisheit sagen müssen, mit der wir uns jetzo beschäftigen, da wir eine so dunkle und schwere Sache, als die Kräfte und Fähigkeiten der vernünftigen Seele sind, mit dem Verstan de zu zergliedern suchen, und uns in eine Mate rie einlassen, die so voller Zweifel und Wider sprechungen ist, daß man nirgends festen Fuß setzen kann? [] Einer von den vornehmsten Zweifeln, die uns gemacht werden können, ist, daß wir den Verstand sowohl, als die Einbildungskraft und das Gedächtniß, zu einer organischen Vermögen heit gemacht, und ihm das trockene Gehirn zum Werkzeuge seiner Verrichtungen gegeben haben. Dieses ist schnurstracks wider die Lehre des Ari stoteles*) und aller seiner Anhänger, welche, da 106
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sie den Verstand zu etwas machten, das von dem körperlichen Werkzeuge ganz unterschieden wäre, gar leichte beweisen konnten, daß die Seele unsterblich sey, und nach ihrem Ausgan ge aus dem Körper, ewig bliebe; und obschon das Gegentheil noch streitig war, so blieb doch die Thüre allen Einwendungen verschlossen, weil sie nicht bewiesen werden konnten. [] Ueberdieses sind die Gründe, auf die Ari stoteles den Beweis seines Satzes, daß der Ver stand keine organische Vermögenheit sey, grün det, von solcher Stärke, daß es scheint, man kön ne unmöglich etwas anderes daraus schliessen. Da nämlich der Verstand dasjenige ist, wodurch wir die Natur und das Seyn aller körperlichen Dinge erkennen, so kann er mit nichts körperli chem verbunden seyn, oder das körperliche, mit welchem er verbunden wäre, würde ihn die an dern körperlichen Dinge zu erkennen verhindern. Wir sehen dieses deutlich an den äussern Sin nen: wenn der Geschmack durch etwas bittres verdorben ist, so wird ihm alles, was die Zun ge anrühret, bitter vorkommen; wenn die kry stallische Feuchtigkeit grün oder gelb ist, so wird das Auge glauben, alles, was es sieht, sey von dieser Farbe. Denn παρεμφαινομενον κωλυει το αλλοτριον. Diesem fügt Aristoteles noch hinzu: wenn der Verstand mit einem körperli chen Werkzeuge vermischt wäre, so müßte er ποιος seyn: denn alles, was sich mit etwas
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Kalten oder Warmen verbindet, muß nothwen dig selbst kalt oder warm werden. Den Ver stand aber warm oder kalt, feuchte oder trocken zu nennen, ist in den Ohren eines Philosophen ein abscheulicher Ausdruck. [] Der andere Hauptzweifel ist, daß Aristote les und alle Peripatetiker, ausser dem Verstan de, der Einbildungskraft und dem Gedächtnisse, noch zwey andere Vermögenheiten annehmen, das Erinnern nämlich und den allgemeinen Sinn. Denn, sagen sie, die Vermögenheiten werden aus ihren Wirkungen erkannt; daß es aber ausser den Wirkungen des Verstandes, der Einbildungskraft und des Gedächtnisses, noch zwey andere ganz verschiedene Wirkungen giebt, ist offenbar. Das Genie des Menschen wür de also von fünf Vermögenheiten abhängen, und nicht nur von dreyen, wie wir doch in dem Vor hergehenden bewiesen haben. [] Ferner haben wir in dem vorhergehenden Hauptstücke, nach der Meynung des Galenus, behauptet, daß das Gedächtniß keine andere Verrichtung in dem Gehirne habe, als die Bil der und die Eindrücke der Dinge zu bewahren, nicht anders, als wie die Kiste das Kleid, oder was man sonst hineingelegt hat, bewahret. Wenn wir aus dieser Vergleichung das ganze Amt die ser Vermögenheit begreifen sollen, so müssen wir noch eine andere vernünftige Kraft annehmen, welche die Bilder des Gedächtnisses hervorzieht, und sie dem Verstande darstellt; eben wie bey
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der Kiste auch einer seyn muß, der sie öfne, und das, was darinnen verschlossen war, herausnehme. [] Ausser diesem haben wir auch behauptet, der Verstand und das Gedächtniß wären einander ganz entgegengesetzte Fähigkeiten, so, daß die ei ne die andere schwäche, weil die eine viel Tro ckenheit, und die andere viel Feuchtigkeit und Weiche des Gehirns erfordere. Wenn dieses wahr ist, warum sagen denn Aristoteles*) und Plato, daß diejenigen, welche weiches Fleisch ha ben, viel Verstand besitzen, da doch die Weiche eine Wirkung der Feuchtigkeit ist? [] Gleichfalls haben wir gesagt, wenn das Ge dächtniß gut seyn sollte, so müsse das Gehirn weich seyn, damit sich die Bilder leicht eindrück ten, welches nicht geschehen könnte, wenn das Gehirn hart wäre. Nun ist es zwar unwider sprechlich, daß die Weiche dem Gehirn unum gänglich nöthig ist, wenn es die Eindrücke ge schwind annehmen soll; wenn es aber eben die se Eindrücke lange Zeit behalten soll, so muß, wie alle darinnen übereinkommen, das Gehirn hart und trocken seyn. Man kann dieses aus allen körperlichen Eindrücken ersehen: geschehen sie in etwas weiches, so können sie leicht ausgewischt werden; geschehen sie aber in etwas trockenes und hartes, so gehen sie so bald nicht verloren. Und giebt es denn nicht sehr viele, welche den Augenblick etwas fassen, den Augenblick es aber auch vergessen? Kann die Ursache eine ande 107
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re seyn, als Galenus anführet, *) daß nämlich bey ihnen die Substanz des Gehirns, wegen der all zugrossen Feuchtigkeit, ganz flüssig, und gar nicht zusammenhängend sey, und daß sich also die Bilder eben so leicht darinnen verlieren, als wenn sie ins Wasser gedrückt wären? Andere im Gegentheil fassen sehr schwer; was sie aber ein mal gefaßt haben, vergessen sie nicht wieder. Es scheint also unmöglich zu seyn, beyde Fähig keiten des Gedächtnisses, die Fähigkeit, leicht zu fassen, und die Fähigkeit, lange zu behalten, bey sammen haben zu können. [] Nicht weniger ist es schwer zu begreifen, wie es möglich sey, daß so viele Bilder in dem Ge hirne abgedrückt seyn können, ohne daß eins das andere auslöscht. Wenn man wenigstens in ein Stückchen weiches Wachs allzuviel Siegel von verschiedener Art drückt, so werden die Figuren derselben vermengt werden, und eins wird das andere unkenntlich machen. [] Noch schwerer ist es zu begreifen, wie es möglich sey, daß das Gedächtniß durch die Uebung immer geschickter werde, die Bilder leicht anzu nehmen; da es doch gewiß ist, daß nicht allein die Uebung des Körpers das Fleisch aussauget, und vertrocknet, sondern, daß es die Uebung des Geistes noch weit mehr thut. [] Auch dieses ist keine geringe Schwierigkeit: die Einbildungskraft soll dem Verstande zuwi der seyn, (welches alles aus keinem andern 108
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Grunde Statt finden kann, als weil die allzu grosse Hitze die feinen Theile des Gehirns ver zehrt, und nur die irrdischen und groben übrig läßt,) und gleichwohl ist die Melancholie eine von den allergröbsten und irdischsten Feuchtig keiten in unserm Körper; die Melancholie, mit der sich, nach des Aristoteles Ausspruche, der Verstand am allerbesten verträgt. Diese Schwie rigkeit wird noch grösser, wenn man bedenkt, daß die Melancholie eine grobe, kalte, und tro ckene Feuchtigkeit, die Cholera aber von einem sehr feinen Wesen und von einer sehr warmen und trockenen Mischung ist; und daß dennoch die Melancholie dem Verstande gemässer ist, als die Cholera. Scheinet es nicht wider alle Ver nunft zu seyn? Diese Feuchtigkeit ist mit zwey Eigenschaften dem Verstande zuträglich, und nur mit einer ist sie ihm zuwider, nämlich mit der Wärme; die Melancholie hingegen befördert den Verstand nur mit einer einzigen Eigenschaft, mit der Trockenheit; mit den übrigen aber, der Kälte und groben Substanz, welche der Ver stand am meisten verabscheuet, ist sie ihm hin derlich; daher auch Galenus*) sagt: το μεν ὀjυ και συνετον ἐν τη ψυχη, δια τον χο- λωδη χυμον ἐϛαι!το δ' ἑδραιον και βε- βαιον δια τον μελαγχολικον. [] Endlich ist zu untersuchen, wie der Fleiß und die anhaltendende Betrachtung in einer 109
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Wissenschaftfenschaft viele weise machen kann, welchen An fangs die gute Natur der angeführten Eigen schaften fehlte, indem sie nach und nach durch die Anstrengung der Einbildungskraft zu unzäh ligen Wahrheiten gelangen, die sie vorher nicht wußten. Gleichwohl hatten sie das erforderli che Temperament nicht darzu: denn, wenn sie es gehabt hätten, so hätten sie so vieler Arbeit nicht nöthig gehabt. [] Diese und noch viele andere Schwierigkei ten lassen sich gegen die Lehre des vorhergehen den Hauptstücks machen; weil die natürliche Weltweisheit nicht so unwidersprechliche Grund sätze hat, als die mathematischen Wissenschaften haben. Jn diesen kann der Arzt sowohl als der Weltweise, wenn er zugleich ein Mathematiker ist, allezeit demonstriren; sobald er aber zur Ausübung der Arzneywissenschaft schreitet, wird er ganz sicher unzählige Jrrthümer begehen, und dieses nicht etwa allezeit aus eigner Schuld, denn er traf ja in mathematischen Sachen immer die Wahrheit, sondern wegen der grossen Ungewiß heit seiner Kunst. Aristoteles spricht daher: *) οὐτε γαρ ὁ ρητορικος ἐκ παντος τροπου πει- σει, οὐδ' ὁ{??} ἰατρικος ὑγιασει!ἀλλ' ἐαν τον ἐνδεχομενον μηδεν παραλιπη, ἱκανως ἀυ- τον ἐχειν την ἐπιϛημην φησομεν. Er will hiermit so viel sagen: ein Arzt, wenn er alle Behutsamkeit anwendet, die er bey seiner Kunst anzuwenden hat, ob er gleich nicht allezeit gesund 110
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macht, ist deswegen nicht für einen schlechten Arzt zu halten. Hätte er aber in mathemati schen Sachen einen Jrrthum begangen, so könn te er auf keine Weise entschuldiget werden; weil es unmöglich ist, daß man in der Mathematik irren kann, wenn man alle Behutsamkeit an wendet, die sie erfordert. Man darf also die Schuld nicht ganz auf uns schieben, wenn unse re Lehre nicht unwidersprechlich ist, noch vielwe niger darf man sie deswegen für falsch halten. [] Auf den ersten Hauptzweifel unterdessen kann man folgendes antworten. Wenn der Verstand ganz und gar von dem Körper abgesondert wä re, und gar nichts mit der Wärme, der Kälte, der Trockenheit und Feuchtigkeit, und allen übri gen körperlichen Beschaffenheiten zu thun hätte; so würde daraus folgen, daß alle Menschen ei nerley Verstand haben, und auf einerley Art schliessen müßten. Wir sehen es aber aus der Erfahrung, daß immer ein Mensch besser denkt und schließt, als der andere; weil nämlich der Verstand eine organische Vermögenheit ist, wel che in dem einen immer besser geordnet ist, als in dem andern. Es ist unmöglich, daß man eine andere Ursache davon angeben kann: denn alle vernünftige Seelen, und alle ihre Kräfte, wenn sie von dem Körper abgesondert sind, sind von gleicher Vollkommenheit und von einerley Fä higkeit. [] Die Nachfolger des Aristoteles, weil sie es aus der Erfahrung erkannten, daß immer ein
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Mensch besser schliesse, als der andere, sind auf folgende scheinbare Ausflüchte gefallen. Diese Verschiedenheit, sagen sie, kömmt nicht daher, weil der Verstand eine organische Vermögen heit ist, welche in einem eine bessere Verfassung hat, als in dem andern; sondern daher, weil der menschliche Verstand, so lange die vernünf tige Seele in dem Körper ist, die Bilder und Phantasien der Einbildungskraft und des Ge dächtnisses nöthig hat. Wenn also der Ver stand falsch denkt und schließt, so denkt und schließt er nicht aus eigner Schuld, oder deswe gen falsch, weil er mit einer übel organisirten Materie verbunden ist, sondern deswegen, weil ihm jene Bilder und Phantasien fehlen. Doch diese Antwort ist wider die eigene Lehre des Ari stoteles, welcher ausdrücklich behauptet, *) je un geschickter das Gedächtniß sey, desto stärker sey der Verstand, und je fähiger der Verstand sey, desto unfähiger sey das Gedächtniß. Ein glei ches haben wir in dem Vorhergehenden von der Einbildungskraft bewiesen. Zur Bekräftigung dieser Meynung wirft Aristoteles**) noch die Frage auf: woher es komme, daß im Alter das Gedächtniß so schwach, und der Verstand so stark sey, und warum sich in der Jugend das Gegentheil ereigne, da das Gedächtniß nämlich sehr stark, und der Verstand sehr schwach ist? Auch die Erfahrung, wie Galenus sehr wohl an 111 112
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merkt, ist für diesen Satz: denn, wenn das Tem perament und die gute Beschaffenheit des Gehirns in einer Krankheit verändert wird, so verlieren sich sehr oft die Wirkungen des Verstandes; die Wir kungen des Gedächtnisses und der Einbildungs kraft aber bleiben, wie sie waren. Dieses nun könnte nimmermehr geschehen, wenn der Verstand nicht sein bestimmtes Werkzeug, das von den Werkzeu gen der andern Vermögenheiten unterschieden wäre, hätte. Jch weiß nicht, was man hierauf antworten kann; man müßte denn mit einer me taphysischen Unterscheidung, mit einem actuali ter und potentialiter, das ist, mit Wörtern antworten, die weder die, welche sie brauchen, noch sonst jemand auf der Welt verstehet. Nichts verhindert das Wachsthum der menschlichen Weisheit mehr, als wenn man die Wissenschaften mit einander vermenget; wenn man das, was in die Naturlehre gehört, in der Metaphysik, und das, was in die Metaphysik gehört, in der Na turlehre abhandeln will. [] Die Gründe, auf die sich Aristoteles stützet, sind von keiner besondern Wichtigkeit; weil es gar nicht folgt, daß der Verstand deswegen, weil er die körperlichen Sachen erkennen muß, mit keinem körperlichen Werkzeuge verbunden seyn könne: denn die körperlichen Beschaffenheiten, aus welchen das Werkzeug bestehet, verändern seine Vermögenheiten nicht, und bringen auch keine Bilder hervor, sondern das, was Aristote les von den äusserlichen Sinnen sagt, gilt auch
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hier: ἐπιτιθεμενων γαρ ἐπι το ἀισθητη- ριον, οὐκ αἰσϑανεται. *) Dieses sieht man deutlich an dem Gefühle. Ob es gleich aus den vier körperlichen Beschaffenheiten zusammenge setzt, und entweder weich oder hart ist, so erken net die Hand dennoch, ob etwas kalt oder warm, hart oder weich, groß oder klein ist. Fragt man nun, warum die natürliche Wärme in der Hand das Gefühl nicht verhindere, die Wärme, wel che z. E. in einem Steine ist, zu empfinden: so antworte ich: weil die Beschaffenheiten, die das Werkzeug vermöge seiner Zusammensetzung hat, das Werkzeug selbst nicht ändern, und auch keine Bilder, wodurch sie könnten empfunden werden, hervorbringen. Gleichfalls ist es die Verrichtung des Auges, daß es die Gestalten und Grössen der ausser ihm befindlichen Dinge erkennet. Sehen wird denn aber nicht, daß das Auge selbst seine Gestalt und Grösse hat, und daß die Flüssigkeiten und Häute, aus welchen es bestehet, theils farbicht, theils durchsichtig, theils von sonst einer Beschaffenheit sind? Gleich wohl verhindert dieses nicht, durch das Auge die 113
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Gestalten und Grössen aller Sachen, die uns vorkommen, zu erkennen; weil die Flüssigkeiten und Häute, die Gestalt und Grösse des Auges, die Vermögenheit, zu sehen, nicht verändern, noch den Verstand an der Empfindung der äus serlich befindlichen Gestalten verhindern kön nen. Eben dieses muß man von dem Verstan de sagen, daß er nämlich sein eigenes Werk zeug, ob es gleich körperlich und mit ihn ver bunden ist, nicht empfinden kann, weil keine Bil der aus demselben entstehen, die auf ihn wirken können: denn ἐπιτιθεμενων ἐπι τον νουν οὐ νοειται. Er kann also alles, was ausser ihm ist, empfinden, ohne, daß ihn etwas daran verhindert. Der zweyte Grund, worauf sich Aristoteles stützet, ist noch schwächer, als der vorhergehende; weil weder der Verstand, noch sonst ein ander Accidens ποιον wird, in dem es an und für sich selbst keiner Beschaffen heit fähig seyn kann. Daraus also, daß der Verstand das Gehirn, nebst der Mischung der vier Hauptbeschaffenheiten zu seinen Werkzeugen hat, folgt es noch gar nicht, daß er ποιος seyn müsse; weil nicht der Verstand, sondern das Ge hirn der Wärme und Kälte, der Feuchtigkeit und Trockenheit unterworfen ist. Auf das drit te endlich, worauf sich die Peripatetiker stützen, daß nämlich, wenn man den Verstand zu einer organischen Fähigkeit mache, ein Grundsatz ver lohren gehe, aus welchem man die Unsterblich keit der Seele herleiten könne, antworten wir,
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daß man zu dieser Absicht schon andere und weit stärkere Beweise habe, die wir in dem fol genden Hauptstücke abhandeln werden. [] Der andere Einwurf läßt sich folgender Ge stalt beantworten: nicht jede Verschiedenheit der Wirkungen zeigt auch eine Verschiedenheit der Kräfte an. Die Einbildung zum Beyspiel, wie wir in der Folge beweisen werden, bringt so sonderbare Wirkungen hervor, daß, wenn jene Maxime so wahr wäre, als die Philosophen glauben, daß sie ist, oder wenn sie wirklich so ausgelegt werden müßte, als sie dieselbe ausle gen, in dem Gehirne zehn bis zwölf Vermögen heiten mehr seyn müßten, als wirklich sind. Weil aber alle diese Wirkungen auf eine einzige gene rische Ursache hinauslaufen, so zeugen sie nicht mehr, als von einer Einbildungskraft, die sich aber nach ihren verschiedenen Handlungen in viel be sondere Verschiedenheiten theilet. Die Bilder mit ihren Gegenständen, sowohl, wenn diese ge genwärtig, als wenn sie abwesend sind, zu verglei chen, zeigt nicht nur keine Verschiedenheit der generischen Vermögenheiten, (wie z. E. der all gemeine Sinn und die Einbildungskraft sind,) sondern nicht einmal eine Verschiedenheit der be sondern Arten dieser Vermögenheiten an. [] Auf den dritten Zweifel antworte ich: daß das Gedächtniß nichts als eine Weiche des Ge hirns ist, da es durch einen gewissen Grad der Feuchtigkeit geschickt gemacht wird, dasjenige
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anzunehmen und zu behalten, was die Einbil dung wahrgenommen hat. Das Gedächtniß verhält sich also eben so zu der Einbildung, wie sich das reine und weisse Papier gegen den Schrei benden verhält. Denn so wie der Schreibende dasjenige auf das Papier bringt, was er nicht vergessen will, und wie er es, nachdem er es dar auf gebracht hat, wieder überlieset; eben so schreibet gleichsam die Einbildungskraft die Bil der derjenigen Sachen in das Gedächtniß, welche die Sinne empfunden, oder der Verstand begrif fen, oder sie sich selbst gebildet hat; und wenn sie sich ihrer wieder erinnern will, sagt Aristoteles, *) so übersieht und betrachtet sie sie wieder. Fast eben so ein Gleichniß braucht Plato, wenn er spricht: aus Furcht vor dem schwachen Ge dächtniß im Alter, solle man sich bey Zeiten ein Gedächtniß von Papiere, worunter er die Bü cher verstehet, zulegen, damit Fleiß und Arbeit nicht vergebens sey, und man einmal etwas ha be, welches uns an alles erinnern könne, was wir für anmerkungswürdig gehalten haben. Die se Verrichtung nun hat die Einbildung, welche in das Gedächtniß schreibt, und was sie geschrie ben hat, so oft wieder überlieset, als sie sich des sen erinnern will. Der erste, der auf diese Er klärung fiel, war Aristoteles, **) und der ande re Galenus, welcher sich folgendermassen aus 114 115
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drückt: *) το γαρ τοι φαντασιουμενον της ψυ- χης ὁτι ποτ' ἀν ἠ, ταυτο τουτο και μνη- μονευειν ἐοικεν. Dieses erhellet auch deutlich daraus, weil dasjenige, was wir uns scharf ein bilden, sich dem Gedächtnisse tief eindrückt, und weil das sich im Gegentheil leicht vergißt, was wir nur obenhin betrachtet haben. So wie der Schreibende dadurch, daß er jeden Buchstaben mit Fleiß zieht, die Schrift sehr leserlich macht, so macht auch die Einbildungskraft, daß jedes Bild lange und deutlich in dem Gedächtnisse bleibet, wenn sie es mit Fleiß in das Gehirn gedrückt hat, da es sonst gar bald kaum mehr zu erkennen ist, wenn sie sich weniger Mühe da mit gegeben hat. Was sich übrigens bey alten Schriften, an welchen ein Theil durch die Zeit verdorben worden, ein Theil aber unbeschädiget geblieben ist, ereignet, daß man sie nämlich nicht lesen kann, ohne das meiste aus wahrscheinlichen Gründen errathen zu müssen; das ereignet sich auch hier, wenn in dem Gedächtnisse einige Bil der geblieben sind, einige aber sich verloren ha ben. Und eben dieses war es, was den Aristo teles auf den Jrrthum brachte, das Erinnern müßte ein von dem Gedächtnisse verschiedenes Vermögen seyn; †) und was ihn zu sagen be 116 117
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wegte, diejenigen, welche eine lebhafte Erinne rung hätten, besässen einen grossen Verstand. Doch auch hier irret er sich: denn die Einbil dungskraft, welche die Erinnerung verursacht, ist dem Verstande ganz zuwider. Die Sachen also in das Gedächtniß fassen, und sich der ge faßten Sachen wieder zu erinnern, ist ein Werk der Einbildungskraft; so wie schreiben, und des Geschriebenen sich erinnern, ein Werk des Schrei benden und nicht des Papiers ist. Das Ge dächtniß selbst ist folglich bloß eine leidende, nicht aber eine thätige Vermögenheit; so wie das rei ne und weisse Papier nichts als eine Bequem lichkeit für den ist, welcher schreiben will. [] Auf den vierten Einwurf antworte ich fol gender Gestalt: es trägt zu dem Genie nichts bey, ob man hartes oder weiches Fleisch hat, wenn das Gehirn nicht von eben dieser Beschaf fenheit ist; denn dieses hat, wie uns die Er fahrung lehret, sehr oft ein ganz verschiedenes Temperament, als alle übrige Theile des Kör pers. Wenn aber beyde, das Gehirn und das Fleisch, in der Weiche übereinkommen, so ist es ein sehr schlechtes Zeichen für den Verstand,
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und ein eben so schlechtes für die Einbildungs kraft. Man darf ja nur das Fleisch der Weibs personen und der Kinder betrachten; findet man nicht, daß es weit weicher ist, als das Fleisch der Mannspersonen? Ueberhaupt aber kann man ganz wohl sagen, daß das männliche Geschlecht mehr Fähigkeit habe als das weibli che. Die Ursache ist ganz natürlich: die Flüs sigkeiten, welche die Weiche des Fleisches ver ursachen, sind Phlegma und Blut; diese aber, wie wir schon angemerkt haben, sind beyde feuchte, und machen, nach des Galenus Ausspruche, die Menschen einfältig und dumm. *) Die Flüs sigkeiten gegentheils, welche das Fleisch hart ma chen, sind Cholera und Melancholie, und aus diesen erwächst die Klugheit und der Verstand des Menschen. Es ist also ein weit schlechteres Merkmal, mehr weiches Fleisch haben, als sprö des und hartes; **) daß es folglich bey denjeni gen, welche in ihrem ganzen Körper ein gleiches Temperament haben, nicht schwer fallen muß, die Beschaffenheit ihres Genies aus der Wei che oder Härte ihres Fleisches zu schliessen: denn wenn es hart ist, so zeigt es einen guten 118 119
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Verstand und eine gute Einbildungskraft an; ist es aber weich, so läßt sich das Gegentheil nämlich ein starkes Gedächtniß bey einem schwa chen Verstande und einer schwachen Einbildungs kraft daraus schliessen. Will man aber wis sen, ob die Beschaffenheit des Gehirns mit der Beschaffenheit des Fleisches übereinkomme, so muß man die Haupthaare betrachten. Sind diese stark, schwarz, spröde und dichte, so zeugen sie von einer guten Einbildungskraft und ei nem guten Verstande; sind sie aber zart und weiß, so zeugen sie von weiter nichts, als einem gu ten Gedächtnisse. †) Will man nun ferner, wenn die Haare von der erstern Beschaffenheit sind, unterscheiden, ob sie einen guten Verstand oder eine gute Einbildungskraft anzeigen, so muß man auf das Lachen des Knabens Acht haben: denn das Lachen ist es, welches die Beschaffen heit der Einbildungskraft verräth. [] Die Ursache und die Art des Lachens ha ben viele Weltweisen zu erklären sich bestrebt: 120
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keiner aber hat etwas verständliches davon vor gebracht. Darinnen kommen sie alle überein, daß das Blut diejenige Flüssigkeit sey, welche den Menschen zum Lachen anreizt; wenn sie nur auch erklärten, was für Beschaffenheiten die se Flüssigkeit vor andern Flüssigkeiten habe, wo durch sie den Menschen zum Lachen treibt. Hip pokrates spricht: *) ἁι παραφρυσυναι, ἁι μεν μετοι γελωτος γινομεναι, ἀσφαλεϛεραἰ αἱ δε μετα σπουδης, ἐπισφαλεϛεραι. Die Kran ken, will er sagen, wenn sie den Verstand ver lieren, und in ihrer Unsinnigkeit lachen, sind bey weitem nicht in so grosser Gefahr, als wenn sie bey ihrem Wahnwitze verdrüßlich und ängstlich sind: denn das erstere entstehet aus dem Ge blüte, welches ein sehr gutartige Flüssigkeit ist, das andere aber aus der Melancholie. Damit wir uns aber nicht von unserer Hauptsache ver lieren, so wollen wir von dieser Materie nur das leichteste und was hier nothwendig hergehört, an führen. So viel ich wenigstens einsehe, ist die Ursache des Lachens keine andere, als der Bey fall, welchen die Einbildungskraft alsdenn erthei let, wenn sie Handlungen oder Einfälle sieht oder hört, die sehr gut passen. †) Da nun die 121 122
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se Vermögenheit in dem Gehirn ihren Sitz hat, so bewegt sie, sobald als ihr solche Handlungen oder Einfälle vorkommen, das Gehirn, und die
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ses bewegt hernach die Muskeln im ganzen Kör per; wie man denn wahrnimmt, daß wir eine scharfsinnige Rede oft mit dem Nicken des Kopfs zu billigen pflegen. Wenn nun die Einbildungs kraft sehr gut ist, so vergnügt sie sich nicht an allen Einfällen ohne Unterscheid, sondern nur an denen, welche sehr wohl passen; diejenigen aber, die nur ein wenig passen, verursachen ihr mehr Verdruß als Freude. Daher kömmt es, daß es ein Wunder ist, wenn man einen Mann von einer sehr grossen Einbildungskraft lachen sieht. Daher kömmt es ferner, was fast noch sonderbarer ist, daß die aufgeräumtesten und scherzhaftesten Leute weder über ihre eigene Ein
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fälle, noch über die Einfälle anderer lachen; weil sie einen so feinen Witz haben, daß ihnen nicht einmal ihre eigene Einfälle alle die Artig keit zu haben scheinen, die sie suchen. Diese Artigkeit aber bestehet nicht allein in dem Ge mässen und Passenden, sondern auch in der Neuig keit, und ist also nicht allein ein Werk der Ein bildungskraft, sondern auch der übrigen Kräfte, von welchen der Mensch regieret wird. Der Magen verabscheuet eine Speise, die man ihm mehr als einmal vorsetzt; das Gesicht verab scheuet immer einerley Gestalten und Farben; das Gehör immer einerley Consonanzen, so wohl klingend sie auch sind, und der Verstand immer einerley Betrachtung. Daher kömmt es auch, daß ein witziger Kopf über die Einfälle, die er vorbringt, nicht lachen kann; denn ehe er sie durch die Rede von sich giebt, hat er sie schon gedacht, und denkt sie zum andernmale, wenn er sie sagt. Jch mache also den Schluß, daß alle, welche unmässig lachen, ohne Ausnahme keine Einbildungskraft haben; weil ihnen alle Einfälle und Scherze, sie mögen so frostig seyn, als sie wollen, als wohlpassend vorkommen. Weil nun das Blut, wenn es zu viel Feuch tigkeit hat, die Einbildungskraft, wie wir schon erinnert haben, verdirbt; so sieht man leicht die Ursache, warum diejenigen, welche am meisten sanguinisch sind, auch am meisten lachen. Es ist überhaupt die Eigenschaft der Feuchtigkeit, daß sie die Kräfte der Wärme
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schwächt, und ihr die Kraft zu trocknen benimmt. Die Einbildungskraft muß sich also mit der Trockenheit besser vertragen, als die alle ihre Wirkungen gleichsam schärft. Wo übrigens allzuviel Feuchtigkeit ist, da muß nothwendig auch eine sehr geschwächte Wärme seyn; denn sonst würde sie diese Feuchtigkeiten auflösen, und vertrocknen. Bey einer so ohnmächtigen Wärme aber kann die Einbildungskraft unmöglich wirken. Hieraus ist nunmehr auch zu schliessen, daß Leu te von grossem Verstande gemeiniglich viel la chen, weil ein grosser Verstand und eine grosse Einbildungskraft nicht beysammen zu seyn pfle gen. Man lieset dieses von jenem grossen Welt weisen, dem Demokrit; und ich selbst habe es bey vielen wahrgenommen, und mir angemerkt. Nunmehr kann man es leicht wissen, ob es der Verstand oder die Einbildungskraft sey, welche an einem Knaben das harte und spröde Fleisch und die schwarzen, dichten, harten und spröden Haare verrathen. Diesesmal also war die Leh re des Aristoteles die richtigste nicht. [] Jch komme auf den fünften Einwurf, auf welchen ich folgendes antworte. Es giebt eine doppelte Feuchtigkeit in dem Gehirn: die eine entsteht von der Luft, wenn diese nämlich in der Mischung das die andern übersteigende Element ist; die andere von dem Wasser, mit welchem zugleich die übrigen vermengt sind. Wenn es die erste Art der Feuchtigkeit ist, welche das Gehirn weich macht, so wird das Gedächtniß
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sehr gut seyn; es wird die Bilder leicht annehmen, und ihren Eindruck auch lange behalten: denn die Feuchtigkeit der Luft ist ölicht und voller Fett, daß sich also die Bilder darinnen recht feste se tzen können. Wir sehen ein gleiches nicht nur an den Gemählden, die mit Oel überstrichen sind, und die weder in der Sonne noch im Wasser den geringsten Schaden leiden, sondern auch an jeder Schrift, die man nur mit Oel überziehen darf, wenn sie unauslöschlich bleiben soll, oder wenn man ihr, nachdem sie schon blaß und un leserlich geworden ist, Deutlichkeit und Glanz wieder ertheilen will. Wenn aber die Weiche des Gehirns aus der zweyten Art der Feuchtig keit entstehet, so hat der Einwurf seine gute Rich tigkeit; das Gedächtniß nimmt die Bilder sehr geschwind an, und läßt mit eben der Geschwin digkeit die Eindrücke derselben wieder vergehn. Diese zwey Arten der Feuchtigkeit erkennt man auch aus den Haaren; die erste macht sie kleb richt, voller Oel und Fett, die andre aber macht sie fein und weich. [] Die Antwort auf den sechsten Einwurf ist diese: die Bilder drücken sich in dem Gehirne nicht auf die Art ab, wie sich die Figuren des Siegels auf dem Wachse abdrücken; sondern sie dringen nur tief hinein, damit sie darinnen hängen bleiben, wie etwa die Vögel in dem Sprenkel, oder die Fliegen in dem Honige, so,
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daß sich keines mit dem andern vermengen oder eines das andere verderben kann. †) [] Der siebente Einwurf ist auf diese Art zu heben: die Bilder machen die Substanz des Gehirns geschmeidiger und weicher, so wie das Wachs immer weicher und weicher wird, je län ger man es mit den Fingern durchwirkt; da ohnedem die Lebensgeister die Kraft haben, die harten und trocknen Glieder anzufeuchten und geschmeidig zu machen, so wie das äusserliche Feuer das Eisen durchdringt und geschmeidig macht. Daß aber die Lebensgeister in das Ge hirn steigen, wenn man mit dem Gedächtnisse arbeitet, haben wir oben schon bewiesen. Ueber haupt aber kann man es gar nicht von allen, weder körperlichen noch geistigen Uebungen sa gen, daß sie austrocknen; die Aerzte versichern vielmehr, daß gemässigte Uebungen fett machen. [] Dem achten Einwurfe gehe ich damit ent gegen, daß es zweyerley Arten der Galle giebt. *) Die eine ist die natürliche, (χολη) und beste het aus nichts, als aus den Hefen des Bluts. Jhrer Beschaffenheit nach ist sie kalt, trocken, von einer groben Substanz, und trägt gar nichts 123 124
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zu dem Genie bey. Die andere ist die schwar ze Galle. (μελαινη χολη) Jhre Beschaffen heit ist verschieden, wie die Beschaffenheit des Essigs; und von ihr sagt Aristoteles, *) daß sie weise Leute mache. **) Bald hat sie gleiche Wirkungen mit der Wärme, indem sie das Jrr dische gährend macht; bald kältet sie; allezeit aber ist sie trocken, und von einer sehr feinen Substanz. Cicero bekennt es selbst von sich, daß er ein langsames Genie habe, weil er kein Melancholicus wäre. Er sagt die Wahrheit: denn wäre er dieses gewesen, so wäre er nimmer mehr so beredt worden, weil die Melancholici kein gut Gedächtniß haben, welches unumgäng lich nöthig ist, wenn man keinen Mangel an Worten und Gedanken haben soll. Die schwar ze Galle hat noch eine andere Eigenschaft, wel che dem Verstande sehr vortheilhaft ist, diese nämlich, daß sie glänzend ist, gleichsam wie ein Agat. Durch diese Eigenschaft macht sie es in dem Gehirne helle, daß die Bilder leicht zu er kennen sind. Dieses ist es, was Heraklit zu verstehen geben wollte, wenn er sagte: ἀυγη jη- ρη, ψυχη σοφωτατη. Diesen Glanz hat die natürliche Galle nicht; ihre Schwärze ist viel 125 126
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mehr ganz todt. Daß aber die vernünftige Seele in dem Gehirne Licht nöthig habe, die Bilder und Eindrücke zu erkennen, werden wir in der Folge beweisen. [] Auf den neunten Einwurf antworte ich, daß die Klugheit und Fähigkeit des Geistes, von wel cher Galenus redet, zur Einbildungskraft gehö ret, durch die man das Zukünftige vorher sieht. Cicero*) spricht daher: memoria praeterito- rum, futurorum prudentia. Das Gedächt niß, will er sagen, geht auf das Vergangene und die Klugheit auf das Zukünftige. Diese Fähigkeit des Geistes ist das, was der Spanier agudeza, List, Verschlagenheit nennet. Cice ro **) sagt es selbst: prudentia est callidi- tas, quae ratione quadam potest delectum ha- bere bonorum et malorum. Diese Art der Klugheit und Fähigkeit nun fehlt Leuten von grossem Verstande, weil ihnen die Einbildungs kraft fehlet. Die Erfahrung lehrt es uns deut lich an allen grossen Gelehrten in denjenigen Wissenschaften, welche von dem Verstande ab hängen: wenn man sie aus ihrer Sphäre nimmt, so taugen sie nirgends, am wenigsten aber in den Welthändeln. Daß aber diese Klug heit aus der Cholera entsteht, darinnen hat Ga lenus ganz recht. Wenn Hippokrates seinem Freunde dem Damaget erzählt, wie er den De mokrit angetroffen, als er ihn habe besuchen und 127 128
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gesund machen wollen, so schreibt er: er habe auf dem Felde unter einem Ahornbaume in blos sen Beinen, ohne Schuhe, auf einem Steine gesessen, und ein Buch in der Hand gehabt; *) um ihn herum hätten todte und lebendige Thie re gelegen. Hippokrates habe sich darüber ge wundert und ihn gefragt, was er mit diesen Thie ren mache? Worauf Demokrit geantwortet ha be: er untersuche, welche Flüssigkeit den Men schen unbeständig, listig, falsch, tückisch, betriege risch mache, und habe durch die Zergliederung dieser Thiere gefunden, daß die Cholera die Ur sache dieser Unarten sey; er wolle also um sich an den listigen Menschen zu rächen, gegen sie eben so verfahren, als die Menschen gegen den Fuchs, die Schlange und den Affen verführen. Diese Art der Klugheit ist nicht allein den Menschen verhaßt, sondern auch Paulus sagt: fleischlich gesinnet seyn, ist eine Feindschaft wider GOtt. Röm. 8. Daher hat Plato Recht, wenn er der Klugheit diesen Namen abspricht, und sie Verschlagenheit nennet, sobald sie sich von der Gerechtigkeit entfernet. Diese ist es, deren sich der Teufel bedient, wenn er den Men schen schaden will: es ist nicht die, welche von 129
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oben herab kömmt, sagt St. Jacobus, sondern es ist die irrdische, menschliche und teuflische. Die wahre Klugheit aber ist die, welche mit Aufrichtigkeit und Einfalt verbunden ist, und die Menschen das Gute zu erkennen, das Böse aber zu verabscheuen lehrt. Und diese nur, sagt Galenus, *) geht den Verstand an, als welche Vermögenheit keiner Arglist, keiner Falschheit, keines Bösen fähig ist; alles ist an ihr gerecht, untadelhaft, billig und unverfälscht. Denienigen, welcher zu dieser Art des Genies gelangt, nennt man schlecht und recht. Daher auch Demosthenes, als er in der Rede wider den Aeschines um die Wohlgewogenheit seiner Richter bittet, sie schlechte und gerechte Männer, in Ansehung der Einfalt ihres Amtes nennet, von welchem Cicero (pro Sylla) sagt: sim- plex est officium atque vna bonorum omnium caussa. Für diese Art der Weisheit ist die Käl te und Trockenheit der schwarzen Galle das be quemste Werkzeug; nur muß sie aus den fein sten und zartesten Theilen zusammengesetzt seyn. [] Auf den letzten Zweifel endlich habe ich die ses zu antworten. Wenn ein Mensch einer Wahrheit nachdenkt, die er gern begreifen woll te, sie aber sogleich nicht begreifen kann, so liegt die Schuld daran, weil das Gehirn das Tem perament nicht hat, welches diese Wahrheit ein 130
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zusehen erfordert wird: wenn er aber eine Zeit lang in dem Nachdenken verharret, so steigt die natürliche Wärme, welche in den Lebensgeistern und in dem Blute der Pulsadern besteht, nach dem Kopfe, und erhöhet das Temperament des Gehirns, bis es den erforderlichen Grad erlangt hat. *) Es ist gewiß, daß einigen das viele Nachsinnen Schaden, andern aber Vortheil bringt. Denn wenn dem Gehirne nur noch we nig fehlt, bis es zu dem gehörigen Grade der Wärme gekommen ist, so muß man auch nur wenig nachdenken; überschreitet man aber das Maaß, so wird der Verstand durch die Gegen wart der allzuvielen Lebensgeister verwirrt, und kann die Wahrheit nicht begreifen. Daher kömmt es, daß man nicht wenig Leute sieht, die sehr gut reden, wenn sie plötzlich reden, nichts besonders aber vorbringen, so bald sie nachdenken. Andere hingegen haben entweder wegen der all zugrossen Kälte, oder der allzugrossen Trocken heit, einen so niedrigen Verstand, daß die na türliche Wärme sehr lange in dem Kopfe blei ben muß, wenn das Temperament den erforder lichen Grad erhalten soll; und diese reden bes ser, wenn sie nachgedacht haben, als wenn sie plötzlich reden. 131
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Siebentes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß, ob gleich die vernünftige Seele sowohl zu ihrem Aufenthalte in dem Körper, als auch zu ihrem Schliessen und Nach denken, die Mischung der vier Hauptbe schaffenheiten unumgänglich nöthig hat, man doch hieraus ihre Vergänglich lichkeit und Sterblichkeit nicht schliessen könne.

[] Plato nimmt es *) als eine ausgemachte Sache an, daß die vernünftige Seele ein unkörperliches, geistiges, unverderbliches, und nicht, wie die Seelen der Thiere, sterbliches We sen sey; und daß sie, wenn sie diesen Körper verläßt, in ein besseres und ruhigeres Leben ein gehe: nur muß, setzt er in der Schutzrede des Sokrates hinzu, der Mensch hier der Vernunft gemäß gelebt haben; ist das aber nicht gesche hen, so wäre es besser, die Seele bliebe ewig in dem Körper, als daß sie die Martern erträgt, womit GOtt die Bösen zu züchtigen nicht un terläßt. Dieser Schluß ist so vortreflich und ka tholisch, daß Plato, wenn er ihn mit seinem ei genen glücklichen Genie erreicht hat, mit Recht den Namen des Göttlichen verdient. Gleich 132
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wohl hat er dem Galenus niemals in den Kopf gewollt; er hat ihn vielmehr allezeit für ver dächtig gehalten, weil er sah, daß ein kluger Mann unsinnig werden könnte, wenn das Ge hirn allzuhitzig würde, und daß er wieder zu sei nem Verstande käme, wenn man ihm mit kältenden Arzneymitteln zu Hülfe käme. Er spricht daher, *) er wünsche es recht herzlich, daß Plato noch leben möchte, damit er ihn nur fra gen könnte, wie es denn möglich wäre, daß die vernünftige Seele unsterblich seyn könne, da sie durch Wärme und Kälte, durch Trockenheit und Feuchtigkeit so leicht zu verändern sey? Sein Zweifel ward noch grösser, wenn er über legte, daß sie durch ein heftiges Fieber, durch allzustarkes Aderlassen, durch bekommenen Gift, und durch andere Zufälle, welche das Leben zu kosten pflegen, den Körper gar verlasse. Wenn sie unkörperlich und geistig wäre, wie Plato in seinem Gespräche von der Natur versichert, so würde sie die Wärme, welche etwas körperliches ist, unmöglich um ihre Vermögenheiten bringen, oder ihre Wirkungen verhindern können. Die se Gründe verwirrten den Galenus, und preß ten ihm den Wunsch aus, daß sich ein Plato niker nur einmal, sie zu widerlegen, die Mühe nehmen möchte. Jch glaube nicht, daß ihm sein Wunsch bey Lebzeiten ist erfüllet worden; 133
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nach seinem Tode aber wird ihn die Erfahrung schon das gelehrt haben, was sein Verstand nicht begreifen konnte. *) So gewiß es aber ist, daß man aus keinen Gründen der Vernunft die Un sterblichkeit der Seele unwidersprechlich †) be weisen kann; eben so gewiß ist es auch, daß man ihre Vergänglichkeit auf keine Art darthun kann. Den erstern sowohl als den andern kann man gar leicht antworten; und nur unser aller heiligster Glaube macht uns wegen der Unsterb lichkeit unserer Seele vollkommen gewiß. Un terdessen sind die Gründe, wodurch sich Gale nus hat irre machen lassen, doch noch viel zu 134 135
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seichte. Schliesset man denn in der natürlichen Weltweisheit so: diese oder jene Wirkung, wel che vermittelst dieser oder jener Werkzeuge ge schieht, hat ihren Erfolg nicht gehabt; also muß die Schuld an der wirkenden Grundursache liegen? Jst es denn dem Mahler, welcher mit einem guten und zu seiner Kunst geschickten Pinsel gut zu mahlen weiß, zur Last zu legen, wenn er mit einem schlechten Pinsel auch schlechte Ar beit macht? Es würde sehr schlecht geschlossen seyn, wenn man sagen wollte: der Schreiben de muß eine Verletzung an der Hand haben, weil er, in Ermangelung einer wohlgeschnitte nen Feder, mit einem Hölzchen zu schreiben gezwungen ist. [] Aus der Betrachtung der wunderbaren Wer ke in der Welt, aus der Weisheit und Vorsicht, mit welcher sie geschaffen und geordnet sind, schließt Galenus, es müsse ein GOtt in der Welt seyn, ob man ihn gleich nicht mit den körperli chen Augen sehen könne. Ὁ{??}λως γαρ οὐδ' ἐγε- νετο ποτε, διαπαντος ὠν ἀγεννητος και ἀί{??}διος. *) An einem andern Orte sagt er, der Bau des menschlichen Körpers sey weder ein Werk der Seele, noch der natürlichen Wärme, sondern ein Werk GOttes, oder eines andern sehr weisen Geistes. Hieraus läßt sich ein Beweis wider den Galenus ziehen, wodurch man auf folgende Art seine schlechte Folgerung 136
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zu Schanden machen kann. Du vermuthest, die vernünftige Seele sey vergänglich, weil sie bes ser schließt und denkt, wenn das Gehirn von ei ner guten Beschaffenheit ist; weil sie unsinnig wird, und hundert Ungereimtheiten begeht, so bald das Gehirn hitziger oder kälter wird, als es seyn soll: allein läßt sich denn nicht eben dieses aus der Betrachtung derjenigen Werke schliessen, die du selbst für Werke GOttes aus giebst? Sind nicht diejenigen Menschen, wel che unter einer gemässigten Himmelsluft geboh ren werden, wo die Wärme weder die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteiget, weit klüger und sinnreicher? Und sind nicht jene die entweder in allzuhitzigen oder allzukalten Gegenden leben, dumm und närrisch? Sagst du, Galenus, nicht selbst, *) daß es ein Wun der wäre, wenn aus Scythien ein weiser Mann käme, da in Athen fast alle als Weltweise ge bohren würden? Hieraus aber zu schliessen, daß GOtt vergänglich wäre, weil seine Werke bey gewissen Beschaffenheiten gut, bey den ent gegengesetzten Beschaffenheiten aber minder gut ausfallen, ist wider deine eigene Lehre, da du GOtt für unerschaffen und ewig hältst. [] Plato geht einen andern Weg, und kömmt der Wahrheit näher. GOtt ist zwar ewig, spricht er; er ist allmächtig und von einer un endlichen Weisheit; gleichwohl bezeugt er sich 137
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in seinen Werken als eine natürlich wirkende Ursache, und unterwirft sich den Umständen der vier Hauptbeschaffenheiten, so, daß er, wenn er einen weisen und ihm gleichenden Mann erschaf fen will, nothwendig den allergemässigsten Ort in der ganzen Welt darzu aussuchen muß, wo weder die Wärme der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteigt. Ατε οὐν φιλοπολεμος τε και φιλοσοφος ἡ θεος οὐσα, τον προσφερεϛατους ἀυτῃ μελλοντα οἰσειν τοπον ἀνδρας τουτον ἐκλεjαμενη, πρωτον κατωκισεν. Wenn GOtt also woll te, daß in Scythien, oder in sonst einer unge mässigten Gegend ein weiser Mann sollte ge bohren werden, so müßte er nothwendig seine Allmacht dabey anwenden, oder es würde ein Narre daraus werden; weil ihm die ersten Haupt beschaffenheiten zuwider sind. Aus diesen allen aber zieht Plato nichts weniger als den Schluß, welchen Galenus daraus ziehen müßte, daß GOtt nämlich veränderlich und vergänglich sey, weil die Wärme und die Kälte seine Werke ein schränken. Auf eben diese Weise nun muß man auch bey der vernünftigen Seele verfahren, wenn sie das allzuhitzige Gehirn weise und klug zu seyn verhindert, und muß daraus nicht schlies sen, daß sie deswegen vergänglich und sterblich seyn müsse. Daß sie aber aus dem Körper geht, und die tödtliche Hitze des Fiebers, oder andere Zufälle, welche dem Menschen das Le ben kosten, nicht ertragen kann; dieses bewei
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set nur so viel, daß sie die thätige und selbst ständige Form des menschlichen Körpers ist; daß ihr, so lange sie in demselben bleibt, gewisse Beschaffenheiten des Körpers, die sich zu ihrem Wesen schicken, unumgänglich nothwendig sind; daß die Werkzeuge, mit welchen sie wirkt, wohl gebauet, nicht verstümmelt, und von dem gehö rigen Temperamente seyn müssen, welches ihre Handlungen erfordern, und daß sie, wenn die ses nicht ist, nothwendig irren, oder sich gar von dem Körper absondern muß. Der Fehler des Galenus liegt darinnen, daß er es aus Grün den der natürlichen Weltweisheit ausmachen will, ob die vernünftige Seele, wenn sie keinen Körper mehr hat, gleich untergehe oder nicht; da dieses doch eine Frage ist, welche in eine weit höhere Wissenschaft gehört, und weit gewissere Gründe erfordert. Aus dieser nun wollen wir es beweisen, daß seine Einwürfe sehr schwach sind, und daß er ganz falsch geschlossen hat, die vernünftige Seele müsse vergänglich seyn, weil sie bey gewissen Beschaffenheiten des Körpers in dem Körper bleibt, bey den entgegengesetz ten Beschaffenheiten aber ihn verläßt. Der Beweis wird uns nicht schwer fallen, weil es sogar weit vollkommenere geistige Wesen giebt, als die vernünftige Seele ist, die sich Oerter von gewissen körperlichen Beschaffenheiten er wählen, wo sie mit Vergnügen zu wohnen schei nen, diese Oerter aber sogleich verlassen, wenn sie andere körperliche Beschaffenheiten, die sie
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nicht vertragen können, annehmen. Sogar in dem menschlichen Körper giebt es gewisse Be schaffenheiten, auf welche der Teufel so begierig ist, daß er in denjenigen Menschen fährt, in welchen sie sich befinden, und ihn zu einem Be sessenen macht: sobald aber diese Beschaffen heiten durch widrige Arzneymittel verändert, oder vernichtet werden, sobald man die schwarzen, faulen, und stinkenden Säfte aus dem Körper geschaft hat, so fährt er natürlicher Weise von selbst aus. Die Erfahrung lehrt es uns auch sonst deutlich genug; zum Beyspiel, in ein grosses, altes, dunkles, feuchtes und übelriechen des Haus, in welchem sich Diebe und Mörder verstecken können, gewöhnen sich Gespenste; so bald man aber den Ort reiniget, und die Fen ster alle öfnet, damit der Tag und die Sonne überall hin kann, sogleich machen sie sich wieder fort, besonders, wenn viel Leute darinnen woh nen, wenn viel Lustbarkeiten und Zeitvertreibe darinnen angestellt werden, und viel Musik da bey ertönet. †) Wie sehr dem Teufel aber die 138
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Harmonie und die gute Uebereinstimmung zuwi der sind, erkennet man deutlich an dem, was uns die heilige Schrift sagt, daß nämlich, sobald David seine Harfe ergriffen, der Teufel geflo hen, und aus dem Körper des Sauls gewichen ist. Obgleich dieses seinen besondern Sinn hat, so glaube ich gleichwohl mit Grunde daraus schliessen zu können, daß der Teufel natürlicher Weise ein Feind der Musik sey, und sie durch aus nicht leiden könne. Das Jsraelitische Volk muß dieses schon aus der Erfahrung gewußt haben, wie man aus der Rede der Bedienten des Sauls sieht: Siehe, ein böser Geist von GOtt macht dich sehr unruhig; unser Herr sage seinen Knechten, die vor ihm stehen, daß sie einen Mann suchen, der auf der Harfen wohl spielen könne; auf daß, wenn der böse Geist GOttes über dich kömmt, er mit seiner Hand spie le, daß es besser mit dir werde. Es giebt also allerdings Worte und Beschwörungen, wel che den Teufel zittern machen, und ihn aus dem Orte, den er sich zu seinem Aufenthalte erwählt hatte, treiben, damit er sie nur nicht hören mö ge. Von dem Salomo erzählt Josephus in dem achten Buche seiner jüdischen Heiligthümer, daß er gewisse Beschwörungsformeln schriftlich
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hinterlassen hätte, welche den Teufel nicht nur austrieben, sondern auch verhinderten, daß er je mals wieder in den Körper fahren könne, aus dem er einmal sey getrieben worden. Gleich falls soll Salomo die Wurzel gewiesen haben, deren Geruch dem Teufel so entsetzlich ist, daß er, wenn sie dem Besessenen nur an die Nase gehalten wird, sogleich ausfähret. †) Dieser Geist liebt das Finstere und Unreine so sehr, und ist ein solcher Feind von aller Reinigkeit, Freu de und Klarheit, daß als JEsus, wie uns Mat thäus erzählt, in die Gegend der Gergesener kam, ihm zwey Besessene, die in zwey todte Kör per gefahren waren, welche sie aus den Gräbern gerissen hatten, entgegen rannten, und schryen: JEsu, du Sohn GOttes, was haben wir mit dir zu thun? Bist du hergekommen, uns zu quälen, ehe denn es Zeit ist? Willst du uns austreiben, so erlaube uns in die Heerde Säue zu fahren. Ueberhaupt nennt die Schrift die Teufel unreine Geister. Und nunmehr erhellet ganz deutlich, daß nicht nur die vernünftige Seele, wenn sie den Körper regieren, der Grund von allen seinen Handlungen seyn, und in ihm, als in einer für sie bequemen Wohnung bleiben soll, gewisse körperliche Beschaffenheiten braucht; sondern daß auch die Teufel, die ihrem Wesen nach weit vollkommener sind, gewisse körperli= 139
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che Beschaffenheiten verabscheuen, andre aber ungemein wohl leiden können. Der Schluß des Galenus ist also der beste nicht, wenn er be hauptet: ein hitziges Fieber kann die vernünftige Seele aus dem Leibe verjagen; folglich muß sie vergänglich seyn. Mit dem Teufel, wie wir bewiesen haben, verhält es sich eben so, und gleichwohl ist er nicht sterblich. [] Hierbey ist besonders anzumerken, daß der Teufel nicht allein auf Oerter begierig ist, wel che gewisse körperliche Beschaffenheiten haben, die sie haben müssen, wenn er sich gern darin nen aufhalten soll; sondern daß er sich auch der körperlichen Beschaffenheiten zu bedienen weiß, wenn er etwas thun will, woran ihm vie les gelegen ist. Wenn ich nun hier fragen woll te, worauf wohl der Teufel gesehen habe, als er die Eva zu verführen, die Gestalt einer giftigen Schlange, und nicht vielmehr die Gestalt eines Pferdes, eines Bärs, eines Wolfs, oder sonst ei nes wilden Thieres, das nicht so schrecklich aus sieht, angenommen habe? Was würde man mir wohl antworten? Das weiß ich wohl, Galenus würde mir gar nicht antworten, weil er weder die Lehren und Aussprüche des Moses, noch Christi annimmt: denn beyde, sagt er, *) reden ohne Beweis. Allein von einem Katho liken habe ich sehr oft eine Auflösung dieses Problems zu hören gewünscht, niemals aber bin 140
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ich meines Wunsches gewährt worden. So viel ist gewiß, daß die verbrannte und trockene Cho lera, wie wir oben erwiesen haben, diejenige Feuchtigkeit ist, welche die vernünftige Seele lehrt, wie sie listig und betrügerisch seyn soll. Unter allen unvernünftigen Thieren aber ist kein einziges, welches so viel von dieser Feuchtig keit hatte, als die Schlange; †) und daher kam es, daß sie, wie die Schrift sagt, klüger war, als alle Thiere auf dem Felde. Die vernünf tige Seele, gesetzt, daß man sie auch für das niedrigste in der Reihe der Geister annimmt, ist gleichwohl von eben dem Wesen, von welchem der Teufel und die Engel sind; wie also nun die Seele diese giftige Cholera zu ihrem Gebrauche haben muß, wenn der Mensch listig und verschlagen seyn soll, so ward auch der Teufel, sobald er in den Körper der cholerischen Schlange fuhr, weit li stiger und verschlagener. Ueber diese Art zu philosophiren, wird kein Naturforscher erstaunen, weil sie nicht von aller Wahrscheinlichkeit ent blößt ist. *) Was sie aber vollkommen davon zu urtheilen in Stand setzen wird, ist, daß ich auf die Frage, warum GOtt, als er die Welt 141 142
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aus dem Jrrthume reissen, und ihr die lautere Wahrheit lehren wollte, (welches gleich das Ge gentheil von dem ist, was der Teufel thut) in Gestalt einer Taube, nicht aber in Gestalt eines Adlers, eines Pfaues, oder sonst eines andern Vogels, der noch schöner aussieht, herabkam? daß ich, sage ich, antworte: die Ursache war, weil die Taube sehr viel von derjenigen Feuch tigkeit hat, welche am meisten zur Redlichkeit, Wahrheit und Einfalt geneigt macht, von aller Cholera aber frey ist, als welche das Werkzeug der List und Bosheit ist. [] Keine von diesen Ursachen räumen Galenus oder ein anderer Naturforscher seiner Art ein, weil sie nicht begreifen können, wie die vernünf tige Seele und der Teufel, als geistige Wesen, durch körperliche Beschaffenheit, dergleichen die Wärme, die Kälte, die Trockenheit und Feuch tigkeit sind, einige Veränderungen leiden kön nen: denn daß das Feuer dem Holze seine Wär me mittheile, geschehe, weil beyde etwas körper liches wären, welcher Umstand bey den geistigen Wesen wegfalle. Doch laßt uns, sprechen sie, die se Unmöglichkeit für wahr annehmen, daß näm lich ein geistiges Wesen durch körperliche Be schaffenheiten Veränderungen leiden könne: was für Augen hat denn ein Teufel, oder die ver nünftige Seele, womit sie die Farben und Ge stalten der Dinge erkennen können? Was haben sie für Nasen, den Geruch zu empfinden? Was haben sie für ein Gehör, die Musik zu verneh
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men? Was haben sie für ein Gefühl, wodurch ihnen die allzugrosse Wärme empfindlich wer den kann? Zu diesen allen sind körperliche Werkzeuge nöthig. Wenn aber die vernünf tige Seele, auch wenn sie ausser dem Kör per ist, empfindet, und dem Schmerze und der Betrübniß unterworfen ist, so muß noth wendig ihr Wesen selbst hinfällig seyn, und ein mal vergehen. [] Diese Schwierigkeiten und Gründe haben den Galenus und alle neuern Weltweisen irre gemacht; mir aber sind sie viel zu schwach. Denn, wenn Aristoteles sagt, daß die vornehm ste Eigenschaft der Substanz diese ist, daß sie das Subject der Zufälligkeiten sey, so schränkt er dieses weder bloß auf das Körperliche, noch auf das Geistige ein, weil an der Eigenschaft des Geschlechts die Arten desselben alle gleichen Theil nehmen. Die Zufälligkeiten des Kör pers, sagt er, treffen also auch das Wesen der vernünftigen Seele, und die Zufälligkeiten der Seele den Körper. Auf diesen Satz grün det er alles, was er von der Physiognomie ge schrieben hat. Und da besonders die Zufällig keiten, durch welche die Vermögenheiten verän dert werden, alle geistig, ohne Figur, ohne Grös se und ohne Körper sind; da sie sich in einem Au genblicke durch das Medium vervielfältigen, und durch ein Glas, ohne es zu zerbrechen, hindurch gehen können; da mehr als eine, wenn sie auch schon mit einander streiten, nach allen Graden,
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deren sie fähig sind, in einem Subjecte beysam men seyn können, weswegen sie von dem Ga lenusindiuisibilia, von den gemeinen Philoso phen aber intentionalia genannt werden: so können sie gar wohl einem geistigen Wesen ge mäß seyn. [] Jch wenigstens kann es ganz wohl begrei fen, daß die vernünftige Seele, wenn sie von dem Körper abgesondert ist, sowohl als der Teu fel, die Kraft zu sehen, zu hören, zu riechen und zu fühlen haben müsse. Jch kann es auch gar leicht beweisen: denn wenn es wahr ist, daß man die Vermögenheit aus den Wirkungen er kennt, so muß der Teufel nothwendig das Ver mögen, zu riechen, haben, weil er die Wurzel riechen konnte, welche Salomo den Besessenen an die Nase halten ließ; †) er muß auch das Ver mögen zu hören haben, weil er die Musik hörte, welche David dem Saul machte. Wollte man aber sagen, der Teufel habe die Musik und den Geruch mit dem Verstande empfunden; so wür de man etwas sagen, was man nach den Lehr sätzen der gemeinen Weltweisen nicht behaupten kann, weil der Verstand etwas geistiges ist, die 143
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Gegenstände der fünf Sinne aber körperlich sind, †) und man also an der vernünftigen See le und an dem Teufel andere Kräfte aufsuchen müßte, mit welchen sie übereinkommen können. Wo nicht, so laßt uns einmal den Fall setzen, die Seele des reichen Geitzhalses habe es von dem Abraham endlich erlangt, daß Lazarus wie der in die Welt geschickt würde, seinen Brü dern die Tugend zu predigen, und sie zu bekeh ren, damit sie nicht auch an den Ort der Quaal kommen möchten, wo sich der Reiche befand. Wie würde sich wohl Lazarus, frage ich nunmehr, in die Stadt und in ihr Haus gefunden haben? Wie hätte er sie, wenn er sie auf der Gasse in Gesellschaft anderer angetroffen hätte, an dem Gesichte erkennen, und von den andern, welche mit ihnen giengen, unterscheiden können? Wür de er wohl, wenn ihn die Brüder des Reichen gefragt hätten, wer er wäre, und wer ihn sende, das Vermögen gehabt haben, ihre Worte zu vernehmen? Eben dieses kann man von dem Teufel fragen, als er Christo unserm Erlöser nachfolgte, ihn predigen hörte, seine Wunder mit ansah, und mit ihm den Streit in der Wüsten 144
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hatte. Mit was für Ohren vernahm der Teu fel damals die Rede und Antwort, die ihm JE sus ertheilte? [] Der muß gewiß sehr wenig Verstand haben, wer da denken wollte, der Teufel, oder die von dem Leibe getrennte vernünftige Seele könnten die Gegenstände der fünf Sinne nicht empfin den, weil ihnen die körperlichen Werkzeuge man gelten; denn aus eben diesem Grunde würde er auch schliessen müssen, die vom Leibe getrennte vernünftige Seele könne weder Verstand, noch Einbildungskraft, noch Gedächtniß haben, weil sie während ihres Aufenthalts im Körper nicht sehen kann, wenn die Augen ausgestochen sind, und weder schliessen, noch sich vergangener Din ge erinnern kann, wenn das Gehirn entzündet ist. Zu behaupten aber, die vernünftige See le könne nicht mehr schliessen, wenn sie von dem Körper getrennt sey, weil sie kein Gehirn mehr habe, wäre eine sehr grosse Thorheit. Die an geführte Geschichte des reichen Mannes bewei set es nur allzudeutlich: †)Gedenke Sohn, sprach Abraham, daß du dein Gutes em pfangen habest in deinem Leben, und La zarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst 145
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gepeiniget. Und über das alles ist zwi schen uns und euch eine grosse Kluft be festiget: daß die da wollten von hinnen herab fahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüber fahren. Da sprach er: so bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Va ters Haus; denn ich habe noch fünf Brü der, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Quaal. Hieraus schliesse ich, daß, wie diese beyden See len sich mit einander ohne Gehirne vernünftig unterreden konnten; wie sich der Reiche ohne Gehirne besinnen konnte, daß er noch in seines Vaters Hause fünf Brüder habe; wie ihm Abraham ohne Gehirn zu Gemüthe führen konn te, er habe sein Gutes in seinem Leben empfan gen, Lazarus aber habe Böses empfangen: eben so können auch die vernünftigen Seelen ohne kör perliche Augen sehen, ohne Ohren hören, ohne Zunge sprechen, ohne Nase riechen, und ohne Nerven und Fleisch fühlen; und zwar dieses alles weit vollkommener. Eben dieses versteht sich auch von dem Teufel, weil er mit der ver nünftigen Seele von gleichem Wesen ist. Alle Zweifel in dieser Materie kann die Seele des reichen Geizhalses heben, von welcher Lucas er zählt, sie habe in der Hölle die Augen aufgeho ben, den Lazarus in Abrahams Schoosse gesehen, und geschrien: Vater Abraham, erbarme dich mein, und sende Lazarum, daß er das
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äusserste seines Fingers ins Wasser tauche; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Aus der vorhergehenden Lehre, und aus den kla ren Worten dieser Stelle ist unwidersprechlich zu schliessen, †) daß das Feuer, welches in der Hölle die Seelen umgiebt, ein körperliches Feuer seyn muß, wie das Feuer ist, welches wir hier haben; daß es die Seele des Reichen, wie an dere Seelen, nach göttlicher Fügung, durch sei ne Hitze gepeiniget habe, und daß es ihr eine unbeschreibliche Erquickung würde gewesen seyn, wenn ihr Lazarus einen Becher voll frischen Was sers, womit sie sich hätte abkühlen können, gebracht hätte. Die Ursache davon ist klar: wenn die hef tige Hitze des Fiebers die Seele aus dem Körper treibt, wenn ihr in dem Körper ein frischer Trunk Wassers eine grosse Labung ist; warum sollen wir nicht eben dieses von ihr sagen, wenn sie von den Flammen des höllischen Feuers umgeben ist? Die aufgehobenen Augen des Reichen, seine lech zende Zunge, der Finger des Lazarus; alles die ses müssen Namen von Fähigkeiten der Seele 146
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seyn, wenn man die Schrift an diesem Orte rich tig erklären will. Diejenigen, die diesen Weg nicht nehmen, und sich auf die natürliche Welt weisheit nicht gründen, bringen tausend Unge reimtheiten vor. †) Der Schluß ist aber ganz falsch, daß die vernünftige Seele deswegen, weil ihre Natur durch entgegengesetzte Beschaffenhei ten verändert wird, und sie also des Schmerzes und der Traurigkeit fähig ist, vergänglich und sterblich seyn müsse. Die Asche z. E. bestehet aus den vier Elementen, sowohl actualiter als formaliter; gleichwohl ist keine wirkende Ursa che in der Welt, welche sie zerstören, oder ihr die Eigenschaften nehmen könnte, die ihrem We sen zukommen. Das natürliche Temperament der Asche, wie jeder weiß, ist kalt und trocken. Wenn man sie auch ins Feuer wirft, so verlieret sie doch niemals ihre ursprüngliche Kälte: und wenn man sie schon tausend Jahr im Wasser liegen läßt, so ist es doch unmöglich, daß sie, wenn man sie wieder herausnimmt, eine eigne und natürliche Feuchtigkeit behalten sollte. Sie nimmt zwar, welches man nicht läugnen kann, von dem Feuer Wärme und von dem Wasser 147
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Feuchtigkeit an; allein diese zwo Beschaffenhei ten sind nur auf ihrer Fläche, und dauren sehr kurze Zeit: denn sobald man sie aus dem Feuer nimmt, sobald wird sie wieder kalt, und sobald man sie aus dem Wasser zieht, sobald wird sie wieder trocken. [] Nur eine einzige Schwierigkeit findet sich bey dem Gespräche des reichen Mannes mit dem Abraham, diese nämlich: wie es möglich gewesen sey, daß die Seele des Abrahams weit feinere Gründe hat vorbringen können, als die Seele des Reichen, da wir doch in dem Vor hergehenden behaupten, daß die vernünftigen Seelen, wenn sie den Körper verlassen haben, alle von gleicher Vollkommenheit und von glei cher Weisheit sind? Diesem Zweifel kann man auf zweyerley Art begegnen. Erstlich damit, daß die Weisheit und Fähigkeit, wel che die Seele während ihres Aufenthalts im Körper erlangt hat, nach dem Tode des Men schen nicht verloren geht. Die Seele des Abra hams kam sehr weise und voller Geheimnisse und Offenbarungen, deren sie GOtt wegen der Freundschaft, die er gegen sie trug, gewürdiget hatte, aus diesem Leben: die Seele des Reichen aber mußte nothwendig sehr dumm aus dem Körper gekommen seyn, sowohl wegen der Sün de, welche die Ursache der Unwissenheit in dem Menschen ist, als wegen des Reichthums, des sen Wirkungen gleich das Gegentheil von den Wirkungen der Armuth sind; diese nämlich macht den Menschen, wie wir oben bewiesen
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haben, sinnreich, das gute Glück aber schwächt die Schärfe des Verstandes. †) Die zweyte Antwort kann nach unserer Lehre diese seyn: die Materie, worüber diese zwey Seelen stritten, ge hört in die scholastischeTheologie; sie betraf nämlich die Fragen, ob in der HölleGnade Statt finden könne? ob es möglich sey, daß Lazarus aus dem Ort der Seelenreinigung in die Hölle hinübergehen könne? und ob es zuträglich sey, daß man einen Todten in die Welt zurücksende, welcher die Lebenden von den Mar tern der Verdammten belehre? Alle diese Fra gen, sage ich, gehören in die scholastische Theo logie, und ihre Entscheidung hänget von dem Verstande ab, wie wir im Folgenden beweisen wer den. Nichts aber ist dem Verstande mehr zu wider, als die unmässige Hitze, von welcher die Seele des Reichen nicht wenig gefoltert ward; dahingegen die Seele des Abrahams in einem sehr gemässigten Ort war; wo sie Trost und Er quickung genoß. War es also ein Wunder, daß sie weit besser dachte und schloß? Aus dem al len folgern wir nunmehr, daß die vernünftige Seele und der Teufel sich der körperlichen Be schaffenheiten zu ihren Verrichtungen bedienen; daß sie sich bey einigen von diesen Beschaffen 148
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heiten wohl befinden, andere aber durchaus nicht leiden können, und also an einigen Orten, ohne daß sie deswegen vergänglich sind, gern bleiben, einige aber durchaus fliehen.

Achtes Hauptstück. Wie man einer jeden Gattung des Genies diejenige Wissenschaft, welche sich besonders für sie schickt, anweisen, und sie von der, welche ihr zuwi der ist, abhalten soll.

[] Alle Künste, sagt Cicero in seiner Rede für den Archias, sind unter gewissen allgemei nen Grundsätzen begriffen; und wenn man die se durch Mühe und Fleiß begriffen hat, so hat man die Künste selbst erlernt. Nur die Dicht kunst hat in diesem Stücke so etwas besonders, daß, wenn GOtt und die Natur einen Men schen nicht zum Dichter bestimmen, es ganz und gar vergebens ist, ihn in den Grundsätzen und Regeln davon zu unterrichten. Caeterarum rerum studia, sagt er, et doctrinae et prae- ceptis et arte constant; poeta natura ipsa valet et mentis viribus excitatur, et quasi diuino quodam spiritu afflatur. Doch Ci cero irret: denn in keiner einzigen Wissenschaft von allen denen, welche der menschliche Ver
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stand jemals erfunden hat, wird es derjenige, dem das Genie dazu fehlt, zu etwas bringen, wenn er auch schon sein ganzes Leben auf die Erler nung ihrer Grundsätze und Regeln wendet: dahingegen demjenigen, der sich auf eine Wis senschaft legt, die seiner natürlichen Fähigkeit ge mäß ist, zwey Tage †) genug sind, sich darin nen geschickt zu machen. Eben dieses ereignet sich, ohne den geringsten Unterschied, in der Dichtkunst; so, daß der, welcher ein Genie da zu hat, sobald er es sich nur einkommen läßt, Verse zu machen, gute Verse machen wird, wenn der, bey dem das Genie fehlt, ewig ein schlechter Dichter bleiben muß. [] Da es also diese Beschaffenheit hat, so scheint es mir nunmehr Zeit zu seyn, kunstmässig fest zu setzen, welche von den Wissenschaften für jede Art des Genies sich besonders schickt, da mit jeder, nachdem er nunmehr seine Natur ken nen kann, genau wissen möge, zu welcher Kunst sie ihn bestimme. [] Die Künste und Wissenschaften, welche mit dem Gedächtnisse erlangt werden, sind folgen de: die Sprachkunst, die lateinische oder jede andere Sprache, die theoretische Rechtsgelehr 149
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samkeit, die positive Gottesgelahrheit, die Erd beschreibung, und die Rechenkunst. †) [] Die Künste und Wissenschaften, welche von dem Verstande abhängen, sind die scholastische Gottesgelahrheit, die theoretische Arzneygelahr heit, die Dialektik, die natürliche und moralische Weltweisheit, und die ausübende Rechtsgelehr samkeit oder Advocatur. [] Von der guten Einbildungskraft endlich ent stehen alle Künste und Wissenschaften, welche Bilder, Gleichheiten, Harmonie und Verhältnis se zu Gegenständen haben; nämlich die Dicht kunst, die Beredsamkeit, die Baukunst, die Ho milie, die ausübende Arzneygelahrheit, die Ma thematik, ††) die Astrologie, die Regierungskunst, 150 151
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Kriegswissenschaft, das Mahlen, Zeichnen, Schrei ben und Lesen. Gleichfalls hängt es von der Einbildungskraft ab, daß der Mensch artig, höf lich, aufgeräumt, scharfsinnig ist; daß er Rän ke und Kunststücke erfinden kann; daß er jene Gabe besitzt, welche der Pöbel so sehr bewun dert, nämlich vier Schreibern auf einmal vier verschiedene Materien in die Feder zu sagen, und sich in keiner zu verwirren. Diese erzählten Stücke werden wir nicht alle, jede für sich ins besondere durchgehen können, weil wir sonst nim mermehr zu Ende kommen würden. Wir wer den uns nur auf drey oder viere derselben be sonders einlassen, und was wir bey diesen erin nern werden, das wird auch bey den übrigen Statt finden. [] Jn das Verzeichniß derjenigen Wissenschaf ten, die wir mit dem Gedächtnisse erlangen müs sen, haben wir die lateinische und überhaupt alle Sprachen in der ganzen Welt gesetzt. Hierin nen wird uns kein vernünftiger Mann tadeln können; weil die Sprachen eine Erfindung sind, wodurch sich die Menschen mit einander unter halten, und wodurch einer dem andern seine Ge danken mittheilet, ohne daß ihre ersten Erfinder gewisse Geheimnisse oder natürliche Grundsätze gehabt haben, durch die sie alle auf einerley Ge danken hätten fallen können. Sie haben viel
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mehr, wie Aristoteles sagt, *) Wörter nach ei genem Gutdünken ersonnen, und jedem eine will kührilche Bedeutung gegeben. Daher ist die entsetzliche Menge der Worte und Redensarten, von welchen man weder Zahl noch Ursache an geben kann, entstanden: so, daß sie der Mensch, wenn er kein gutes Gedächtniß hat, unmöglich mit einer andern Vermögenheit seiner Seele fas sen kann. Wie ungeschickt die Einbildungskraft und der Verstand zur Erlernung der Sprachen sey, kann man gar deutlich an der Kindheit, als an demjenigen Alter sehen, in welchem uns diese beyden Vermögenheiten am meisten gebre chen: gleichwohl, sagt Aristoteles, **) lernen Kinder eine jede Sprache weit leichter, als er wachsene Personen, wenn sie auch noch so ver nünftig sind. †) Doch, was brauchen wir das 152 153 154
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Zeugniß des Aristoteles? Lehrt uns denn nicht die Erfahrung, daß ein Biscajer, wenn er in sei nem dreyßigsten bis vierzigsten Jahre nach Ca stilien kömmt, nimmermehr die Castilische Mund art lernen wird; kömmt er aber als ein Kind in diese Provinz, so wird er es in zwey bis drey Jahren so weit bringen, daß man glauben sollte, er sey in Toledo gebohren. Eben dieses ereignet sich bey der lateinischen, und bey allen übrigen Sprachen in der ganzen Welt; denn hierinnen kommen alle Sprachen mit einander überein. Wenn sich also die Sprachen in demjenigen Al ter, in welchem das Gedächtniß am stärksten, der Verstand und die Einbildungskraft aber am schwächsten sind, weit besser lernen lassen, als in demjenigen, in welchem das Gedächtniß ab= der Verstand aber zugenommen hat; so ist es un widersprechlich, daß die Sprachen durch das
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Gedächtniß und durch keine andere Fähigkeit der Seele erlernt werden müssen. †) [] Die Sprachen, sagt Aristoteles, *) können durch den Verstand nicht begriffen werden, weil man sie aus keinen Grundsätzen durch Schlüsse herleiten kann. Es ist also durchaus nothwen dig, daß man von andern die Wörter, nebst ih rer Bedeutung hört, und sie in dem Gedächt nisse aufbewahret. Hieraus erklärt er ferner, warum ein taubgebohrner Mensch unumgäng lich auch stumm seyn müsse; weil er nämlich weder hören kann, wie die Worte ausgesprochen werden, noch was für eine Bedeutung ihnen die Erfinder gegeben haben. Da übrigens die Spra 155 156
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chen nichts als eine willkührliche Erfindung der Menschen sind, so folget deutlich daraus, daß man in einer jeden die Wissenschaften vortragen, und alles, was man in der einen ausdrücken kann, auch in der andern ausdrücken könne. Daher hat keiner von den grossen Schriftstellern eine fremde Sprache gesucht, wenn er seine Ge danken hat wollen bekannt machen. Die Grie chen schrieben griechisch; die Römer, lateinisch; die Hebräer hebräisch, und die Mohren ara bisch. Auch ich schreibe in meiner spanischen Sprache, weil ich diese Sprache besser, als ir gend eine andere verstehe. Die Römer, als Her ren der Welt, sahen, daß eine allgemeine Spra che nothwendig sey, damit sich alle Völker unter einander verstehen möchten, wenn einer aus ih nen um Gerechtigkeit flehte, oder sonst etwas, was das Regiment anbelangte, zu suchen hätte: sie liessen daher an allen Orten ihres Reichs Schulen anlegen, in welchen die lateinische Spra che gelehrt ward; und dieser Anstalt hat man es zuzuschreiben, daß ihre Sprache noch bis auf den heutigen Tag dauert. [] Die scholastische Gottesgelahrheit gehört un widersprechlich dem Verstande; wenn anders Unterscheiden, Folgen, Schliessen, Urtheilen und Wählen, Wirkungen dieser Vermögenheit sind. Was kann aber in dieser Wissenschaft vorfallen, daß man nicht entweder wegen der Ungereimtheit zweifeln, oder mit Unterscheidung antworten, oder wider die Gegenantwort einwen
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den, die wahren Folgerungen daraus ziehen, und so lange hin und wieder reden müßte, bis der Verstand dabey beruhen kann. Den stärksten Beweis aber, der sich hier anführen läßt, mag man daraus nehmen, daß sich die lateinische Sprache mit der scholastischen Theologie sehr schwer ver binden lasse, und daß es etwas sehr seltnes sey, wenn ein grosser lateinischer Styliste zugleich ein grosser Scholastiker ist. Man hat diese An merkung schon oft gemacht, und schon oft hat sich hier und da ein Neugieriger bemüht, den Grund davon zu entdecken; man ist aber nie mals auf etwas anders gefallen, als darauf: die scholastische Theologie werde in den plansten und allergemeinsten Ausdrücken vorgetragen, so, daß die grossen Stylisten, welche ihre Ohren einmal an den anmuthigen und zierlichen Styl des Ci cero gewöhnt hätten, unmöglich einen Gefallen daran finden könnten. Es wäre für unsere Sty listen gut, wenn dieses die wahre Ursache wäre; denn so würden sie wenigstens durch die Ge wohnheit, indem sie ihr Gehör dazu zwängen, ihrem Fehler abhelfen können. Doch die Wahr heit zu gestehen, die Ursache liegt mehr an dem Kopfe, als an dem Gehöre. Die grossen Sty listen müssen nothwendig ein starkes Gedächt niß haben; weil sie es sonst in einer fremden Sprache nimmermehr so weit bringen würden. Da aber ein starkes und glückliches Gedächtniß einem grossen und geschwinden Verstande in eben demselben Kopfe ganz entgegen ist, so muß es
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ihn nothwendig so zurück halten, daß er zu dem gehörigen Grade der Vollkommenheit nicht ge langen kann. Hieraus folgt also, daß derjeni ge, welchem ein fähiger und geschwinder Ver stand fehlt, (als welcher Vermögenheit das Un terscheiden, das Folgern, das Schliessen, das Ur theilen und Erwählen zukömmt,) es in der scho lastischen Theologie gewiß nicht weit bringen wird. Wer mit diesem Grunde nicht zufrieden ist, der darf nur den h. Thomas, den Scotus, Durandus, und Cajetanus lesen, welches die Hauptschriftsteller in dieser Wissenschaft sind; und ich bin gewiß, daß er die vortreflichsten und feinsten Gedanken in ihren Werken finden wird, die sie in dem allerschlechtesten und nie drigsten Lateine vorgetragen haben. Die Ursa che aber hiervon ist keine andere, als, weil die se grossen Schriftsteller auch in ihrer Jugend ein sehr schwaches Gedächtniß hatten, und also in der lateinischen Sprache nicht weit kommen konnten; da sie aber zur Dialektik, Metaphy sik und scholastischen Theologie schritten, so konn ten sie wegen ihres grossen Verstandes gar leicht zu der Höhe gelangen, in welcher wir sie jetzt bewundern. [] Jch selbst kann von einem scholastischen Theologen erzählen, und alle, die ihn gekannt oder mit ihm umgegangen sind, werden es wis sen, daß er in seiner Wissenschaft gewiß einer der größten war, und gleichwohl nicht zierlich, oder nach dem Wohlklange des Cicero reden konnte, sondern sogar von seinen Schülern sei
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nes schlechten und erbärmlichen Lateins wegen ge tadelt wurde. Es riethen ihm daher einige, die keine Einsicht von der Sache hatten, daß er im Geheim der scholastischen Theologie einige Stunden entziehen, und auf die Lesung des Cice ro wenden solle. Weil er sah, daß es ein Rath guter Freunde war, so nahm er sich vor, seinem Fehler nicht allein im Verborgenen, sondern ganz öffentlich abzuhelfen, indem er nach geen digtem Artickel von der Dreyeinigkeit, (oder der Art, wie das göttliche Wort sey Fleisch ge worden) die lateinischen Stunden besuchte. Es ist aber sehr merkwürdig, daß er in der langen Zeit, die er so zubrachte, nicht allein nichts Neues lernte, sondern auch das schlechte Latein, welches er wußte, beynahe ganz vergaß, und also genö thiget wurde, hernach in spanischer Sprache zu lesen. Als Pius der IVte fragte, welcher Got tesgelehrte sich am besten auf der Tridentinischen Kirchenversammlung gehalten habe, so wurde ihm gesagt, daß man besonders einen spanischen Gottesgelehrten, wegen seiner Gründe, seiner Antworten, seiner Auflösungen und Unterschei dungen ungemein bewundert habe. Der Pabst war begierig, einen so besondern Mann von Per son kennen zu lernen, und gab Befehl, daß er nach Rom kommen, und ihm selbst von dem, was auf der Kirchenversammlung vorgegangen sey, Nachricht ertheilen solle. Als er in Rom ankam, erwieß ihm Pius ganz besondere Ehre; er befahl ihm, sich vor ihm zu bedecken, führte
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ihn an der Hand bis in die Engelsburg, erzählte ihm unter Wegens in dem schönsten Lateine, was er für Werke, diese Burg zu befestigen, habe anlegen lassen, und bat ihn hin und wieder um sein Gutachten. Der Theologe aber war in sei nen Antworten, weil er kein lateinisch konnte, so verwirrt und barbarisch, daß der spanische Abgesandte (welches damals Luys de Reque sens, oberster Commendator von Castilien war,) selbst den Pabst, ihm sein schlechtes Latein zu verzeihen, bitten, und die Rede auf etwas anders zu lenken suchen mußte. Der Pabst sagte so gar zu seinen Kämmerlingen, es schien ihm un möglich, daß dieser Mann in der Theologie so stark, wie man sagte, seyn sollte, da er im La teinischen so sehr schwach wäre. Als er ihn aber in Sachen, die von dem Verstande abhien gen, auf die Probe stellte, so wie er es in der lateinischen Sprache und in Sachen, die zum Zeichnen und Bauen gehören, gethan hatte, fand er allerdings, daß er recht göttliche Gedan ken hatte. [] Jn der Reihe derjenigen Wissenschaften, die der Einbildungskraft zugehören, haben wir der Dichtkunst den ersten Platz gegeben; nicht et wa von ohngefehr oder ohne Ueberlegung, son dern weil wir ausdrücklich damit wollten zu verstehen geben, wie weit entfernt diejenigen von einem grossen Verstande sind, welche viel Fähig keit zum Versemachen haben. So schwer es ist, wie wir gesehen haben, die lateinische Spra
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che mit der scholastischen Theologie zu paaren; eben so schwer und noch weit schwerer ist es, mit dieser Wissenschaft die Dichtkunst zu ver binden. Sie ist dem Verstande so zuwider, daß derjenige, der sich besonders in derselben hervorthut, allen Wissenschaften nothwendig ab sagen muß, die von jener VermögenheitVermögenhiet abhän gen; ja sogar der lateinischen Sprache weil ei ne allzustarke Einbildungskraft sich auch mit kei nem starken Gedächtnisse verträgt. [] Obgleich Aristoteles die Ursache von dem er sten nicht eingesehen hat, so bestärkt er doch selbst meinen Satz, wenn er sagt: *) Μαρακος ὁ Συρακουσιος και ἀμεινον ἠν ποιητης ὁτ' ἐκ- ϛαη. Was heißt das anders als: der Syra kusaner Marakus war ein besserer Dichter, wenn er nicht bey Verstande war? Die Ursache ist hiervon, weil die Einbildungskraft, wenn sie zur Poesie geschickt seyn soll, drey Grade der Hitze haben muß; diese grosse Hitze aber, wie wir an einem andern Orte gesagt haben, macht, daß der Verstand gänzlich verlohren geht. Aristoteles bemerkt dieses selbst, wenn er sagt, daß Mara kus wieder bey Verstande gewesen wäre, sobald sich die Hitze gemässiget hätte, daß er aber als denn nicht mehr so gute Verse gemacht habe, weil ihm die Hitze, mit welcher die Einbildungs kraft in der Poesie wirken muß, gebrach. Die ser Grad der Hitze gebrach dem Cicero, als er die Heldenthaten seines Consulats, und die glückli 157
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che Wiederherstellung der Freyheit, zu welcher Rom unter seiner Regierung gelangt sey, be singen wollte. [] O fortunatam natam me consule Romam! Juvenal, weil er die Ursache nicht begreifen konn te, wie ein Mensch von einem Genie, als Cice ro hatte, in der Poesie unglücklich seyn könnte, zieht ihn sehr beissend durch und spricht: wenn seine philippischen Reden wider den Marcus An tonius von der Güte dieses Verses gewesen wä ren, so würden sie ihm gewiß nicht das Leben gekostet haben. [] Plato trift es viel schlechter, wenn er be hauptet, *) die Dichtkunst sey keine menschliche Wissenschaft, sondern eine göttliche Offenbarung; weil die Dichter, wenn sie nicht ausser sich und voll von Gott wären, nichts recht besonders ver fertigen oder sagen könnten. Er beweiset sei ne Meynung ferner daher, weil ein Mensch, wenn er den freyen Gebrauch seiner Vernunft hätte, nicht dichten könne. Doch Aristoteles**) ta delt ihn des erstern wegen, daß er die Dicht kunst für keine menschliche Wissenschaft, sondern für göttliche Offenbarungen hält; das andere aber räumet er ein, daß ein vernünftiger Mann, welcher den freyen Gebrauch seines Verstandes habe, kein Dichter seyn könne. Die Ursache hiervon ist diese, weil da, wo viel Verstand ist, sich nothwendig ein Mangel an Einbildungs 158 159
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kraft äussern muß, welche der Dichtkunst beson ders zugehört. Einen noch stärkern Beweis kann man daher nehmen, daß Sokrates, ob er schon die ganze Dichtkunst mit allen ihren Grund sätzen und Regeln studirt hatte, dennoch keinen Vers machen konnte; er, der durch den Aus spruch des Apollo für den weisesten Mann in der ganzen Welt erklärt wurde. [] Jch nehme es also für ganz ausgemacht an, daß derjenige Knabe, welcher mit einer beson dern Fähigkeit zur Dichtkunst geboren wird, und dem sich die Gleichlaute und Reime von selbst ohne Mühe darbieten, gemeiniglich in Gefahr ist, es in der lateinischen Sprache, der Dialek tik, der Weltweisheit, der Medicin, der scholasti schen Theologie, und in allen übrigen Künsten und Wissenschaften, welche von dem Verstande und dem Gedächtnisse abhängen, nicht besonders weit zu bringen. Die Erfahrung lehrt es, daß Knaben von dieser Art in Auswendiglernung weniger Wörter wohl zwey bis drey Tage zu bringen, und hingegen nach dem zweyten Ueber lesen mehr als einen Bogen im Kopfe haben, wann es etwas in Versen ist, zum Beyspiel eine Komödie. Sie verbringen ihre Zeit mit Lesung der Ritterbücher, des rasenden Rolands, des Boscans, der Diana des Montemayors, und anderer dergleichen Schriften, weil es nichts als Werke der Einbildungskraft sind. Was soll man ferner von den grossen Sängern und Ka pellmeistern sagen, deren Genie ganz und gar
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zur lateinischen Sprache und zu allen andern Wis senschaften, welche den Verstand und das Ge dächtniß angehen, ungeschickt ist? Eben dieses trift bey allen Jnstrumentspielern, kurz, bey allen Musicis ein. †) [] Aus den angeführten drey Beyspielen, die wir von der lateinischen Sprache, der scholasti schen Theologie und der Dichtkunst gegeben haben, wird man nun wohl einsehen, daß unse re Lehre gegründet ist, und daß wir die obige Eintheilung mit allem Recht gemacht haben, ob wir gleich die übrigen Wissenschaften nicht be sonders durchgehen können. [] Auch das Schreiben verräth die Einbil dungskraft. Man wird wenig Leute von gros sem Verstande finden, welche eine gute Hand schreiben, wovon ich sehr viele merkwürdige Bey spiele weiß. Besonders habe ich einen sehr ge lehrten scholastischen Gottesgelehrten gekannt, welcher aus Verdruß über seine so gar elende Hand, an keinen Menschen schrieb, und auch auf keinen einzigen Brief antwortete, bis er endlich einen Schreibemeister heimlich in sein Haus nahm, welcher ihn nur aufs höchste erträgliche und leserliche Buchstaben machen lehren sollte. 160
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Er beschäftigte sich auch verschiedene Tage da mit; allein er verlor die Zeit, und hatte nicht den geringsten Vortheil davon, daß er also vol ler Aergerniß seinen Vorsatz aufgeben mußte, und den Schreibemeister in das größte Erstaunen setzte, welcher es sich nicht vorstellen konnte, wie ein in seiner Wissenschaft so gelehrter Mann so ungeschickt zum Schreiben seyn könne. †) Jch meines Theils wundere mich gar nicht darüber, und halte es für etwas ganz natürliches, weil ich weiß, daß eine gute Hand eine Wirkung der Einbildungskraft ist. Wer sich durch die Er fahrung davon will überzeugen lassen, der darf nur diejenigen Studenten auf den Universitä ten betrachten, die mit Abschreiben ihr Brodt 161
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dienen. Er wird finden, daß sie sehr wenig in der Sprachkunst, in der Vernunftlehre und in der Weltweisheit gethan haben, und eben so wenig in der Medicin und Theologie, wenn sie etwa besonders diese oder jene studiren. †) Derjenige Knabe also, der mit der Feder ein Pferd oder eine menschliche Gestalt wohl entwerfen, oder die Züge in der Schreibekunst leicht und gut nach machen kann, sollte gleich zu gar keiner Wissen schaft angehalten, sondern graden Weges zu einem guten Maler geschickt werden, welcher durch die Kunst seinem Genie zu Hülfe kommen kann. [] Auch die Geschicklichkeit, leicht und wohl zu lesen, entdeckt eine Art der Einbildungskraft. Und wenn diese Geschicklichkeit besonders groß ist, so mag der Knabe nur nicht seine Zeit mit den Wissenschaften verderben, sondern sein Brodt mit Ablesungen in den Gerichtsstuben zu ver dienen suchen. [] Hierbey ist, als etwas besonders, anzumer ken, daß diejenige Art der Einbildungskraft, wel che den Menschen artig, gesprächig und scherz 162
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haft macht, von derjenigen Art sehr verschieden ist, welche man haben muß, wenn man leicht und gut will lesen lernen. Der aufgeräumteste Mensch wird immer im Lesen am furchtsam sten seyn und am meisten stottern. [] Das Primenspiel wohl zu kennen, zu rech ter Zeit etwas zu wagen, und zu rechter Zeit zu passen, falsch beyzuwerfen, hier und da ein Blendwerk zu machen, die Stärke seines Gegners zu errathen, sich ihr entziehn zu können; alles dieses sind Verrichtungen, welche der Einbil dungskraft zugehören. Eben dieses findet bey den Hundertaugen und bey dem Triumphspiele, obgleich nicht so sehr, als bey dem deutschen Pri menspiele, Statt, welches nicht allein diese Gat tung des Genies, sondern zugleich auch alle La ster und Tugenden des Menschen entdecket; denn alle Augenblicke kömmt etwas darinnen vor, wodurch der Spieler zeigt, wie er sich bey gleichen Umständen in wichtigern Sachen, wenn sie ihm vorstossen sollten, verhalten würde. [] Dasjenige Spiel aber, woraus man die Ein bildungskraft am besten schliessen kann, ist das Schachspiel. Derjenige, welcher darinnen die feinsten Fallen zu erdenken, zuweilen zehn bis eilf glückliche Züge hintereinander zu thun fähig ist, der läuft ganz gewiß in allen den Wissen schaften Gefahr, welche von dem Verstande und dem Gedächtnisse abhängen; er müßte denn zwey oder gar alle drey dieser Vermögenheiten, wie wir oben angemerkt haben, in seinem Ge
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hirne miteinander verbinden. Wenn ein gewis ser sehr gelehrter scholastischer Gottesgelehrter, den ich ganz wohl gekannt habe, dieses eingesehen hätte, so würde er sich gar bald aus dem Zwei fel, der ihn unruhig machte, gefunden haben. Er spielte nämlich verschiedenemal mit seinem Famulo, hatte aber allezeit das Unglück, zu ver lieren. „Was soll das heissen? sagte er ganz zornig. Jhr, der ihr weder die lateinische Sprache, noch die Dialektik, noch die Theolo gie (ob ihr sie gleich studiret habt) verstehet, ihr gewinnt mir alle Spiele ab, mir, der ich ganz mit dem Scotus und dem h. Thomas angefüllt bin! Sollte ich nicht mehr Witz haben, als ihr? Wahrhaftig, ich kann mir es nicht an ders einbilden; der Teufel muß euch diese Zü ge eingeben.“ Das ganze Geheimniß aber be stand darinnen, daß der Herr einen grossen Ver stand hatte, wodurch er das Schwerste, was in dem h. Thomas und Scotus ist, begreifen konn te; es fehlte ihm aber an derjenigen Art der Einbildungskraft, welche nothwendig erfordert wird, wenn man gut im Schache spielen soll: der Famulus hingegen hatte einen schwachen Ver stand und ein schwaches Gedächtniß, dagegen aber eine desto feinere Einbildungskraft. [] Diejenigen Studirenden, deren Bücher al lezeit sehr richtig gestellt sind, in deren Stube es allezeit ordentlich und aufgeräumt aussieht, so daß jedes seinen besondern Ort, und seinen gewissen Nagel hat, haben eine gewisse Art der
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Einbildungskraft, welche dem Verstande und dem Gedächtnisse ganz zuwider ist. Ein glei ches Genie haben alle die, welche sich putzen und schniegeln, alle Fäserchen sorgfältig von dem Klei de ablesen, und über jede Falte unwillig werden können: denn auch dieses entsteht unwidersprech lich aus einer Art der Einbildungskraft. †) Wenn z. E. ein Mensch, der vorher keine Ver se machen konnte, und an seinem Anzuge ganz nachlässig war, sich ungefähr verliebt, so wird er auf einmal (sagt Plato in dem Gespräche, die Sophisten,) ein Dichter und ein ordentlicher und geputzter Mensch; weil die Liebe das Ge hirn erhitzt und austrocknet, und ihm also die Beschaffenheiten giebt, welche die Einbildungs kraft erfordert. Eben dieses, wie Juvenal an merkt, thut der Unwille, welcher gleichfalls eine 163
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Gemüthsbewegung ist, die das Gehirne tro cken macht: [] Si natura negat facit indignatio versum. [] Die aufgeräumten, scherzhaften und spöt tischen Köpfe haben gleichfalls eine Art der Ein bildungskraft, welche sowohl dem Verstande als dem Gedächtnisse zuwider ist. Sie bringen es selten in der Sprachkunst, Vernunftlehre, scho lastischen Theologie, Medicin und Rechtsgelehr samkeit sehr weit. Diejenigen also, welche in Händeln verschlagen sind, alles, was ihnen un ter die Hände kömmt, bald auszuführen wissen, und sich geschwind im Reden und Antworten er zeigen, sind vor dem Gerichte sehr wohl zu brau chen, geben gute Vorsprecher und Sachwalter ab, und sind in allen Stücken glücklich, die in den Handel und Wandel einschlagen: nur in den Wissenschaften sind sie es nicht. Dieses pflegt meistentheils den Pöbel zu verführen; wenn er sieht, daß sie mit allen Händeln und Geschäften so wohl umzugehen wissen, so schließt er, sie würden sehr grosse Männer geworden seyn, wenn sie sich auf die Wissenschaften gelegt hät ten, da den Wissenschaften doch kein Genie ent gegner seyn kann, als das ihrige. [] Diejenigen Kinder, welche späte reden ler nen, haben viel Feuchtigkeit in der Zunge, und also auch in dem Gehirne. Wenn sich diese überflüssige Feuchtigkeit mit der Zeit verloren hat, so werden es sehr beredte Leute und grosse Redner, weil ihnen die nunmehr gemässigte
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Feuchtigkeit ein sehr starkes Gedächtniß verschaft hat. Dieser Fall, wie wir wissen, ereignete sich an dem Demosthenes, über welchen sich, wie wir angeführet haben, Cicero nicht genug wun dern kann, wie er in seiner Kindheit so unge schickt zum Reden, und in seinen ältern Jahren so beredt habe seyn können. [] Ferner sind alle Knaben, welche eine schöne Stimme haben, und aus ihrer Kehle alle Töne erzwingen können, zu allen Wissenschaften ganz und gar ungeschickt; †) weil sie ein kaltes und feuchtes Temperament haben, als welche zwey Beschaffenheiten, wann sie beysammen sind, den vernünftigen Theil, wie wir oben erwiesen ha ben, ganz unfähig machen. [] Diejenigen Schüler, welche die Vorlesungen ihrer Lehrer unfehlbar fassen, und sie ohne An stossen wieder hersagen können, zeigen, daß sie ein sehr glückliches Gedächtniß haben; auf ihren Verstand aber wird man desto weniger Rech nung machen können. [] Einige Fragen und Zweifel kommen noch bey dieser Lehre vor, deren Auflösung vielleicht unserer Materie mehr Licht geben, und es deut 164
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licher beweisen wird, daß das, was wir vor getragen haben, wahr sey. [] Die erste Frage ist diese: woher kömmt es doch wohl, daß die grossen lateinischen Stylisten weit aufgeblasener, und auf ihr Wissen weit hof färtiger sind, als die allergelehrtesten Leute in denjenigen Wissenschaften, welche von dem Ver stande abhängen? Selbst das Sprichwort, welches eine Erklärung von einem Sprachge lehrten geben will, sagt: Grammaticus ipsa arrogantia est. Das ist: ein Sprachgelehrter ist die Unverschämtheit und der Stolz selbst. [] Die andere Frage ist folgende: warum ist die lateinische Sprache dem Genie der Spa nier so zuwider, hingegen dem Genie der Fran zosen, Jtaliäner, Deutschen, Engländer und al ler Völker, welche mehr gegen Norden wohnen, so natürlich? Dieses erhellet sogleich aus ih ren Schriften, indem man einen ziemlich si chern Schluß aus dem guten Lateine ziehen kann, daß der Verfasser ein Ausländer sey, aus dem barbarischen und rauhen Lateine hin gegen, daß er ein Spanier seyn müsse. [] Die dritte Frage ist: warum klingt das, was man in der lateinischen Sprache redet oder schreibet, angenehmer und nachdrücklicher, und warum hat es weit mehr Zierlichkeit, als in ir gend einer andern Sprache, sie mag auch so gut seyn, als sie will: da wir in dem Vorhergehen den gleichwohl gesagt haben, eine jede Sprache
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sey nichts, als eine willkührliche Festsetzung ih rer ersten Erfinder, ohne, daß sie den geringsten Grund in der Natur habe? [] Die vierte Frage endlich ist diese: wie geht es zu, da alle Wissenschaften, die von dem Ver stande abhängen, in lateinischer Sprache ge schrieben sind, daß diejenigen, welchen es an Ge dächtniß fehlt, diese Bücher gleichwohl lesen, und darinnen studiren können, ob ihnen schon, eben wegen ihres wenigen Gedächtnisses, die la teinische Sprache ganz zuwider ist? [] Die erste Frage beantworte ich folgenderge stalt. Wenn man erkennen will, ob es einem Menschen an Verstande fehle, so kann man kein sichreres Kennzeichen haben, als dieses, daß er hochmüthig, aufgeblasen, vermessen, ehrbegie rig, schwierig und voller Ceremonien ist: denn alle diese Eigenschaften entstehen aus derjenigen Art der Einbildungskraft, welche nicht mehr als einen Grad der Wärme erfordert, als der sich mit der vielen Feuchtigkeit, die zu einem Gedächtnisse nöthig ist, sehr wohl vertragen kann, weil er bey weiten nicht stark genug ist, sie zu vertrocknen. Das Gegentheil hingegen, wenn ein Mensch nämlich von Natur demüthig ist, wenn er nichts besonders aus sich und seinen Sachen macht, wenn er sich nicht allein nicht selber lobt, sondern sogar die Lobeserhebungen, die ihm andere ertheilen, übel nimmt, und durch die Ehrenbezeugungen, die ihm geschehen, belei diget wird; dieses, sag ich, ist ein unfehlbares
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Merkmahl, daß er einen sehr grossen Verstand, sehr wenig Einbildungskraft aber, und wenig Gedächtniß haben müsse. Jch habe mit Fleiß gesetzt: wenn er von Natur demüthig ist; denn aus der gezwungenen Demuth ist nichts zu schliessen. Und daher kömmt es nun, daß die Sprachgelehrten, als Leute von einem star ken Gedächtnisse, womit sie den ersten Grad der Einbildungskraft verbinden, nothwendig we nig Verstand haben und so seyn müssen, wie sie das Sprichwort abmahlet. [] Auf die zweyte Frage antworte ich, daß Galenus, wenn er *) das Genie der Menschen nach der Himmelsgegend, unter welcher sie woh nen, bestimmen will, behauptet, alle diejenigen, welche näher gegen Norden zu wohnten, hätten weniger Verstand; die hingegen, welche zwi schen dem nördlichen und dem heissen Erdstriche mitten inne wohnten, wären desto weiser. Die ses trift mit unserer Gegend auf das genaueste ein; weil Spanien weder so kalt, als die nörd lichen Länder, noch so heiß, als die Länder unter dem Aequator ist. Eben diese Meynung hat Aristoteles, wenn er **) die Frage vor legt, warum die Einwohner in kalten Län dern nicht so verständig wären, als die Ein wohner in wärmern Gegenden? Jn seiner Ant wort kommen die Niederländer, die Deutschen, die Engländer und Franzosen ziemlich zu kurz, indem er sagt: ihr Verstand wäre immer, wie 165 166
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der Verstand der Betrunkenen, weil ihnen die viele Feuchtigkeit, womit ihr Gehirn und ihr übriger Körper angefüllet sind, nicht verstatte, in die Natur der Dinge einzudringen. Ωϛε λιαν μεθυουσιν ἐοικασι και οὐκ εἰσι jητητι- κοι. Man erkennet es schon an dem weissen Gesichte und an der gelblichten Farbe der Haa re; wie denn ein Kahler unter den Deutschen etwas recht seltnes ist, als welche alle wohl ge wachsen, und von einer ansehnlichen Länge sind, weil sie sehr viel Feuchtigkeiten haben, welche das Fleisch ausdehnen. Gleich das Gegentheil von allen diesem bemerkt man an den Spa niern; sie sind durchgängig ein wenig bräu lich, sie haben schwarzes Haar, sie sind von mit telmässiger Statur, und die meisten sind kahl. Diese Beschaffenheit, sagt Galenus, *) entsteht aus der Wärme und Trockenheit des Gehirns. Die Spanier also müssen nothwendig ein schlech tes Gedächtniß und einen grossen Verstand ha ben; die Deutschen hingegen ein starkes Ge dächtniß und wenig Verstand: jene also kön nen kein Lateinisch lernen, diese hingegen lernen es ungemein leicht. [] Das, worauf Aristoteles den wenigen Ver stand derjenigen, welche sehr weit gegen Norden wohnen, gründet, ist die viele Feuchtigkeit ihrer Luft, welche die natürliche Wärme, vermöge der Antiperistasis, inwendig zurück hält, und ihr 167
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auszudunsten nicht erlaubet. Sie verbinden also viel Feuchtigkeit mit der Wärme, und ha ben daher nicht nur ein starkes Gedächtniß zu den Sprachen, sondern auch eine grosse Erfindungs kraft, wodurch sie es in Uhrwerken, in Wasser künsten, welche noch die Wasserkünste in Tole do übertreffen, in mechanischen Kunststücken, und in allen Werken des Witzes so weit brin gen, daß es ihnen nimmermehr ein Spanier gleich thun wird, weil ihm die Einbildungskraft fehlet. Geht man aber in die Dialektik, in die Weltweisheit, in die scholastischeTheologie, in die Medicin, in die Rechtsgelehrsamkeit; so wird man sehen, daß ein spanisches Genie unter sei nen barbarischen Kunstwörtern weit feinere und tiefsinnigere Sachen vorbringt, als irgend ein Ausländer. Denn, wenn man den Ausländern ihre zierliche und reine Schreibart nimmt, so bleibt ihnen nicht das geringste neuerfundene und vorzügliche übrig. †) [] Zum Beweise dieser Lehre sagt Galenus: *) unter den Scythen ist nicht mehr als ein einziger Weltweiser gebohren worden; Athen hingegen hat deren unzählige hervorgebracht. So sehr aber den nördlichen Völkern die Weltweisheit, 168 169
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und die übrigen Wissenschaften, die wir ange führt haben, entgegen sind, so bequem sind die Mathematik und die Astrologie für sie, weil die se eine gute Einbildungskraft erfordern. [] Die Auflösung des dritten Puncts hängt von einer Frage ab, welche zwischen dem Plato und Aristoteles sehr streitig ist. Plato sagt, daß es Wörter gebe, welche ihrer Natur nach gewisse Sachen bedeuten, und daß man ein sehr gros ses Genie haben müsse, diese Wörter zu fin den. Diese Meynung kömmt mit der heiligen Schrift überein, welche uns erzählt, Adam ha be jedem Geschöpfe, welches ihm GOtt vorge stellt, denjenigen Namen gegeben, welcher ihm seiner Natur nach zukomme. Aristoteles aber will es *) durchaus nicht zugeben, daß in irgend einer Sprache Wörter oder Redensarten wären, welche ihrer Natur nach die Sachen bedeuteten, weil die Menschen alle Wörter nach ihrer Will kühr und ihrem Gutdünken erdacht hätten. Die ses bestärkt die Erfahrung, weil zum Beyspiel, der Wein über sechshundert Benennungen und in jeder Sprache eine andere hat; desgleichen auch das Brodt. Von keiner dieser Benen nungen aber kann man behaupten, daß es die natürliche und nothwendige Benennung sey; weil sich sonst alle Völker ohne Unterscheid ihrer bedie nen würden. Dem allen ungeachtet ist die Mey nung des Plato doch richtiger: denn obgleich 170
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die ersten Erfinder die Worte nach ihrer Will kühr und ihrem Gutdünken erdachten, so war doch diese Willkühr eine gegründete Willkühr, indem sie das Gehör, die Natur der Sachen, und die Anmuth der Aussprache dabey zu Ra the zogen; indem sie die Wörter weder zu lang, noch zu kurz machten, noch so, daß man sie oh ne eine häßliche Aufsperrung des Mundes nicht aussprechen könnte; indem sie den Ton an sei ne gehörige Stelle brachten, und noch viel an dere Umstände beobachteten, die in einer Spra che beobachtet werden müssen, wenn sie zierlich und nicht barbarisch seyn soll. Dieser Mey nung des Plato war ein gewisser Spanier zu gethan, dessen ganze Beschäftigung darinnen be stand, daß er Ritterbücher schrieb, weil er gleich diejenige Art der Einbildungskraft besaß, welche den Menschen auf nichts als auf Erdichtungen und Lügen führt. Von diesem Spanier erzählt man, daß, als er in einem seiner Werke einen wütenden Riesen habe einführen wollen, er mehr als einen ganzen Tag nachgedacht habe, was für einen Namen er ihm wohl beylegen solle, der sich völlig zu seiner Wuth schicke; er habe aber niemals den rechten treffen können, bis er einmal bey einem seiner Freunde mit Würfeln gespielt, und den Hausherrn habe rufen hören: holla, Junge, traquitantos (Spielmarken) hier auf diesen Tisch; Dieses Wort nun, traqui- tantos, sey in seinen Ohren von solchem Wohl klang gewesen, daß er sogleich aufgestanden sey,
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und gesagt habe: „Länger, mein Herr, spiele ich nicht. Jch habe nun schon mehr als einen Tag dem Namen nachgesonnen, welcher sich am besten für einen wütenden Riesen schicke, den ich in eine unter den Händen habende Geschich te bringen will: ich bin aber nicht eher, als eben jetzt darauf gefallen, und zwar in diesem Hause, wo ich immer ein besonderes Glück zu geniessen pflege.“ Eben diese Sorgfalt, wel che der spanische Romanenschreiber, seinem Rie sen einen geziemenden Namen zu geben, anwand te, haben auch die Erfinder der lateinischen Spra che angewandt; und nur hierdurch ist sie den Ohren so wohlklingend geworden. Kann man sich also wundern, daß alles, was man im La teinischen redet und schreibt, so wohl klingt; in den übrigen Sprachen aber so übel, weil ihre Erfinder Barbaren gewesen sind? [] Die letzte Frage endlich habe ich müssen beyfügen, weil sie vielen Schwierigkeit gemacht hat, ob sie gleich an sich selber sehr leicht aufzu lösen ist, und zwar auf folgende Art. Diejeni gen, welche einen grossen Verstand haben, sind deswegen nicht ganz und gar des Gedächtnisses beraubt, weil sie bey dem gänzlichen Mangel desselben unmöglich überlegen und schliessen könn ten, da es eben diejenige Fähigkeit ist, welche die Materie und die Bilder enthalten muß, wor über der Verstand seine Betrachtungen anstellt. Weil aber ihr Gedächtniß sehr schwach ist, so können sie von den drey Graden der Vollkom
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menheit, in welcher man die lateinische Spra che erlernen kann, (nämlich so, daß man sie ent weder verstehen, oder schreiben, oder gar spre chen lernt,) nur den ersten Grad, und zwar auch diesen noch mit vieler Mühe und Noth erreichen.

Neuntes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß grosse Redner keine Leute von grossem Ver stande seyn können.

[] Eine von den Gaben, woraus der Pöbel die Weisheit und Klugheit eines Menschen am liebsten zu schliessen pflegt, ist eine grosse Bered samkeit, wenn er ihn nämlich mit Anmuth ei nen Strom süsser und zierlicher Worte hervor stossen, und viele Gleichnisse und Beyspiele, die sich zu seinem Zwecke schicken, vorbringen hört. *) Allein in der That entsteht diese Fähigkeit aus der Verbindung des Gedächtnisses und der Ein bildungskraft, die aber nur den mittelsten Grad der Wärme haben muß, damit sie die Feuchtig keit des Gehirns nicht zu vertrocknen, wohl aber die Bilder gleichsam zu reizen, und aufsiedend 171
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zu machen vermögend sey, als wodurch viel Be griffe in dem Kopfe entstehen, und der Redner immer etwas zu sagen findet. Bey dieser Ver bindung kann unmöglich sich auch ein grosser Verstand befinden; weil wir schon oben gewiesen haben, daß diese Fähigkeit die Wärme sehr ver abscheuet, die Feuchtigkeit aber durchaus nicht leiden kann. †) Wenn die Athenienser diese Lehre eingesehen hätten, so würden sie sich nicht so sehr gewundert haben, daß ein so verständi ger Mann, als Sokrates war, nicht wohl reden konnte. Diejenigen, die seine Weisheit einsa hen, sagten von ihm, seine Worte und Sprüche wären gleich einem Behältnisse von schlechtem Holze, welches von aussen weder behobelt noch angestrichen sey; mache man aber dieses Be hältniß auf, so fände man die schönsten Bilder und wunderbarsten Malereyen darinnen. Jn eben dieser Unwissenheit sind diejenigen gewesen, welche die Ursache von der Dunkelheit und schlechten Schreibart des Aristoteles haben an geben wollen; sie sagten nämlich: dieser Welt weise habe mit Fleiß eine so verworrene Spra che geredet, und alle Zierlichkeiten in Wort und Ausdruck mit Fleiß vermieden, damit er seinen Worten ein gewisses Ansehen geben möchte. Wenn man ferner das Verfahren des Plato, 172
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seine harte und kurze Schreibart, die Dunkel heit seiner Gründe, die schlechte Zusammenfü gung der Theile der Rede betrachtet; so wird man finden, daß man unmöglich eine andere Ursache davon angeben könne. *) [] Zu noch mehrerer Bestärkung darf man nur die Werke des Hippokrates lesen, und Achtung geben, wie oft er dem Leser hier ein Nennwort und dort ein Zeitwort, so zu reden entwendet; wie übel er seine Gründe vorträgt; wie trocken und arm er ist, wenn er die leeren Plätze seiner Lehre ausfüllen will. Was weiß er seinem Freunde, dem Damaget, wenn er ihm erzählen will: der König in Persien, Artaxerxes, habe Gesandten an ihn geschickt, und habe ihm alle Schätze, die er verlangen könnte, sogar eine Stel le unter den Vornehmsten seines Reichs verspre chen lassen, wenn er zu ihm kommen wollte; was weiß er, sage ich, bey einem solchen Falle, wobey nothwendig vieles hin und wieder muß seyn gesprochen worden, anders zu sagen, als: Βασιλευς Περσεων ἡμεας μεταπεμπεται, οὐκ εἰδως ὁτι λογος ἐμοι σοφιης χρυσου πλεον δυναται. „Der König in Persien hat mich zu sich rufen lassen: er hat aber nicht ge wußt, daß ich die Weisheit höher schätze, als 173
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Gold.“ Wenn dieser Stof in die Hände eines Erasmus, oder eines andern Gelehrten von glei cher Einbildungskraft und gleichem Gedächtnis se gefallen wäre, so würde wenigstens mit seiner Ausführung ein Buch Papier seyn vollgeschrie ben worden. [] Wer würde sich wohl unterstehen, diese Leh re mit dem natürlichen Genie des heil. Pau lus zu bestärken, und zu behaupten, daß er ein Mann von grossem Verstande, aber von weni gem Gedächtniß gewesen sey, und daß er mit al ler seiner Mühe keine Sprache habe zierlich spre chen können; wenn er nicht selbst sagte: Jch achte, ich sey nicht weniger, denn die ho hen Apostel sind. Und ob ich gleich al bern bin mit reden, so bin ich doch nicht albern in der Erkenntniß. (2. Corinth. {??} 11.) Diese Art des Genies schickte sich zur Ausbrei tung des Evangeliums so vortreflich, daß sich unmöglich etwas besseres erdenken läßt. Be redte Leute, denen es an keiner Zierlichkeit des Ausdrucks fehlt, durften die ersten Verkündiger desselben nicht seyn; weil man damals glaub te, daß die Stärke der Beredsamkeit darinnen bestehe, wenn man dem Zuhörer das Falsche für das Wahre verkaufen, und dasjenige, was das Volk für gut und nützlich hielt, durch die Regeln der Kunst in das Gegentheil verkehren konnte. Behaupteten zum Beyspiele die dama ligen Redner nicht, es sey besser, arm als reich zu seyn, besser krank als gesund, besser närrisch
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als weise; und hundert andere Dinge, die of fenbar wider alle angenommene Meynungen lie fen? Die Hebräer nannten sie daher חֲנֵפִּים das ist, Betrüger. Eben dieser Meynung war der ältere Cato, der es für sehr gefährlich hielt, dergleichen Leute in dem römischenStaate zu dulden; weil er wohl einsah, daß die Stärke des römischen Reichs blos auf den Waffen be ruhe, und diese Redner das Volk schon zu über reden suchten, es wäre gut, wenn die römische Jugend die Waffen bey Seite legte, und sich dieser Art der Weisheit widmete. Er befahl ih nen daher gar bald, daß sie Rom verlassen, und niemals wieder einen Fuß dahin setzen sollten. [] Wenn also GOtt einen grossen und zier lichen Redner hätte wählen wollen, und die ser Redner wäre nach Athen, oder nach Rom gekommen, daselbst zu behaupten: in Jerusalem hätten die Juden einen Menschen gekreuziget, welcher wahrhafter GOtt sey, und eines freywil ligen selbsterwählten Todes gestorben wäre, die Sünder zu erlösen; er sey am dritten Tage wie der auferstanden, und gen Himmel gefahren, wo er noch wäre: was würden die Zuhörer wohl gedacht haben? Würden sie nicht gedacht ha ben, dieser Satz wäre einer von den nichtigen Thorheiten, wovon sie ein Redner durch die Stärke seiner Kunst überreden wolle? Daher sagt auch der H. Paulus: (1 Corinth. I. 17.) Christus hat mich nicht gesandt zu tau fen, sondern das Evangelium zu predi=
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gen: nicht mit klugen Worten, auf daß nicht das Kreutz Christi zunichte werde; das ist, damit nicht die Zuhörer denken sollten, das Kreutz Christi sey einer von den eiteln Sä tzen, an welchen die Redner ihre Geschicklichkeit zu überreden wollten sehen lassen. Das Genie des H. Paulus war auch hierzu gar nicht ge schickt. Er hatte zwar einen grossen Verstand, womit er sowohl in den Synagogen, als unter den Heiden behaupten und vertheidigen konnte, daß Christus der in dem Gesetze versprochene Messias sey, und daß sie keinen andern zu er warten hätten; allein es fehlte ihm an demje nigen Gedächtniß, dadurch er mit Anmuth und mit ausgesuchten und süssen Worten hätte reden können; welches sich zur Ausbreitung des Evan geliums auch gar nicht geschickt hätte. Hier mit aber will ich nicht behaupten, Paulus habe nicht die Gabe mit Sprachen zu reden gehabt, sondern nur das behaupte ich, daß er in allen andern Sprachen nicht anders als in seiner ge redt habe. Jch bin auch so unverständig nicht, daß ich sagen sollte, dem Paulus wäre zur Ver theidigung des Namens Christi sein natürlich grosser Verstand hinlänglich gewesen, ohne daß er den besondern Beystand oder die übernatür lichen Gnadengaben, mit welchen ihn GOtt ausrüstete, hätte nöthig gehabt: dieses nur sa ge ich, daß die übernatürlichen Gaben besser wirkten, da sie auf ein gutes Naturell fielen, als sie würden gewirkt haben, wenn der Mensch an
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sich selbst dumm und albern gewesen wäre. *) Auf diese Lehre gründet sich der h. Hieronymus, wenn er in der Einleitung in die Propheten Je saias und Jeremias die Frage aufwirft: war um der H. Geist, ob er gleich eben sowohl durch den Mund des Jeremias, als des Jesaias ge redt habe, sich bey dem einen mit aller mögli chen Zierlichkeit ausdrücke, da der andere kaum reden könne? Er antwortet auf diesen Zwei fel: der H. Geist habe sich nach eines jeden Na tur gerichtet, ohne durch die übernatürlichen Gna dengaben ihr Genie zu verändern, oder sie die Ausdrücke zu lehren, in welchen sie ihre Pro phezeyhungen kund machen sollten. Man darf nur wissen, daß Jesaias aus einem angesehenen und vornehmen Geschlechte war; daß er in Jerusalem ist auferzogen worden, und am Hofe gelebt hat; daß er also gar leicht die Gabe, zierlich und an genehm zu reden, hat haben können. Jere mias hingegen war auf einem Dorfe, nicht weit von Jerusalem, Namens Anathot, gebohren; er war in seinem Betragen einfältig und rauh, so wie ein Bauer seyn kann, und also bediente sich auch der Heilige Geist bey den Prophezey 174
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hungen, die er ihm mittheilte, eines einfältigen und rauhen Ausdrucks. Eben dieses ist auch von den Briefen des heil. Paulus zu verstehen, welchen der heilige Geist zwar in so weit erfüll te und lenkte, daß er nicht irren konnte, dem er aber völlige Freyheit ließ, so zu reden, wie er natürlicher Weise redete, und wie es die Lehre, die er vortrug, erforderte; weil die Wahrheit der scholastischenTheologie die vielen Worte verabscheuet. [] Mit der positivischen Gottesgelahrheit läßt sich die Kenntniß der Sprachen und der zierli che Reichthum im Reden sehr wohl verbinden, weil sie eine Wissenschaft ist, die von dem Ge dächtnisse abhängt, und in nichts als in einer Menge katholischer Reden und Aussprüche be steht, welche aus den heiligen Vätern und der göttlichen Schrift gezogen, und mit dem Ge dächtnisse behalten werden: so wie ein Gram matikus die Blümchen aus den Poeten, aus dem Virgil, Horaz, Terenz und andern klassi schen Schriftstellern sammelt, und bey aller Ge legenheit, wo es sich nur ein wenig schicken will, mit einem Stückchen aus dem Cicero oder Quin tilian zum Vorschein kömmt, damit er den Zu hörern seine Belesenheit zeigen kann. [] Diejenigen also, bey welchen diese Verbin dung der Einbildungskraft und des Gedächt nisses Statt findet, pflegen die Körner von allen dem, was in ihrer Wissenschaft ge sagt und geschrieben worden ist, zu sammlen,
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und wissen sie zu aller Zeit mit vielem Wortge pränge wieder vorzubringen. Da nun in allen Wissenschaften schon so unendlich vieles ist erfun den worden, so werden sie nur allzuoft von den Unwissenden für Leute von grosser Gründlichkeit gehalten, da sie doch in der That nichts als Esel sind, deren Dummheit sich gar deutlich zeigt, sobald man sie um den Grund von dem, was sie sagen und behaupten, fragt. Die Ursache aber hiervon ist keine andere, als diese, weil sich der Verstand mit einer solchen Menge von Wör tern, und mit so vieler Zierlichkeit im Reden nicht verbinden läßt; weßwegen auch die Schrift sagt: wo man mit Worten umgeht, da ist Mangel; das ist, ein Mensch, welcher viel Worte macht, dem fehlt es gemeiniglich an Verstande und Klugheit. [] Eben diejenigen, bey welchen gedachte Ver bindung der Einbildungskraft und des Gedächt nisses ist, wagen sich mit vielem Muthe an die Erklärung der h. Schrift, weil sie glauben, das viele Hebräische, Griechische und Lateinische müs se sie nothwendig auf den rechten Weg weisen, den wahren Sinn des Buchstabens zu erreichen. Allein die guten Leute betrügen sich: erstlich, weil die Worte und Redensarten des heiligen Textes ganz andere und mehrere Bedeutungen haben, als in welchen sie etwas Cicero in seinen Werken braucht; zweytens, weil ihnen der Verstand fehlt, welches diejenige Fähigkeit ist, durch welche es bestätiget werden muß, ob ein
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Sinn katholisch ist, oder von der Wahrheit ab weicht; und welche aus zwey oder drey ver schiedenen Meynungen, durch Beyhülfe einer übernatürlichen Gnade, diejenige erwählen muß, welche die wahrhafteste und rechtgläubigste von allen ist. [] Jrrthümer, sagt Plato, finden niemals bey ungleichen und sehr verschiedenen Sachen Statt; sondern nur alsdenn, wenn verschiedene Sachen zu sammen kommen, welche eine sehr grosse Aehn lichkeit haben. Wenn man, zum Beyspiel, schar fen Augen Salz, Zucker, Mehl und Kalk, jedes wohl zerstossen und zerrieben, jedes aber beson ders vorlegte; was würde wohl der anfangen können, welcher keinen Geschmack hätte, und mit blossen Augen jedes dieser Pulver untrüglich kennen sollte? Würde er wohl sagen können: dieses ist Salz, dieses ist Zucker, dieses Mehl, und dieses Kalk? Jch glaube gewiß, er wür de sich irren, weil alle diese Sachen einander allzuähnlich sind. Wenn aber das eine Häuf chen Korn, das andere Gerste, das dritte Stop peln, das vierte Erde, und das fünfte Steine, wäre; so würde er sich ganz gewiß nicht irren, sondern einem jeden seinen besondern Namen ge ben, wenn er auch von noch so blödem Gesichte wäre, weil ein jedes von diesen Stücken der äus serlichen Gestalt nach allzusehr von den andern unterschieden ist. Eben dieses ereignet sich täg lich an den Auslegungen und Erklärungen, wel che die Gottesgelehrten von der heiligen Schrift
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geben. Wenn sie zwey oder drey Meynungen anführen, so scheinen bey dem ersten Anblicke al le drey katholisch und mit dem Buchstaben wohl übereinstimmend zu seyn; in der That aber sind sie es nicht, und der Heil. Geist will oft ganz etwas anders sagen. Von diesen Meynungen aber die beste anzuführen, und die falschen davon zu verwerfen, ist kein Werk der Einbildungskraft oder des Gedächtnisses, sondern des Verstandes; daher ich denn behaupte, daß ein blosser positi vischer Gottesgelehrter nothwendig einen schola stischen Gottesgelehrten zu Rathe ziehen muß, wenn er wissen will, welche von verschiedenen Meynungen als die beste zu erwählen sey, da mit er nicht in die Hände der Jnquisition falle. Darf man sich nunmehr wundern, daß alle Ke tzer die scholastische Theologie verabscheuen, und sie ganz aus der Welt zu verbannen suchen; da durch ihre Unterscheidungen, Folgerungen, Schlüsse und Urtheile die Wahrheit an Tag gebracht, und die Lügen aufgedeckt wird?
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Zehntes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß der theoretische Theil der Gottesgelahrheit dem Verstande, das Predigen aber, als der practische Theil dieser Wis senschaft, der Einbildungskraft zukomme.

[] Es ist eine sehr gebräuchliche, und nicht allein von den Gelehrten oft vorgelegte Frage, sondern auch das gemeine Volk trägt sich damit, und giebt sie fast täglich unter einander auf: woher es komme, daß ein Gottesgelehr ter, welcher auf dem Katheder sehr groß ist, viel Scharfsinnigkeit in Streitunterredungen, viel Fer tigkeit in Antworten, und eine bewundernswür dige Gelehrsamkeit in seinen Schriften, wie in seinen Vorlesungen, zeigt, wenn er auf die Kan zel tritt, nicht predigen könne; und daß gegen theils ein beliebter, angenehmer und beredter Prediger, um den sich das Volk drängt, gemei niglich (oder es würde ein grosses Wunder seyn) in der scholastischen Theologie nicht weit gekom men sey? Niemand läßt daher den Schluß als richtig gelten: dieser oder jener ist ein gros ser scholastischer Gottesgelehrter, er muß also auch ein grosser Prediger seyn; oder umgekehrt: dieser oder jener ist ein vortreflicher Prediger,
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folglich muß er auch ein grosser scholastischer Gottesgelehrter seyn. Sowohl das eine als das andere zu widerlegen, fallen einem jeden mehr Beyspiele ein, als er vielleicht Haare auf dem Kopfe hat. [] Niemand hat bis jetzt auf diese Frage ge hörig antworten können; alle schreiben es ge wöhnlichermaassen unmittelbar GOtt und der besondern Austheilung seiner Gnadengaben zu. Und was konnten sie bessres thun, da sie die besondere Ursache davon nicht wußten? Die wahre Antwort auf diesen Zweifel haben wir ei nigermaassen schon in dem vorhergehenden Haupt stücke ertheilet; wir haben uns aber so besonders nicht einlassen können, als es nöthig ist. Sie beruhte vornämlich darauf, daß die scholastische Theologie von dem Verstande abhänge: nun mehr aber behaupten wir, und wollen es auch beweisen, daß das Predigen, als ihr ausübender Theil, ein Werk der Einbildungskraft sey. So schwer es nun ist, daß ein Gehirn einen grossen Verstand mit viel Einbildungskraft verbinden sollte, eben so selten ist es, daß einer ein grosser scholastischer Gottesgelehrter und zugleich ein be rühmter Prediger seyn könne. Daß aber die scholastische Theologie von dem Verstande ab hänge, haben wir in dem Vorhergehenden aus ihrer Feindschaft mit der lateinischen Sprache bewiesen; es wird also nicht nöthig seyn, diesen Beweis von neuem zu führen. Jch will nun mehr nur beweisen, daß alle die Anmuth und
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Geschicklichkeit, durch welche gute Prediger die Zuhörer an sich ziehen, und in beständiger Zu friedenheit und Erwartung erhalten, eine Wir kung der Einbildungskraft, und zum Theil des guten Gedächtnifses sey. Damit ich mich de sto deutlicher erklären, und alles handgreif lich machen kann, werde ich vor allen Dingen dieses voraus setzen müssen, daß der Mensch ein vernünftiges, gesellschaftliches und politisches Thier sey, und daß die alten Weltweisen, weil seine Natur durch die Kunst um ein grosses voll kommener gemacht werden kann, die Vernunft lehre erfunden haben, damit sie ihn lehren könn ten, wie und nach was für Vorschriften und Regeln er denken, die Natur der Dinge erklären, unterscheiden, eintheilen, folgern, urtheilen und wählen solle, ohne welche Verrichtungen man unmöglich in irgend einer Kunst Meister wer den kann. Wenn aber der Mensch gesellschaft lich und politisch seyn sollte, so mußte er noth wendig reden, und andern die Gedanken seiner Seele verständlich machen können; damit er dieses aber mit Anstand und Ordnung thun möge, erfand man eine Kunst, welche die Rhe torik oder Redekunst heißt, und durch Vorschrif ten und Regeln die Rede, vermittelst angeneh mer Worte, zierlicher Ausdrücke, scheinbarer Farben und erregter Gemüthsbewegungen, schö ner macht. Wie aber die Vernunftlehre den Menschen nicht nur in einer Kunst, sondern in allen Künsten ohne Ausnahme denken, und
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schliessen lehrt; so lehrt auch die Rhetorik nicht allein, wie man in der Theologie, sondern auch, wie man in der Arzneykunde, in der Rechtsge lehrsamkeit, in der Kriegskunst, und in allen an dern Wissenschaften sowohl, als in dem täglichen Umgange, reden müsse. Wenn wir uns daher einen vollkommenen Dialektiker, oder einen voll kommenen Redner einbilden wollen, so können wir ihn uns nicht anders einbilden, als einen Mann, der in allen Wissenschaften erfahren ist, weil sich seine Gerechtsamkeit über alle Wissen schaften erstrecket, und er die Regeln seiner Kunst in einer jeden ohne Unterscheid anwenden kann. Es ist mit der Beredsamkeit nicht, wie mit der Arzneykunde, welche einen gewissen und bestimm ten Umfang hat, noch wie mit der natürlichen Weltweisheit, der Moral, der Metaphysik, der Astrologie oder den übrigen Wissenschaften; sondern Cicero hat vollkommen Recht, wenn er *) sagt: oratorem, vbicunque constiterit, consistere in suo; und an einem andern Orte: in oratore perfecto inest omnis philosopho- rum scientia. Auch darinnen hat er folglich Recht, daß kein Künstler seltner zu finden sey, als ein vollkommener Redner, wovon er einen weit stärkern Beweis würde haben anbringen können, wenn er darauf gefallen wäre, daß es unmöglich sey, alle Wissenschaften in einem Ge hirne zu verbinden. 175
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[] Vor Alters hatten sich die Rechtsgelehrten den Namen und die Verrichtung eines Redners angemaßt; weil die Vollkommenheit eines Ad vocaten die Kenntniß und Erfahrenheit in allen Künsten der Welt erforderte, und sich die Ge setze über alles erstrecken. Wenn man eine je de Kunst so vertheidigen soll, wie sie ihrer Be schaffenheit nach vertheidiget werden muß, so muß man nothwendig von jeder eine besondere Kennt niß haben; daher auch Cicero*) sagt: nemo est in oratorum numero habendus, qui non sit omnibus artibus perpolitus. Weil sie aber sahen, daß es theils wegen der Kürze des Lebens, theils wegen des eingeschränkten mensch lichen Genies, unmöglich sey, alle Wissenschaften zu lernen, so gaben sie es näher, und begnügten sich im Falle der Nothwendigkeit damit, daß sie die Erfahrnen in derjenigen Kunst, in wel che ihre Vertheidigung einschlug, zu Rathe zo gen, und ihnen Glauben zustellten. Auf diese Art die Rechtshändel zu vertheidigen, folgte die Lehre des Evangeliums, welche weit besser als ir gend eine andere Wissenschaft von der Bered samkeit den Menschen hätte können eingeredet werden, weil sie die allergewisseste und wahrhaf teste war. Allein Christus befahl dem heil. Paulus ausdrücklich, daß er sie nicht mit künst lichen Worten predigen sollte, damit nicht die Heiden etwa glauben möchten, sie sey nichts, als eine schöne ausgeputzte Lügen, dergleichen 176
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die Redner dem Pöbel durch die Stärke ihrer Kunst einzureden pflegten. Nunmehr aber, da man diese Lehre gänzlich angenommen hat, da so viele Jahre seitdem verflossen sind, ist es ganz wohl erlaubt, nach den Regeln der Beredsam keit zu predigen, und sich aller Annehmlichkei ten des Vortrags zu bedienen; weil die Ungele genheit nicht mehr damit verbunden ist, welche damit verbunden war, als der heil. Paulus pre digte. Wir sehen ja auch, daß derjenige Pre diger, welcher die Eigenschaften eines vollkom menen Redners hat, weit mehr Nutzen stiftet, als ein anderer, und daß sich das Volk mehr um ihn drängt, als um einen andern. Die Ursache davon ist klar: denn wenn die alten Redner, vermittelst der Vorschriften und Regeln ihrer Kunst, dem Volke Lügen für Wahrheiten verkaufen konnten; so müssen christliche Zuhö rer ja weit eher überzeugt werden können, wenn man ihnen durch den Beystand der Kunst das jenige einschärft, was sie schon gehört haben, und zum Theil schon glauben. Da übrigens die heil. Schrift gewissermaassen alles enthält, so sind zu ihrer Erklärung auch alle Wissenschaften von nöthen, als worauf der bekannte Spruch zielet: die Weisheit sandte ihre Dirnen aus, zu laden oben auf die Palläste der Stadt. ( Sprüche Sal. 9, 3 [].) [] Doch dieses haben wir den geistlichen Red nern unserer Zeit nicht nöthig einzuschärfen, weil sie ausser der Erbauung, die sie durch ihre Lehre
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zu stiften suchen, ohnedem schon eine ganz be sondere Sorgfalt darauf wenden, allezeit einen solchen Hauptsatz zu erwählen, bey welchem sich artige Sprüche aus der heil. Schrift, aus den Kirchenvätern, aus den Poeten, Geschichtschrei bern, Arzneygelehrten, und Gesetzgebern anbrin gen lassen. Sie verschonen keine einzige Wis senschaft, und reden allezeit mit vielen, angeneh man und süssen Worten, so daß sie gar leicht einen Hauptsatz, wenn es nöthig ist, eine bis zwey Stunden ausdehnen können. Eben dieses, sagt Cicero, *) ist die vornehmste Eigenschaft eines vollkommenen Redners, dergleichen zu seiner Zeit waren: Vis oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac polliceri vide- tur, vt omni de re, quaecunque sit proposi- ta, ab eo ornate copioseque dicatur. Wenn wir jetzt also beweisen werden, daß die Eigen schaften, die zu einem vollkommenen Redner er fordert werden, alle von der Einbildungskraft und dem Gedächtnisse abhängen; so haben wir zugleich bewiesen, daß derjenige Gottesgelehrte, welcher diese beyden Fähigkeiten hat, ein grosser Redner seyn werde. Jn der Lehre des h. Tho mas und Scotus hingegen wird er sehr wenig oder gar nichts gethan haben, weil diese Lehre dem Verstande eigenthümlich zugehöret, und die Redner an dieser Fähigkeit einen allzugrossen Mangel leiden. 177
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[] Welches diejenigen Sachen sind, die der Ein bildungskraft zugehören, und an welchen Kenn zeichen man sie erkennen solle, haben wir schon oben vorgetragen; hier aber wollen wir es noch mals wiederholen, damit es in frischem Anden ken bleibe. Alles das also sind Wirkungen der Einbildungskraft, was ein gutes Ansehen hat, was sich zur Sache wohl schickt, und sonst anständig und wohl geordnet ist. [] Das erste, was ein vollkommener Redner thun muß, wenn er sich nunmehr den Hauptsatz erwählet *) hat, ist, daß er Gründe und Zeug nisse aufsucht, welche er zum Beweise und zur Ausdehnung desselben anwenden kann. Dieses aber muß er nur mit solchen Worten vortragen, welche einen Wohlklang in den Ohren verursa chen; daher auch Cicero sagt: oratorem eum esse puto, qui et verbis ad audiendum iucun- dis, et sententiis accommodatis ad proban- dum vti possit. Daß diese Eigenschaft aber von der Einbildungskraft abhänge, ist unwider sprechlich, weil es dabey auf den Wohlklang an genehmer Worte und auf Gedanken ankömmt, die sich zu dem Hauptsatze schicken müssen. [] Das andere, was bey einem vollkommenen Redner durchaus seyn muß, ist, daß er an Er findung reich sey, und sehr viel gelesen habe: 178
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denn wenn er einen jeden Hauptsatz, der ihm vorkömmt, mit vielen Gründen und Aussprüchen, die sich alle darzu schicken, soll erweitern und beweisen können; so muß er nothwendig eine geschwinde Einbildungskraft haben, die ihm, wie ein Spürhund, alles aufsuche und zubringe, was er etwa brauchen könne; die sogar im Falle der Noth, wenn er nichts mehr zu sagen hat, etwas erfinde, ob es gleich niemals wirklich gewesen ist. Oben aber haben wir gesagt, daß die Wärme das Werkzeug sey, dessen sich die Einbildungs kraft bediene; weil die Wärme die Bilder erwe cke und gleichsam aufsiedend mache. Hierdurch nun wird alles deutlich gemacht, was in dem Gehirne eingedrückt zu sehen ist; und, wenn nichts mehr darinnen zu sehen ist, so hat die Einbildungskraft Stärke genug, nicht allein ein mögliches Bild mit dem andern zusammen zu setzen, sondern sogar, nach der Ordnung der Na tur, unmögliche Bilder zu verbinden, und auf diese Art güldne Berge und geflügelte Ochsen hervorzubringen. [] Den Mangel an eigner Erfindung kann der Redner durch eine grosse Belesenheit ersetzen, wenn ihm etwa die Einbildungskraft fehlen soll te. Allein das, was die Bücher lehren, kann nicht unendlich seyn, sondern es ist eingeschränkt; die Erfindungskraft hingegen ist wie ein guter Quell, welcher beständig frisches und neues Was ser hat. Alles das zu behalten, was man ge lesen hat, erfordert ein starkes Gedächtniß, wel
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ches auch alsdann unumgänglich nöthig ist, wenn man das, was man gelesen und behalten hat, den Zuhörern ohne Schwierigkeit wieder soll vortragen können. Cicero sagt daher: is ora- tor erit, mea quidem sententia, hoc tam gra- vi dignus nomine, qui quaecunque res inci- derit, quae sit dictione explicanda, prudenter, copiose, ornate et memoriter dicat. Das ist: nur derjenige Redner wird dieses wichtigen Titels würdig seyn, welcher über jeden Haupt satz, der ihm vorkömmt, mit Klugheit, welche darinnen besteht, daß er sich nach den Umstän den seiner Zuhörer, des Orts, der Zeit und der Gelegenheit richtet, mit Reichthum in Wor ten, mit Zierlichkeit, und aus dem Gedächt nisse reden kann. [] Die Klugheit, wie wir oben schon gesagt und erwiesen haben, gehöret der Einbildungs kraft zu; der Reichthum in Worten und Re densarten dem Gedächtnisse; die Zierlichkeit und Anmuth abermals der Einbildungskraft; das Hersagen aber ohne Stocken und Verirrung wird wohl niemand dem guten Gedächtnisse ab sprechen können, Cicero verlangt daher mit Recht, daß ein vollkommener Redner aus dem Gedächtnisse reden, nicht aber ablesen solle. Man kennt den Antonius von Lebrixa. Er hat te in seinem Alter das Gedächtniß so sehr ver lohren, daß er die rhetorischen Vorlesungen, die er seinen Schülern hielt; von dem Papiere able sen mußte. Weil er aber in seiner Wissenschaft
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allzu vortreflich war, und das, was er vortrug, allzuwohl abgefaßt hatte, so wunderte sich nie mand über diese Ungewöhnlichkeit. Als er vom Schlage gerührt ward, und unvermuthet starb, trug die Akademie zn Alcala seine Leichenrede einem berühmten Prediger auf. Dieser hatte auch das, was er reden wollte, nach allen seinen Kräften auf das beste ersonnen, abgetheilt und ausgearbeitet; allein die Zeit war viel zu kurz, als daß er es hätte auswendig lernen können. Er kam also mit dem Papier in der Hand auf die Kanzel und fing an: „Das, was dieser berühmte Mann beständig in seinen Vorlesun gen zu thun gewohnt war, unterstehe auch ich mich zu seiner Nachahmung jetzt zu thun. Sein Tod kam so schnell, und der Befehl ihm die Leichenrede zu halten, ward mir so unver muthet gegeben, daß ich keine Zeit gehabt habe, auf das, was ich sagen soll, viel zu denken, ge schweige es in das Gedächtniß zu fassen. Was ich die vergangene Nacht zu Stande gebracht habe, befindet sich auf diesem Papiere. Jch ersuche also, meine hochzuehrenden Zuhörer, mir ihre Aufmerksamkeit geduldig zu gönnen, und mich wegen meines schwachen Gedächt nisses entschuldigt zu halten.“ Diese Art, von dem Zettel zu predigen, schien den Zuhörern aber so abgeschmackt, daß alle entweder zu lachen, oder zu murren, anfingen. Jch wiederhole es daher nochmals, daß Cicero sehr weislich ver langt, ein Redner müsse aus dem Gedächtnisse
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reden, und nicht seine Rede ablesen. Dieser Prediger hatte in der That keine eigne Erfin dung; alles mußte er aus Büchern zusammenstop peln, worzu freylich viel Fleiß und viel Gedächt niß gehöret. Diejenigen hingegen, welche aus ihrem Kopfe Erfindungen ziehen können, brau chen weder Fleiß, noch Zeit, noch Gedächtniß; weil sie alles aus sich und also auch in sich ha ben. Diese können ihren Zuhörern Zeit ihres Lebens predigen, ohne daß sie wieder auf das kommen dürfen, was sie in vorhergehenden Jah ren gesagt haben; dahingegen diejenigen, wel chen es an eignen Erfindungen fehlt, in zwey Jahrgängen beynahe alle Bücher in der Welt geplündert, und alle ihre Collectanea und Papie re damit voll geschrieben haben, so daß sie bey dem dritten Jahrgange andere Zuhörer suchen müssen, wenn man ihnen nicht vorwerfen soll: das hat er ia schon vor dem Jahre gepredigt. [] Die dritte Eigenschaft, welche ein guter Redner haben muß, bestehet darinnen, daß er wisse, wie er das Erfundene ordnen und abthei len, und einem jeden Gedanken, und einem je den Ausspruche seinen gehörigen Ort anweisen soll, so daß jeder Theil gegen den andern sein Verhältniß habe, und einer sich auf den andern beziehe. Cicero sagt: *) dispositio est ordo et distributio rerum, quae demonstrat, quid, quibus in locis collocandum sit. Das ist: die Abtheilung ist nichts anders, als die Ord 179
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nung und die Folge, nach welcher die Gedanken und Aussprüche, die man den Zuhörern vortra gen will, auf einander folgen müssen, wenn je des seinen Platz haben, und mit den übrigen Stücken so übereinstimmen soll, daß das Gan ze eine gute Form dadurch erlange. Diese Ar beit, wenn man nicht ein natürliches Geschicke darzu hat, pflegt den Predigern ungemein viel Mühe zu verursachen: denn wenn sie schon noch so viel aus den Büchern zusammengesucht ha ben, was sie sagen wollen, so fällt es ihnen doch sehr schwer, einem jeden seine gehörige Stelle anzuweisen. Diese Geschicklichkeit aber zu ord nen und einzutheilen, ist nothwendig ein Werk der Einbildungskraft, weil es Formen und Ver hältnisse betrift. [] Die vierte und allerwichtigste Eigenschaft guter Redner ist die Action, welche allem, was sie sagen, Seyn und Leben geben muß. Sie ist es, durch welche hauptsächlich die Zuhörer bewegt werden, das als eine Wahrheit zu glau ben, wovon man sie überreden will. Cicero spricht: *) actio, quae motu corporis, quae gestu, quae vultu, quae vocis conformatione ac varietate moderanda est. Die Action, will er sagen, muß so eingerichtet werden, daß man allezeit diejenigen Stellungen und Bewegungen macht, welche das, was man sagt, erfordert; daß man die Stimme erhebt und fallen läßt daß man bald hitzig bald gelassen ist; daß man bald 180
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schnell und bald langsam rede, daß man bald einen strengen, bald einen sanften Ausdruck an nehme; daß man den Körper bald auf diese, bald auf jene Seite wende, daß man die Hän de bald zusammenschliesse, bald von einander thue, daß man bald lache, bald weine, auch wohl bey Gelegenheit sich an die Brust schlage. Diese Geschicklichkeit ist an einem Prediger so wichtig, daß er bloß durch sie allein, ohne Er findung und Abtheilung, von den allgemeinsten und nichts auf sich habenden Sachen eine Rede halten kann, worüber die Zuhörer erstaunen, weil sie Action hat, die man sonst auch Geist oder Aussprache nennet. [] Hierbey fällt etwas merkwürdiges vor, wel ches ungemein deutlich zeigt, wie viel diese Ge schicklichkeit vermöge, dieses nämlich: daß die jenigen geistlichen Reden, welche wegen der vie len Action und des vielen Geistes sehrseht schöne Reden zu seyn scheinen, gar nichts werth sind, sobald man sie zu Papiere bringt, und sich durch aus nicht lesen lassen. Die Ursache davon ist leicht einzusehen; weil sich durch die Feder die Stel lungen und Bewegungen nicht ausdrücken las sen, welche die Rede auf der Kanzel gut machten. Andere Predigten gegentheils scheinen auf dem Papiere sehr vortreflich; wenn sie aber gehal ten werden, so sind sie fast nicht mit anzuhören, weil ihnen die Action nicht gegeben wird, die ih re Stellen erfordern. Plato sagt daher: *) die 181
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Art zu reden sey von der guten Art zu schreiben sehr unterschieden. Es ist auch in der That gegrün det, da uns die Erfahrung nicht wenige kennen lehrt, welche sehr wohl reden, schriftlich aber ih re Gedanken sehr schlecht ausdrücken; andere hingegen schreiben sehr wohl, und drücken sich mündlich sehr schlecht aus. Alles dieses läuft auf nichts anders hinaus, als auf die Action, welche aber unwidersprechlich ein Werk der Ein bildungskraft ist, weil sich alles, was wir von ihr gesagt haben, auf Figuren, Verhältnisse und Uebereinstimmungen bezieht. [] Die fünfte Geschicklichkeit eines guten Red ners bestehet darinnen, daß er geschickt im Ver gleichen sey, und gute Beyspiele anzubringen wisse, als woran die Zuhörer mehr Vergnügen haben, als an irgend einem andern Stücke; weil durch ein gutes Beyspiel oft eine ganze Leh re deutlich gemacht werden kann, welche die Zu hörer ohne dieses Beyspiel, als allzutiefsinnig würden vorbey gelassen haben. Aristoteles fragt daher; *) δια τι τοις παραδειγμασι χαιρου- σιν οἱ ἀνθρωποι ἐν ταις ῥητορειαις και τοις λογοις μαλλον των ἐνθυμηματων; das ist: warum die, welche einen Redner hören, sich an dem Beyspiele und Fabeln, die er zur Be stärkung desjenigen beybringt, wovon er sie über reden will, mehr ergötzen, als an seinen Bewei sen und Gründen? Er antwortet hierauf: weil sich die Menschen eher durch Beyspiele und 182
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Fabeln, welches eine Art der sinnlichen Bewei se wären, bewegen liessen, als durch Gründe, welche allzuviel Verstand und Nachdenken er fordern. Daher bediente sich auch unser Erlö ser in seinen Reden so vieler Parabeln und Gleich nisse, weil er wohl sah, daß sich vermittelst der selben dem Volke viel göttliche Geheimnisse bey bringen liessen. Diese Geschicklichkeit aber, Fa beln und Gleichnisse zu erfinden, ist ganz gewiß ein Werk der Einbildungskraft, weil es dabey auf Figuren, Verhältnisse und Aehnlichkeiten ankömmt. [] Die sechste Eigenschaft eines vollkommenen Redners bestehet darinnen, daß er eine gute Sprache habe, welche natürlich und nicht ge zwungen sey, und aus den artigsten Worten und aus den zierlichsten, nicht aber unanständi gen Redensarten bestehe. Von dieser Annehm lichkeit haben wir in dem Vorhergehenden schon an mehr als einem Orte geredet und bewiesen, daß sie theils der Einbildungskraft, theils dem guten Gedächtnisse zugehöre. [] Die siebente Eigenschaft eines guten Red ners drückt Cicero folgendermaassen aus: er sol le seyn instructus voce, actione et lepore. Die Stimme muß von einem gehörigen Umfange, helle, den Zuhörern angenehm, nicht rauh, nicht grob und auch nicht allzufein seyn. Ob dieses nun gleich von der Beschaffenheit der Brust und der Kehle, und nicht von der Einbildungs kraft abhänget, so ist es doch gewiß, daß eben
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das Temperament, welches die Ursache einer gu ten Einbildungskraft ist, nämlich die Wärme, auch die Ursache der guten Stimme sey, welches wir in Betrachtung unserer Absicht nothwendig erinnern müssen. Die scholastischen Theologen können also keine gute Stimme haben, weil ihr Temperament kalt und feuchte ist; und auch dieser Fehler macht sie zur Kanzel durchaus ungeschickt. [] Aristoteles beweiset dieses *) aus dem Bey spiele der Alten und aus ihrer natürlichen Kälte und Trockenheit. Wenn die Stimme hell und voll seyn soll, so wird sehr viel Wärme darzu erfordert, welche die Luftröhre ausdehne, und ei ne gemäßigte Feuchtigkeit, welche sie beständig feuchte und geschmeidig erhalte. Aristoteles fragt daher: **) warum alle, welche eines war men Temperaments sind, eine starke Stimme haben? Das Gegentheil davon sehen wir an den Weibern und an den Verschnittenen, wel che wegen der Kälte ihres Temperaments, wie Galenus***) sagt, eine sehr feine Kehle und eine sehr klare Stimme haben. Wenn wir also ir gendwo eine gute Stimme hören, so können wir sicherlich glauben, daß die Wärme und Feuch tigkeit der Brust die Ursache davon sey. Die se beyden Beschaffenheiten aber, wenn sie bis in das Gehirn steigen, machen, daß der Ver stand verloren geht, indem sie ein gutes Gedächt niß und eine gute Einbildungskraft verursachen, 183 184 185
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welches eben diejenigen zwey Eigenschaften sind, deren sich die guten Prediger, ihre Zuhörer zu vergnügen, bedienen. [] Die achte Eigenschaft eines guten Redners, sagt Cicero, *) ist, daß er eine gelöste, geschwin de und wohlgeübte Zunge habe. Diese Eigen schaft aber kann kein Mensch von grossem Ver stande besitzen, weil sie, wenn sie geschwinde seyn soll, viel Wärme und eine gemässigte Trocken heit haben muß, als welches bey den Melancho licis von beyder Art durchaus nicht Statt fin den kann. Aristoteles beweiset es genugsam durch die Frage: **) δια τι οἱ ἰσχνοφωνοι με- λαγχολικοι; das ist: warum alle diejenigen, welche stottern und stammeln, eines melancholi schen Temperaments sind? Er antwortet aber auf diese Frage sehr schlecht: weil die Me lancholici eine starke und geschwinde Einbildungs kraft haben, und die Zunge so geschwind nicht nachkommen kann, als sie ihr die Gedanken darreicht, daß sie also nothwendig sich oft über eilen und stottern muß. Dieses ist die Ursache gar nicht, sondern diese ist es: weil die Melan cholici immer allzuviel Wasser und Speichel im Munde haben, wodurch ihre Zunge sehr feuchte und schlaff gemacht wird, welches man nur allzu dentlich an ihrem öftern Ausspucken erkennen kann. Aristoteles selbst ***) giebt diese Ursache an, 186 187 188
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wenn er die Frage aufwirft: δια τι ἰσχνοφω- νοι γινονται; warum einige stottern? Er antwortet nämlich, weil sie eine allzukalte und feuchte Zunge haben. Diese zwey Beschaffen heiten machen das Glied träge, und wie vom Schlage gerührt, daß es der Einbildungskraft niemals nachkommen könne. Er giebt daher, wenn man dieser Beschwerlichkeit abhelfen wol le, den Rath, etwas Wein zu trinken, oder vor her, ehe man gegen die Zuhörer redet, ein we nig zu schreyen, damit die Zunge erwärmt und trocken gemacht werde. Auch aus der vielen Wärme und Feuchtigkeit der Zunge, sagt Ari stoteles, könne das Stottern entstehen. Er führt die Cholerici zum Beyspiele an, welche, wenn sie zornig geworden sind, nicht reden können, und gleichwohl ungemein beredt sind, wenn sich ihr Zorn und ihre Gemüthsbewegung gelegt hat. Die Phlegmatici hingegen können nicht re den, wenn sie ruhig sind; wenn sie aber aufge bracht werden, so ist in ihren Reden ungemein viel Beredsamkeit. Die Ursache davon ist klar: denn ob es gleich wahr ist, daß die Wärme so wohl der Einbildungskraft, als der Zunge unge mein wohl zu statten kömmt, so ist es doch auch ganz wohl möglich, daß sie einen solchen Grad erlangen kann, in welchem sie beyden nachthei lig wird, so, daß weder die Einbildungskraft sinnreiche Gedanken zu haben, noch die Zunge wegen der allzugrossen Trockenheit die Worte auszusprechen im Stande ist. Selbst die Er
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fahrung lehrt es, daß in diesem Falle der Mensch besser zu reden anfängt, wenn er ein wenig Wasser getrunken hat. [] Wenn die Cholerici ruhig sind, so können sie sehr wohl reden, weil sie alsdenn gleich den rechten Grad der Wärme haben, welcher der Zunge und der guten Einbildungskraft nöthig ist. Wenn sie aber aufgebracht werden, so wird die Wärme weit stärker, als sie seyn sollte, und verwirrt folglich die Einbildungskraft. Wenn die Phlegmatici ruhig sind, so ist ihr Gehirn sehr kalt und seuchte, daher es ihnen keine Ge danken, die sie vorbringen könnten, darbieten kann; auch die Zunge ist ganz schlaff, weil sie allzuviel Feuchtigkeit in sich hat. Wenn sie aber aufgebracht und zornig gemacht werden, so nimmt die Wärme überhand, und erweckt die Einbil dungskraft, welche ihnen nunmehr genugsamen Stof zum Reden giebt, weil sich auch die Zun ge ihnen nicht länger widersetzt, indem sie eine wärmere und trocknere Beschaffenheit angenom men hat. Leute von dieser Art haben daher ei gentlich keine Fähigkeit zum Dichten, weil ihr Gehirn allzukalt ist; wenn sie aber aufgebracht werden, so können sie gegen die, welche sie auf gebracht haben, mit vieler Leichtigkeit sehr gute Verse machen. Und dieses ist es, worauf ei gentlich Juvenal zielt: [] Si natura negat, facit indignatio versum. [] Dieser Fehler der Zunge ist auch mit die Ursache, warum Leute von grossem Verstande
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keine guten Redner und Prediger seyn können, da besonders die Action erfordert, daß man bald stark, bald schwach reden könne. Diejenigen also, welche stottern, können ohne Geschrey und Quäcken nicht reden, welches ein Fehler ist, der den Zuhörern am allerverdrüßlichsten fällt. Auch Aristoteles legt die Frage vor: *) δια τι οἱ ἰσχνοφωνοι οὐ δυανται διαλεγεσϑαι μικρον; das ist: warum diejenigen, welche stammeln, beständig schreyen, und nicht sachte reden kön nen? Er antwortet hierauf sehr wohl: weil die Zunge, welche der vielen Feuchtigkeit wegen, gleichsam an dem Gaumen angeheftet ist, sich eher mit Gewalt, als mit wenig Anstrengung losreissen kann. Es geht damit, wie mit einer schweren Lanze, die man bey ihrem äussersten En de aufheben will, welches sich weit leichter durch einen starken Ruck, als nach und nach, thun läßt. [] Jch glaube, nunmehr genugsam bewiesen zu haben, daß die natürlichen guten Eigenschaften, welche ein vollkommener Redner haben muß, größtentheils von der guten Einbildungskraft, ei nes Theils aber auch von dem Gedächtnisse ab hängen. Wenn es daher wahr ist, daß die gros sen Prediger unserer Zeit ihre Zuhörer eben durch diese Eigenschaften vergnügen, so kann man die natürliche Folge daraus ziehen, daß ein grosser Prediger sehr wenig in der scholasti schen Theologie verstehen werde; daß gegentheils ein grosser scholastischer Gottesgelehrter ein schlech ter Prediger seyn müsse, weil sich der Verstand 189
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mit einer starken Einbildungskraft und einem star ken Gedächtnisse durchaus nicht vertragen kann. [] Aristoteles erkannte gar wohl aus der Er fahrung, daß ein Redner, ob er gleich die sitt liche und natürliche Weltweisheit, die Arzneykunst, Metaphysik, Rechtsgelehrsamkeit, Mathematik, Astrologie und alle andere Künste und Wissen schaften studire, er doch aus allen nichts, als einige Blumen und unzweifelhafte Aussprüche wisse, ohne daß er den wahren Grund davon inne habe. Er glaubte aber, diese gründliche Erkenntniß gebräche ihm nur deswegen, weil er sich nicht darauf gelegt habe. Wenn er also fragt: *) δια τι τον φιλοσοφον του ῥητορος οἰονται διαφερειν; das ist: worinnen der Redner und Philosoph von einander unterschie den wären, da doch beyde die Weltweisheit stu dirten? so antwortet er: darinnen wären sie un terschieden, daß der Philosoph allen seinen Fleiß auf die Erkenntniß der Ursachen und Gründe einer jeden Wirkung richte, der Redner aber mit der blossen Kenntniß der Wirkungen zufrieden sey. Die wahre Ursache aber ist keine andere, als die, weil die natürliche Weltweisheit von dem Verstande abhänget, als an welcher Ver mögenheit es den Rednern fehlt, so daß sie in der Philosophie nur ganz obenhin erfahren seyn können. Eben dieser Unterschied ist zwischen ei nem scholastischen und praktischen Gottesgelehr ten; der eine weiß die Gründe von allen dem, 190
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was zu seiner Wissenschaft gehört, der andere aber weiß nichts mehr, als die unstreitigen Wahr heiten daraus. Es ist daher sehr gefährlich, daß ein Prediger Gewalt und Pflicht hat, dem christlichen Volke die Wahrheit zu lehren, und daß dieses Volk verbunden ist, ihm Glauben beyzumessen. Da ihm die Vermögenheit fehlt, durch welche er die Wahrheiten aus dem Grun de erkennen kann, so kann man mit allem Rech te von ihm sagen, was unser Heiland (Matth. XV, 14.) sagt: sie sind blind und blinde Leiter; wenn aber ein Blinder den an dern leitet, so fallen sie beyde in die Gru be. Es ist etwas unerträgliches, wenn man sieht, mit was für Kühnheit Leute auftreten und predigen, welche doch nicht ein Wort aus der scholastischen Theologie verstehen, und auch kei ne natürliche Fähigkeit haben, sie zu erlernen. Auch der h. Paulus beklagt sich sehr über diese Leute, wenn er (1. Timoth. I, 5.) sagt: die Hauptsumma des Gebots ist Liebe von reinem Herzen, und von gutem Gewissen, und von ungefärbtem Glauben. Wel cher haben etliche gefehlet, und sind um gewandt zu unnützem Geschwätz; wol len der Schrift Meister seyn, und verste hen nicht was sie sagen, oder was sie se tzen. Die Waschhaftigkeit unduud das Geschwätz der deutschen, holländischen, englischen und fran zösischen und aller übrigen nordischen Theologen, macht christliche Zuhörer nur verwirrt, indem
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sie zwar mit grosser Sprachgelehrsamkeit, mit vieler Zierlichkeit und Anmuth der Worte predi gen, allein keinen Verstand haben, womit sie die Wahrheit durchdringen könnten. Daß diese aber wirklich Mangel am Verstande haben, ist oben nicht allein aus der Meynung des Aristo teles, sondern auch ausser vielen andern Grün den und Erfahrungen, die wir deswegen beyge bracht haben, erwiesen worden. Wenn den Deutschen und Engländern dasjenige wäre ein geschärft worden, was St. Paulus an die Rö mer schrieb, welche gleichfalls von falschen Pre digern belästiget waren, so würden sie sich viel leicht nicht so geschwind haben verführen lassen: Jch ermahne aber euch, lieben Brüder, daß ihr aufsehet auf die, die da Zertrennung und Aergerniß anrichten, neben der Leh re, die ihr gelernet habt, und weichet von denselbigen; denn solche dienen nicht dem HErrn JEsu Christo, sondern ihrem Bauch, und durch süsse Worte und präch tige Rede verführen sie die unschuldigen Herzen. Ueberdieses haben wir auch oben be wiesen, daß diejenigen, welche eine starke Einbil dungskraft besitzen, cholerisch, verschmitzt, bos haft, betrügerisch, und allezeit zum Bösen ge neigt sind, welches sie mit vieler Geschicklichkeit und Klugheit auszuführen wissen. [] Von den Rednern der damaligen Zeit wirft Ari stoteles die Frage auf: *) δια τι ῥητορα μεν και χρηματιϛην και ϛρατηγον λεγομεν δεινον!ἀυ- 191
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λητην δε και ὑποκριτην οὐ λεγομεν; das ist: warum nennen wir einen Redner verschmitzt, und warum geben wir nicht einem Tonkünstler oder ei nem Schauspieler dieses Beywort? Die Schwie rigkeit würde für ihn noch grösser geworden seyn, wenn er überlegt hätte, daß die Musik und Schauspielkunst Wirkungen der Einbildungs kraft sind. Er antwortet aber auf diese Fra ge: weil die Tonkünstler und Schauspieler kei nen andern Endzweck haben, als diejenigen zu vergnügen, welche sie hören. Der Redner aber hat immer die Absicht, auch etwas für sich zu er langen; er muß also Klugheit und List anwen den, damit die Zuhörer seinen Endzweck nicht gewahr werden. [] Dergleichen Eigenschaften, wie diese, hatten jene falschen Prediger, von welchen der Apostel an die Corinther schreibt: ich fürchte aber, daß nicht, wie die Schlange Hevam ver führte mit ihrer Schalkheit, also auch eure Sinnen verrückt werden von der Einfältigkeit in Christo. Denn solche fal sche Apostel und trügliche Arbeiter ver stellen sich zu Christus = Aposteln. Und ist auch kein Wunder: denn er selbst, der Satan, verstellet sich zum Engel des Lichts. Darum ist es nicht ein grosses, ob sich auch seine Diener verstellen als Prediger der Gerechtigkeit, welcher Ende seyn wird nach ihren Werken. Alle diese Eigenschaf ten aber sind offenbare Werke der Einbildungs
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kraft, und Aristoteles hatte vollkommen Recht, wenn er sagte, die Redner wären verschmitzt und listig, weil sie allezeit etwas für sich dabey zu erlangen suchten. [] Diejenigen, welche eine starke Einbildungs kraft besitzen, sind, wie wir schon oft erinnert haben, von einem sehr hitzigen Temperamente. Von dieser Beschaffenheit aber entstehen drey Haupt laster des Menschen, Hochmuth, Unmässigkeit im Essen und Trinken, und Wollust; und des wegen sagt auch der Apostel: solche dienen nicht dem HErrn JEsu Christo, sondern ihrem Bauche. Sie bemühen sich folglich, die heil. Schrift so auszulegen, wie sie mit ih ren natürlichen Neigungen übereinstimmen könn te, und bereden wohl gar die Einfältigen, es sey den Priestern erlaubt, sich zu verheyrathen; es sey nicht nöthig, die Fasten zu halten; es sey nicht nöthig, dem BeichtvaterBeichtoater alle Sünden zu bekennen, welche wir gegen GOtt begehen. Auf solche Art geben sie durch falsche Auslegungen der Schrift ihren sträflichen Handlungen und Lastern den Schein der Tugenden, so daß sie das gemeine Volk für nichts geringers, als Hei lige hält. Daß aber aus der Wärme jene drey übeln Neigungen entstehen, aus der Kälte aber die gegenseitigen Tugenden, beweiset Aristoteles, wenn er sagt: *) δια δε το ἠθοποιον εἰναι (ἠθοποιον γαρ το θερμον) και ψυχρον μαλι- ϛα των ἐν ἡμιν ἐϛιν!ὡσπερ ὁ οινος πλειων 192
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και ἐλαττων κεραννυμενος τῳ σωματι, ποιει το ἠθος ποιους τινας ἡμας. Er will hier mit so viel sagen: aus der Wärme und Kälte entstehen alle Sitten des Menschen, weil diese beyden Beschaffenheiten mehr Veränderungen in unserer Natur, als irgend eine andere, verur sachen. Daher kömmt es, daß Leute von einer grossen Einbildungskraft gemeiniglich böse und lasterhaft sind, weil sie ihrer natürlichen Neigung den Zügel schiessen lassen, und Fähigkeit genug besitzen, Uebels zu thun. Hierauf bezieht sich die Frage des Aristoteles: *) δια τι ἀνθρω- πος μαλιϛα παιδειας μετεχων, zωων ἁπαν- των ἀδικωτατον ἐϛιν; das ist: warnm der Mensch, welcher doch so viel Weisheit besitzt, unter allen Thieren das ungerechteste sey? Er antwortet hierauf: ἠ ὁτι πλειϛου λογισμου κεκοινωνηκε; μαλιϛα οὐν τας ἡδονας και την ἐυδαιμονιαν ἐjητακε!ταυτα δ' ἀνευ ἀδικιας οὐκ ἐϛι; weil der Mensch sehr viel Ein bildung und Erfindungskraft besitzt, welche ihm viel Mittel, Uebels zu thun, an die Hand geben. Da er ohnedem von Natur einen Trieb nach Er götzlichkeiten hat, und von Natur gern besser und glücklicher als andere seyn will, so muß er nothwendig ungerecht werden, weil man, ohne viele zu beleidigen, unmöglich Vergnügen und Glück erlangen kann. Doch die Wahrheit zu gestehen, Aristoteles hat weder die Frage recht vorgelegt, noch auf die Frage gehörig geantwor 193
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tet. Er hätte vielmehr fragen sollen, warum die bösen Menschen gemeiniglich viel Einbil dungskraft haben, und warum auch unter den Bösen diejenigen, welche die größte Fähigkeit haben, auch die größten Schelmereyen begehen; da es doch billig wäre, daß eine starke Einbil dungskraft und viel Geschicklichkeit die Menschen vielmehr zum Guten und zur Tugend, als zum Laster und zur Sünde geneigt machen sollten? Und hierauf hätte er antworten sollen: weil die jenigen, welche ein sehr hitziges Temperament haben, eben deswegen sehr viel Einbildungskraft besitzen; und weil eben dieselbe Beschaffenheit des Temperaments sie sinnreich, aber auch zu gleich zu bösen Handlungen geneigt mache. Wenn aber der Verstand die Oberhand hat, so hat der Mensch gemeiniglich mehr Neigung zur Tugend, weil diese Vermögenheit viel Käl te und Trockenheit voraussetzet, als aus welchen beyden Beschaffenheiten nicht wenig Tugenden entspringen; zum Beyspiel, die Enthaltung, die Demuth, die Mäßigkeit, da hingegen aus der Wärme die entgegengesetzten Laster folgen. Hät te Aristoteles dieses eingesehen, so würde er bes ser auf die Frage, welche er in folgenden Wor ten *) vorlegt, geantwortet haben: δια τι οἱ διο- νοσιακοι τεχνιται, ὡς ἐπιτοπολυ πονηροι ἐισιν; Warum, fragt er, sind die, welche ihr Brodt mit Komödienspielen, mit Unterhaltung öffentlicher Lusthäuser verdienen; warum sind 194
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alle Köche, Weinschenken, kurz, alle diejenigen, die sich bey allen Schmausereyen, bey allen Fe sten, sie zu besorgen, und anzustellen einfinden müssen, gemeiniglich böse und lasterhafte Leute? Seine Auflösung dieser Aufgabe ist diese: weil dergleichen Leute mit solchen bacchanalischen Ver richtungen ohne Unterlaß beschäftiget wären, und also keine Zeit übrig hätten, der Weisheit und Tugend nachzudenken; weil sie ferner ihr Leben in beständiger Unmässigkeit zubrächten, und ge meiniglich arm wären, die Armuth aber viel Bö ses nach sich zu ziehen pflege. Die wahre Ur sache aber ist keine andere, als die: weil das Komödienspielen, das Anordnen der Schmause reyen und Lustbarkeiten eine gewisse Art der Ein bildungskraft voraussetzt, welche den Menschen zu einer solchen Lebensart anreitzt. Weil aber diese Art der Einbildungskraft in der Wärme besteht, so haben sie alle einen sehr guten Ma gen, und grossen Appetit zum Essen und Trin ken; und wenn sie sich auch schon auf die Wis senschaften legen wollten, so würden sie es doch zu nichts darinnen bringen, Gesetzt auch, daß solche Leute reich sind; dennoch werden sie sich mit solchen Verrichtungen abgeben, und wenn sie auch noch weit niederträchtiger wären, weil das Genie und die Fähigkeit einen jeden zu der jenigen Kunst mit Gewalt ziehen, welche ihnen gemäß ist. Hierher gehört die Frage des Ari stoteles: *) δια τι ἁπερ ἀν τινες προελων- 195
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ται, ἐνδιατριβουσι τουτοις ἐνιοτε φαυλοις οὐσι μαλλον, ἠ ἐν τοις σπουδαιοτεροις; οἱον θαυματοποιος, ἠ μιμος, ἠ συρικτης μαλ- λον, ἠ ἀϛρονομος, ἠ ῥητωρ εἰναι ἀν βου- λοιτο ὁ ταυτα ἑλομενος. Warum giebt es Leute, welche lieber Gaukler, Komödianten und Trompeter seyn wollen, als Redner oder Stern kundige? Auf diese Frage antwortet er voll kommen wohl: weil es der Mensch gleich bey sich empfindet, zu welcher Kunst oder Wissen schaft er eine natürliche Fähigkeit hat, und in sich selber denjenigen trägt, der ihn darinnen un terrichtet. Die Natur wirkt sogar mit so star ken Trieben, daß, wenn auch die Kunst, oder die Verrichtung noch so unanständig, und der Würde desjenigen, welcher sich damit abgiebt, noch so nachtheilig ist, er sich dennoch bloß ihr und keiner andern, wenn auch noch so viel Eh re damit verbunden wäre, widmet. [] Weil wir nun aber bewiesen haben, daß die se Art des Genies durchaus zu dem Predigt amte ungeschickt ist, und wir uns verbindlich ge macht haben, einer jeden verschiednen Art der Fähigkeit denjenigen Theil der Gelehrsamkeit zu bestimmen, und zuzusprechen, welcher sich beson ders für sie schickt; so müssen wir nunmehr zei gen, welche Art des Genies derjenige eigentlich haben müsse, dem man das Predigtamt, als das wichtigste Amt in der ganzen Christenheit, anvertrauen könne. Man wisse also, daß, ob wir gleich umständlich erwiesen haben, natürli
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cher Weise streite ein grosser Verstand mit einer starken Einbildungskraft und einem starken Ge dächtnisse; dennoch in allen Künsten und Wis senschaften keine Regel so allgemein sey, welche nicht ihre Abfälle und Ausnahmen leide. Jn dem vierzehnten Hauptstücke werden wir es weitläuftiger darthun, daß die Natur, wenn sie nach aller ihrer Stärke wirken kann, und von keiner fremden Ursache verhindert wird, ei ne Art des Genies so vollkommen macht, daß sie in einem Kopfe einen sehr grossen Verstand mit einer sehr grossen Einbildungskraft, und bey de mit einem starken Gedächtnisse verbindet, gleich als wenn diese Fähigkeiten einander von Na tur gar nicht entgegen wären. [] Dieses nun wäre das rechte Genie, wel ches zum Predigtamte erfordert würde, wenn es viele dergleichen Köpfe gäbe. Wir werden aber am angeführten Orte beweisen, daß ihrer eine so kleine Anzahl ist, daß ich unter tausend Genies, die ich alle untersucht, nicht mehr als ein einziges gefunden habe. Man wird also ei ne andere Art des Genies aufsuchen müssen, die zwar weniger vollkommen, aber doch nicht so selten, als die vorhergehende ist. Zur Errei chung dieser Absicht muß man wissen, daß die Aerzte und Weltweisen*) über das wahre Tem perament und über die wahren Eigenschaften des Essigs, der verbrannten Galle, und der Asche 196
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höchst uneinig sind, weil sie sehen, daß diese Stü cke bald die Wirkung der Wärme, bald die Wir kung der Kälte haben. Sie theilen sich daher in ganz verchiedeneverschiedene Meynungen, wovon aber so viel ausgemacht ist, daß alle verbrennliche Sachen, wel che das Feuer verdorben und verzehrt hat, von ver schiedenem Temperamente sind. Jhr größter Theil ist kalt und trocken; gleichwohl aber sind noch andere Theile damit vermischt, welche so fein und zart sind, und so viel Wärme und Hitze bey sich haben, daß sie sich, wenn sie auch nicht in Menge vorhanden sind, dennoch weit wirksamer erzeigen, als alles das Uebrige. Daher sehen wir auch, daß der Essig und die verbrannte Galle das Jrdische auflösen, und gleichsam wegen ihrer Wärme gährend, nicht aber hart machen, obgleich der vornehmste Theil dieser Flüssigkeiten kalt ist. [] Hieraus also ist der Schluß zu ziehen, daß diejenigen, bey welchen die schwarze verbrannte Galle herrscht, einen grossen Verstand mit viel Einbildungskraft verbinden; hingegen aber ha ben sie alle am Gedächtnisse Mangel, weil die verbrannte Galle alles in dem Gehirne austrock net und dürre macht. Diese nun schicken sich am besten zum Predigen, und sind wenigstens nach den ganz Vollkommenen, die wir vorhin genannt haben, die besten. Denn ob ihnen gleich das Gedächtniß fehlt, so ist doch die ei gene Erfindungskraft, die sie besitzen, so stark, daß ihnen eben diese Erfindungskraft anstatt des Ge
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dächtnisses und der Erinnerung dienet, in dem sie ihnen Bilder und Gedanken, die sie zum Reden nöthig haben, an die Hand giebt, so daß sie sonst nicht des geringsten benöthiget sind. Hierauf können sich diejenigen nicht verlassen, welche ihre Predigt von Wort zu Wort aus wendig lernen müssen, weil sie sich, wenn sie ein mal aus dem Gleisse kommen, auf keinerley Art wieder zurechte helfen können, indem ih nen alle Materie weiter fortzufahren fehlt. [] Daß aber die verbrannte schwarze Galle diese verschiedene Beschaffenheit in der That ha be, und dem Verstande mit Kälte und Trocken heit, der Einbildungskraft aber mit Wärme auf helfe, dieses drückt Aristoteles folgender Ge stalt aus: δια μεν το ἀνωμαλον ἐιναι την δυναμιν της μελαινης χολης, ἀνωμαλοι ἐι- σιν οἱ μελαγχολικοι!και γαρ ψυχρα σφο- δρα γινεται, και θερμη. Das ist: die Me lancholici sind ihrer Complexion nach verschie den und sich selber ungleich, weil die verbrann te schwarze Galle sehr ungleich ist, und bald ausserordentlich warm, bald ausserordentlich kalt werden kann. [] Die Kennzeichen, woran man es erkennet, welche Leute dieses Temperament haben, sind sehr deutlich. Die Farbe ihres Gesichts ist schwärz lichgelb und aschebleich; *) die Augen sind fun= 197
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kelnd, und von ihnen trift das Sprichwort ein: es ist ein Mensch, der Blut im Auge hat; ihr Haupthaar ist schwarz, oder sie sind kahl; das wenige, was sie vom Fleische haben, ist spröde und voller Haare; ihre Adern sind weit; sie selbst sind ungemein gesprächig und gesellschaft lich, dabey aber wollüstig, hochmüthig, stolz, ver leugnerisch, listig, falsch, ungerecht, geneigt Uebels zu thun, und besonders rachgierig. Dieses aber nur alsdann, wenn sich die schwarze Galle ent zündet; wenn aber die Kälte darinnen wieder überhand nimmt, so entstehen auch sogleich die gegenseitigen Tugenden wieder in ihnen; sie sind keusch, demüthig, haben Furcht und Scheu vor GOtt, erzeigen sich mildthätig und barmherzig, und kommen unter vielen Seufzern und Thrä nen zur Erkenntniß ihrer Sünden. Sie leben daher in beständigem Kampfe und Streite, oh ne die geringste Ruhe und Stille zu geniessen, indem in ihnen bald das Laster, und bald die Tugend überwindet. Dieser Fehler aber un geachtet sind sie dennoch sehr sinnreich, und zum Predigtamte, überhaupt aber zu allen Welt händeln, wobey Vorsichtigkeit und Klugheit er fordert wird, ungemein geschickt, weil sie sowohl einen grossen Verstand haben, die Wahrheit ein zusehen, als auch eine starke Einbildungskraft, die sie in den Stand setzt, die erkannte Wahr heit den Menschen einzureden. Wenn man hieran noch zweifelt, so darf man nur auf das Achtung geben, was GOtt that, als er einen
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Menschen schon in dem Leibe seiner Mutter tüch tig machen wollte, einmal der Welt die gesche hene Zukunft seines Sohnes zu predigen, und ihr zu beweisen, Christus sey derjenige Messias, welcher in dem Gesetze und in den Propheten wäre verheissen worden. *) Sehen wir nicht, daß er bey ihm die verbrannte schwarze Galle, nebst der Cholera, muste herrschen lassen, weil er ihn nach dem ordentlichen Laufe der Natur zu einem Menschen von grossem Verstande und eben so grosser Einbildungskraft machen woll te? Daß sich dieses in der That so verhal te, wird man gar leicht erkennen können, wenn man überlegt, mit welchem Feuer, und mit welcher Wuth, er anfangs die Kirche ver folgte, und wie schmerzlich es den Synago gen fiel, als er sich bekehrte, und sie einen Mann von solcher Wichtigkeit verloren, welcher den ge genseitigen Theil durch seinen Beytritt unglaub lich verstärkte. Gleichfalls erkennt man es aus den geschwinden und hitzigen Antworten, deren er sich in seinen Reden, besonders aber in seiner Vertheidigung vor den Proconsuls und den übri gen Richtern, die ihn hatten in Verhaft nehmen lassen, bediente, und wodurch er sowohl seine ei gene Sache, als die Sache des ganzen christli 198
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chen Namens mit solcher Geschicklichkeit und Klugheit führte, daß er sie alle überzeugte. Auch fehlte es ihm an der Sprache, und mit dem Reden konnte er sich nicht allzuwohl be helfen, welches Aristoteles gleichfalls für ein Merkmal angiebt, woran man diejenigen erken net, bey welchen die schwarze verbrannte Gal le herrscht. [] Selbst die Laster, die er, seinem eigenen Ge ständnisse nach, vor seiner Bekehrung an sich gehabt hat, zeigen, daß er von diesem Tempera mente müsse gewesen seyn. Er war ein Läste rer, ein Verläumder, ein Verfolger; welches alles aus der allzugrossen Hitze entstehet. Der allerunwidersprechlichste Beweis aber, daß er von cholerischmelancholischer Beschaffenheit müs se gewesen seyn, ist aus dem beständigen Strei te und Kampfe herzunehmen, der, wie er selbst bekennet, innerlich zwischen dem bessern und schlechtern Theile seiner selbst unaufhörlich dauer te. Jch sehe aber ein ander Gesetz, spricht er Röm. VII, 23, in meinen Gliedern, das da widerstrebet dem Gesetze in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Dieser innerliche Streit aber, wie wir nach der Meynung des Aristoteles bewiesen haben, ist bey denen etwas sehr gewöhnliches, in deren Temperamente die verbrannte schwarze Galle die Oberhand hat. Es ist zwar wahr, man kann diese Stelle sehr wohl anders erklären,
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und sie wird auch in der That anders erklärt, nämlich so, daß dieser Streit aus der Unord nung entstanden sey, welche die Erbsünde zwi schen dem Geiste und dem Fleische verursachet hat. Da er aber so gar groß und anhaltend gewesen ist, so glaube ich, daß er auch aus der schwar zen Galle habe entstehen können, als an welcher Paulus in der Einrichtung seiner Natur einen Ueberfluß hatte. Der König und Prophet Da vid hatte gleichfalls an der Erbsünde Antheil, und gleichwohl beklagt er sich nicht so heftig dar über, als der heil. Paulus: er sagt vielmehr, daß der geringere Theil seiner selbst sehr wohl mit seiner Vernunft übereinstimme, wenn er sich in seinem GOtt erfreuen wolle. Mein Leib und Seele, sagt er im vier und achtzigsten sei ner Lieder, freuen sich in dem lebendigen GOtt. Wie wir aber in dem vierzehnten Hauptstücke erweisen werden, so hatte David das beste Temperament von allen, welches die Natur den Menschen nur immer geben kann: und von diesem werden wir mit dem einmüthigsten Beyfalle aller Weltweisen dar thun, daß es den Menschen gemeiniglich geneigt zur Tugend mache, ohne daß ihm das Fleisch sehr widerstreitet. [] Diejenigen Genies also, welche man zu Predigern erwählen muß, sind vornämlich sol che, welche einen grossen Verstand mit einer star ken Einbildungskraft und einem starken Gedächt nisse verbinden, und von deren Merkmalen wir
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in dem vierzehnten Hauptstücke handeln wer den. Wo aber diese fehlen, muß man sich an denen begnügen lassen, bey welchen die ver brannte schwarze Galle herrscht. Diese haben einen grossen Verstand und eine grosse Einbil dungskraft, allein sehr wenig Gedächtniß, daß sie folglich nicht viel Worte machen, und sich durch eine grosse Beredsamkeit bey ihren Zuhörern in Ansehen setzen können. Die dritte Stelle bekom men diejenigen Genies, welche einen grossen Verstand, aber wenig Einbildungskraft und eben so wenig Gedächtniß besitzen. Diese werden unangenehme Prediger, aber doch Prediger der Wahrheit seyn. Die letzten endlich (denen aber ich wenigstens kein Predigtamt anvertrauen würde,) sind diejenigen, welche viel Einbildungs kraft mit einem starken Gedächtnisse verbinden, allein am Verstande Mangel leiden. Um diese ist allezeit ein grosses Gedränge, und ihre Zuhö rer bleiben allezeit in einer süssen Erwartung: ehe man es sich aber versieht, so sind sie in die Jnquisition verfallen, weil sie (Rom. XVI.) durch süsse Worte und prächtige Reden die unschuldigen Herzen verführen.
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Eilftes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß der theoretische Theil der Rechtsgelehrsam keit dem Gedächtnisse, der praktische Theil aber, nämlich die Verrichtung der Advocaten und Richter, dem Ver stande, und die Regierung des Staats der Einbildungskraft zugehöre.

[] Es muß nothwendig etwas darunter verborgen liegen, daß, da in der spanischen Sprache der Name eines Litteratus die allgemeine Be nennung ist, welche einem jeden Gelehrten, er mag ein Theolog oder ein Rechtsgelehrter, oder ein Arzt, oder ein Dialektiker, oder ein Philo soph, oder ein Redner, oder ein Meßkünstler, oder ein Astrolog seyn, zukömmt: gleichwohl, wenn man sagt: der und der ist ein Littera tus, alle und jede einmüthig einen Rechtsge lehrten darunter verstehen, gleich als hätte nur dieser und kein andrer das Recht, diesen Namen zu führen. Ob nun gleich dieser Zweifel mit sehr wenig Mühe aufzulösen wäre, so wird es doch nöthig seyn, wenn wir die rechte Auflösung ertheilen sollen, vorher zu wissen, was das Ge setze sey, und was diejenigen zu thun verbunden sind, welche sich dieser Wissenschaft befleißigen, wenn sie dieselbe einmal als Richter oder Advo
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caten ausüben wollen? Das Gesetz, wenn man es wohl überlegt, ist nichts anders, als der ver nünftige Wille des Gesetzgebers, wodurch er er klärt und bestimmt, auf was für Art er dasje nige, was gemeiniglich in einem Staate vorzu fallen pflegt, wolle entschieden haben, damit sei ne Unterthanen im Frieden leben, und wissen können, was sie thun und was sie lassen sollen. Jch sage, ein vernünftiger Wille; weil es nicht genug ist, daß ein König oder ein Kayser (wel che die wirkenden Ursachen des Gesetzes sind) seinen Willen auf irgend eine Art erkläre, wenn er ein Gesetz seyn soll. Denn, wenn dieser Wille nicht auch billig und gerecht ist, so kann er unmöglich weder den Namen noch die Ver bindlichkeit eines Gesetzes haben, eben so wenig, als man den einen Menschen nennen kann, wel chem die vernünftige Seele fehlt. Es ist da her ausgemacht, daß die Könige ihre Gesetze mit Zuziehung weiser und verständiger Männer ma chen müssen, damit sie nichts, als was recht, bil lig und gut ist, zur Absicht haben, damit sie die Unterthanen desto williger aufnehmen, und de sto eher verbunden sind, sie zu halten, und zu erfüllen. Die Causa materialis der Gesetze muß darinnen bestehen, daß sie über Fälle gemacht werden, welche sich nach dem Laufe der Natur in einem Staate zuzutragen pflegen, nicht aber über unmögliche oder über sehr seltene Fälle. [] Die Endursache der Gesetze ist, das mensch liche Leben zu ordnen, und einem jeden zu zei
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gen, was er thun und was er lassen soll, damit der Staat dadurch, daß alle Mitglieder dessel ben ihre Pflicht beobachten, in Ruhe und Frie de erhalten werde. Diese Absicht zu erreichen, wird unumgänglich erfordert, daß die Gesetze in klaren, nicht in ungewissen, zweydeutigen und dunkeln Worten, ohne verborgene Zeichen und Verkürzungen müssen abgefaßt werden, damit sie einem jeden, der sie lieset, so verständlich seyn können, daß er sie eben so leicht im Gedächtnis se behalten, als begreifen kann. Und wenn end lich niemand seine Unwissenheit soll vorschützen können, so müssen sie öffentlich seyn kund gemacht worden, damit derjenige, welcher sie übertritt, mit Recht bestraft werden kann. [] Jn Ansehung nun der genauen Sorgfalt, welche gute Gesetzgeber darauf gewandt haben, daß ihre Gesetze gerecht und deutlich seyn möch ten, haben alle Advocaten und Richter diese Vorschrift: nemo in actionibus vel iudiciis suo sensu vtatur, sed legum auctoritate duca- tur. *) Das ist: kein Richter und Advocat soll seinem eigenen Sinne folgen; keiner soll sich da mit abgeben, daß er untersuchen wolle, ob das Gesetz gerecht oder ungerecht sey; keiner soll ihm 199
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einen andern Sinn geben, als den, welchen die Buchstaben und Worte nothwendig erfordern. Hieraus folgt also, daß die Rechtsgelehrten den Text des Gesetzes grammatikalisch zergliedern, und keine andere Bedeutung daraus ziehen sol len, als die, welche die angestellte Zergliederung mit sich bringt. [] Diese Lehre vorausgesetzt, wird ein jeder die Ursache leicht einsehen können, warum ein Rechts verständiger insbesondere ein Litteratus (letrado) genannt werde. Weil er nämlich a letra dado, das ist, dem Buchstaben ergeben seyn muß; weil es ihm nicht frey steht, eine Auslegung des Gesetzes nach seinem eigenen Gutdünken anzu nehmen, sondern weil er in allen Stücken dem ausdrücklichen Buchstaben folgen muß. [] Auch die größten Rechtsgelehrten, weil sie dieses wohl eingesehen haben, unterstehen sich nicht, etwas zu behaupten oder zu leugnen, was zur Entscheidung eines vorhabenden Falles die nen könne, wenn sie nicht ein Gesetz vor sich ha ben, welches mit ausdrücklichen Worten eben das sagt, was sie sagen. Wenn sie ja einmal nach ihrem Kopfe reden, und ihre Vernunft und Einsicht vorwenden, die sie aber durch keinen Ausspruch des Gesetzes unterstützen können; so thun sie es doch nicht anders, als voller Furcht und Schaam, so daß sie kein Sprichwort öfterer im Munde führen, als dieses: erubescimus dum sine lege loquimur. Wir schämen uns, wol len sie sagen, unsere Entscheidung oder unsern
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Rath ohne Anführung eines Gesetzes zu geben, welches das, was wir entscheiden oder rathen, ausdrücklich bestimmt. [] Dieser Bedeutung nach können die Gottes gelehrten keine Litterati heissen, weil in der heil. Schrift (1. Cor. III.) der Buchstabe tödtet, der Geist aber lebendig macht. Jhr Buch stabe ist geheimnißvoll, voller Figuren und Bil der, dunkel und nicht einem jeden verständlich. Jhre Worte und Redensarten haben ganz an dere Bedeutungen, als die gemeinen dreyer Spra chen Kundige damit zu verknüpfen pflegen. Derjenige also, welcher eine grammatikalische Zer gliederung darinnen vornehmen, und nur den Sinn daraus ziehen wollte, welchen diese Zer gliederung mit sich bringt, würde in nicht we nig Jrrthümer verfallen. [] Auch die Aerzte haben keinen Buchstaben, dem sie sich unterwerfen müßten. Denn wenn Hippokrates, oder Galenus, oder ein anderer von den Hauptgelehrten in dieser Wissenschaft etwas sagen und behaupten, die Vernunft aber und Erfahrung beweisen das Gegentheil davon, so ist niemand verbunden, ihnen zu folgen; weil in der Arzneykunst Vernunft und Erfahrung von weit grösserm Gewichte sind, als das Anse hen. Bey den Gesetzen hingegen ist ihr Anse hen, und das, was sie ausdrücklich sagen, von weit grösserer Stärke und grösserem Nachdru cke, als alle Gründe, die man für das Gegen theil vorbringen könnte.
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[] Bey so gestalten Sachen also ist uns der Weg eröfnet, auf welchem wir gehen müssen, wenn wir zeigen wollen, was für Genies ei gentlich die Gesetze erfordern. Denn wenn der Rechtsgelehrte seinen Verstand und seine Einbil dungskraft genau an das halten soll, was das Gesetz sagt; wenn er nichts davon übergehen, und, wenn er nichts hinzusetzen soll: so ist es offenbar, daß diese Wissenschaft von dem Gedächt nisse abhänget, und es bey seinem Studiren dar auf ankömmt, daß er die Anzahl der Gesetze, welche das Recht enthält, wisse, daß er sich auf jedes leicht besinnen, und seinen Jnhalt gleich aus dem Gedächtnisse anführen könne, damit er bey jedem Falle, der ihm vorkommen könnte, sa gen kann, ob ein Gesetz da sey, welches ihn ent scheide, und auf was für Art es ihn entscheide. [] Zu einem Rechtsgelehrten wäre also, nach meiner Meynung, diese Art des Genies, wel che ein grosses Gedächtniß aber wenig Verstand hat, weit geschickter, als die, welche mit einem grossem Verstande ein schwaches Gedächtniß ver bindet. Denn wenn er seinen Verstand und seine Fähigkeit nicht brauchen soll; wenn er hingegen von allen Gesetzen, die doch so unzäh lig und von einander so verschieden sind, von allen Ausflüchten, Einschränkungen und Erwei terungen Bescheid zu geben wissen muß; so ist es besser, daß er es auswendig weiß, was von allen Fällen in den Gesetzen wirklich bestimmt wird, als daß er mit seinem Verstande unter
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sucht, was davon hätte können bestimmt wer den. Das erstere ist nothwendig, das andere ist schädlich; weil in den Gerichten auf keines Meynung, sondern einzig und allein auf die Ent scheidung des Gesetzes gesehen wird. Da also die Gesetze so ausdrücklich sind, und die Rechts gelehrten ihren Verstand so genau an den Wil len des Gesetzgebers binden müssen, daß sie ih ren Ausspruch nicht thun dürfen, wenn sie nicht die Entscheidung des Gesetzes ganz gewiß wissen; so vergönnt es ihnen der Pöbel, daß sie, wenn ein Kläger zu ihnen kömmt, sagen dürfen: ich will erst meine Bücher dieserwegen zu Ra the ziehen. Wenn dieses hingegen ein Arzt sagte, wenn man ihn um seinen Rath und um seine Hülfe in einer Krankheit ersuchte; oder, wenn es ein Gottesgelehrter sagt, wenn ihm eine Gewissensfrage vorgelegt wird, so würde man sie gewiß für sehr unerfahrne Männer in ihrer Wissenschaft halten, und zwar aus diesem Grunde, weil diese zwo Wissenschaften auf all gemeinen Grundsätzen und Erklärungen beru hen, welche alle besondere Stücke in sich enthal ten. Jn der Rechtsgelehrsamkeit aber hat je der besonderer Fall ein besonderes Gesez, ohne daß es mit dem folgenden eine Verwandschaft habe, wenn sie auch schon beyde unter einem Ti tel stehen. Derjenige also, der sich darauf legt, muß nothwendig ein jedes Gesetz insbesondere studiren, und es genau im Gedächtnisse behalten, wo er es mit keinem andern vermengen muß.
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[] Hierwider aber erinnert Plato*) etwas, wel ches gewiß eine sehr grosse Aufmerksamkeit ver dienet. Er sagt nämlich, zu seiner Zeit habe man denjenigen Rechtsgelehrten für verdächtig gehalten, welcher aus dem Gedächtnisse viel Ge setze habe anführen können, weil man aus der Erfahrung gesehen, daß ein solcher nicht eben ein so guter Richter oder Advocat wäre, als es sei ne Prahlerey wohl zu versprechen scheine. Plato mag die Ursache hiervon wohl nicht eingesehen haben, weil er sie an einem Orte, wo sie sich voll kommen hinschickt, nicht angiebt: er wußte es bloß aus der Erfahrung, daß diejenigen Rechts gelehrten, deren Kopf am meisten mit den Ge setzen angefüllt sey, wenn sie eine Sache verthei digen oder entscheiden sollten, diese Gesetze sehr selten genau anzuwenden wüßten. [] Die wahre Ursache von dieser besondern Er fahrung anzugeben, ist nach meiner Lehre nicht schwer; vorausgesetzt nämlich, daß das Gedächt niß dem Verstande zuwider ist, und daß man zur wahren Erklärung der Gesetze, zu ihrer ge hörigen Einschränkung oder Erweiterung, zu ih rer Vergleichung mit allen Einwendungen und Schwierigkeiten, nicht anders als durch Folgern, durch Schliessen, durch Urtheilen und Wählen gelangen könne. Diese Verrichtungen aber sind Verrichtungen des Verstandes; und derjenige Gelehrte, welcher ein starkes Gedächtniß hat, kann unmöglich so wohl darzu aufgelegt seyn, als ein anderer. 200
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[] Das Gedächtniß, wie wir schon in dem Vor hergehenden bewiesen haben, hat in dem Kopfe kei ne andere Verrichtung, als die Abdrücke und Bil der der Dinge wohl zu bewahren: der Verstand aber und die Einbildungskraft sind diejenigen Seelen kräfte, welche mit diesen Bildern und Abdrücken wirken. Wenn also ein Rechtsgelehrter seine ganze Wissenschaft in dem Gedächtnisse hat, es fehlt ihm aber an dem Verstande und an der Einbildungs kraft; so hat er zu dem Amte eines Richters oder eines Advocaten nicht mehr Geschicklichkeit, als der Codex selbst oder die Digesta darzu haben, wel che zwar auch alle Gesetze und Vorschriften des Gesetzes in sich fassen, gleichwohl aber keine Kla geschrift oder ein Urtheil abfassen können. [] Uebrigens aber, ob es gleich wahr ist, daß je des Gesetz so seyn soll, wie es die gegebene Erklä rung erfordert; so ist es doch ein sehr grosses Wun der, wenn man die Sachen so vollkommen findet, als man sie sich in dem Verstande vorzustellen pflegt. Daß das Gesetz gerecht und billig sey; daß es sich über alle Fälle, welche sich zutragen können, erstrecke; daß es in den deutlichsten Wor ten abgefast sey; daß es keine Einwendung oder Zweifel leide; daß man es nicht mehr als auf eine Art erklären könne: alles dieses kann nicht alle zeit Statt finden, weil das Gesetz ein Werk des menschlichen Verstandes ist, welcher die Macht nicht hat, allem und jedem, was etwa noch vor fallen möchte, vorzubeugen. Die tägliche Er fahrung lehret es, daß gar oft ein Gesetz, wenn
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es auch mit noch so viel Vorsicht und Klugheit ist gemacht worden, in kurzer Zeit wieder muß aufgehoben werden; weil sich, nachdem man es kund gemacht hat, tausend Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten darbey ereignen, welche nie mand in dem Rathe vorher sehen konnte. *) Die Gerechtigkeit erinnert also Könige und Kayser, daß sie sich nicht schämen sollen, Gesetze zu ändern, oder zu bessern, weil sie Menschen sind so gut als andere, weil es folglich kein Wunder ist, daß sie irren; besonders da kein Gesetz in der Welt möglich ist, das mit ausdrücklichen Worten alle Umstände benennen könnte, die bey dem Falle, welchen es entscheidet, etwa vorkommen können; indem die Arglist der Boshaften in Erfindung übler Handlungen weit sinnreicher ist, als die Klugheit der Gerechten seyn kann, diese üblen Handlungen vorher zu sehen, und ihre Entschei dung zu bestimmen. Daher heißt es auch: (l nec leges ff. de leg.) neque leges, neque senatusconsulta ita scribi possunt, vt omnes casus, qui quandoque inciderint, comprehen- dantur: sed sufficit ea, quae plerumque ac- cidunt, contineri. Das heist: es ist unmöglich, die Gesetze so abzufassen, daß sie sich auf alle Fälle, welche etwa vorfallen könnten, erstrecken sollten: es ist genug, wenn sie diejenigen be stimmen, die sich gemeiniglich zu ereignen pfle 201
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gen. Wenn sich aber ja andere ereignen, wo von das Gesetz mit ausdrücklichen Worten nichts sagt; so ist das Recht nicht so gar ohne alle Re geln und Grundsätze, daß der Richter oder Advo cat, wenn er einen guten Verstand hat, womit er eines aus dem andern folgern kann, nicht einen Ort finden sollte, woraus er die wahre Entschei dung oder Vertheidigung herleiten könnte. [] Da also mehr Fälle als Gesetze sind, so ist es nothwendig, daß der Richter oder Advocat einen grossen Verstand habe, wodurch er neue Gesetze zu machen geschickt sey. Und er kann diese nicht machen, wie er will, sondern er muß sie so machen, daß sie mit den übrigen Gesetzen übereinstimmen, und ohne Widerspruch in das Recht können aufgenommen werden. Hierzu aber ist kein Rechtsgelehrter, welcher ein starkes Gedächtniß besitzt, aufgelegt; weil diesem alles wohl geschnitten und gekauet in den Mund ge geben werden muß, wenn er in seiner Wissen schaft einige Geschicklichkeit haben soll. So viel er auch Gesetze in seinem Kopfe hat, so geht es ihm doch wie einem Trödler, welcher in seiner Bude eine grosse Menge Kleider zum Verkau fe aushängen hat: kömmt jemand, der eins kau fen will, so läßt er ihn eins nach dem andern anversuchen; wenn er sie ihm endlich alle hat anversuchen lassen, und es paßt keins, so läßt er den Käufer wieder so gehen, wie er gekom men war. Ein Rechtsgelehrter hingegen, wel chem es an Verstande nicht fehlt, ist wie ein
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geschickter Schneider, welcher die Scheere in der Hand und das Tuch zu Hause hat; er nimmt einem jeden das Maaß und schafft einem jeden ein Kleid, wie er es verlanget. Die Scheere eines guten Advocaten ist ein scharfer Verstand, womit er jedem Falle das Maaß nimmt, und ihm dasjenige Gesetz anpaßt, welches ihn ent scheidet; wenn er aber kein ganzes Gesetz fin det, welches ihn mit ausdrücklichen Worten ent scheidet, so macht er ihm aus hier und da zu sammengenommenen Stücken des Rechts ein Kleid, welches zu seiner Vertheidigung die nen muß. [] Rechtsgelehrte von einem solchen Genie, und von solcher Fähigkeit sollten eigentlich nicht Litterati heissen, weil sie keine buchstäbliche Zer gliederung anstellen, und sich nicht an die aus drücklichen Worte des Gesetzes binden. Sie scheinen Gesetzgeber und Ausleger des Rechts zu seyn, deren Hülfe die Gesetze selbst nöthig ha ben. Denn wenn sie Macht und Gewalt ha ben, sie zu erklären, sie einzuschränken, sie zu er weitern, ihre Ausnahmen und Einwendungen fest zu setzen, sie zu verbessern und zu ändern; so können, wir sie allerdings, wie wir schon ge sagt haben, Gesetzgeber nennen. [] Von einer solchen Wissenschaft ist der Aus spruch (ff. de legibus et sen. consult. et lon- ga consuet.) zu verstehen: scire leges non hoc est, verba earum tenere, sed vim ac pote- statem habere. Das ist: man glaube nicht,
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daß die Gesetze verstehen, so viel heisse, als, die Worte, in welchen sie abgefaßt sind, im Ge dächtnisse haben; sondern nur der versteht die Gesetze, welcher weiß, wie weit sich ihre Ver bindlichkeit erstreckt, und wie weit ihre Entschei dung gehet, weil sie verschiedenen Veränderun gen unterworfen sind, welche sich aus den Um ständen der Zeit, der Person, des Orts, der Art und Weise, des Gegenstandes und der Ursache ergeben. Alle diese Umstände verändern die Bestimmung des Gesetzes, so daß derjenige Richter oder Advocat, welchem es an Verstan de fehlt, dasjenige entweder durch Erweiterun gen oder Einschränkungen geschickt heraus zu zie hen, was mit ausdrücklichen Worten in dem Ge setze nicht gesagt wird, nicht wenig Fehler bege hen muß, weil er sich nach nichts als nach dem Buchstaben richtet. Es heißt daher: (Gloss. in l. damni §. si is ver. aliquas. de damno infecto) verba legis non sunt capienda iudaice. Das ist: die Worte des Gesetzes müssen nicht auf jüdische Art erklärt werden. Diese jüdische Art aber bestehet darinnen, daß man eine gramma tikalische Zergliederung damit anstellt, und den buchstäblischen Sinn herauszieht. [] Aus dem also, was wir bisher gesagt ha ben, ist zu schliessen, daß die Advocatur ein Werk des Verstandes seyn müsse, und daß derje nige Rechtsgelehrte, welcher ein starkes Gedächtniß besitzt, zum Entscheiden und Vertheidigen wegen der Unverträglichkeit dieser zwo Fähigkeiten nichts
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taugen könne; als welches eben die Ursache ist, warum, wie Plato anmerkt, diejenigen Rechts gelehrten, welche viel Gesetze im Kopfe haben, die Verklagten weder wohl zu vertheidigen, noch das Recht gehörig anzuwenden wissen. Nur eine Schwierigkeit ereignet sich noch bey dieser Leh re, welche nicht geringe zu seyn scheinet. Wenn der Verstand es seyn soll, welcher einem jeden Falle dasjenige Gesetz anweiset, welches ihn eigentlich entscheidet, und zwar vermittelst des Unterschei dens, des Einschränkens, des Ausdehnens, des Schliessens und des Beantwortens der gegenseiti gen Einwendungen; wie ist es möglich, daß der Verstand dieses thun kann, wenn ihm das Ge dächtniß nicht das ganze Recht vorlegt, da es doch, wie wir oben gesagt haben, ein ausdrückli cher Befehl ist: nemo in actionibus vel iu- diciis suo sensu vtatur, sed legum auctorita- te ducatur? Er muß folglich alle Gesetze des Rechts vorher im Kopfe haben, ehe er dasjeni ge herausziehen kann, welches sich für den vor habenden Fall schicket. Denn ob wir gleich ge sagt haben, daß ein Advocat, dem es an einem durchdringenden Verstande nicht fehle, vielmehr der Herr der Gesetze sey; so müssen doch alle seine Reden und alle seine Beweise auf die Grund sätze dieser Wissenschaft gegründet seyn, oder sie werden weder Ansehen noch Nachdruck ha ben. Dieses aber zu thun, muß er nothwendig ein starkes Gedächtniß besitzen, welches eine so grosse Anzahl von Gesetzen, als in den Büchern
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aufgezeichnet sind, in sich fassen und behal ten könne. [] Dieser Einwurf beweiset so viel, daß ein Advocat, wenn er vollkommen seyn soll, mit ei nem grossen Verstande auch ein starkes Gedächt niß verbinden müsse: und dieses gestehe ich zu. Was ich aber eigentlich sagen will, ist dieses, daß, da ein grosser Verstand sich bey einem star ken Gedächtnisse, ihrer natürlichen Unverträglich keit wegen, nicht befinden kann, es besser sey, wenn der Advocat viel Verstand und wenig Gedächt niß hat, als wenn er ein starkes Gedächtniß und einen schwachen Verstand besitzet. Dem Man gel des Gedächtnisses kann man durch vielerley Hülfsmittel abhelfen, durch Bücher, durch Ta bellen, durch Register und andere dergleichen bequeme Erfindungen: wenn aber der Verstand fehlt, so kann dieser Fehler unmöglich auf irgend eine Weise gut gemacht werden. [] Uebrigens sagt Aristoteles, *) daß Leute von grossem Verstande, ob sie gleich am Ge dächtnisse Mangel haben, eine sehr starke Erin nerungskraft besitzen, wodurch sie von einer je den Sache, die sie nur einmal gesehen, gehört oder gelesen haben, einen gewissen verwirrten Be grif behalten, über den sie so lange nachdenken, bis sie ihn wieder in das Gedächtniß zurück bringen. Gesetzt aber, daß man nicht so viel Hülfsmittel hätte, wodurch man dem Verstan 202
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de das gesammte Recht vorlegen kann; so grün den sich doch alle Gesetze so sehr auf die Ver nunft, daß sie von den Alten deswegen, wie Plato sagt, die Klugheit und die Vernunft selbst sind genannt worden. Ein Richter oder Advo cat also, wenn er einen grossen Verstand hat, wird im Entscheiden und im Vertheidigen, ob er das Gesetz gleich nicht im Gedächtnisse vor sich sieht, dennoch wenigmal fehlen, weil er das jenige Werkzeug besitzt, womit Kayser und Kö nige die Gesetze gemacht haben. Geschieht es denn nicht auch sehr oft, daß ein Richter, dem es an Genie nicht fehlt, den Ausspruch thut, ohne daß er die Entscheidung des Gesetzes weiß, und hernach diesen Ausspruch in den Büchern wirklich findet? Eben dieses bemerkt man nicht selten an guten Advocaten, wenn sie dann und wann einen Rath auf gutes Glück ertheilen. [] Die Gesetze und Vorschriften des Rechts, wenn man sie wohl betrachtet, sind der Ursprung und die Quelle, aus welchem die Advocaten die Beweise hernehmen müssen, um dasjenige, was sie behaupten, gültig zu machen. Diese Verrich tung aber ist unwidersprechlich eine Wirkung des Verstandes, so daß der Advocat, wenn ihm diese Fähigkeit fehlt, oder wenn er sie nur in ei nem schwachen Grade besitzt, nimmermehr ein Argument zu machen im Stande seyn wird, wenn er auch das ganze Recht im Kopfe hät te. Um sich hiervon zu überzeugen, darf man nur auf diejenigen Achtung geben, welche sich auf
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die Beredsamkeit legen, ohne das Genie darzu zu haben. Wenn sie auch die Topika des Ci cero (welches die Quellen sind, woraus man die Geschicklichkeit, die Beweise für jeden Satz, er mag bejahet oder verneinet werden, gehörig ein zurichten, ziehen muß,) von Wort zu Wort auswendig lernen; so werden sie doch nimmer mehr einen Schluß zu machen im Stande seyn. Andere hingegen, wenn sie viel Genie und Fä higkeit haben, machen, ohne ein Buch angese hen, oder die Topika jemals studirt zu haben, hundert Schlüsse hinter einander weg, welche sich alle vollkommen wohl zur Sache schicken. [] Eben so geht es mit den Juristen, welche ein starkes Gedächtniß haben, und ohne Mühe das ganze Recht hersagen können. Aus der un zähligen Menge von Gesetzen werden sie nicht ein Argument herauszuziehen wissen, welches zu ihrem Vorhaben dienlich seyn könnte. Hinge gen giebt es andere, welche nichtsweniger als in Salamanca fleissig gewesen sind, und weder ei nen Gradum noch Bücher haben; gleichwohl aber als Advocaten Wunder thun. [] Hieraus wird man begreifen, wie viel dem Staate an dieser Wahl und Prüfung der Ge nies zu den Wissenschaften gelegen sey; indem einige ohne alle Regeln der Kunst von sich sel ber einsehen und wissen, was ihnen zu thun zu komme; andere hingegen, trotz aller Vorschrif ten und Grundsätze, womit sie angefüllt sind, weil sie die Fähigkeit, welche die Praxis erfor
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dert, nicht haben, tausend Fehler begehen. Da nun also das Richten und Vertheidigen ohne Unter scheiden, ohne Folgern, ohne Schliessen und Wäh len nicht geschehen kann, so ist es nothwendig, daß derjenige, welcher sich auf die Rechtsgelehrsamkeit legt, einen guten Verstand habe, weil alle diese Ver richtungen von dem Verstande, nicht aber von dem Gedächtnisse oder der Einbildungskraft abhängen. [] Nunmehr wäre nöthig, auch zu sagen, wie man es erkennen solle, ob der Knabe diese Art des Genies besitze oder nicht: wenn wir nicht vorher noch ausmachen müßten, was für Eigen schaften der Verstand habe, und was für Ver schiedenheiten bey ihm Statt finden, damit wir es recht genau bestimmen können, welcher von diesen Verschiedenheiten die Gesetze eigentlich zukommen. [] Was das erste anbelangt, muß man wissen, daß, obgleich der Verstand die edelste und wür digste Fähigkeit des Menschen ist, gleichwohl kei ne einzige andere Fähigkeit sich so leicht mit der Wahrheit irrt, als eben er. Dieses fieng schon Aristoteles*) an zu beweisen, wenn er sagte: die Sinne irrten niemals, der Verstand hinge gen pflegte größtentheils falsch zu schliessen. Dieses sieht man deutlich aus der Erfahrung: denn würden wohl sonst unter den größten Welt weisen, Aerzten, Gottesgelehrten und Rechtsver ständigen, so viel Widersprüche, so viel unglei 203
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che Meynungen, so viel verschiedene Erklärun gen und Urtheile über eben dieselbe Sache an zutreffen seyn, da die Wahrheit nicht mehr als eine einzige ist? [] Woher es aber komme, daß die Sinne von ihren Gegenständen so gewiß seyn können, und der Verstand hingegen mit den seinigen sich so leicht irre, wird man ohne Mühe begreifen, wenn man überlegt, daß die Gegenstände der fünf Sinne und die Bilder, wodurch sie empfunden werden, ihrer Natur nach, ein gewisses, festes und beständiges Wesen, ehe man sie noch em pfindet, haben. Die Wahrheit aber, womit der Verstand umgehet, ist an und für sich selber nichts gewisses, wenn sie der Verstand nicht zu etwas gewissen macht. Sie ist ganz und gar zer streuet, und ihre Materialien liegen nicht anders untereinander, als die Steine, die Erde, das Holz und die Ziegel eines niedergerissenen Hauses, womit in dem Baue selbst so viel verschiedene Jrrthümer können begangen werden, als ver schiedene Menschen sich mit ihrer Einbildungs kraft daran machen. Eben dieses ereignet sich an dem Baue, welchen der Verstand durch die Verbindung der Wahrheiten aufführt; wenn sich nicht ein gutes Genie damit beschäftiget, so werden alle andere tausend Fehler begehen, ob sie gleich alle einerley Grundsätze haben. Da her kömmt es, daß unter den Menschen von eben derselben Sache so viel verschiedene Meynungen sind. Jeder ordnet und verbindet die Wahrhei
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ten auf diejenige Art, die ihm sein Verstand an die Hand giebt. [] Vor diesen Meynungen und Jrrthümern sind die fünf Sinne bewahrt; weil weder die Augen die Farbe, noch die Zunge den Geschmack, noch das Gefühl die fühlbaren Beschaffenhei ten macht. Alles dieses hatte von der Natur schon sein bestimmtes Wesen bekommen, ehe es von den Sinnen empfunden ward. [] Weil die Menschen von diesem mühseligen Zustande des Verstandes nicht unterrichtet sind, so pflegen sie alle ihre Meynungen ganz zuver sichtlich zu entdecken; ohne daß einer genau weiß, wie sein Genie beschaffen, und ob es in der Zusammenfügung der Wahrheiten glücklich oder unglücklich sey. Man darf nur den und jenen Gelehrten, welcher anfangs etwas vorge geben, und mit unzähligen Gründen erwiesen, hernach aber seine Meynung geändert und wider rufen hat, fragen: wenn und wie er es wohl erfahren könne, daß er die Wahrheit unfehlbar getroffen habe? Das erstemal gesteht er es selbst, daß er geirret hat, weil er, was er damals gesagt hat, zurückzieht. Das anderemal behau pte ich, muß er schon weniger Vertrauen auf seinen Verstand setzen, weil diejenige Fähigkeit, welche einmal in der Zusammensetzung der Wahr heit geirrt hat, ob ihre Gründe gleich noch so sicher und zuverlässig schienen, auch zum zwey tenmal irren kann, ob sie gleich noch so starke Gründe zu haben glaubt: besonders da man
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aus der Erfahrung weiß, daß ein Gelehrter oft anfangs die rechte Wahrheit gehabt, und sie gleichwohl hernach mit einer schlimmern und viel unwahrscheinlichern verwechselt hat. [] Sie halten es für ein hinlängliches Merk mal, ob der Verstand in Verbindung der Wahr heit glücklich gewesen sey, wenn sie empfinden, daß er mit dieser Art der Verbindung zufrieden ist, und wenn sie Gründe anführen können, wel che ihn bewegt und genöthigt haben, die Wahr heit so und nicht anders zu verbinden. Allein sie irren gewaltig, weil sich der Verstand gegen die falschen Meynungen verhält, wie sich die übrigen niedrigern Fähigkeiten jede gegen die Verschiedenheiten ihrer Gegenstände verhalten. Fragt man, zum Beyspiel, die Aerzte, welche von allen Speisen, deren sich der Mensch be dient, *) die beste und schmackhafteste sey? Jch glaube, sie werden antworten, für einen schlech ten und verderbten Magen ist eigentlich keine Speise weder gut noch schlimm, sondern sie wird so wie der Magen ist, in welchen sie fällt. Es giebt Magen, sagt Galenus, **) welche sich bey Rindfleisch besser als bey Hühnerfleisch und Fo rellen befinden. Einige können keine Eyer und keine Milch vertragen; andere hingegen haben nichts lieber als Eyer und Milch. Einige, wenn wir die Speisen nach ihrer Zubereitung betrach ten, wollen lieber gebratnes als gekochtes Fleisch; 204 205
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und auch unter dem gebratnen Fleische machen sie einen Unterschied, indem einige die Braten gern haben, wenn sie noch bluten, andere aber, wenn sie ganz trocken gebraten, und beynahe zu Kohlen gebrannt sind. Und was hierbey noch merkwürdiger ist, ist dieses, daß diejenige Speise, welche man heute mit vieler Begierde und Leckerheit genossen hat, morgen von dem Magen verab scheuet, und einer weit schlechtern nachgesetzt wird. Alles dieses versteht sich, wenn der Magen noch unverdorben und gesund ist; fällt er aber in diejenige Schwachheit, welche die Aerzte pica oder malacia nennen, so bekömmt er wohl zu Sachen Appetit, welche die menschliche Natur verabscheuet, und findet einen grössern Geschmack an Talk, an Steinen und Kohlen, als an Hüh nern und Forellen. [] Kommen wir zur Erzeugungsvermögenheit, so treffen wir eben so viele verschiedene Gelü stungen bey ihr an. Einige Mannspersonen sind auf eine häßliche Weibsperson erpicht, und verachten eine schöne; einige wollen lieber ei ne dumme als eine kluge; einige verabscheuen eine dicke und lieben eine dürre; einigen eckelt vor Schmuck und Seide, und nur in Lumpen und Hadern können sie sich verlieben. Dieses versteht sich, wenn die Geburtsglieder in gesun dem Stande sind: befällt sie aber diejenige Krankheit, die wir bey dem Magen malacia ge nannt haben, so sind sie nach den viehischesten Ausschweifungen lüstern.
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[] Eben dieses ereignet sich in der sinnlichen Ver mögenheit; weil von allen fühlbaren Beschaffen heiten keins, weder das Harte noch das Weiche, weder das Rauhe noch das Glatte, weder das Warme noch das Kalte, weder das Feuchte noch das Trockene, allen Gefühlen gleich angenehm ist. Es giebt Leute, welche in einem harten Bet te besser schlafen, als in einem weichen, und ande re, welche in einem weichen besser schlafen, als in einem harten. [] Alle diese Verschiedenheiten des Geschmacks und der ausserordentlichen Lüsternheit finden auch bey dem Verstande in seinen Verbindungen Statt. Wenn man hundert Gelehrte nimmt, und ihnen eine Frage vorlegt, so werden alle hundert verschiedentlich darauf antworten, und jeder wird seine besondern Gedanken darüber haben. Was diesem ein sophistisches Argument scheinet, das kömmt einem andern wahrscheinlich vor, und einem dritten kömmt es so überzeugend vor, als wenn es eine Demonstration wäre. Dieses trift nicht allein an verschiedener Ver stande ein, sondern wir sehen sogar aus der Er fahrung, daß ein Beweis eben denselben Ver stand zu einer Zeit überführt, und zu einer an dern nicht. Alle Tage, wie wir gewahr werden, verändern die Menschen ihre Meynungen; ei nige, welche mit der Zeit einen feinen Verstand erlangt haben, erkennen das Mangelhafte eines Grundes, der sie vorher überzeugte; andere hin gegen, welche das gute Temperament ihres Ge
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hirns verlieren, verabscheuen die Wahrheit und billigen die Lügen. [] Wenn aber das Gehirn diejenige Schwach heit befällt, welche wir malacia genannt haben, alsdenn entstehen erst recht ausschweifende und närrische Gedanken und Urtheile. Die schwa chen und nichtigen Gründe bekommen bey sol chen Geistern mehr Gewalt, als die stärksten und sichersten; auf ein tüchtiges Argument wissen sie zu antworten, und von einem schlechten lassen sie sich überzeugen. Aus Vordersätzen, aus welchen ein wahrer Schluß zu ziehen ist, ziehen sie einen falschen, und mit den allerson derlichsten und wunderbarsten Beweisen unter stützen sie ihre närrischen Einfälle. [] Grosse und gelehrte Männer pflegen hier auf sehr wohl Achtung zu geben, und ihre Mey nungen gemeiniglich so vorzutragen, daß sie die Gründe, auf welche sie sich stützen, verschwei gen; weil die Menschen überzeugt sind, daß das menschliche Ansehen nicht stärker seyn kön ne, als der Grund ist, auf welchen es sich stützt, und weil jeder nach Maaßgebung seines Ge nies davon urtheilet, die Argumente selbst aber, wegen der Verschiedenheit der Einsichten, in ih rer Kraft zu schliessen, sich sehr gleichgültig ver halten. Sie halten es also für weit nachdrück licher schlechthin zu sagen: dieses ist gewisser Ursachen wegen, die mich davon überzeugen, meine Meynung, als die Ursachen, worauf sie sich gründen, selbst vorzutragen. Zwingt man
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sie aber darzu, die Gründe ihrer Meynung an zugeben, so lassen sie auch keinen einzigen weg, er mag noch so geringe scheinen; weil sie wissen, daß oft derjenige, dem sie am wenigsten zutrauen, mehr wirkt, als derjenige, welchen sie für den stärksten halten. [] Hieraus kann man das Elend unsers Ver standes einigermaassen begreifen. Er verbindet und trennet; er überlegt und schließt; und wenn er geschlossen hat, so fehlt ihm das Licht, durch welches er erkennen könnte, ob seine Meynung wahr sey oder nicht. Dieser Ungewißheit sind die Gottesgelehrten in allen denjenigen Stücken unterworfen, welche nicht die Glaubensartickel betreffen. Wenn sie noch so wohl geschlossen haben, so fehlt ihnen doch die untrügliche Pro be oder der deutliche Ausgang, aus welchem sie ungezweifelt erkennen könnten, welche Schlüsse die besten wirklich sind. Jeder Gottesgelehrte nimmt also dieienigen Meynungen an, die ihm die gegründesten zu seyn scheinen; und wenn er auf die Einwürfe des Gegentheils antwor ten soll, so ist es genug, daß er sich mit Ehren herauszieht; ein mehreres darf man nicht er warten. Ein armer Arzt hingegen und ein Ge neral müssen es nothwendig auf den Ausgang ankommen lassen, wenn sie vorher ihre Ueberle gungen auch noch sowohl gemacht, und die Gründe des Gegentheils noch so glücklich vernichtet haben. Jst dieser Ausgang nun gut, so hält man sie für weise; ist er er aber übel, so glaubt ein jeder,
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sowohl der Arzt, als der General müßten sich auf schlechte Gründe gestützt haben. [] Bey den Glaubensartickeln, welche die Kir che vorlegt, kann kein Fehler Statt finden. Denn da GOtt sahe, daß die Vernunft des Men schen so ungewiß sey, und sich so leicht hinter gehen lasse, so konnte er es nicht zugeben, daß so hohe und wichtige Sachen ihrer eignen Bestim mung überlassen blieben. So oft sich also zwey oder drey auf eine feyerliche Art der Kirche ge mäß versammeln, so ist er mitten unter ihnen, und billiget, als ihr Vorsitzer, das, was sie Gu tes vorbringen, verwirft die Jrrthümer, und offenbaret, was sich mit dem menschlichen Ver stande nicht erreichen läßt. Die Probe also al les desienigen, was in Glaubenssachen vorge bracht wird, ist *) diese, daß man untersucht, ob es mit dem übereinkömmt, was die katholi sche Kirche davon sagt und festsetzt: denn wenn es diesem zuwider ist, so sind alle Gründe ohne Ausnahme unrichtig. Jn den übrigen Fragen aber, wo dem menschlichen Verstande seine Frey heit, zu urtheilen, gelassen wird, hat man die Art und Weise nicht ausfindig gemacht, wie man es versuchen könne, welche Beweise wirk lich schliessen, und welche Wahrheiten der Ver stand richtig verbunden habe. †) Alles kömmt 206 207
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dabey auf die gute Uebereinstimmung an; die se Uebereinstimmung aber ist ein sehr betrügli ches Merkmal, weil nicht wenig Jrrthümer mehr Wahrscheinlichkeit haben, und mit mehr Beweisen unterstützt werden können, als die größten Wahrheiten. [] Der Arzt und dieienigen, welche im Kriege anführen, haben den Ausgang und die Erfah rung zur Probe ihrer Schlüsse. Wenn zehen Generale, zum Beyspiel, aus vielen Gründen behaupten, man müsse es zur Schlacht kommen lassen, die übrigen aber behaupten, man müsse die Schlacht ausschlagen; so wird der Ausgang nothwendig die eine Meynung bestärken, die an dere aber verwerfen. Und wenn zwey Aerzte uneinig sind, ob ein Kranker sterben oder davon kommen werde, so wird man es alsdenn, wenn der Kranke stirbt oder davon kömmt, erkennen, welcher von beyden die stärksten Gründe für sich gehabt habe. Gleichwohl aber ist der Ausgang kein zureichender Beweis; weil eine Wirkung verschiedene Ursachen haben, und gar wohl aus einer entstehen kann, wenn sich die Gründe auf eine ganz andere gestützt haben. [] Aristoteles behauptet, *) daß man der ge meinsten Meynung folgen müsse, wenn man wis= 208
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sen wolle, welche Gründe richtig schliessen: denn wenn viel gelehrte Männer einerley sagten, und behaupteten, und auch einerley Gründe dafür anführten, so sey es ein Beweis, (obgleich ein topischer,) daß diese Gründe richtig schliessen, und die Wahrheiten gehörig verbinden. Doch auch dieser Beweis, wenn wir es wohl überle gen, ist betrüglich, weil es bey der Stärke des Verstandes auf seine Anstrengung und nicht auf die Zahl ankömmt. Es ist nicht damit, wie mit der körperlichen Stärke, daß viele, wenn sie zusammentreten, einer Last mehr anhaben kön nen, als wenige; sondern bey Erreichung der Wahr heit kömmt es mehr auf einen einzigen feinen Ver stand an, als auf tausend andere, welche nicht fein sind. Die Ursache hiervon ist die: weil sich der Verstand des einen Menschen nicht mit dem Verstande eines andern verbinden läßt, so daß aus vielen nur einer werde, wie es sich bey der körperlichen Gewalt ereignet. Der Weise sag te daher: multi pacifici sint tibi, et consilia- rius vnus de mille; als wollte er sagen: ha be viel Freunde, die dich vertheidigen können, wenn du ihres Beystandes nöthig hast, aus tausen den aber wähle dir nur einen zum Rathgeber. Eben dieses will der Ausspruch des Heraklitus sagen: einer ist mir Statt tausend. [] Bey Klagen und Vertheidigungen nimmt jeder Rechtsgelehte diejenige Meynung an, von welcher er glaubt, daß sie den meisten Grund im
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Rechte habe. Wenn er aber seine Ueberlegun gen noch so wohl angestellt hat, so giebt ihm doch seine ganze Wissenschaft kein Mittel an die Hand, durch welches er mit Gewißheit erkennen könnte, ob sein Verstand die Wahrheiten so ver bunden habe, wie es die strengste Gerechtigkeit erfordere. Denn wenn der eine Advocat aus den Gesetzen beweiset, daß derjenige, welchen er ver theidiget, Recht habe; der andere Advocat aber behauptet, daß er es nicht habe: woran soll man es erkennen, welcher von diesen beyden Advoca ten die richtigsten Schlüsse gemacht habe? Der Ausspruch des Richters kann kein Beweis des untrüglichen Rechts seyn, und kann kein Aus gang genannt werden, weil er selbst einer Meynung ist, und der Richter nichts thut, als daß er auf die Seite des einen oder des andern Advoca ten tritt. Auch die Menge der Rechtsgelehrten, welche einer Meynung beyfällt, ist kein Beweis, daß dasjenige, was sie durch die Mehrheit der Stimmen für recht erkannt haben, die gewisse Wahrheit sey; weil wir schon gesagt und bewie sen haben, daß mehr, als ein grober Verstand, wenn sie sich gleich eine verborgene Wahrheit aus zumachen mit einander verbinden, doch nimmer mehr die Stärke und die Einsicht eines einzigen erlangen, welcher fein und durchdringend ist. [] Daß aber der Ausspruch des Richters die Probe oder den Beweis nicht abgeben könne, sieht man ganz deutlich daraus, daß oft die obern Gerichte die Urtheile der untern Gerichte
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widerrufen und ganz andere Entscheidungen ge ben. Das Uebelste, was hierbey vorfallen könn te, ist dieses, daß der Unterrichter wohl einen grössern Verstand haben kann, und daß seine Aussprüche der Wahrheit und Gerechtigkeit weit gemässer können gewesen seyn. Daß aber auch der Ausspruch des obersten Richters kein Beweis für die Gerechtigkeit sey, ist sonnenklar; weil man täglich sieht, daß ebendieselben Gerichte, und ebendieselben Richter, ohne daß unter ihnen die geringste Veränderung vorgegangen ist, ganz widersprechende Urtheile zu fällen pflegen. Wer sich einmal geirret hat, so viel Vertrauen er auch auf seine Gründe setzte, von dem steht zu vermuthen, daß er sich auch ein andermahl irren könne; daher er auf seine Meynung desto weniger zu bauen ver bunden ist. Qui semel est malus u. s. w. [] Da nun die Advocaten sehen, daß unter den Einsichten der Richter eine so grosse Verschieden heit anzutreffen ist, daß jeder denjenigen Gründen wohl will, welche seinem Genie am gemässesten sind, und daß heute dieser Beweisgrund, morgen aber der gegenseitige für gültig angenommen wird; so tragen sie kein Bedenken, alle Rechts händel für und wider anzunehmen, besonders da sie aus der Erfahrung wissen, daß sie auf der einen Seite sowohl als auf der andern, den Aus spruch für sich erhalten können. Wie wohl trift also der Ausspruch der Weißheit ein: der sterb lichen Menschen Gedanken sind mißlich und unsre Anschläge sind fährlich!
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[] Das Mittel aber, dem Unheile, welches dar aus entstehet, daß die Beweise in der Rechtsgelehr samkeit keine Probe haben, noch durch die Erfah rung bestärkt werden können, vorzukommen, ist dieses, daß man Leute von sehr grossem Verstan de zu Richtern und Advocaten erwählet, weil die ser ihre Beweise und Gründe, wie Aristoteles sagt, *) so gewiß und unstreitig sind, als selber die Erfahrungen seyn können. Wenn diese Wahl beobachtet wird, so sollte allem Ansehen nach die Republick wohl gesichert genug seyn können, daß ihre Amtleute die Gerechtigkeit beobachten wür den. Wenn man es aber länger erlaubt, daß jeder aus dem Haufen, ohne vorher abgelegte Probe seines Genies, wie bisher geschehen ist, sich mit gerichtlichen Aemtern abgeben darf, so wird nothwendig alle der Schaden daraus ent stehen, den wir angemerkt haben. [] An welchen Merkmalen man es erkennen kön ne, ob der, welcher sich den Gesetzen widmen will, diejenige Beschaffenheit des Verstandes habe, welche diese Facultät nothwendig erfordert; die ses haben wir gewisser Maassen schon in dem Vorhergehenden gesagt. Damit es aber in desto frischerm Gedächtnisse bleibe, und wir uns in den Beweis desto umständlicher einlassen können, so muß man auf folgendes Achtung haben. Derjenige Knabe, welcher, wenn er zum Lesen angehalten wird, die Buchstaben leicht kennen lernt, und ohne 209
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Mühe einen jeden auch ausser der Ordnung des Alphabets bald zu nennen weiß, zeigt von einem starken Gedächtnisse; weil dieses unwidersprech lich weder eine Wirkung des Verstandes, noch der Einbildungskraft seyn kann; es ist vielmehr die Verrichtung des Gedächtnisses, daß es die Bil der der Sachen behalte, und den Namen eines jeden, wenn es erfordert wird, ohne Anstand angeben kann. †) Wenn aber der Knabe ein starkes Gedächtniß hat, so ist dieses starke Ge dachtniß, wie wir schon bewiesen haben, ein Zei chen, daß er am Verstande Mangel leide. [] Gleichfalls haben wir gesagt, daß das bald erlernte Schreiben und die Geschicklichkeit in Zügen und Nachmahlung der Buchstaben, die Einbildungskraft verrathe. Derjenige Knabe folglich, welcher in wenig Tagen seine Hand 210
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zum Schreiben gewöhnt, die gleichen Linien beob achtet, und die Buchstaben, so zieht, wie es das Ebenmaaß und die Zierlichkeit erfordern, ver räth einen schlechten Verstand, weil diese Ver richtung vermöge der Einbildungskraft geschieht; die Einbildungskraft aber und der Verstand, wie wir gleichfalls schon angemerkt haben, sich nicht wohl mit einander vertragen. [] Wenn der Knabe ferner zur Sprachlehre schreitet, und auch diese mit wenig Mühe begreift, in kurzer Zeit, ziemliches Latein schreiben, und einen zierlichen Brief abfassen lernt; wenn er an den schönen Schlußwör tern des Cicero einen Gefallen findet, und sie anzubringen sucht, so wird er nimmer mehr ein guter Richter, oder ein guter Advocat werden, †) weil er ein allzustarkes Gedächtniß verräth, und es ohne ein Wunder nicht gesche hen kann, daß ein Mensch dieses ohne Mangel des Verstandes haben könne. Wenn so ein Knabe also darauf besteht, sich den Gesetzen zu widmen, so kann er leicht, wenn er lange genug auf Akademien bleibt, ein berühmter Lehrer, der unzählige Zuhörer an sich zieht, werden; weil die lateinische Sprache auf dem Katheder sehr angenehm ist, und derjenige, welcher mit vielem Beyfall lehren will, viel Anführungen braucht, so, daß er bey jedem Gesetze alles beyzubringen 211
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wissen muß, was man jemals darüber geschrie ben hat. Hierzu aber ist ein grosses Gedächt niß nöthiger, als ein grosser Verstand. Zwar ist es wahr, daß man auf dem Katheder unter scheiden, folgern, schliessen, urtheilen und wählen muß, wenn man den wahren Sinn des Gese tzes erreichen will. Gemeiniglich aber pflegt der Professor jeden Fall so zu setzen, wie er für ihn am bequemsten ist; er führet nur diejeni gen Gegensätze und Zweifel an, die nach seinem Geschmacke sind, und fällt endlich den Ausspruch nach seinem Gutdünken, ohne, daß er sich eines Widerspruchs befürchten darf: und hierzu ist ein mittelmässiger Verstand hinlänglich. Wenn ein Advocat hingegen einem Kläger beysteht, ein anderer Advocat den Beklagten vertheidi get, und ein dritter Rechtsgelehrter Richter ist; alsdenn wird der Proceß lebendig, und alsdenn läßt es sich nicht so leicht reden, als wenn man ohne einen Widerspruch zu befürchten, reden kann. [] Wenn der Knabe in der Sprachlehre nicht wohl fortkommen kann, so ist schon eine ziemli che †)Wahrscheinlichkeit da, daß er einen gros= 212
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sen Verstand besitze. Jch sage eine ziemliche Wahrscheinlichkeit oder Vermuthung, weil es nicht nothwendig folgt, daß derjenige einen gros sen Verstand haben müsse, welcher es im Latei nischen zu nichts bringen kann; indem wir schon im Vorhergehenden bewiesen haben, daß auch diejenigen Knaben, welche eine starke Ein bildungskraft besitzen, es niemals in der lateini schen Sprache zu etwas bringen. Was uns aber in diesem Stücke gewiß machen kann, ist die Dialektik; weil diese Wissenschaft sich ge gen den Verstand nicht anders, als der Probier stein gegen das Gold verhält. Wenn daher derjenige Knabe, welcher die Vernunftlehre hört, in zwey bis drey Monaten nicht schliessen und Zweifel zu machen lernt, wenn ihm keine Be weise und Antworten in derjenigen Materie, wel che vorgetragen wird, beyfallen; so ist es ein gewisses Merkmal, daß er keinen Verstand hat. †) Wenn er hingegen in dieser Wissenschaft ge schwind zunimmt, so ist es ein offenbarer Be weis, daß es ihm an dem Verstande nicht fehlt, welchen die Gesetze erfordern; und hierauf kann er sich dann alsbald, ohne länger zu warten, le gen, ob ich es gleich in der That für besser hal te, daß er vorher den ganzen Umkreis der Kün= 213
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ste durchlaufe, weil die Vernunftlehre dem Ver stande nichts mehr ist, als was die Stricke ei nem wilden Maulesel sind, die man ihm an die hintern und vordern Füsse legt, und durch die er, wenn er sie einige Tage gelitten hat, einen gesetztern und anständigern Gang annimmt. Ei nen gleichen Gang nimmt auch der Ver stand in den Streituntersuchungen an, wenn ihn vorher die Regeln und Grundsätze der Dialek tik darzu gewöhnt haben. [] Wenn aber dieser Knabe, den wir ietzt vor uns haben, mit dem Lateinischen nicht wohl zu rechte kömmt, und auch in der Dialektik nicht so, wie er wohl sollte, zunimmt; so ist es nöthig, daß man untersucht, ob er eine gute Einbildungs kraft habe, ehe man ihn von der Rechtsgelehr samkeit zurückweiset: denn es fällt hierbey et was ganz besonders vor, welches der Republik, wenn sie es weiß, sehr nützlich seyn kann. Es besteht nämlich hierinnen, daß es Rechtsgelehrte giebt, welche theils auf dem Katheder in Erklä rung der Gesetze, theils als Advocaten, rechte Wunder thun, die aber, wenn man ihnen das Ruder in die Hand giebt, zum Regieren eben so viel Geschicklichkeit haben, als wenn die Ge setze zu dieser Absicht gar nicht wären gemacht worden. Hingegen giebt es andere, die mit zwey bis drey Gesetzen, welche sie nun so und so in Salamanca begriffen haben, eine Regie rung, welcher sie vorgesetzt werden, so wohl ver walten, daß man es in der Welt nicht besser
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verlangen kann. Hierüber haben sich neugieri rige Leute oft nicht wenig verwundert, weil sie die Ursache davon nicht einsehen konnten; die se aber liegt darinnen, daß die Regierungskunst ein Werk der Einbildungskraft, nicht aber des Verstandes oder des Gedächtnisses ist. Und daß sich dieses wirklich so befinde, ist sehr leicht zu beweisen, wenn man nur bedenkt, daß die Republik nach einer gewissen Ordnung einge richtet seyn, und jedes darinnen seinen besondern Platz haben muß, damit das Ganze eine gute Gestalt und Uebereinstimmung erhalte. Dieses aber, wie wir mehr als einmal schon bewiesen haben, ist ein Werk der Einbildungskraft. Ei nen grossen Rechtsgelehrten also zu einem Regen ten zu machen, würde eben so unklug seyn, als wenn man einen Tauben zum Richter einer Mu sik machen wollte. †) Gleichwohl aber muß man dieses nicht als eine allgemeine Regel, son dern als eine blosse Beobachtung ansehen, wel che nur gewöhnlichermaassen einzutreffen pflegt. Denn da wir bewiesen haben, daß es eine gewisse Art gebe, durch welche die Natur einen grossen Verstand mit einer starken Einbildungskraft verbinden könne; so ist es gar nichts widerspre chendes, daß ein Mensch zugleich ein grosser Ad vocat und ein guter Regent seyn könne. Wir 214
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werden sogar in dem Folgenden erwelsen, daß die Natur, wenn sie alle ihre Kräfte zusammen nimmt, und eine wohl durchwirkte Materie fin det, einen Menschen machen kann, welcher ein starkes Gedächtniß, einen grossen Verstand, und ei ne grosse Einbildungskraft, alle dreye beysammen besitzet. Ein solcher, wenn er sich auf die Gesetze legt, wird ein berühmter Professor, ein grosser Ad vocat und ein eben so grosser Regent. Die Natur aber macht solcher Geister so wenige, daß unsre obige Regel ganz wohl als allgemein kann an genommen werden.

Zwölftes Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß die Theorie der Arzneygelahrheit theils dem Gedächtnisse, theils dem Verstande; ihre Praxis aber der Einbildungs kraft zukomme.

[] Zu der Zeit, als die Arzneywissenschaft der Araber noch im Flor war, befand sich ein sehr berühmter Arzt unter ihnen, welcher in sei nen Vorlesungen und in seinen Schriften, im Folgern, im Unterscheiden, im Widerlegen und Schliessen die größte Bewunderung verdiente. Man glaubte also, daß er wegen seiner grossen Geschicklichkeit wenigstens Todte erwecken, und
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allen Krankheiten ohne Unterscheid, müßte ab helfen können. Diese Vermuthung aber traf so wenig ein, daß ihm kein einziger Kranke un ter die Hände kam, welchem es nicht das Leben gekostet hätte. Er selbst wurde hierüber so ver drüßlich und zornig, daß er den Mönchsstand ergriff, und sich unaufhörlich über seinen Un stern beklagte, und die wahre Ursache einsehen lernte, die ihn in der Anwendung seiner Wissen schaft so unglücklich machte. [] Weil die neuen Beyspiele nachdrücklicher und den Sinnen überzeugender zu seyn scheinen, so will ich den Johann Argenterius anführen. Dieser neuere Arzneygelehrter, welcher zu unsern Zeiten gelebt hat, soll nach der Meynung der größ ten Arzneygelehrten den Galenus weit übertroffen haben, indem er die Kunst zu kuriren in eine bes sere Lehrart gebracht hat. Gleichwahl aber erzäh let man von ihm, er sey in der Praxis so unglück lich gewesen, daß kein einziger Kranke in seiner Gegend sich ihm, aus Furcht aufgeopfert zu werden, habe anvertrauen wollen. Der Pöbel scheint also Recht zu haben, darüber zu erftaunenerstaunen, was ihn die Erfahrungen nicht allein an den jetzt angeführten Beyspielen, sondern auch an hundert andern, die er täglich vor Augen hat, lehret, daß nämlich ein grosser gelehrter Arzt eben deswegen zu allen Kuren ungeschickt sey. Aristoteles wollte von dieser Beobachtung die Ursache angeben; allein er erreichte sie nicht. Er meynt, wenn die theoretischen Arzneygelehrten seiner Zeit in ihren
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Kuren unglücklich wären, so käme es daher, weil sie zwar von dem Menschen überhaupt Kenntniß hätten, die Natur aber eines jeden insbesondere nicht erforschten; und also gleich das Gegentheil von den empirischen Aerzten thäten, welche ihre ganze Sorgfalt darauf richteten, daß sie die beson dern und eigentlichen Beschaffenheiten eines jeden Menschen kennen lernten, um das Allgemeine aber sich wenig bekümmerten. Allein diese Ursache ist die wahre nicht, weil beyde sich mit besondern Kuren abgeben, und beyde die Natur eines jeden insbesondere zu erforschen bemüht sind. [] Die ganze Schwierigkeit besteht bloß darin nen: warum die gelehrtesten Aerzte, wenn sie sich auch Zeit ihres ganzen Lebens im Kuriren üben, es in ihrer Praxis dennoch zu nichts besondern bringen; †) und warum hingegen Leute, die nichts wissen, mit drey bis vier medicinischen Regeln, die sie auf den hohen Schulen erschnappt haben, in kurzer Zeit weit glücklichere Kuren ver richten lernen. [] Die wahre Antwort auf diesen Zweifel hat wenig Schwierigkeit, da selbst Aristoteles nicht darauf fallen konnte, und sie nur zum Theil traf. Wir dürfen uns aber nur auf die Grundsätze unserer Lehre einschränken, wenn wir sie so vollstän= 215
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dig geben wollen, als man sie nur verlangen kann. Man muß wissen, daß die Vollkommenheit eines Arztes in zwey Stücken besteht, welche beyde eben so nothwendig sind, wenn er den Endzweck seiner Kunst erreichen will, als unentbehrlich beyde Beine sind, wenn man ohne Hinken gehen soll. *) Das erste besteht darinnen, daß man alle Regeln und Vorschriften, den Menschen überhaupt zu kuriren, methodisch kennen muß, ohne daß man sich in das Besondere einläßt. Das zweyte ist dieses, daß man sich lange Zeit im Kuriren geübt habe, und eine grosse Anzahl Kranker mit eignen Augen habe kennen lernen, indem die Menschen so gar sehr von einander nicht unterschieden sind, daß sie nicht in vielen Stücken mit einander überein kommen sollten, aber auch einander nicht so gleich sind, daß nicht unzähliche Verschiedenhei ten unter ihnen bemerkt würden, wovon man weder schriftlichen noch mündlichen Unterricht geben kann, und die sich nicht so zusammen fassen lassen, daß man sie unter gewisse Regeln der Kunst bringen könnte. Sie können von nieman den erkannt werden, als von denen, welche sie unzähligmal mit Augen gesehen und unter Hän den gehabt haben. Dieses läßt sich auch schon daher leicht begreifen, daß das Gesicht, ob es gleich nur aus sehr wenig Theilen zusammengesetzt ist, aus den Augen, der Nase, den Backen, dem Munde und der Stirne, dennoch seiner Natur 216
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nach so vieler unterschiednen Zusammensetzungen fähig ist, daß unter tausend Menschen jeder sein besonderes Gesicht hat, und es ein rechtes Wunder ist wenn man zwey darunter findet, die einan der völlig gleich sind. †) [] Ein gleiches ereignet sich an den vier Elemen ten und den vier Hauptbeschaffenheiten der Wärme und Kälte, der Trockenheit und Feuchtigkeit, in deren Harmonie die Gesundheit und das Leben der Menschen bestehet. Aus diesen so wenigen Stücken macht die Natur so viel verschiedene Mischungen, daß unter hundert tausend Men schen, welche gebohren werden, ein jeder eine beson dere und ihm so eigenthümliche Gesundheit hat, daß, wenn GOtt auf einmal durch ein Wunder die Verhältnisse dieser Hauptbeschaffenheiten untereinander änderte, alle hundertausend krank werden würden, ohne daß zwey bis drey darunter von ohngefehr einerley Mischung und Verhältniß der Hauptbeschaffenheiten erhalten hätten. Hier aus ziehen wir unumgänglich zwo Folgerungen. Die erste ist diese, daß jeder Mensch, welcher krank wird, nach seiner besondern und ihm eigenthümli chen Beschaffenheit kurirt werden muß, so daß er nimmermehr gesund werden wird, wenn der Arzt die Harmonie der Säfte und Hauptbeschaffen heiten nicht wieder herstellt, die vor seiner Krank heit in ihm gewesen ist. Die andere Folgerung 217
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ist diese, daß ein Arzt, wenn er dieses, wie es sich gehört, thun will, nothwendig den Kranken in sei nen gesunden Umständen oft gesehen und gekannt habe, daß er ihn an den Puls oft gefühlt, daß er seinen Urin und seine Gesichtsfarbe oft betrachtet habe, damit er sein Temperament daraus ersehen, und wenn er krank wird, wissen und urtheilen könne, um wie viel er jetzt von seiner Gesundheit entfernet sey, und wie weit er ihn in seiner Kur wieder bringen müsse. [] Zu dem ersten Stücke, die Theorie nämlich und den ganzen Umfang der Arzneygelahrheit einzusehen, wird, wie Galenus sagt, ein grosser Verstand und viel Gedächtniß erfordert; weil die Arzneykunst theils auf Gründe, theils aber auch auf Erfahrungen und einzelnen Fällen beruht. Zu jenem ist der Verstand unentbehrlich, und zu diesem das Gedächtniß. Da es aber etwas ungemein seltnes ist, daß diese beyden Fähigkeiten in einem starken Grade beysammen seyn sollten; so muß der Arzt nothwendig in der Theorie un vollkommen bleiben. Und giebt es nicht in der That unzählige Aerzte, welche grosse Lateiner, gros se Griechen, grosse Zergliederer, grosse Kräuter kenner sind, (als wobey es durchgängig auf das Gedächtniß ankömmt) und nicht das geringste wissen, sobald sie streiten, Gründe angeben, und die Ursache von einer jeden Wirkung (welches alles von dem Verstande abhänget) bestimmen sollen? Hingegen giebt es wiederum andere, welche in der Dialektik und in dem betrachtenden Theile
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ihrer Wissenschaft ein grosses Genie und viel Fähigkeit zeigen, in dem Lateinischen und Griechi schen aber, und in der Kenntniß der Kräuter, in der Anatomie es niemals zu etwas bringen, weil ihnen das Gedächtniß fehlet. Galenus sagt: *) διοτι πολυ πληθος ἀνθρωπων ἀσκουντων ἰατρικην τε και φιλοσοφιαν, ἐν οὐδετερᾳ κατορθουσιν, ἠ γαρ οὐκ ἐφυσαν καλως, ἠ{??} οὐκ επαιδευθησαν ὡς προσηκεν, ἠ οὐ κατεμειναν ἐν ταις ασκη- σεσιν, ἀλλ' ὐθι τας πωλιτικας πραjεις ἀπε- τραποντο. Das ist: ich wundere mich nicht, daß unter der grossen Anzahl derjenigen, welche sich auf die Arzneykunst und Weltweisheit legen, so wenige etwas rechtes darinnen thun. Zur Ursache führt er folgendes an: theils ist das Genie, welches diese Wissenschaften erfordern, sehr selten, theils fehlt es an Lehrern, von welchen sie gehörig unterrichtet werden könnten, theils wenden sie selbst nicht genugsamen Fleiß dabey an. Doch mit allen diesen Gründen trift Galenus nur die Sache obenhin, weil er den eigentlichen Grund, warum es so wenige in der Arzney kunst weit bringen, nicht weiß. [] Daß das Genie, welches die Arzneywissen schaft erfordert, unter den Menschen sehr selten sey, darinnen hat Galenus Recht, ob er die Ursache davon gleich nicht so eigentlich bestimmen kann, als wir es gethan haben. Diese nämlich besteht darinnen, weil es etwas sehr schweres ist, einen grossen Verstand mit einem starken Gedächtnisse 218
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zu verbinden, beyde Fähigkeiten aber nothwendig erfordert werden, wenn man in der Theorie der Arzneykunst vollkommen werden will. Weil ferner eine eben so grosse Unverträglichkeit zwi schen dem Verstande und der Einbildungskraft ist, als welcher, wie wir gleich beweisen werden, die Praxis zugehört; so ist es ein Wunder, wenn man einen Arzt findet, welcher ein gros ser Theoreticus und zugleich ein grosser Practicus sey, oder umgekehrt, welcher eine glückliche Praxis mit einer gründlichen Theorie verbinde. [] Daß aber die Einbildungskraft diejenige Fähigkeit sey, welche dem Arzte unentbehrlich ist, wenn er eines jeden Krankheit erkennen und derselben abhelfen will, ist sehr leicht zu erweisen, wenn man die Lehre des Aristoteles voraussetzt. Dieser sagt nämlich, daß der Verstand weder das Besondere erkennen, noch eines von dem andern unterscheiden, noch wißen könne, was die Zeit, der Ort und andre Besonderheiten sind, nach welchen ein Mensch von dem andern unterschieden ist, und also auch auf verschiedene Art kurirt werden muß. Die Ursache hiervon, wie sie die gemeinen Welt weisen anführen, soll diese seyn, weil der Verstand eine geistige Vermögenheit ist, und von den Be sonderheiten, welche in die Materie versenkt sind, keine Veränderungen leiden kann. Aristoteles sagt: die Sinne erkennen das Besondere; der Ver stand aber das Allgemeine. Da nun aber die Ku ren an jedem Menschen insbesondre, nicht aber an den Menschen überhaupt, geschehen, als welche
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überhaupt betrachtet, unveränderlich und keiner Verderbung unterworfen sind, so ist es offenbar, daß der Verstand eine Fähigkeit ist, welche bey dem Kuriren gar nicht angewandt werden kann. †) [] Die Schwierigkeit bestehet also nunmehr darinnen: warum Leute von grossem Verstande keine guten äusserlichen Sinne, das Besondere zu empfinden, haben können, da der Verstand und die äusserlichen Sinne gleichwohl von einander so sehr verschiedene Fähigkeiten sind? Die Ursache davon ist klar: weil die äusserlichen Sinne nicht wohl wirken können, wenn sie nicht von einer guten Einbildungskraft unterstützt werden. Die ses müssen wir aus der Meynung des Aristoteles beweisen, welcher, wenn er *) erklären will, was die Einbildungskraft sey, sagt, sie sey eine von einem äusserlichen Sinne verursachte Bewe gung, **) so daß, zum Beyspiel, die Farbe, welche sich von der gefärbten Sache trennt, das Auge verändert; und daß hernach diese Farbe, welche in der krystallischen Feuchtigkeit ist, weiter bis zu der Einbildungskraft hinein dringt, und in ihr eben dasjenige Bild hervorbringt, welches im Auge war. Fragt man nun, durch welches von diesen zwey Bildern man das Besondere 219 220 221
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erkenne, so sagen alle Weltweisen und zwar mit Grund, daß das zweyte Bild dasjenige sey, welches auf die Einbildungskraft wirke, und die Erkenntniß also aus allen beyden entstehe; nach dem bekannten Ausspruche der Weltweisen: ab obiectis et potentia paritur notitia. Aus dem ersten Bilde aber, welches in der krystalli schen Feuchtigkeit ist, und aus der blossen Ver mögenheit zu sehen, kann noch keine Erkennt niß entstehen, wenn nicht die Einbildungskraft dabey aufmerksam ist. Dieses beweisen die Aerzte unwidersprechlich, wenn sie es als einen Lehrsatz angeben, daß es ein Zeichen einer zer streueten, und in tiefe Betrachtungen vergrabe nen Einbildungskraft sey, wenn der Kranke bey Ausschneidung oder Verbrennung des Fleisches keine Empfindung habe. Οκοσοι πονεοντες τι του σωματος τα πολλα των πονων οὐκ ἀισϑα- νονται, τουτεοισιν ἡ γνωμη νοσεει. *) Sogar an gesunden Personen zeigt uns oft die Erfah rung, daß, wenn sie sich mit ihrer Einbildungs kraft allzusehr vertieft haben, sie auch das nicht sehen, was vor ihren Augen ist; sie hören nicht, wenn einer sie schon ruft; sie schmecken das Allerschärfste und Schmackhafteste nicht, wenn sie es schon essen. Es ist also unwidersprechlich, daß die Einbildungskraft dasjenige sey, welches das Besondere an den Dingen erkenne, und da von urtheile; und daß dieses nicht durch den Verstand oder durch die äusserlichen Sinne ge 222
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schehe. Und hieraus nun folget ganz deutlich, daß derjenige Arzt, welcher ein grosser Theoreti cus ist, es sey nun wegen seines grossen Verstan des oder wegen seines grossen Gedächtnisses, nothwendig ein schlechter Practicus seyn müsse, weil es ihm an der Einbildungskraft fehlt. Hin gegen muß derjenige, welcher ein geschickter Practicus ist, nothwendig ein ungeschickter Theo reticus seyn, †) weil er wegen der starken Ein bildungskraft, die er besitzt, nicht zugleich auch einen grossen Verstand und ein starkes Gedächt niß besitzen kann. Dieses ist also die Ursache, warum niemand in der Arzneykunst vollkommen werden, oder es in seinen Kuren dahin bringen kann, daß er niemals irre. Um niemals irren zu können, müßte man nicht nur die ganze Wis senschaft nach ihrem Umfange einsehen, sondern auch eine starke Einbildungskraft besitzen, die er kannte Wissenschaft allezeit gehörig anzuwen den; beyde Stücke aber, wie wir bewiesen ha ben, können unmöglich beysammen stehn. 223
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[] Nimmermehr wird ein Arzt diese oder jene Krankheit einsehen und kuriren können, wenn er nicht bey sich einen Schluß in Darii macht, ob er gleich ein blosser Empiricus ist. Der erste von den Vordersätzen darinnen hängt seinem Beweise nach von dem Verstande ab; der zweyte aber von der Einbildungskraft. Grosse Theoretici irren daher gemeiniglich in Minori; grosse Practici hingegen in Maiori. Zum Bey spiele mag folgender Schluß dienen: jedes Fie ber, welches seinen Grund in den kalten und feuchten Säften hat, muß mit hitzigen und tro ckenen Arzneymitteln vertrieben werden; das Fieber nun, welches diesen Kranken befallen hat, ist nach allen Merkmalen ein solches, welches aus den kalten und feuchten Säften entstehet; folglich muß es mit hitzigen und trockenen Arzney mitteln kurirt werden. Die Wahrheit des er sten Vordersatzes muß durch den Verstand be wiesen werden, weil er allgemein ist, nämlich da her, weil, wenn die Kälte und Feuchtigkeit ge mässiget werden soll, dieses durch nichts anders, als durch Wärme und Trockenheit geschehen kann, indem jede Beschaffenheit sich nur durch die gegenseitige Beschaffenheit schwächen läßt. Kömmt man aber auf den Beweis des andern Vordersatzes, so kann der Verstand nichts dabey thun, weil er nicht allgemein ist, und also einer andern Fähigkeit zugehört. Diese ist die Einbil dungskraft, welche durch die fünf äusserlichen Sinne die eigentlichen und besondern Merkma
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le der Krankheit muß erkannt haben. Wenn nun diese Merkmale von der Wärme oder ihrer Ursache hergenommen werden müssen, so kann sie der Verstand unmöglich erkennen: denn dieser lehrt bloß, daß man die Merkmale daher nehmen müsse, woraus die meiste Gefahr zu be sorgen sey. Welches Merkmal aber das größ te sey, dieses kann bloß die Einbildungskraft errei chen, indem sie den Schaden des Fiebers mit dem Schaden der Symptomen und der Ursache, nach ihrer Stärke und Schwäche, vergleicht. Zu dieser Erkenntniß zu gelangen, besitzt die Eiinbildungskraft gewisse Eigenschaften, die sich nicht beschreiben lassen, und vermittelst welcher sie Sachen erreicht, die sich weder ausdrücken, noch begreifen, noch durch irgend eine Kunst er lernen lassen. Sehen wir nicht unzäligmal, daß ein Arzt einen Kranken zu besuchen kömmt, und durch das Gesicht, durch das Gehör, durch den Geruch und das Gefühl Sachen erräth, welche ganz unmöglich zum errathen schienen, so daß er selbst, wenn man ihn fragen sollte, auf was Wei se er zu einer so verborgenen und geheimen Kenntniß gelange, die Ursache davon nicht ange ben könnte; weil es eine Geschicklichkeit ist, die aus der Fruchtbarkeit der Einbildungskraft ent steht. Jn der lateinischen Sprache wird sie solertia genannt, und ihre Stärke besteht darin nen, daß sie aus gemeinen, ungewissen, verän derlichen und muthmaßlichen Kennzeichen in ei nem Augenblicke tausend Verschiedenheiten an
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Dingen wahrnehmen kann, als worinnen das Hauptwerk des Kurirens und der gewissen Vor herverkündigungen besteht. [] Diese Art der Scharfsichtigkeit fehlt Leuten von grossem Verstande, weil sie ein Theil der Einbildungskraft ist. Wenn sie also schon die Zeichen vor den Augen haben, woraus sie den Zustand der Krankheit schliessen könnten, so ha ben sie doch keine Wirkung auf ihre Sinne, weil mit ihren Sinnen die Einbildung nicht stark genug wirkt. Es fragte mich einsmals ein Arzt ganz im Vertrauen, woher es doch kom men müsse, daß niemals eine einzige von seinen Vorhersagungen eintreffen wolle, ob er gleich mit aller möglichen Neugierde die Grundsätze und Regeln der medicinischen Prophezeyhungs kunst studirt habe, und darinnen nicht wenig gethan zu haben glaube? So viel ich mich erinnere, antwortete ich ihm: es käme daher, weil eine andere Fähigkeit erfordert würde, die Arzneykunst zu fassen, und eine andere, sie aus zuüben. Er hatte einen grossen Verstand, aber wenig Einbildungskraft. [] Bey dieser Lehre aber kömmt eine sehr gros se Schwierigkeit vor, diese nämlich: wie es möglich ist, daß Leute von grosser Einbildungs kraft die Arzneykunst erlernen können, da ihnen gleichwohl der Verstand fehlt? Und was es ihnen hilft, daß sie dieselbe in den Schulen müh sam erlernen, wenn es wahr ist, daß sie in ihren Kuren glücklicher sind, als die allergelehrtesten
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Aerzte? Hierauf antworte ich, daß es ein sehr wichtiger Punkt sey, vorher die Arzneykunst zu lernen, weil ein Mensch in zwey bis drey Jah ren alles dadurch lernt, worauf die Alten kaum in zweytausend Jahren kommen konnten. Wenn ein Mensch dieses bloß durch die Erfahrung ler nen sollte, so müßte er wenigstens dreytausend Jahr leben, und durch Versuchung der Arzney mittel, ehe er ihre Eigenschaften kennen lernte, eine unendliche Anzahl Menschen ins Grab schi cken. Dieses aber hat er nicht nöthig, wenn er die Schriften der vernünftigsten und erfahren sten Aerzte, die vor ihm gelebt haben, lieset, weil diese darinnen alles aufgezeichnet, was sie Zeit ihres Lebens erfunden und bemerkt haben, damit angehende Aerzte gewisse Sachen sicher brau chen, andere aber als schädlich sorgfältig vermei den können. Ueberdieses muß man auch wis sen, daß die allgemeinen und ganz bekannten Sachen, worauf es bey dem Werke selbst am meisten ankömmt, in allen Künsten sehr deutlich und leicht zu begreifen sind: daß hingegen die allerfeinsten, verborgensten und schwersten Sa chen gleich diejenigen sind, die man bey dem Ku riren am allerersten entbehren kann. Da nun also Leute von grosser Einbildungskraft doch nicht ganz und gar ohne Verstand und ohne Gedächt niß sind, so können sie schon durch den gerin gern Grad dieser zwo Fähigkeiten das allernö thigste in der Arzneykunst begreifen, weil es das allerleichteste ist. Mit ihrer starken Einbildungs
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kraft hingegen können sie nicht nur die Krank heit und ihre Ursache weit besser einsehen, als die allergelehrtesten Aerzte, sondern sie fallen auch weit leichter auf das Hülfsmittel, welches dabey nothwendig angewendet werden muß: und auf diesen beyden Stücken beruht die ganze Praxis. Galenus*) sagt daher: das eigenthümliche Bey wort eines Arztes sey: ein Erfinder der Ge legenheit. Die Zeit aber, den Ort und die Gelegenheit zu erkennen, dieses sind unwider sprechlich Wirkungen der Einbildungskraft, weil es auf Verhältnisse und Uebereinstimmungen dabey ankömmt. [] Da aber die Einbildungskraft so viel ver schiedene Arten unter sich begreift, so kömmt es nunmehr darauf an, daß wir genau bestimmen, welcher von diesen Arten die Ausübung der Arzney wissenschaft eigentlich zugehöre, indem nicht alle in allen Stücken mit einander übereinkommen. Diese Untersuchung hat mir mehr Arbeit und Ermüdung des Geistes verursacht, als alle übrige Untersuchungen: dem ohngeachtet aber habe ich ihr den Namen, der ihr zugehört, noch nicht geben können. So viel glaube ich ergründet zu haben, daß sie eine Hitze erfordert, welche einen Grad geringer, als diejenige Hitze ist, mit welcher die Einbildungskraft Verse und Reime macht. Doch auch hiervon bin ich noch nicht ganz über zeugt, weil ich angemerkt habe, daß fast alle gute 224
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Practici sich mit der Poesie ein wenig abgeben, doch so, daß ihre Verse eben nicht allzutiefsinnig und allzu bewundernswürdig sind. Dieses kann daher kommen, weil die Hitze bey ihnen den Grad, wel chen die Poesie erfordert, übersteigt. Und wenn dieses die Ursache ist, so muß die Hitze so groß seyn, daß sie die Substanz des Gehirns ein wenig verbrenne, die natürliche Wärme aber nicht allzu sehr auflöse. Wenn sie auch schon ein wenig weiter geht, so verursacht sie doch noch kein übles Genie zur Arzneykunst, weil sie alsdann durch die Ver brennung den Verstand mit der Einbildungskraft verbindet. Keine Einbildungskraft aber kann zum Kuriren so vortreflich seyn, als die, welche ich eben jetzt aufsuche, und welche den Menschen zu einem Zauberer, zu einem Hexenmeister, zu einem Beschwörer, zu einem Chiromanten, zu ei nem Nativitätsteller, zu einem Wahrsager macht; weil die menschlichen Krankheiten oft so verborgen sind, und ihre schädlichen Wirkungen so heimlich verrichten, daß man beständig dabey rathen und prophezeyhen muß. [] Diese Art der Einbildungskraft ist in Spa nien sehr schwer zu finden; weil die Einwohner dieses Reichs, wie wir bewiesen haben, ein schwa ches Gedächtniß und eine schwache Einbildungs kraft, hingegen aber einen grossen Verstand haben. Auch die Einbildungskraft derjenigen, welche wei ter gegen Norden wohnen, taugt zur Arzney wissenschaft nichts, weil sie allzulangsam und träge ist, und zu weiter nichts dient, als zum Uhrmachen,
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zum Mahlen und zu andern Künsteleyen, die den Menschen wenig Nutzen schaffen. [] Das einzige Egypten ist dasjenige Reich, welches seine Einwohner mit dieser Art Einbil dungskraft läßt gebohren werden. Daher können uns auch die Geschichtschreiber nicht genug be schreiben, was für Hexenmeister die Zigeuner sind, mit was für Geschicklichkeit sie eine jede Sache errathen, und mit was für Fertigkeit sie allen ihren Bedürfnissen abhelfen können. Wenn Josephus die Weißheit des Salomo recht hoch erheben will, so spricht er: die Weißheit und Klugheit, welche Salomo von GOtt bekommen hatte, war so groß, daß er alle, die vor ihm gelebt und sogar die Egypter, welche für das allerweiseste Volk gehalten werden, weit übertraf. Plato sagt, die Egypter wären unter allen Menschen auf der Welt die geschicktesten, ihr Brod zu verdienen. Diese Geschicklichkeit aber gehört der Einbildungs kraft zu. Die Wahrheit hiervon erhellet noch deutlicher, wenn man überlegt, daß alle Wissen schaften, welche von der Einbildungskraft abhän gen, in Egypten sind erfunden worden; als die Mathematik, die Astrologie, die Rechenkunst, die Perspektiv, die Wissenschaft künftige Dinge vor her zu verkündigen und viele andre. [] Was mich aber hierinnen am meisten bestärkt, ist folgendes Beyspiel. Der König von Frankreich, Franciscus von Valois, stand eine sehr langwierige Krankheit aus. Als er nun sah, daß alle Aerzte
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an seinem Hofe und in seinem ganzen Lande ihm nicht zu helfen im Stande wären, so sagte er allezeit, so oft die Hitze des Fiebers überhand nahm, es wäre nicht möglich, daß ihm ein christlicher Arzt kuriren könnte, und er habe sich aller Hofnung auf sie auch schon begeben. Einsmals als er ganz ver zweifeln wollte, daß er sich Zeit Lebens von dem Fieber sollte martern lassen, befahl er, man sollte ei nen Curier nach Spanien schicken, den Kayser Carl den fünften zu bitten, daß er ihm den geschicktesten jüdischen Arzt, den er an seinem Hofe habe, zu schicken solle, weil er gewiß glaube, daß ihn dieser gesund machen werde, wenn ihn anders menschli che Kunst gesund machen könne. Man lachte in Spanien nicht wenig über diese Bitte, und man sah gar wohl, daß es ein Einfall eines fieberhaften Kranken sey. Unterdessen befahl der Kaiser gleichwohl, einen solchen Arzt aufsuchen zu lassen, wenn es auch ausser seinem Königreiche geschehen müsse. Zum Unglücke aber konnte man keinen auftreiben, und mußte also an seiner Statt einen angehenden christlichen Arzt schicken. Als dieser nach Frankreich kam, und dem Könige vorge stellt ward, so fiel zwischen beyden ein sehr artiges Gespräch vor. Jn diesem Gespräche entdeckte der König, daß der Arzt ein Christ sey, und wollte sich also von ihm durchaus nicht kuriren lassen. Er entdeckte es aber folgender Gestalt, indem er den Arzt, in Meynung er sey ein Jude, beyläufig einmal fragte: ob er es nicht einmal satt sey, auf den im Gesetze versprochenen Meßias zu hoffen?
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Der Arzt. Jch, Sire? Jch hoffe auf kei nen Meßias, der in dem jüdischen Gesetze ver sprochen wird. Der König. Und darinnen verfahrt ihr sehr klug, indem die in der heiligen Schrift angegebe nen Zeichen, woraus man seine Ankunft schliessen soll, schon vor langer Zeit erfüllt sind. Der Arzt. Und diese Zeit wissen wir Christen ganz genau. Jetzt sind es tausend, fünf hundert und zwey und vierzig Jahr, daß der Meßias in die Welt kam. Drey und dreyßig Jahr blieb er in der Welt und ward mit Ausgange des drey und dreyßigsten Jahres gekreutziget. Am dritten Tage aber stand er wieder auf, und fuhr hernach gen Himmel, wo er noch ist. Der König. Jhr seyd also ein Christ? Der Arzt. Sire, GOtt sey Dank, das bin ich! Der König. So? Kehret nur also, sobald wie möglich, in euer Vaterland wieder zurück. Jch habe in meinem Lande und an meinem Hofe christliche Aerzte genug. Jch habe euch für einen Juden gehalten; denn nur die Juden, nach meiner Meynung, sind diejenigen, welche eine natürliche Fähigkeit zum Kuriren haben. — — Auf solche Art schickte der König den Arzt wieder fort, ohne daß er sich von ihm auch nur den Puls berühren, oder den Urin besehen ließ, ohne daß er ein einziges Wort von seiner Krankheit mit ihm redete. Er schickte hierauf sogleich nach Constantinopel und ließ einen Juden kommen; welcher ihm auch gar bald
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durch Eselsmilch wieder zu seiner Gesundheit verhalf. [] Diese Einbildung des Königs Franciscus hat, so viel ich einsehe, ihren guten Grund; und was mich am meisten davon überzeugt, ist dieses, weil die Einbildungskraft, wie wir oben bewiesen haben, durch übermäßige Erhitzungen des Gehirns Sachen einzusehen im Stande ist, die sie nim mermehr bey dem gesunden Zustande des Men schen erreichen konnte. Damit es aber nicht scheine, als sagte ich dieses bloß zum Scherz, ohne einen Grund davon in der Natur angeben zu können; so soll man wissen, daß überhaupt die Verschiedenheit der Menschen, sowohl in Anse hung der Gestalt ihres Körpers, als in Ansehung ihres Genies und der übrigen Eigenschaften der Seele, daher entsteht, weil sie Gegenden von ver schiedener Temperatur bewohnen, weil sie verschie denes Wasser trinken, und nicht alle einerley Nah rungen brauchen. Plato*) spricht: οἱ μεν που γε δια πνευματα παντοια και εἱλησεις, ἀλ- λοκοτοιτε εἰσι, και ἀνειδεοι ἑαυτων!οἱ μεν δἰ ὑδατα, οἱ δε δια την ἐκ της γης τροφην ἀναδιδουσαν, οὐ μονον τοις σωμασιν ἀμεινον και χειρον, ταις ψυχαις δε οὐχ ἡττον δυ- ναμενην παντα τα τοιαυτα ἐμποιειν. Das ist: die Menschen sind von einander ver schieden, weil sie verschiedenen Winden und Lüften ausgesetzt sind, weil sie verschiedenes Wasser trinken, und weil sie nicht alle ei nerley Nahrung zu sich nehmen: diese Ver 225
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schiedenheit aber befindet sich nicht allein in den Gesichtern und in der Gestalt der Körper, son dern auch in den Genies der Seelen. Wenn wir also beweisen werden, daß das Jsraelitische Volk lange Zeit in Aegypten gewesen, und daß es, als es wieder herausgezogen, nichts als sol ches Wasser und solche Speisen genossen, wel che durchaus geschickt sind, diese Verschiedenheit der Einbildungskraft hervorzubringen, so werden wir zugleich gedachte Meynung des Königs von Frankreich bewiesen haben. Bey Gelegenheit werden wir zugleich erkennen lernen, was man für Genies, und was man für Leute in Spa nien, die Arzneykunst zu treiben, wählen müsse. [] Was das erstere anbelangt, so muß man wis sen, daß, als AbrahamGOtt um ein Zeichen bat, woran er es merken könnte, daß er oder seine Nachkommen das versprochene Land besitzen wür den, er in einen tiefen Schlaf verfiel, worinnen ihm, wie die Schrift sagt, GOtt folgendermaassen anwortete: das sollt du wissen, daß dein Saame wird fremde seyn in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen, und plagen vier hundert Jahr. Aber ich will richten das Volk, dem sie dienen müssen. Darnach sollen sie ausziehen mit grossem Gut. (1 Mos. XV.) Diese Prophezeyhung ward auch genau erfüllt, ob gleich GOtt gewissermaassen noch dreyssig Jahre hinzufügte, wie die Schrift (2. Mos. XII.) sagt: die Zeit aber, die die Kinder Jsrael in
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Aegypten gewohnt haben, ist vier hundert und dreyßig Jahr. Da dieselben um waren, ging das ganze Heer des HErrn auf einen Tag aus Aegyptenland. Diese Stelle sagt zwar offenbar, daß das Volk Jsrael vier hundert und dreyssig Jahr in Aegypten gewesen sey, eine Glosse aber merkt an, daß diese Jahre von der gan zen Zeit zu verstehen wären, welche das Volk her umgeirret sey, ehe es zu dem Besitze des versproche nen Landes habe gelangen können; in Aegypten selbst aber sey es nicht länger, als zwey hundert und zehn Jahre gewesen. Diese Erklärung stimmt mit dem nicht allzuwohl überein, was der Proto martyr, der h. Stephanus, in seiner an die Jüden gerichteten Rede sagt, daß nämlich das Volk Jsrael vier hundert und dreyssig Jahr in der Knecht schaft Aegyptens gewesen wäre. [] Ob nun schon der Aufenthalt von zwey hundert und zehn Jahren genug war, dem Volke Jsrael alle Eigenschaften Aegyptens eigen zu machen, so war doch auch die übrige Zeit nicht verlohren, son dern wurde zur völligen Ausbildung des jüdischen Genies erfordert; weil diejenigen, welche in der Knechtschaft, in Betrübniß und Elend, und in fremden Landen leben müssen, viel verbrannte Cholera in sich erzeugen, indem sie keine Freyheit zu reden, noch sich wegen des erlittenen Unrechts zu rächen, haben. Diese Feuchtigkeit aber, wenn sie verbrannt ist, ist das Werkzeug der Bosheit, List und Tücke. Man sieht auch daher aus der Erfahrung, daß niemand schlimmere Eigenschaf
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ten und Sitten hat, als ein Sclave, dessen Einbil dung sich mit nichts anders beschäftigt, als wie er seinem Herrn Schaden zufügen, und sich in die Freyheit versetzen wolle. [] Das Land übrigens, durch welches das Jsrae litische Volk zog, war von den Beschaffenheiten Aegyptens nicht viel verschieden noch entfernt; da her auch GOtt dem Abraham, in Ansehung sei nes schlechten Zustandes und seiner Unfruchtbar keit, versprach, daß er ihm ein reicheres und frucht bareres Land geben wolle. Es ist aber sowohl in der gesunden Philosophie, als in der Erfahrung eine höchst gegründete Anmerkung, daß die schlechten und unfruchtbaren Gegenden, welche weder fett noch an hervorgebrachten Früchten reich sind, Menschen von einem sehr scharfsinnigen Genie erzeugen. Die fetten und fruchtbaren Gegen den hingegen erzeugen Leute, die zwar ansehnlich von Person, muthig und von vieler körperlichen Stärke, ihrem Genie aber nach ungemein trä ge sind. [] Von Griechenland können die Geschicht schreiber nicht genug erzählen, wie ausnehmend geschickt diese Gegend sey, Leute von grossen Fähig keiten hervorzubringen: besonders sagt Galenus, *) daß es ein Wunder sey, wenn in Athen ein dum mer Mensch gebohren würde, ob es schon die allerelendeste und unfruchtbarste Gegend in ganz Griechenland sey. Hieraus also ist zu schliessen, daß das Jsraelitische Volk sowohl durch die Be 226
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schaffenheiten Aegyptens als der übrigen Länder, durch welche es zog, ein sehr scharfsinniges Genie bekommen habe. Man muß aber auch wissen, woher es komme, daß die Temperatur in Aegypten diese Art der Einbildungskraft hervorbrin gen könne. Die Ursache ist ungemein deut lich, sobald man weiß, daß in dieser Gegend die Sonne sehr heiß brennt; daß also die Einwohner ein verbranntes Gehirn und viel verbrannte Cho lera haben müssen, welche das Werkzeug der List und Verschlagenheit ist. Aristoteles*) fragt daher: δια τι οἱ Αιθιοπες και οι Αιγυπτιοι βλαισοι εἰσιν; das ist: warum die Aethioper und die Einwohner Aegyptens krumbeinicht, dicklippicht und plattnäsicht sind? Er antwortet auf diese Frage: weil die allzugrosse Hitze der Gegend die Sub stanz dieser Glieder austrockne, und sie also krumm mache; so wie das Leder krumm läuft, wenn es zum Feuer gebracht wird; aus eben diesem Grunde liefen auch ihre Haare krumm, die, wie man weiß, ganz kraus und unrein sind. Daß ferner die jenigen, welche in warmen Ländern gebohren wer den, weit klüger sind, als die Einwohner kalter Länder, dieses haben wir schon nach der Mey nung des Aristoteles bewiesen, welcher die Frage aufwirft: **) δια το οἱ ἐν τοις θερμοις το- ποις, σοφωτεροι εἰσιν, ἠ οἱ ἐν τοις ψυχροις; warum die Bewohner warmer Gegenden klüger sind, als die Bewohner kalter Länder? Al 227 228
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lein er weiß auf diese Frage nicht gehörig zu antworten, weil er keinen Unterschied zwischen der Weisheit macht, deren man nothwendig, wie wir im Vorhergehenden bewiesen haben, zwey Arten annehmen muß. Die eine ist diejenige, von welcher Plato sagt: die Wissenschaft, die sich von der Gerechtigkeit entfernt, ist eher Ver schlagenheit als Weisheit zu nennen. Die an dere ist diejenige, welche schlecht und recht, oh ne Falschheit und Trug ist. Diese allein ver dienet den Namen der Weisheit, weil sie be ständig von der Wahrheit und Gerechtigkeit be gleitet wird. Die Bewohner warmer Länder sind weise nach der ersten Art der Weisheit; und von dieser Gattung sind die Aegypter. [] Laßt uns nunmehr betrachten, was das jüdi sche Volk, nachdem es aus Aegypten gezogen, für Speise gegessen und für Wasser getrunken habe, und von was für Temperatur die Luft, durch welche sie reisen mußten, gewesen sey. Aus dieser Betrachtung werden wir erkennen lernen, ob es durch angeführte Stücke das Genie, wel ches es mit aus der Gefangenschaft nahm, ver änderte oder mehr und mehr stärkte. Ganzer vierzig Jahre, wie die Schrift sagt, (2. B. Mos. XVII.) speisete GOtt dieses Volk mit Manna, mit der zartesten und schmackhaftesten Speise, die jemals ein Mensch auf der Welt genossen hat. Ja sein Geschmack war so vortreflich, daß Moses (2. B. Mos. XVI.) seinem Bruder Aaron be fahl, ein Gefässe damit zu füllen, und es in der
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Bundeslade aufzubewahren, damit die Nachkom men dieses Volks, wenn sie in dem verheissenen Lande seyn würden, sehen könnten, mit was für köstlichem Brodte ihre Väter in der Wüsten wären gespeiset worden, und wie schlecht sie ihm für solche herrliche Mahlzeiten gedankt hätten. Damit aber auch wir, die wir diese Speise nicht gesehen haben, uns von ihrer Güte einen Begrif machen können, so wird es dienlich seyn, daß wir das Manna, wel ches die Natur hervorbringt, genau beschreiben. Wenn wir alsdenn noch eine Annehmlichkeit mehr hinzuthun, so werden wir uns ihre Vortreflichkeit vollkommen vorstellen können. [] Die Causa materalismaterialis, welche das Manna er zeugt, ist eine sehr zarte Dunst, welche die Sonne aus der Erde durch die Gewalt ihrer Hitze herauszieht. Diese Dunst steigt in die höhere Luft, wo sie voll kommen zubereitet wird; wenn aber die Kälte der Nacht dazu kömmt, so zieht sie sich zusammen und wird fest, und fällt vermöge ihrer Schwere wieder auf die Bäume und Steine herab, wo man sie auflesen und hernach in Töpfen zum Ge brauch aufheben muß. Man nennt sie mel ro- scidum er aëreum, weil sie mit dem Thaue eine grosse Gleichheit hat, und aus der Luft erzeugt wird. Ihre Farbe ist weiß; ihr Geschmack ist süß, wie Honig, und ihrer Figur nach gleicht sie dem Ko riander. Eben diese Beschreibung macht die heil. Schrift von dem Manna, welches das Jsraeli tische Volk aß; ich vermuthe also, daß beyde von einerley Beschaffenheit gewesen sind. Wenn aber das Manna, welches GOtt erschuf, von
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einer noch weit feinern Substanz gewesen ist, so werde ich hierdurch nur noch mehr in meiner Meynung beftärktbestärkt, weil ich allezeit geglaubt ha be, daß sich GOtt so lange natürlicher Mittel bedienet, so lange er mit natürlichen Mitteln das, was er will, verrichten kann; und daß er nur da, wo es der Natur an etwas fehlt, sei ne Allmacht anwendet. Jch sage dieses deswegen, weil es schon in der natürlichen Beschaffenheit des Landes gegründet zu seyn scheinet, daß GOtt den Jsraeliten in der Wüste Manna zur Spei se gab, indem dieses Land noch bis jetzt das vor treflichste Manna von der Welt hervorbringt; ich läugne aber hiermit nicht, daß GOtt durch das Manna etwas besonders habe anzeigen wol len. Galenus sagt: *) auf dem Berge Liba non, welcher nicht weit von dieser Gegend ist, würde es in solcher Menge und von solcher Gü te hervorgebracht, daß die Landleute in ihren Liedern zu singen pflegten: Jupiter liesse in die sem Lande Milch regnen. Οιδαδε ποτε θε- ρους ὡρα πλειϛον ὁσον ἐπι τοις των δενδρων, και θαμνων και τινων βοτανων φυλλοις ἑυ- ρεθεν, ὡς ὑπο των γεωργων λεγεϛθαι παι- zοντων, ὁ zευς ἐβρεjε μελι! προηγειτο γαρ νυj μεν ἐυψυχης, ὡς ἐν θερει!θερους γαρ ἠν ὡρα τυνικαυτα, θερμη δε και jηρα κρασις ἀε- ρος ἐπι της προτεραιας!ἐδοκει τοινυν τοις δει- νοις περι φυσιν, ἐ κ τ η ς γ η ς δ ε κ α ι τ ω ν ὑ δ α τ ω ν ἀ τ μ ο ν ἀ κ ρ ι β ω ς λ ε π τ υ ν θ ε ν τ α κ α ι π ε φ θ ε ν τ α 229
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προς της ἡλιακης θερμοτητος, ὑπο της ἐπι- γενομενης ἐπι της νυκτος ψυjεως ἀθροισ- θηναι πιληθεντα!παρ' ἡμιν μεν οὐν σπανιως φαινεται τουτω γινομενον, ἐ ν δ ε τ ῳ ὀ ρ ε ι τ ῳ Λ ι β α ν ῳ κ α τ ' ἑκαϛον ἐτος οὐκ ὀλιγον! ὡ ϛ ε ἐ κ π ε τ α ν υ ν τ ε ς ἐ π ι γ η ς δ ε ρ μ α τ α κ α ι σ ε ι ο ν - τες τα δενδρα, δεχονται το ἀπορρεον ἀπ' ἀυτων, και χυτρας και κεραμια πληρουσι του μελιτος!ὀνομαzουσι δ' ἁυτο δροσομελι τε και ἀερομελι. [] Ob es nun gleich wahr ist, daß G O T T das Manna auf eine wunderbare Weise erschuf, weil es nur an den bestimmten Tagen und nur zu den gesetzten Stunden in so grosser Menge da war; so kann es dennoch von eben der Be schaffenheit gewesen seyn, als das Manna ist, welches wir kennen: so wie das Wasser, wel ches Moses aus dem Felsen schlug, und das Feuer, welches Elias vom Himmel fallen ließ, natürliches Wasser und natürliches Feuer war, obgleich beydes durch ein Wunder herbey kam. Das Manna, welches die Schrift (B. Mos. XVI.) beschreibt, war wie der Thau: es war wie Koriandersaamen und weiß; und hatte einen Geschmack wie Semmel mit Honig. Eben diese Eigenschaften hat auch das Manna, welches die Natur hervorbringt. †) 230
|| [0315.01]
[] Das Temperament dieser Nahrung, sagen, die Aerzte, ist warm, und ihre Substanz beste het aus zarten und sehr feinen Theilchen. Eben
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diese Zusammensetzung mußte auch das Manna haben, welches die Hebräer in der Wüsten as sen: denn wie hätten sie sich sonst über seine allzugrosse Feinheit beklagen und sagen können? unserer Seele ekelt über dieser losen Spei se. Was wollten sie damit anders sagen, als dieses: unser Magen kann eine so leichte Nah rung nicht vertragen. Die Ursache davon war, weil sie starke Magen hatten, welche zu Kohl, Knoblauch und Zwiebeln gewöhnt waren, und eine Speise von so wenig Widerstande, womit sie sich sollten begnügen lassen, in lauter Chole
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ra verwandelten. Galenus*) besiehltbefiehlt daher, daß diejenigen, welche viel natürliche Wär me hätten, kein Honig oder andere derglei chen leichte Speisen essen sollten, weil sie dieselben, anstatt zu verdauen, so verderbten, daß sie wie Rus verbrennten. Eben dieses widerfuhr den Hebräern mit dem Manna, welches sich in nichts als eine verbrannte Cholera verwan delte, so daß sie ganz trocken und mager wurden, weil diese Speise nicht Festigkeit genug hatte, sie satt zu machen. Unsere Seele, klagten sie daher, ist matt: denn unsere Augen se hen nichts, denn das Manna. [] Das Wasser, welches sie bey dieser Spei se tranken, war so beschaffen, als sie es verlang ten. Wenn sie es aber nicht so antrafen, so hatte GOtt dem Moses (2. B. Mos. XV.) ein Holz von so göttlicher Kraft gezeigt, daß, wenn er es in schweres und bitteres Wasser warf, das Wasser sogleich leicht und von dem angenehm sten Geschmacke ward. Wenn sie ferner gar kein Wasser antrafen, so nahm Moses (2. B. Mos. XVI.) die Ruthe, mit welcher er durch das rothe Meer zwölf Wege eröfnet hatte, und schlug damit gegen die Felsen; sogleich sprang klares und süsses Wasser heraus, so gut als es nur der Geschmack des Volks verlangen konnte. Der heil. Paulus sagt daher: von 231
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dem Fels, der mit folgte; womit er so viel sagen will: das Wasser, welches der Fels her gab, folgte allezeit ihrem Verlangen nach, in dem es so, wie sie es wünschten, klar, süsse und schmackhaft war. Jhr Magen aber war ge wohnt, schweres und bitteres Wasser zu trinken, weil in Aegypten, wie Galenus*) erzählt, das Wasser so schlecht und verderbt ist, daß man es erst abkochen muß, ehe man es trinken kann. Da sie also lauter reines und leichtes Was ser bekamen, so mußte es sich in ihrem Magen nothwendig in Cholera verwandeln, weil es all zuwenig Widerstand thun konnte. Das Was ser, sagt Galenus, **) wenn es von dem Magen gehörig verdauet werden, und nicht darinnen verderben soll, muß mit den derben Speisen, die man genießt, von einerley Beschaffenheit seyn. Wenn der Magen stark ist, so muß man ihm auch verhältnißweise starke Speisen geben; ist er aber schwach und zärtlich, so müssen auch die Speisen darnach eingerichtet seyn. Ein glei ches muß man mit dem Wasser beobachten. Wir sehen daher aus der Erfahrung, daß ein Mensch, welcher schweres Wasser zu trinken gewohnt ist, niemals seinen Durst mit leichtem Wasser wird stillen können. Der Magen wird es nicht einmal empfinden, und seine Trocken heit wird zunehmen, weil die allzuunmässige Hi tze desselben leichtes Wasser verbrennt, und es, 232 233
|| [0319.01]
sobald es hinein kömmt, in Ansehung des we nigen Widerstandes, den es thun kann, auflöset. [] Von der Luft, welche die Jsraeliten in der Wüsten schöpften, können wir gleichfalls sagen, daß sie sehr rein und fein war. Denn da sie über Berge und durch unbewohnte Gegenden zogen, so fanden sie alle Augenblicke eine frische, reine und unangesteckte Luft, besonders, da sie sich an keinem Orte lange aufhielten. Die Luft war übrigens (2. Mos. XIII.) beständig ge mässigt, indem sich des Tags eine Wolke vor die Sonne stellte, welche die Gewalt ihrer Strah len schwächte, des Nachts aber eine Feuersäule vor ihnen herzog, welche die Luft gleichfalls in ei ner beständigen Gleichheit erhielt. Durch den Genuß einer solchen Luft aber, sagt Aristoteles*) wird das Genie ungemein belebt. Η ἀριϛη κρασις και τῃ διανοιᾳ συμφερει. [] Wenn wir nunmehr überlegen, was sich bey den Mannspersonen dieses Volks für ein feiner und verbrannter Saame müsse abgesondert ha ben, da sie nichts als Manna assen, nichts als solches Wasser, wie wir es beschrieben haben, tranken, und beständig eine so lautere und reine Luft athmeten; was ferner die Weibspersonen für ein zartes und reines monatliches Blut müs sen gehabt haben: wenn man, sage ich, dieses überlegt, und sich zugleich auf das besinnt, was Aristoteles*) sagt, daß nämlich, wenn das mo 234 235
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natliche Blut zart und rein wäre, das Kind, welches daraus erzeugt würde, ein Mensch von einem sehr scharfsinnigen Geiste werde. Wie viel daran gelegen sey, daß die Väter, wenn sie fähige Söhne erzeugen wollen, sich zarter Spei sen bedienen, werden wir in dem letzten Haupt stücke dieses Werks weitläuftig beweisen. Da nun alle Hebräer einerley Speise genossen, wel che so fein und geistig war, da sie einerley Was ser tranken; so mußten auch alle ihre Kinder und Nachkommen scharfsinnig und Leute von grossen Fähigkeiten in allen Welthändeln werden. [] Als aber das Jsraelitische Volk in den Be sitz des ihm verheissenen Landes nunmehr gesetzt war; so mußten sie bey ihrem, wie wir gesagt, so scharfsinnigen Genie so viel Mühseligkeiten, Theurungen, feindliche Einfälle, Unterwerfun gen, Knechtschaften und Verfolgungen ausste hen, daß sie durch dieses elende Leben jenes war me, trockene und verbrannte Temperament, von welchem wir geredt haben, erhielten, ob sie es gleich weder mit aus Aegypten, noch aus der Wüsten gebracht hatten. Eine beständige Trau rigkeit, und ein beständiges Elend macht, daß sich die Lebensgeister und das Pulsadernblut so wohl in dem Gehirn, als in der Leber und in dem Herzen häufen, und sich endlich, weil im mer mehr und mehr darzu kommen, unterein ander verbrennen und verzehren. Sie erregen daher sehr oft hitzige Fieber; und das Gewöhn lichste ist, daß sie viel schwarze und verbrannte
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Galle erzeugen. Von dieser schwarzen Galle haben fast alle Juden noch bis jetzt sehr vieles, indem nach dem Ausspruche des Hippokrates: *) φοβος ἠ δυσϑυμιη πουλον χρονον διατελεη, με- λαγχολικον το τοιουτον. Diese verbrannte Cholera ist, wie wir in dem Vorhergehenden bewiesen haben, das Werkzeug der Verschla genheit, der List und der Bosheit. Sie ist al so auch zu den medicinischen Vermuthungen sehr geschickt; und mit ihr läßt sich die Krankheit, ihre Ursache, und das MitttelMittel, ihr abzuhelfen, ausfindig machen. Der König Franciscus traf also die Sache vortreflich, und sein Einfall war weder eine Raserey, noch eine Eingebung des Teu fels. Durch das anhaltende starke Fieber aber, durch die Traurigkeit sich krank und hülflos zu sehen, wurde das Gehirn verbrannt, und seine Einbildungskraft auf einen höhern Grad getrie ben, so daß sie dasjenige Temperament erhielt, mit welchem, wie wir oben bewiesen haben, ein Mensch sogleich auf Sachen fallen kann, die er niemals gelernt hat. [] Gegen alles das aber, was wir bisher ge sagt haben, kann uns eine sehr grosse Schwie rigkeit gemacht werden, diese nämlich: wenn die Kinder und Nachkommen der Jsraeliten, wel che in Aegypten gewesen sind, Manna gegessen und das reinste Wasser, so wie die feinste Luft genossen haben, sich mit Wahl auf die Arzneykunst 236
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gelegt hätten, so könnte die Meynung des Königs Franciscus aus angeführten Gründen einige Wahr scheinlichkeit haben; daß aber diese Nachkommen, die von dem Manna, von dem reinen und leichten Wasser, von der lautern Luft, von den in der babylonischen Gefangenschaft erlittenen Trüb salen verursachten Beschaffenheiten bis auf den heutigen Tag sollten beybehalten haben, ist eine ganz unbegreifliche Sache. Denn da in vier hun dert und dreyßig Jahren, welche das Jsraelitische Volk in Aegypten diente, da in vierzig Jahren, die es in der Wüsten herumirrte, ihr Saame jene Eigenschaften, welche ein fähiges Genie hervor bringen, annehmen konnte; so hat er sie in zwey tausend Jahren, seit dem sie aus der Wüsten heraus sind, eben so leicht und noch leichter wie der verlieren können; besonders da sie nach Spa nien kamen, in ein Land, welches mit Aegypten ganz widrige Beschaffenheiten hat, wo sie ganz andere Speisen essen, und weit schlechter Wasser trinken müssen. Die Natur des Menschen ist einmal so, wie denn die Natur eines jeden Thiers und einer jeden Pflanze gleichfalls nicht anders ist, daß sie sogleich die Eigenschaften des Landes, worinnen sie ist, annimmt, und diejenigen ablegt, welche sie aus einer andern Gegend mitgebracht hat. Man mag sie in Umstände setzen, in was für welche man will, so wird sie derselben in kurzen ohne Widerstand gewohnt werden. [] Hippocrates*) erzählt, daß es ein gewisses Geschlecht Menschen gegeben habe, welches sich 237
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durchaus von dem gemeinen Pöbel unterscheiden wollen, und deßwegen zum Zeichen seines Adels einen zugespitzten Kopf erwählt habe. Damit sie nun diese Figur durch die Kunst zuwege brin gen möchten, so mußten die Kindermütter, so bald ein Kind auf die Welt kam, den Kopf dessel ben mit Bändern so stark und so lange umwinden, bis er diese Form angenommen hatte. Dieser Kunstgrif vermochte so viel, daß er endlich zur Natur ward, indem mit der Zeit alle diese adlichen Kinder gleich mit einem spitzigen Kopf gebohren wurden, und die Kindermütter ihre Mühe und Kunst dabey anzuwenden nicht länger nöthig hat ten. Weil man aber nunmehr die Natur frey ließ, und nicht länger durch die Kunst zwang; so kehrte sie auch nach und nach wieder zu ihrer alten Art zurück, und machte die Köpfe wieder so, wie sie dieselben vorher gemacht hatte. [] Eben dieses hat sich bey dem Jsraelitischen Volke ereignen können, gesetzt auch, daß die Aegyptische Himmelsgegend, daß das Manna, das reine Wasser, und die erlittnen Trübsalen ihrem Saamen jene Beschaffenheiten, die ein fähiges Genie hervorbringen, wirklich beygebracht ha ben. Da aber diese wirkenden Ursachen aufhörten, und andre ganz widrige Ursachen dazu kamen, so mußten nothwendig die durch das Manna ver ursachten Beschaffenheiten wieder nach und nach verlohrengehen, und der Saame mußte andere Be schaffenheiten, welche der Gegend, die sie nunmehr bewohnen, der Speisen, die sie geniessen, dem
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Wasser, das sie trinken, und der Luft, die sie athmen, gemäß sind, annehmen. [] Doch dieser Zweifel ist für einen Philosophen von wenig Wichtigkeit; weil es zufällige Beschaf fenheiten giebt, die in einem Augenblick hervor gebracht werden, und Zeitlebens in ihrem Subjecte bleiben, ohne sich im geringsten zu verändern. Andere hingegen verlieren sich in eben der Zeit wieder, die zu ihrer Hervorbringung erfordert wurde; und auch hiervon einige geschwinder, andere langsamer, nach Beschaffenheit der wirken den Ursache und des leidenden Subjects. Von dem erstern kann man dieses zum Beyspiele anführen, daß von einem grossen Schrecken ein gewisser Mann so entstaltet und blaß wurde, daß er einer Leiche vollkommen ähnlich sah. Diese Gestalt und Farbe behielt er nicht allein Zeit sei nes Lebens; sondern beyde pflanzten sich auch auf seine Kinder fort, ohne daß man ein Mittel, ihnen davon zu helfen, erfinden konnte. [] Wenn dieses möglich war, so ist es auch ganz wohl möglich, daß bey dem Jsraelitischen Volke, nachdem es vier hundert und dreyssig Jahr in Aegypten, vierzig Jahr in der Wüsten, und sieben zig Jahr in der Babylonischen Knechtschaft gewesen war, mehr als drey tausend Jahr erfordert wurden, wenn der Saame Abrahams die von dem Manna gewirkten Beschaffenheiten, die zu einem fähigen Genie nothwendig sind, gänzlich verlieren soll te; indem ja bloß eine Todtenfarbe, die das Schrecken in einem Augenblicke hervorgebracht
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hatte, zu verlieren, mehr als hundert Jahr nöthig waren. Damit man aber die Wahrheit dieser Lehre von Grund aus verstehen möge, so werden wir vorher auf zween Zweifel antworten müssen, die unsern Gegenstand betreffen, und die man noch niemals recht aufgelöset hat. [] Der erste ist dieser: je schmackhafter und zärtlicher die Speisen sind, wie zum Beyspiel das Fleisch der jungen Hüner und Rebhüner ist, desto geschwinder bekömmt der Magen einen Abscheu und Ekel dagegen: woher kömmt das? Hingegen sehen wir, daß ein Mensch, der das ganze Jahr hindurch nichts als Rindfleisch ißt, nicht die geringste Beschwerlichkeit davon empfin det; wenn er aber drey oder vier Tage hinter einander nichts als junge Hüner essen sollte, so würde er sie gewiß den fünften Tag nicht einmal ohne Ekel mehr riechen können. [] Der andere Zweifel hierinnen: das Brodt, welches von Korn gebacken wird, und das Schö psenfleisch ist bey weiten von so guter Beschaf fenheit und von so feinem Geschmacke nicht, als Hüner und Rebhüner sind; gleichwohl aber be kömmt der Magen niemals einen Ekel, ob er es gleich Zeitlebens ißt; woher kömmt dieses, und warum schmecken uns alle übrige Nahrungsmittel, derer wir uns bedienen könnten, nicht, wenn uns das Brodt fehlt? †) 238
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[] Wer auf diese beyden Zweifel zu antworten weiß, der wird auch leicht die Ursache einsehen können, warum die Nach kommen des Jsraelitischen Volks die Beschaffenheiten, welche das Manna ihrem Saamen gegeben, noch nicht verlohren ha ben, und warum sie auch so bald ihr scharfsinniges Genie, welches aus diesen Beschaffenheiten ent stand, nicht verlieren möchten. Es sind in der natürlichen Weltweisheit zween gewisse und un widersprechliche Grundsätze, von welchen die Be antwortung und die Auflösung dieser Zweifel ab hänget. Der erste ist dieser: daß alle Vermögen heiten insgesammt, welche den Menschen regieren, von den Umständen und Beschaffenheiten ihrer Gegenstände entblößt sind, damit sie alle ihre Ver schiedenheiten erkennen und beurtheilen können. [] Bey den Augen, zum Beyspiele, welche alle Figuren und Farben an sich nehmen müssen, war es unumgänglich nothwendig, sie von allen Figuren und Farben zu entblössen: denn wären sie gelb, so würden alle Sachen, die ihnen vorkämen, diese Farbe zu haben scheinen, so wie es denen geht, die von der Gelbsucht befallen sind. Gleichfalls muß auch die Zunge, welche das Werkzeug des Ge
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schmacks ist, für sich keinen Geschmack haben: denn wenn sie süsse oder bitter ist, so wissen wir schon aus der Erfahrung, daß alles, was wir essen und trinken, eben diesen Geschmack hat. Eben dieses ereignet sich an dem Geruch und an dem Gefühle. [] Der zweyte Grundsatz ist dieser: alles Er schaffene strebt natürlicher Weise nach seiner Er haltung, und bemüht sich immer zu dauern, und in dem Wesen, welches ihm GOtt und die Natur gab, zu verbleiben, wenn es auch schon hernach ein besseres Wesen bekommen sollte. Diesem Grundsatze gemäß, verabscheuet jedes Erschaffene, dem es an Gefühl und Sinnen nicht fehlt, alles, was seine Natur verändern oder verderben könne, und flieht es aus äussersten Kräften. [] Der Magen ist von dem Wesen und den Beschaffenheiten aller Speisen, die in der Welt sind, gänzlich entblößt, so wie das Auge von allen Figuren und Farben entblößt ist. Wenn wir also etwas essen, gesetzt, daß es der Magen überwindet, so wirkt diese Speise dennoch wieder gegen diesen Magen zurück, und verändert und ver dirbt sein Temperament und sein Wesen, weil ihr Wesen von ganz anderer Beschaffenheit ist, und kei ne wirkende Ursache so stark seyn kann, daß sie nicht eine Gegenwirkung empfinden sollte. Die zarten und schmackhaften Speisen ändern den Magen sehr stark; *) theils weil er sie mit vielem Appe 239
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tit und mit grosser Hitze verdauet und durchwirkt; theils, weil sie so fein sind und so wenig grobe Thei le haben, daß sie in die Substanz des Magens selbst eindringen, und schwer wieder heraus zu bringen sind. Wenn nun der Magen empfindet, daß diese Nahrung seine Natur verändert und sein Verhältniß, welches er gegen die übrigen Nahrungen hat, aufhebt, so ekelt ihm davor; und wenn er sie ja geniessen muß, so kann man ihn nicht anders, als durch viele Zuthat und durch vieles Gewürze hintergehen. Sogar das Manna war hiervon nicht ausgenommen, ob es gleich die allerzarteste und schmackhafteste Speise war; denn endlich wurden die Jsraeliten dieser Speise über drüssig, daß sie sogar schrieen: unsrer Seele ekelt über dieser losen Speise. Diese Klage eines Volks, welchem GOtt so besonders wohl wollte, war höchst unbillig, weil sie das sicherste Mittel darwider hatten, indem sie dem Manna allen Geschmack geben konnten, den sie nur, seiner nicht überdrüßig zu werden, verlangten. Die meisten von ihnen assen es auch sehr gern, weil sie Knochen, Nerven und Fleisch in dem Manna fanden, welches alles mit seinem Wesen so ver bunden war, daß sie der grossen Gleichheit wegen nichts anders verlangten. Eben dieses ereignet sich an dem Brodte, welches wir noch essen, und an dem Schöpsenfleische. *) Die groben Speisen, 240
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welche von keiner guten Substanz sind, als das Rindfleisch, haben viel Unverdauliches, daher sie auch der Magen nicht mit so grosser Begierde iuin sich nimmt, als die zarten und schmackhaften Speisen, und folglich von ihnen sobald nicht kann verändert werden. Hieraus folgt, daß die Ver änderung, welche das Manna nur in einem ein zigen Tage verursachte, wieder aufzuheben, der Magen wenigstens einen ganzen Monat hinter ein ander nichts, als ganz entgegengesetzte Speisen hätte zu sich nehmen müssen. Wenn man diese Rechnung nun weiter fortführt, so werden wenig stens vier tausend und noch mehr Jahre †) er fordert, ehe sich die Beschaffenheiten gänzlich ver lieren, die der Saame in ganzen vierzig Jahren durch das Manna erhielt. Wem dieses unwahr scheinlich vorkömmt, der setze den Fall: GOtt habe, so wie er die zwölf Stämme Jsraels aus Aegypten führte, auch zwölf Mohren und Mohrin nen aus Aethiopien geführt und sie in unsere Gegend versetzt. Wie viel Jahre würden wohl erfordert, ehe diese Mohren und ihre Nachkommen die schwar ze Farbe verlören, wenn sie sich nicht mit weissen Menschen vermischten? Jch sollte denken, es wür den sehr viel Jahre darzu erfordert, da es doch nun schon länger als zwey hundert Jahr sind, daß die ersten Ziegeuner aus Aegypten nach Spanien 241
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kamen, und gleichwohl ihre Nachkommen we der die verbrannte Farbe noch das scharf sinnige Genie, welches ihre Väter mit aus Aegy pten brachten, verlohren haben. So groß ist die Stärke des menschlichen Saamens, wenn er einmal eine gewisse Beschaffenheit fest an sich genommen hat. Wie also die Mohren aus Spanien die schwarze Farbe auf ihre Nachkommen bringen würden, durch den Saamen nämlich, ob sie gleich nicht in Aethiopien sind: so hat auch das jüdische Volk, nachdem es in unsere Gegend gekommen, auf seine Nachkommen das scharf sinnige Genie gebracht, ob sie gleich weder in Aegy pten gewesen sind, noch Manna gegessen haben; denn weise oder klug zu seyn, ist eine eben so zu fällige Eigenschaft des Menschen, als weiß oder schwarz zu seyn. Es ist auch in der That wahr, daß die Juden jetzt nicht mehr so verschlagen und scharfsinnig sind, als sie etwa vor tausend Jahren waren; †) denn seit dem sie aufgehöret haben Man na zu essen, hat das Genie von Geschlecht zu Ge schlecht um etwas abgenommen; theils, weil sie sich anderer Speisen bedient, in Gegenden gewohnt, die von der Aegyptischen ganz verschieden sind und 242
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Wasser getrunken haben, das bey weiten nicht so rein ist als das Wasser in der Wüsten war; theils weil sie sich mit den Nachkommen der heidnischen Völker vermischt haben, die diese Art des Genies nicht hatten, wovon sie, welches man nicht leugnen kann, noch bis jetzt nicht wenig besitzen.

Dreyzehntes Hauptstück. Wie man es erkennen solle, welcher Art des Genies die Kriegskunst zuge höre, und aus welchen Merkmalen man schliessen könne, ob ein Mensch dieses Genie besitze.

[] Woher kömmt es, fragt Aristoteles, *) daß, obgleich die Tapferkeit nicht die allervor nehmste Tugend ist, und die Gerechtigkeit und Klugheit ihr weit vorzuziehen sind, gleichwohl der Staat, und beynahe alle Menschen einmüthig einen Tapfern höher schätzen, und ihm innerlich mehr Ehre erzeigen, als dem Gerechten und Klugen, wenn sie auch in den größten Aemtern und Würden stehen? Er antwortet auf diese Aufgabe, weil kein König in der Welt sey, welcher nicht entweder anfallende oder vertheidigende Kriege führe. Da nun die Tapfern ihm Ruhm und Länder erwer 243
|| [0332.01]
ben, ihn gegen seine Feinde beschützen und seine Reiche erhalten; so wird nicht sowohl der größten Tugend, als welches keine andere als die Gerechtig keit ist, sondern der zuträglichsten und nützlichsten Tugend die meiste Ehre erwiesen. Wenn man den Tapfern anders begegnen wollte, so würden die Könige schwerlich Generale und Soldaten finden, welche ihr Leben freywillig aufopferten, um ihre Länder und Schätze zu vertheidigen. [] Unter den asiatischen Völkern, erzählet man, *) sey ein gewisses Volk gewesen, welches von seiner Tapferkeit sehr viel Rühmens gemacht habe. Wenn man sie nun gefragt, warum sie weder Könige noch Gesetze hätten, so wäre ihre Antwort gewesen, weil sie die Gesetze feigherzig machten, und weil es ihnen keine geringe Thorheit zu seyn schiene, sich den Gefährlichkeiten des Krieges aus zusetzen, um eines andern Staaten zu erweitern; wenn sie ja streiten müßten, so wollten sie lieber für sich streiten, und die Siege zu ihrem eigenen Nutzen anwenden. Doch so kann nur ein barbarisches, aber kein gesittetes Volk antworten, welches gewiß über zeugt ist, daß die Menschen ohne Könige, ohne Re publiken, und ohne Gesetze unmöglich in Frieden leben können. [] Das, was Aristoteles sagt, hat seine gute Richtigkeit, ob sich gleich noch eine weit bessere Antwort ertheilen liesse, welche auf folgendes hinauslaufen würde. So lange Rom seine Ge nerale in Ehren hielt, so wurde durch die Triumphe 244
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und öffentlichen Feyerungen nicht allein die Tapfer keit des Triumphators belohnt, sondern zugleich auch seine Gerechtigkeit, durch die seine Armee in Friede und Eintracht erhalten wurde; seine Klugheit, womit er seine Heldenthaten ausführ te, und seine Mässigkeit bey dem Essen, bey dem Weine und bey dem Frauenzimmer, ohne welche er in seinen Anschlägen irrig und in seiner Beurtheilung verwirrt geworden wäre. Jn der That ist auch bey einem obersten Feld herrn weit mehr auf die Klugheit zu sehen, als auf Muth und Tapferkeit; denn, wie Vegetius sagt, so sind wenig tapfere und beherzte Feldher ren geschickt, grosse Thaten auszuführen, indem die Klugheit im Kriege weit nöthiger ist, als der Muth, den Feind anzugreifen. Was aber eigent lich dieses für eine Klugheit sey, hat Vegetius nicht einsehen können; er hat auch nicht zu be stimmen gewußt, welche Art des Genies der jenige haben müsse, der einen Anführer im Krie ge abgeben wolle. Jch wundere mich auch hierüber gar nicht, weil damals die Art zu phi losophiren, durch die man es allein erkennen kann, noch nicht bekannt war. [] Es ist zwar wahr, indem wir uns mit die ser Untersuchung abgeben, so thun wir etwas, welches eigentlich zu unserm Vorhaben, die Ge nies, welche jeder Theil der Gelehrsamkeit erfordert, zu bestimmen, nicht gehört. Da aber der Krieg eine so gefährliche Sache ist, und so viel Berath schlagung erfordert; da es für einen König von
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der äussersten Nothwendigkeit ist, daß er wisse, wem er seine Gewalt und seine Staaten anver trauen solle; so werden wir hoffentlich dem Staate keinen geringern Dienst leisten, wenn wir auch die se Art des Genies und ihre Merkmahle bestimmen, als wir ihm durch die Bestimmung der übrigen Genies geleistet haben. Man soll daher wissen, daß die Malitz und Militz, so wie sie beynahe einerley Benennung haben, also auch beynahe einerley Sache sind; denn wenn man das a in ein i verwandelt, so wird gar leicht aus malitia mili- tia und wieder aus militia malitia zu machen seyn. Welches die Eigenschaften der Bosheit (ma- litiae) sind, dieses sagt uns Cicero: *) malitia est versuta et fallax nocendi ratio. Das ist: die Bosheit ist nichts anders, als eine geschickte, listige und verschlagene Art Böses zu thun. Und kömmt es wohl im Kriege auf etwas anders, als darauf an, daß man seinen Feinden zu schaden, und sich vor seiner Hinterlist zu hüten weiß? Die beste Eigenschaft also, die ein oberster Feldherr haben kann, ist diese, daß er boshaft gegen sei nen Feind ist, und keine einzige Bewegung zu seinem Nutzen, vielmehr zu seinem äussersten Verderben, jedoch mit Behutsamkeit mache. Daher sagt auch der Prediger: traue deinem Feinde nicht, ob er gleich süsse und glatte Wor te auf den Lippen hat; denn in seinem Herzen liegt ein Hinterhalt, der dich tödten wird: mit den Augen weint er, wenn aber die Zeit kömmt, so wird ihn auch dein Blut nicht sättigen. 245
|| [0335.01]
[] Ein offenbares Beyspiel haben wir hiervon selbst in der Schrift. *) Als das Jsraelitische Volk in Bethulien eingeschlossen, und von Durst und Hunger geplagt war, gieng jenes berühm te Weib, die Judith, in der Absicht den Holo fernes zu tödten, heraus. Als sie an das Lager der Assyrer kam, ward sie von den Wachen an gehalten, welche sie fragten, von wannen sie kä me, und wohin sie wollte. Hierauf antworte te sie ganz listig: ich bin ein ebräisches Weib, und bin von ihnen geflohen: denn ich weiß, daß sie euch in die Hände kom men werden, darum, daß sie euch ver achtet haben, und nicht wollen Gnade su chen, und sich willig ergeben. Darum habe ich mir vorgenommen, zu dem Für sten Holofernes zu kommen, daß ich ihre Heimlichkeit offenbare und sage ihm, wie er sie leichtlich gewinnen möge, daß er nicht einen Mann verlieren dürfe. Als sie nun vor den Holofernes gebracht ward, so fiel sie auf die Erde nieder, schlug die Hände zu sammen, betete ihn an, und brachte die aller glattesten und süssesten Reden von der Welt vor, so, daß Holofernes und seine ganze Raths versammlung glaubte, sie rede die Wahrheit. Unterdessen vergaß sie doch den Vorsatz nicht, den sie fest in ihrem Herzen trug, sondern hieb ihm bey der ersten bequemen Gelegenheit den Kopf ab. 246
|| [0336.01]
[] Gleich das Gegentheil von diesem thut ein Freund, welcher folglich allezeit Glauben ver dient. Und weit besser wäre es auch gewesen, wenn Holofernes dem Achior geglaubt hätte, welcher sein Freund war, und aus blossem Ei fer für seine Ehre, daß er nicht mit Schanden die Belagerung aufheben dürfe, zu ihm sagte: mein Herr, laß forschen, ob sich das Volk versündiget hat an seinem GOtt: so wol len wir hinauf ziehen; und ihr GOtt wird sie dir gewißlich in die Hände geben, daß du sie bezwingest. Haben sie sich aber nicht versündiget an ihrem GOtt, so schaf fen wir nichts wider sie: denn ihr GOtt wird sie beschirmen, und wir werden zu Spott werden dem ganzen Lande. [] Doch über diesen Rath ward Holofernes erbittert, weil er ein kühner Mann und dem Frauenzimmer und dem Weine sehr ergeben war, als welche drey Stücke alle Anschläge, die bey der Kriegskunst nöthig sind, verwirren. Plato*) sagt daher: daß ihm das Gesetz der Car thaginenser ungemein wohl gefallen habe, ver möge dessen kein oberster Feldherr, so lange er bey der Armee sey, Wein trinken dürfen; weil dieser Saft, wie Aristoteles**) sagt, die Menschen auffahrend und übermüthig macht, wie es an dem Holofernes und aus seiner wütenden Rede gegen den Achior zu ersehen ist. Das Genie 247 248
|| [0337.01]
übrigens, welches man gegen die Feinde nöthig hat, wenn man ihnen theils Fallen stellen, theils den von ihnen gestellten Fallen entgehen will, hat Cicero sehr wohl eingesehen, wenn er von dem Ursprunge des Worts versutia redet, und es von dem Worte versari ableitet, weil alle listige, ver schlagen, und tückische Leute in einem Augenblicke auf eine Hinterlist fallen, und ihren Geist mit leichter Mühe hier und dahin wenden können, wie es Cicero selbst durch ein Beyspiel deutlicher macht, wenn er *) sagt: Chrysippus homo sine dubio versutus et callidus. Versutos appello, quo- rum celeriter mens versatur. Diese Fähigkeit, bald auf ein Mittel zu fallen, ist die Scharfsinnig keit, und gehört der Einbildungskraft zu; weil alle Vermögenheiten, wobey es auf die Wärme an kömmt, ihre Wirkungen sehr geschwind verrichten. Leute von grossem Verstande also taugen zum Krie ge nichts, weil diese Vermögenheit in ihren Wir kungen sehr langsam verfährt, und eine Freundin des Rechts, der Wahrheit, der Einfalt und Barm herzigkeit ist, welche alle im Kriege nicht wenig Schaden zu verursachen pflegen. Sie verstehen sich übrigens auf keine Ränke und Kriegslisten; sie wissen weder selbst dergleichen anzugeben, noch denen, die man ihnen gelegt hat, auszuweichen. Sie werden unzähligmal betrogen, weil sie einem jeden glauben; sie sind zu nichts gut, als mit Freunden Unterhandlungen zu haben, wo sie weder 249
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Klugheit noch Einbildungskraft, und bloß einen gesunden und richtigen Verstand brauchen, welcher keiner Arglist fähig ist, und keinem Uebels zu thun sucht. Gegen den Feind hingegen sind sie gar nicht zu brauchen; weil dieser auf nichts denkt, als wie er seinen Gegner durch Arglist ins Verderben ziehen möge, und man also eine gleiche Arglist anwenden muß, wenn man sich der seinigen ent ziehen will. Unser Heiland ermahnte daher seine Jünger: siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe: darum seyd klug wie die Schlangen, und ohne Falsch wie die Tauben. (Matth. X.) Klug sollen wir seyn gegen unsern Feind, ohne Falsch aber gegen unsern Freund. [] Wenn also ein Feldherr seinem Feinde nicht glauben soll, wenn er beständig vermuthen muß, er wolle ihn betrügen, so muß er nothwendig eine Art der Einbildungskraft haben, welche wachsam und wahrsagend sey, daß er durch sie jede Arglist, sie mag verborgen seyn, wie sie will, entdecke; weil eben dieselbe Fähigkeit, die sie entdeckt, auch die Mittel dagegen erfindet. Eine andre Art der Ein bildungskraft gehört zur Ausdenkung derjenigen Maschinen, womit man sonst unüberwindliche Festungen einnehmen kann; eine andre zur Ab steckung des Lagers und zur Ordnung der Regi menter; eine andre zur Beobachtung der Gelegen heit bald anzufallen, sich bald zurück zu ziehen; eine andre zur Verabredung und Schliessung der Capitulationen, der Bündnisse und Friedensarti
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ckel mit dem Feinde. Zu diesem allen aber ist der Verstand eben so ungeschickt, als die Ohren zum Sehen sind. Jch zweifele daher nicht länger daran, daß die Kriegskunst der Einbildungskraft zugehöre; weil alles, was ein guter Feldherr zu thun hat, auf Figuren, auf Verhältnisse und Ueberein stimmungen hinausläuft. [] Die Schwierigkeit bestehet nunmehr nur darinnen, daß wir auch die Art der Einbildungs kraft bestimmen, mit welcher der Krieg eigentlich geführet wird. Hierüber aber werde ich mich nicht mit allzugrosser Gewißheit auslassen können, weil eine allzufeine Erkenntniß darzu erfordert wird. Was ich aber vermuthe ist dieses, daß noch ein Grad mehr Wärme dazu erfordert werde, als zur Ausübung der Arzneywissenschaft, und daß sich die Cholera ganz und gar verbrennen müsse. Dieses erhellet gar deutlich, weil die allerverschla gensten und listigsten Feldherren eben nicht die aller tapfersten und kühnsten zum Anfalle und bereit willigsten zur Schlacht sind; sondern vorher auf unzählige Ränke und Hinterhalte bedacht sind, damit sie ihre That desto sichrer ausführen können. Diese Eigenschaft lobt Vegetius mehr, als irgend eine andere: boni enim duces non aperto prae- lio, in quo est commune periculum, sed ex oc- culto semper attentant, vt integris suis, quan- tum possunt, hostes interimant certe aut ter- reant. Das ist: die besten Feldherren sind nicht diejenigen, welche in freyem Felde streiten, es zur offenbaren Schlacht kommen lassen, und auf ihre
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Feinde ohne Hinterlist losgehen, sondern diejenigen sind es, welche sie mit Ränken und durch Hinter halte ohne Verlust ihrer eignen Mannschaft schwä chen. Den Nutzen, den diese Art des Genies bringt, sah der römische Rath nur allzuwohl ein: denn wenn auch verschiedene berühmte Feldherren, die er hielt, viel Schlachten gewonnen hatten, und in Rom deßwegen die gewöhnlichen Ehrenbezei gungen und den Triumph erhielten; so war doch das Klagen und Weinen der Väter um ihre Söhne, der Söhne um ihre Väter, der Weiber um ihre Männer, der Brüder um ihre Brüder so groß, daß man alle die öffentlichen Lustbarkeiten vor Beweinung der in der Schlacht gebliebenen nicht geniessen konnte. Der Senat beschloß also, keine so tapfre Feldherren, die es sogleich zur Schlacht kommen liessen, mehr zu wählen, sondern behutsame und listige Anführer aufzusuchen, wie Quintus Fabius war, von welchem die Geschichtschreiber melden, daß er selten oder gar nicht die römische Armee einer offenen Feldschlacht ausgesetzt habe, besonders, wenn er weit von Rom entfernet gewe sen wäre, daß er also nicht so bald wieder frisches Volk hätte bekommen können, wenn er sollte unglücklich gewesen seyn. Seine ganze Kunst bestand darinnen, daß er dem Feinde auswich, und sich auf nichts, als auf Ränke und Hinterhalte legte; wodurch er sehr grosse Thaten verrichtete, und sehr viel Siege ohne einen Mann zu verlieren er langte. Er wurde daher in Rom mit allgemeinen Freuden empfangen: denn wenn er mit fünftau
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send Soldaten ausgezogen war, so kam er mit eben so vielen wieder zurück, diejenigen ausgenommen, welche eine Krankheit hingerissen hatte. Die Zurufungen des Volks waren, wie sie Ennius aus drückt: *) unus homo nobis cunctando resti- tuit rem. Einer macht uns dadurch, daß er dem Feinde ausweicht, zu Herren der Welt und erhält uns unsere Soldaten. [] Diesen haben hernach verschiedene Feldherren nachzuahmen gesucht; weil sie aber sein Genie und seine Verschlagenheit nicht hatten, so liessen sie oft die besten Gelegenheiten zur Schlacht aus den Händen, und verursachten dadurch weit mehr Schaden und Unheil, als wenn sie noch so ge schwind zum Anfalle gewesen wären. [] Zum Beyspiele können wir gleichfalls jenen berühmten Carthaginensischen Feldherrn, den Hannibal anführen, von welchem Plutarchus fol gendes erzählt. Als er ieneneinen grossen Sieg erfoch ten hatte, so befahl er, eine grosse Menge römischer Gefangenen ohne Lösegeld großmüthig loszulassen, damit der Ruf von seiner Güte und Menschenliebe in ihren Gegenden ausgebreitet würde. Seinem Genie nach war er weit von diesen Tugenden ent fernt, indem er seiner Natur nach wild und unm menschlich war, und von Kindheit an eine solche Auferziehung gehabt hatte, daß ihm sein Vater weder Gesetze noch Sitten, sondern nichts als Krie ge, Mord und feindseliges Verfahren erlernen ließ. Er war daher der grausamste und verschlagenste 250
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Feldherr, und alle seine Gedanken waren beständig auf nichts gerichtet, als darauf, wie er seinen Feind ins Verderben ziehen möchte. Sobald er merkte, daß er ihm im offenen Felde nichts anhaben könnte, so stellte er ihm Fallen, wie man schon einigermas sen aus angeführtem Treffen, besonders aber aus dem Treffen, welches er dem Sempronius bey dem Flusse Trebia lieferte, sehen kann. [] Die Merkmale, aus welchen man es schlies sen kann, ob der Mensch diese Art des Ge nies habe, sind sehr besonders, und verdienen genau beobachtet zu werden. Plato sagt, *) daß derjenige, welcher in dieser Art der Fähigkeit, die wir jetzt vor uns haben, die größte Stärke zeige, weder tapfer noch sonftsonst von guten Eigenschaften seyn könne, weil die Klugheit, wie Aristoteles**) sagt, in der Kälte; Muth und Tapferkeit aber in der Hitze bestehe. So zuwider nun diese beyden Eigenschaften sind, so unmöglich ist es auch, daß ein Mann zugleich tapfer und klug seyn könne. Wenn er das letztere seyn soll, so muß sich die Cholera nothwendig verbrennen und zur schwarzen Galle werden; aus der schwarzen Galle aber, weil sie kalt ist, entstehet sogleich Furcht und Feigherzig keit. ***) Die List und Verschlagenheit erfordert 251 252 253
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Wärme, weil sie ein Werk der Einbildungskraft ist, doch nicht in dem Grade, in welchem sie zur Tapferkeit nothwendig ist; beyde müssen sich also in den Graden zuwider seyn. [] Hierbey fällt etwas sehr Merkwürdiges vor, dieses nämlich: daß von den vier moralischen Tugenden, der Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigkeit, die ersten zwo ein Genie und eine gute Temperatur erfordern, wenn sie zur Ausübung sollen gebracht werden können. Wenn ein Richter keinen Verstand, den rechten Punct der Gerechtig keit zu treffen, besitzt, so nützt sein guter Wille, einem jeden Recht wiederfahren zu lassen, wenig. Bey aller seiner guten Absicht kann er irren und dem wahren Eigenthumsherrn das, worüber ge stritten wird, absprechen. [] Ein gleiches versteht sich von der Klugheit. Wenn der Wille genug wäre, ein Vorhaben wohl anzuordnen, so würden die Menschen niemals we der in einer bösen, noch in einer guten That irren. Jeder Dieb wünscht so zu stehlen, daß er weder er griffen noch gesehen werde; jeder Feldherr möchte gern klug genug seyn, seinem Feinde einen Rank abzurennen. Allein wenn der Dieb nicht mit Ge schicklichkeit zu stehlen weiß, so wird er entdeckt; und wenn es dem Feldherrn an Einbildungskraft fehlt, so ist er schon so gut als überwunden. [] Die Tapferkeit und Mäßigkeit hingegen sind zwo Tugenden, welche der Mensch in seiner Gewalt hat, ob ihm gleich eine natürliche Fähigkeit dazu fehlt. Wenn jemand sein Leben wenig achten und
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tapfer seyn will, so ist er es auch; wenn er aber tapfer, vermöge seiner Natur ist, so behaupten Plato und Aristoteles mit Recht, daß er nicht zu gleich klug seyn könne, ob er es gleich seyn wolle. Es ist folglich nichts unmögliches, die Klugheit mit Muth und Tapferkeit zu verbinden: denn der Kluge weiß, daß man für die Seele die Ehre, für die Ehre das Leben, und für das Le ben alles Vermögen aufopfern müsse; und er opfert es auch auf, wenn es die Noth erfordert. Daher kömmt es, daß der Adel, weil er so geeh ret wird, auch so tapfer ist; und daß niemand im Kriege mehr aussteht und Ungemach über sich nimmt, als ein Adelicher, ob er gleich noch so zärtlich erzogen ist, nur damit man ihm den Namen eines Feigherzigen nicht beylegen kön ne. Das Sprichwort hat also seinen guten Grund: GOtt bewahre einen jeden des Tags vor einem Adelichen, und des Nachts vor einem Mönche: denn beyde streiten als dann mit doppeltem Muthe; der eine weil er gesehen wird, der andere, weil er nicht ge sehen wird. [] Auf eben diesem Grunde beruht der Orden der Maltheser = Ritter. Man wußte nämlich, daß der Adel sehr vieles dazu beytrage, wenn ein Mensch tapfer seyn soll; man befahl also, daß niemand in diesen Orden treten dürfte, wel cher nicht sowohl von väterlicher als mütterli cher Seite her von Adel sey; weil alsdann je der Ritter gleichsam für zwey Geschlechter strei
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ten müsse. Wenn man aber dem ersten dem besten von diesen Rittern befehlen wollte, ein La ger abzustecken, eine Schlacht zu ordnen, und die Art und Weise anzugeben, wie man den Feind anfallen sollte, so würde er gewiß, wenn er kein Genie dazu hätte, tausend Ungereimtheiten sa gen und begehen, weil die Klugheit nicht in der Gewalt eines jeden Menschen steht. Wenn man ihm hingegen befiehlt, ein Thor zu verthei digen, so wird er gewiß dem Befehle auf das Beste nachkommen, ob er gleich von Natur feig herzig ist. Der Ausspruch des Plato hat nur alsdenn seine Richtigkeit, wenn der Kluge sei ner natürlichen Neigung folgt, und sie nicht durch die Vernunft bessert. Denn das ist ge wiß, vermöge seiner Natur kann ein weiser Mann nicht tapfer seyn, weil, wie Hippokra tes*) sagt, die verbrannte Cholera, welche ihn klug macht, ihn auch zugleich furchtsam und feigherzig machen muß. [] Die zweyte Eigenschaft, welche derjenige, der dieses Genie zur Kriegskunst hat, nicht be sitzen kann, ist die Artigkeit und Höflichkeit. Denn seine Einbildungskraft beschäftiget sich mit nichts als mit Ränken; er weiß nichts, als was für Fehler und Nachlässigkeiten einer Armee schädlich sind, und wie er sich derselben, wenn sie vorfallen, gehörig bedienen muß. Der unwissende Pöbel nennt daher seine Vorsicht ei nen unruhigen Geist; seine Kriegszucht Grau 254
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samkeit; seine Nachsicht Barmherzigkeit; seine Verstellung und Ertragung übler Handlungen ein gutes Gemüth. Diese falschen Benennun gen aber rühren aus der Dummheit der Men schen her, welche sie den wahren Werth eines jeden Dinges, und die eigentliche Art, wie man damit umgehen müsse, einzusehen verhindert. Die Klugen und Weisen hingegen haben keine Geduld, und können es nicht mit ansehen, wenn eine Sache übel geführt wird, ob sie ihnen gleich nichts angeht; sie leben daher kurze Zeit, und bringen ihr Leben mit lauter Aergerniß zu. Hier auf zielt das, was Salomo*) sagt: ich gab mein Herz darauf, daß ich lernte Weis heit und Thorheit und Klugheit. Jch ward aber gewahr, daß solches auch Mü he ist. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lehren muß, der muß viel leiden. Mit diesen Wor ten scheint Salomo zu verstehen zu geben, daß er bey der Thorheit vergnügter gelebt habe, als bey der Weisheit. Und so ist es auch in der That; die Thoren leben weit ruhiger, weil ihnen nichts Sorge und Verdruß verursa chen kann, und weil sie nicht glauben, daß sie ein anderer an Wissenschaft und Klugheit über treffe. Solche Leute nennt der gemeine Pöbel Engel des Himmels, weil er sieht, daß sie durch nichts beleidiget werden, daß sie sich über nichts bekümmern, daß sie sich über nichts 255
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Böses ärgern, und über alles gelassen weggehen. Wenn man aber die Weisheit und die Eigen schaften der Engel genauer betrachtete, so wür de man finden, daß dieses Sprichwort sehr un anständig und sogar der Ahndung der Jnquisi tion würdig wäre. Sobald als wir unsere Ver nunft zu brauchen anfangen, bis an den Augen blick unseres Todes, thun die Engel nichts an deres, als daß sie uns unsere übeln Handlungen vorhalten, und uns auf unsere Schuldigkeit wei sen. Wenn sie, so wie sie ihre geistige Spra che mit uns reden, indem sie unsere Einbildungs kraft regieren, mit körperlichen Worten uns ih re Gedanken entdecken sollten, so würden sie uns gewiß sehr beschwerlich und eigensinnig vorkom men. Man darf nur überlegen, wie beschwer lich jener Engel, wie er bey dem Matthäus (XI. 10.) genannt wird, *) dem Herodes und der Frau seines Bruders Philippus fiel: weil sie seine Verweise nicht hören wollten, so liessen sie ihm den Kopf abschlagen. [] Mit grösserm Rechte könnte man diejenigen Menschen, welche der dumme Pöbel Engel des Himmels nennt, Esel der Erden nennen: denn unter den unvernünftigen Thieren, sagt Galenus, ist keines unvernünftiger und von we niger Fähigkeit, als eben der Esel, ob er sie gleich alle an Gedächtniß **) übertrift, ob er sich gleich 256 257
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keiner Last entziehet, ob er gleich aller Orten mitgehet, wo man ihn hintreibet, ob er gleich weder ausschlägt noch beißt, ob er gleich weder hämisch noch untreu ist, ob er sich gleich auch nicht über die Schläge erzürnet, und in allen Stücken so ist, wie ihn sein Herr nur verlangen und brauchen kann. Eben diese Eigenschaften haben diejenigen Leute, welche der Pöbel Engel des Himmels nennt, deren Stille und Bieg samkeit bloß aus ihrer Dummheit, aus dem Mangel an Einbildungskraft und ihrer Lang samkeit sich zu erzürnen, herrührt, welches alles sehr grosse Fehler bey einem Menschen sind, und von einem schlechten Temperamente zeigen. [] Weder ein Engel noch ein Mensch hat je mals eine bessere natürliche Beschaffenheit ge habt, als unser Heiland Christus; gleichwohl trieb er, als er einmal in den Tempel kam, die jenigen mit ziemlich tüchtigen Schlägen heraus, die darinnen kauften und verkauften. Der Zorn ist die Ruthe oder das Schwerd des Ver standes; und derjenige Mensch, welcher sich über keine üble Handlung ärgert, ist entweder ein Dummkopf, oder es fehlt ihm das Erzürnliche. Es ist daher ein Wunder, wenn ein weiser Mann sanft und gelinde und so ist, wie ihn die Bösen gern haben wollen. Alle Geschichtschreiber, die das Leben des Julius Cäsar anfgezeichnet haben, erstaunen darüber, daß die Soldaten einen so strengen und rauhen Mann hätten dulden kön nen, welche Eigenschaften man seinem Genie,
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das völlig zum Kriege eingerichtet war, zu schreiben muß. [] Die dritte Eigenschaft derjenigen, welche die ses Genie bekommen haben, ist, daß sie um den Putz ihrer Person wenig bekümmert sind. Sie sind fast alle unordentlich und schmuzig; sie gehen mit herunterhängenden und runzlichten Strümpfen; sie schleppen ihren Mantel; sie sind Liebhaber von alten Kleidern und wechseln ungern damit. *) Die se Eigenschaft hatte, wie Lucius Florus erzählt, jener berühmte Feldherr, der Viriatus, von Ge burt ein Portugiese. Der Geschichtschreiber er zählt zum Lobe seiner grossen Demuth, er sey in dem Anzuge seiner Person so nachlässig gewesen, daß kein einziger gemeiner Soldat in seiner ganzen Armee gewesen sey, welcher nicht besser gekleidet ge wesen wäre als er. Doch in der That war dieses an dem Viriatus weder eine Tugend, noch ein Kunst grif, sondern es war eine natürliche Wirkung der jenigen Art der Einbildungskraft, mit deren Unter suchung wir uns jetzt beschäftigen. Der unordent liche Anzug des Julius Cäsar hatte sogar den Cice ro betrogen. Denn als er nach der Schlacht gefraget wurde, was ihn bewogen habe, der Parthey des Pompejus beyzutreten, so antwortete er, wie Ma crobius erzählt: praecinctura me fefellit. Das ist: der unordentliche Anzug des Cäsars verführte mich. Cäsar gieng beständig ohne Gürtel, so daß 258
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ihm die Soldaten sogar zum Spott einen Zu namen von dem offenen Ueberrocke beygelegt hatten. Doch eben dieses hätte den Cicero von dem Gegentheile überzeugen sollen, daß nämlich Cäsar gleich das rechte Genie habe, welches zum Kriege erfordert werde. Sylla, wie uns Sueto nius meldet, hatte es weit besser getroffen; denn eben die unordentliche Tracht des Cäsars bewog ihn, den Römern den Rath zu geben: cauete puerum male praecinctum. Hütet euch ihr Römer, wollte er sagen, vor diesem unordentlich gekleideten Knaben. Auch von dem Hannibal können uns die Geschichtschreiber nicht genug er zählen, wie nachlässig er in seinem Anzuge gewesen sey, und wie wenig er sich der Artigkeit und Höflich keit beflissen habe. *) Ueber jedes Fäserchen auf dem Kleide empfindlich werden, ängstliche Sorg falt anwenden, daß die Strümpfe so glatt als mög lich anliegen, und daß der Mantel keine unrechte Falte mache, das ist die Wirkung einer Einbildungs kraft von geringerem Werthe, welche sowohl dem Verstande, als derjenigen Art der Einbildungs kraft, welche der Krieg erfordert, zuwider ist. [] Das vierte Merkmal ist ein kahler Kopf. Die Ursache hiervon ist sehr deutlich, weil diese Art der Einbildungskraft, sowohl als alle andere, in 259
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dem Vordertheile des Haupts ihren Sitz hat. Die übermäßige Hitze verbrennt die Haut des Kopfs, und verschließt die kleinen Gänge, durch welche die Haare hervorkommen sollten. Die Materie, woraus, nach der Meynung der Aerzte, die Haare erzeugt werden, ist dasjenige, was das Gehirn von seiner Nahrung wieder von sich stößt. Da aber die grosse Hitze, welche darinnen ist, alle diese un brauchbare Ueberreste verderbet und verzehret, so können unmöglich Haare erzeuget werden; weil die Materie fehlt, woraus sie erzeugt werden sollen. [] Wenn Julius Cäsar in der Naturforschung so weit gekommen wäre, so würde er sich nicht so sehr über seinen kahlen Kopf geärgert haben. Da mit er durch Kunst diesen vermeinten Fehler ver bergen möchte, so kämmte er die hintern Haare, wel che in den Nacken herunter fallen sollten, gegen die Stirne; und nichts war ihm, wie uns Suetonius erzählt, angenehmer, als da ihm der Senat bestän dig eine Lorberkrone zu tragen erlaubte, worunter er seinen kahlen Kopf desto besser verbergen konnte. [] Ein kahler Kopf kann auch daher entstehen, wenn das Gehirn hart und von einer allzufesten Zusammensetzung ist, welche aus allzuirdischen Theilen besteht. Alsdenn aber ist es ein siche res Zeichen, daß es dem Menschen an allen drey Fähigkeiten, an dem Verstande, an der Ein bildungskraft und an dem Gedächtnisse fehlt. [] Daß fünfte Kennzeichen, woraus man schliessen kann, ob ein Mensch diese Art der
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Einbildungskraft besitze, ist dieses: daß er we nig Worte mache, und gleichwohl viel Denk würdiges sage. Die Ursache hiervon ist, weil sein Gehirn trocken ist, und er also nothwendig Mangel am Gedächtnisse haben muß, von wel chem der Reichthum an Worten abhänget. Ein Mensch, der immer etwas zu reden haben soll, muß Gedächtniß mit der Einbildungskraft in dem er sten Grade der Wärme verbinden; und diejenigen, bey welchen diese Verbindung Statt findet, sind gemeiniglich grosse Lügner, und haben immer etwas zu schwatzen und zu erzählen, wenn man ihnen nur immer zuhören wollte. [] Die sechste Eigenschaft derjenigen, welche die se Verschiedenheit der Einbildungskraft besitzen, ist, daß sie sehr schamhaft und bescheiden sind, und sich über unanständige und unzüchtige Worte un gemein ärgern. Cicero sagt daher, *) daß die ver nünftigsten Menschen der Natur in ihrer Ehrbar keit nachahmen, welche die unehrbaren und scham haften Theile an die verborgensten Oerter gebracht habe, weil sie zu den Nothwendigkeiten, nicht aber zur Zierde des Menschen gehörten. Wie sie also nicht wolle, daß sie den Augen sollten ausgesetzt seyn, so wolle sie auch nicht, daß man mit ihren Be nennungen die Ohren beleidigen solle. Dieses kann man gar wohl der Einbildungskraft zuschreiben, welche vielleicht durch die übele Gestalt dieser Thei 260
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le beleidiget wird. †) Doch die wahre Ursache wer den wir in dem letzten Hauptstücke angeben, und sie dem Verstande beylegen, so daß wir einen Mangel an dieser Vermögenheit bey denen daraus schlies sen, welche durch unzüchtige Reden nicht belei digt werden. Da nun mit der Art der Ein bildungskraft, welche zum Kriege erfordert wird, auch der Verstand verbunden werden muß, so ist die Ursache offenbar, warum grosse Feldherren schamhaft in ihren Reden sind. ††) Einen Be weis der Schamhaftigkeit, der vielleicht der stärkste ist, den jemals ein Mensch auf der Welt gegeben hat, findet man in der Geschichte des Julius Cä sars, diesen nämlich. Als er in dem Senate mit Dolchstichen ermordet wurde und nunmehr sah, daß er dem Tode nicht entfliehen könnte, so bemühte er sich so auf den Boden zu fallen, und sich so mit seinem Kleide zu bedecken, daß er nach seinem Tode auf eine anständige Art gestreckt liegen möchte, oh= 261 262
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ne daß man die Beine oder andere Theile bloß sehen könnte, welche schamhafte Blicke zu beleidigen vermögend wären. [] Die siebente Eigenschaft und die wichtigste unter allen ist diese, daß er glücklich sey. Diese Eigenschaft ist diejenige, woraus man am sicher sten schliessen kann, daß ein Mensch das Genie und die Fähigkeiten habe, welche die Krieges kunst erfordert. Denn die Wahrheit zu gestehen, so ist die gemeinste Ursache, daß die Menschen un glücklich sind, daß ihre Unternehmungen keinen er wünschten Ausgang haben, diese, weil es ihnen an Klugheit fehlt, und sie nicht die eigentlichen Mittel, welche ihr Endzweck erfordert, anzuwen den wissen. Weil Julius Cäsar in allen seinen Unternehmungen so viel Klugheit anwandte, so mußte er auch nothwendig einer von den aller glücklichsten Feldherren seyn, die jemals in der Welt gewesen sind. Er selbst pflegte seine Sol daten bey grosser Gefahr mit diesen Worten zu ermuntern: fürchtet euch nicht; Cäsar und sein Glück sind bey euch. [] Die stoischen Weltweisen glaubten: so wie es eine erste allgemeine, ewige, allmächtige und unendlich weise Grundursache gäbe, welche sich aus der Ordnung und Harmonie ihrer vortrefli chen Werke erkennen liesse; eben so gäbe es
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auch eine andere unverständige und veränderli che, in deren Werken weder Ordnung noch Weis heit zu spüren sey. Diese nun ertheile und rau be dem Menschen, nach einem blinden Triebe, Reich thum, Würden und Ehre. Sie gaben ihr den Namen Fortuna, weil sie sahen, daß sie eine Freundin derjenigen sey, welche in allen ihren Handlungen forte, das ist, auf gut Glück, ohne Ueberlegung, ohne Vernunft und Vorsicht ver fahren. Damit sie ihre Eigenschaften und Tü cke noch deutlicher machen möchten, so mahlten sie sie in der Gestalt eines Frauenzimmers, mit einem königlichen Scepter in der Hand, mit ver bundenen Augen, und auf einer runden Kugel stehend; und gaben ihr eine Menge dummer Leute zum Gefolge, die weder Verstand noch Le bensart hatten. Durch die weibliche Gestalt zeigten sie ihre Flatterhaftigkeit und Unwissen heit an. Durch den Scepter gaben sie zu ver stehen, daß sie eine Königinn des Reichthums und der Ehre sey. Die verbundenen Augen zielten auf die schlechte Wahl, die sie in Aus theilung ihrer Geschenke beobachte. Die runde Kugel, worauf sie stand, bemerkte die Unbestän digkeit ihrer Gunstbezeugungen, die sie den Men schen eben so unvermuthet erweiset, als unvermu thet sie ihnen selbige wieder entzieht, daß sie al so bey keinem beständig bleibt. Das Uebelste aber an ihr ist dieses, daß sie den Bösen wohl will, und die Guten verfolgt; daß sie die Dum men liebet und die Klugen verabscheuet; daß
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sie die Edeln unterdrückt, und die Niedrigen er hebt; daß ihr das Garstige gefällt, und das Schöne zuwider ist. Auf diese Eigenschaft ver lassen sich nicht wenige Menschen, welche ein mal ihr gutes Glück kennen. Sie unternehmen die verwegensten und unsinnigsten Dinge, und führen sie glücklich aus. Andere sehr geschick te und kluge Leute hingegen wagen sich nicht, auch mit den allerwohlüberlegtesten Unterneh mungen zum Werke zu schreiten; weil sie schon aus der Erfahrung wissen, daß der Ausgang selten so ist, wie er seyn sollte. [] Was das Glück für eine grosse Freundin des dummen Pöbels sey, beweiset schon Aristo stoteles*) durch die Frage: δια τι ὁ πλου- τος ὡς ἐπι το πολυ παρα τοις φαυλοις μαλ- λον ἠ τοις ἐπιεικεσιν ἐϛιν; Warum meisten theils die Reichthümer den Bösen zufallen, und warum die Armuth größtentheils die Redlichen trift? Er antwortet hierauf: ἠ διοτι τυφ- λος ὠν την διανοιαν οὐ δυναται κρινειν οὐδε αἱρεισϑαι το βελτιϛον. Das ist: weil das Glück blind sey, und das Beste weder zu erken nen noch zu wählen wisse. Doch, wahrhaftig, diese Antwort ist einem grossen Weltweisen sehr unanständig; weil in der That kein Glück ist, von welchem die Menschen den Reichthum er hielten. Und gesetzt auch, es wäre ein Glück, so ist die Frage dennoch nicht aufgelöset, war um dieses Glück den Bösen allezeit wohl wolle, und die Redlichen allezeit verfolge? 263
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[] Die wahre Auflösung dieses Problems ist diese: weil die Bösen sinnreich sind, und eine grosse Einbildungskraft besitzen, †) welche ihnen tausend Wege zeigt, im Handel und Wandel zu betriegen; weil sie wissen, wie man Reich thum erwerben, und den erworbenen Reichthum schonen müsse. Redlichen Leuten hingegen fehlt es an der Einbildungskraft, so, daß wenn einer von ihnen die Bösen nachahmen und Wucher treiben will, er im kurzen Jnteressen und Ka pital verlieret. Eben dieses merkte unser Hei land an, wenn er (Luc. XVI.) von der Geschick lichkeit jenes Haushalters redet, welchem seine Rechnung abgefordert wurde. Ob er gleich das Vermögen seines Herrn durchgebracht hatte, so konnte er doch seine Verwaltung mit Handschrif ten und Quittungen belegen. GOtt lobte diese Klugheit, ob sie gleich übel angewendet war, und fügte hinzu: denn die Kinder dieser Welt sind klüger, denn die Kinder des Lichts 264
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in ihrem Geschlechte. Das ist, jene, die Kinder dieser Welt, haben mehr Erfindungen und Kunstgriffe, als die Kinder GOttes; weil diese nichts als einen guten Verstand haben, mit welchem sie sich nach den Gesetzen GOttes rich ten, mit der Einbildungskraft aber schlecht ver sehen sind, als von welcher Vermögenheit die Geschicklichkeit, sich in der Welt fortzubringen, abhängt. Viele sind daher moralisch gut, weil sie keine Fähigkeit haben, böse zu seyn. Diese Antwort, sollte ich meynen, wäre sehr deutlich und handgreiflich; weil aber die Philosophen in die Naturlehre nicht soweit hineingiengen, so er fanden sie jene unsinnige und unbeständige Ur sache, das Glück, welcher sie jeden guten und schlimmen Ausgang zuschreiben, da sie ihn viel mehr der Unvorsichtigkeit und der Ungeschicklich keit der Menschen zuschreiben sollten. [] Wenn jemand die Menschen genau betrachten will, so wird er finden, daß es deren vier Klassen in jeder Republik giebt. Einige sind klug, und scheinen es nicht zu seyn, andere scheinen es, und sind es nicht; andere sind es nicht und scheinen es auch nicht; andere sind es, und scheinen es auch. Es giebt Leute, welche verschwiegen, langsam im Reden, träge im Antworten, ohne Höflich keit, ohne Zierlichkeit in ihren Reden sind: in sich aber besitzen sie eine verborgene und na türliche Fähigkeit, welche von der Einbil dungskraft abhänget, und durch welche sie Zeit und Gelegenheit bey allen ihren Ver
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richtungen, Mittel und Wege ihren Endzweck zu erreichen, richtig erkennen, ohne sich darüber gegen irgend einen auszulassen, und ihm ihre Einsicht zu entdecken. Diese nun nennt der ge meine Pöbel glückliche Leute, weil es scheint, als ob sie nur sehr wenig Klugheit und Geschicklich keit bey ihren Verrichtungen, die ihnen alle glück lich von Statten gehen, anwendeten. [] Hingegen giebt es andere Leute, welche mit dem Munde sehr fertig sind, immer grosse Ein fälle und Projecte haben, die ganze Welt sich zu regieren getrauen, und sichere Mittel wissen wol len, wie man mit wenigem ein grosses Vermö gen erlangen könne. Diese scheinen dem Pöbel in die innersten Geheimnisse der Weisheit einge drungen zu seyn; greifen sie aber das Werk selbst an, so sieht man, daß ihnen nicht das geringste von Statten geht. Dergleichen Leute sind es, welche sich über das Glück beklagen; die es blind, närrisch und unsinnig nennen, weil sie wahrneh men, daß auch das, was sie mit noch so grosser Klugheit ausgesonnen zu haben glauben, dennoch keinen guten Ausgang habe. Wenn wirklich ein Glück wäre, welches für sich antworten könn te, was würde es wohl sagen? Jhr selbst, wür de es sagen, seyd unbeständig, närrisch und unver nünftig; ihr haltet eure Thorheit für Weisheit; ihr wendet üble Mittel an, und diese übeln Mittel sollen gleichwohl einen guten Endzweck hervor bringen. — — — Diese Art von Leuten besitzt diejenige Art der Einbildungskraft, welche den
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Worten Zierlichkeit und den Reden blendenden Schimmer giebt; sie scheinen also etwas zu seyn, was sie in der That nicht sind. [] Aus allem diesen schliesse ich also, daß derje nige Feldherr, welcher ein Genie hat, wie es die Kriegskunst erfordert, und vorher alles wohl überlegt, ehe er es unternimmt, nothwendig sehr glücklich seyn muß. Findet aber das Gegen theil bey ihm Statt, so wird er gewiß nicht ei nen einzigen Sieg davon tragen; GOtt müß te denn für ihn streiten, so wie er für die Hee re des Jsraelitischen Volks ehemals gestritten hat. Bey dem allen aber muß man doch alle zeit die klügsten und weisesten Feldherren erwäh len, die nur zu finden sind. Denn weil man nicht alles der göttlichen Hülfe überlassen muß, und der Mensch nicht einzig und allein auf sei ne Fähigkeit und auf sein Genie trauen soll, so ist es am besten, wenn man beydes verbindet, indem das Glück nichts anders, als GOtt, und die eigene kluge Vorsicht des Menschen ist. [] Derjenige, welcher das Schachspiel erfand, erfand eine Vorstellung der ganzen Kriegskunst, indem er alle Betrachtungen, die man in dem Kriege machen muß, alle Vorfälle, die sich dar innen ereignen, keinen einzigen ausgenommen, anbrachte. Und gleichwie in diesem Spiele kein Glück Statt findet; wie man denjenigen Spie ler, welcher seinen Gegner überwindet, nicht glück lich und den Ueberwundenen nicht unglücklich nen nen kann: eben so muß man denjenigen Feld
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herrn, welcher überwindet, weise, den Ueberwun denen aber dumm und unvorsichtig, nicht aber jenen glücklich und diesen unglücklich nennen. †) Der Hauptpunkt, den der Erfinder des Schach spiels darinnen festsetzte, ist, daß derjenige Theil überwunden seyn sollte, dessen König matt ge macht sey. Hierdurch wollte er zu verstehen ge ben, daß alle Stärke einer Armee in dem Hau pte desjenigen ist, welcher sie regiert und an führt. Damit er dieses unwidersprechlich zei gen möge, so gab er dem einen Theile so viel Stücken, als dem andern, damit derjenige, wel cher verlöre, deutlich sehen möchte, die Schuld habe an seiner Ungeschicklichkeit, und nicht an dem Glücke gelegen. Dieses fällt noch mehr in die 265
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Augen, wenn man siehet, daß ein grosser Spie ler demjenigen Gegner, dem er an Geschicklich keit überlegen ist, die Hälfte seiner Bauern und Anführer schenkt, und das Spiel gleichwohl ge winnet. Dieses hat schon Vegetius angemerkt, wenn er lib. III. tit. 9. sagt: pauciores nume- ro et inferioribus viribus superuenientes et insidias facientes, sub bonis ducibus repor- tarunt saepe victoriam. Das ist: es trägt sich oft zu, daß wenige und schwache Soldaten ein grosses und starkes Heer überwinden, wenn sie von einem Feldherrn angeführt werden, welcher viele Fallen und Hinterhalte zu legen weiß. [] Er setzte ferner fest, daß kein Bauer zurück gehen könne; und wollte damit einen Anfüh rer erinnern, daß er ja vorher alle Schlingen wohl überlegen sollte, die man ihm etwa stellen könnte, ehe er seine Soldaten zum Anfalle an führte: denn wenn er sie einmal übel angeführt hat, so müssen sie sich eher auf ihrem Platze er morden lassen, als dem Feinde den Rücken keh ren. Der gemeine Soldat braucht es im Krie ge nicht zu wissen, wenn er anfallen, oder wenn er sich zurück ziehen soll; zu beyden muß er den Befehl von seinem Anführer erwarten. Alles, was ihm zukömmt, ist dieses, daß er seinen Platz bis auf den letzten Blutstropfen ver theidige, wenn er nicht seiner Pflicht und Ehre zuwider handeln will. [] Ferner gab der Erfinder des Schachspiels die Regel, daß derjenige Bauer, welcher sieben
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Fächer, ohne daß man ihn weggenommen hat, vor sich gegangen sey, eine höhere Stelle erlan ge, daß er nunmehr hingehen könne, wohin er wolle, und sich zu dem Könige, als ein Freyer und Adelicher, gesellen dürfe. Hiermit hat er wol len zu verstehen geben, wie viel in dem Kriege daran gelegen sey, wenn man muthige und tapfe re Soldaten haben wolle, daß man diejenigen, welche sich durch grosse Thaten hervorgethan ha ben, belohne, und sie zu grössern Ehrenstellen befördere. Wenn besonders der Vortheil und die Ehre auch bis auf ihre Nachkommen fortge pflanzet wird, so kann man gewiß glauben, daß sie sich um so viel tapferer erweisen werden. Aristoteles sagt daher, *) daß ein Mensch die allgemeine Ehre seines Geschlechts weit höher schätze, als sein Leben insbesondere. Auch Saul sah dieses wohl ein, indem er durch einen He rold bey seiner Armee ausrufen ließ: wer den Mann schlägt, den will der König sehr reich machen, und ihm seine Tochter ge ben, und will seines Vaters Haus frey machen in Jsrael. **) Auch in Spanien war ehedem ein Gesetz, welches diesem Ausrufe sehr ähnlich war, und welches demienigen, der durch seine Tapferkeit im Kriege einen Sold von fünf hundert Sueldos (der höchste, den ein Soldat im Kriege bekommen konnte,) erworben hatte, 266 267
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mit allen seinen Nachkommen auf ewig von allen Abgaben und Diensten frey sprach. [] Die Mohren, welche sehr grosse Schachspie ler sind, haben zur Nachahmung der sieben Fä cher, welche ein Bauer durchgehen muß, ehe er ein Officier werden kann, auch sieben Staffeln in ihrem Solde. Wenn sich ein Soldat unter ihnen wohl hält, so steigt er nach Maaßgabe sei ner Thaten von dem einfachen Solde zu dem doppelten, von dem doppelten zu dem dreyfachen, und so fort, Jst seine Tapferkeit aber in der That so groß, daß er den höchsten verdient, so bekömmt er den siebenfachen Sold und wird ein septenarius oder mata - siete genannt. Ein solcher hat eben so grosse Vorzüge und Freyhei ten, als der, welcher in Spanien ein hidal- go heißt. [] Dieses Verfahren hat seinen guten Grund in der Natur, weil keine von allen den Vermö genheiten, welche den Menschen regieren, frey willig zu wirken pflegt, wenn sie keinen Vortheil, der sie antreiben könnte, vor sich siehet. Aristote les*) beweiset es insbesondere von der Erzeigungs vermögenheit, und was er von dieser sagt, das gilt auch von den übrigen. Der Gegenstand der zur Kriegskunst erforderlichen Fähigkeit, wie wir schon im Vorhergehenden erinnert haben, ist die Ehre und der Vortheil; und wenn die se wegfallen, so fällt auch aller Muth und alle Tapferkeit weg. Hieraus nun wird man es er= 268
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sehen, was für eine wichtige Bedeutung darun ter liegt, wenn in dem Schachspiele ein Bauer, der sieben Fächer ohne Hinderung durchgeschrit ten ist, die Würde eines Officiers erhält. Je der Adel, der in in der Welt jemals gewesen ist, oder noch seyn wird, hat seinen Ursprung von Bauern oder andern gemeinen Leuten, welche durch ihre persönliche Tapferkeit solche Thaten verrichteten, daß sie sowohl für sich als für ihre Nachkommen den Titel Hidalgo, Ritter, Edler, Graf, Marquis, Herzog und König verdienten. Zwar ist es wahr, daß es unverständige Leute genug giebt, welche so wenig Ueberlegung haben, daß sie nichts weniger, als einen Anfang ihres Adels zugeben wollen, sondern behaupten, er sey ewig, liege in ihrem Blute, so daß sie ihn durch ein übernatürliches göttliches Geschenk, und nicht durch eine besondere Gnade des Kö nigs erlangt hätten. [] Bey dieser Gelegenheit, ob es gleich eigent lich zu meinem Zwecke nicht gehört, kann ich nicht umhin, ein sehr artiges Gespräch anzufüh ren, welches zwischen Carolo, unserm gnädigsten Könige, und dem Doctor Suarez von Toledo, sei nem Oberhofmeister zu Alcala de Henares, (Com plut,) wo damals der königliche Hof war, vorfiel. Der König . Was haltet ihr von diesem Orte, Herr Doctor? Suarez . Sire, alles Gute. Er hat die schönste Luft und den schönsten Boden, den nur irgend ein Ort in Spanien hat.
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Der König = Recht; und deswegen ha ben mich die Aerzte versichert, daß er meiner Gesundheit am zuträglichsten seyn werde. Habt ihr die Universität gesehen? Suarez . Nein, Sire. Der König . Die müßt ihr sehen. Es ist eine der vornehmsten, und man versichert mich, daß alle Wissenschaften hier sehr gut ge lesen würden. Suarez . Jch zweifle hieran im geringsten nicht; weil es eine Hoheschule ist, die man durch gängig sehr lobt. Der König . Aber, wo habt ihr studirt? Suarez . Sire, in Salamanca. Der König . Und also seyd ihr auch in Sa lamanca Doctor geworden? Suarez . Nein, Sire. Der König . Allein das scheint mir nicht allzuwohl gethan zu seyn, wenn man auf einer Universität studirt, und auf der andern den Gra dum annimmt. Suarez . Ewr. Majestät werden verzei hen. Jn Salamanca sind die Unkosten allzu groß, wenn man einen Gradum annehmen will. Die Armen also, und Leute meines gleichen, wen den sich dahin, wo sie es am wohlfeilsten haben können, da wir ohnedem wissen, daß man Wissen schaften und Geschicklichkeit nicht durch die akade mische Würde, sondern nur durch seinen eigenen Fleiß erhalten könne. Meine Aeltern waren zwar so arm nicht, daß ich nicht auch in Salamanca den
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Gradum hätte annehmen können, wenn sie es ge wollt hätten. Doch Ew. Majestät wissen wohl, daß die Doctores dieser Universität gleiche Vor rechte mit den hijos dalgo des spanischen Reichs haben; und also uns, die wir es schon von Natur sind, wenigsten unsern Nachkommen, würde es zu keinem geringen Nachtheile gereichen. Der König . Welcher König von meinen Vorfahren hat euer Geschlecht zu der Würde der Hijos dalgo erhoben? Suarez . Keiner; denn Ew. Majestät wer den überlegen, daß es zwo Arten von Hijos dalgo in Spanien giebt. Die einen sind es dem Blute nach, die andern aber sind es durch ein königliches Privilegium geworden. Die ersten, von welchen auch ich einer bin, haben ihren Adel niemals von den Händen eines Königes bekommen; wohl aber die andern. Der König . Das ist mir schwer zu begrei fen; und ich wünschte, daß ihr mir davon mehrern und deutlichern Bescheid geben wolltet. Wenig stens mein königliches Geblüte, wenn ich von mir auf meinen Vater, von meinem Vater auf mei nen Großvater, und von diesem auf die übrigen zu rücke gehe, läßt sich nicht weiter fortsetzen, als bis auf den Pelagus, welcher nach dem Tode des Kö niges Rodrigo zum Könige erwählt wurde, vorher aber es nicht gewesen war. Wenn ihr al so auch in eurem Geschlechte zurückgehen wolltet, solltet ihr nicht endlich auf einen kommen, welcher kein Hidalgo gewesen wäre?
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Suarez . Dieses ist nicht zu leugnen: denn jede Sache muß ihren Anfang gehabt haben. Der König . Jch frage euch also nun, von wem derjenige die Würde eines Hidalgo bekom men hat, von welchem sie auf euer ganzes Geschlecht gekommen ist? Er selbst hat sich nicht von allen den Diensten und Abgaben frey machen können, mit welchen seine Vorfahren dem Könige ver bunden waren. Dieses wäre ein Diebstahl und eine gewaltsame widerrechtliche Verringe rung des Königlichen Eigenthums gewesen; und es wäre sehr schlecht, wenn diejenigen, die sich für gebohrne Hidalgos ausgeben, einen so schimpf lichen Ursprung haben sollten. Folglich ist es klar, daß der König den ersten frey gesprochen und ihm die Würde eines Hidalgo muß ertheilet ha ben; wo nicht, so nennte mir einen andern, von dem er diesen Vorzug haben könne. Suarez . Ew. Majestät schliessen vollkom men richtig, und es ist unwidersprechlich, daß der wahre Adel ein Werk des Königs sey. *) Man nennt aber diejenigen gebohrne Hidalgos, von deren Ursprunge man nichts weiß, und von welchen man nicht angeben kann, zu welcher Zeit 269
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oder von welchem König seinem Geschlechte die se Würde sey ertheilt worden. Diese Dunkel heit wird in dem Staate für rühmlicher gehalten, als wenn man das Gegentheil genau anzugeben weiß, u. s. w. [] Auch der Staat kann Hidalgos machen Denn wenn ein Mensch sich durch Tapferkeit, Tu gend und Reichthum ganz besonders hervor thut, so wagt er es nicht, ihn einzurolliren; weil er es für etwas unanständiges hält und glaubt, daß er es gar wohl verdiene, für seine Person frey zu le ben, und nicht mit dem gemeinen Pöbel vermengt zu werden. Wenn diese Achtung sich nun auf die Kinder und Nachkommen fortpflanzet, so entstehet ein Adel daraus, und sie bekommen dieses Vorrecht auch wider Wissen und Willen des Königes. Diese nun sind nicht deßwegen Hidalgos, weil sie den höchsten Sold jemals erwor ben haben; sondern man hält sie für Hidalgos, weil man das Gegentheil von ihnen nicht bewei sen kann. [] Derjenige Spanier, welcher den Namen hijo dalgo erfand, scheinet uns in der Lehre, welche wir bisher abgehandelt haben, nicht wenig zu bestärken: denn nach seiner Meynung finden bey dem Menschen zwey Geburten Statt. Die eine Geburt ist die natürliche, in Ansehung de ren alle Menschen unter einander gleich sind; die andere ist die geistige, wenn nämlich ein Mensch eine besondere Heldenthat verrichtet, oder sonst eine ungemeine Tugend ausübt. Alsdenn
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wird er von neuem gebohren, alsdenn erhält er bessere Aeltern, und ist das nicht mehr, was er vor her war. Gestern hieß er ein Sohn Peters und ein Enkel des Sancho, nunmehr aber ist er ein Sohn seiner eigenen Werke; und hierinnen hat das spanische Sprichwort, cada uno es hijo de sus obras, ein jeder ist der Sohn seiner Werke, sei nen Grund. Selbst die heilige Schrift*) nen net gute und tugendhafte Thaten etwas, Laster und böse Handlungen aber nichts; worauf ohne Zweifel derjenige sah, welcher den Namen, hijo dalgo erfand: denn dieses Wort heißt eigentlich der Sohn jemands, und bedeutet heut zu Tage den Nachkommen eines Mannes, welcher eine besondere grosse Tugend ausgeübet hat, deswe gen er von dem Könige oder von dem Staate mit gewissen Vorrechten, die bis auf seine Nach kommen fortgehen, beehret wurde. [] Das Landrecht sagt, **) ein Hijodalgo bedeu te einen Sohn der Güter. Wenn dieses von den zeitlichen Gütern zu verstehen seyn soll, so ist es eine Unwahrheit, weil es unzählige arme Hi josdalgo und eben so viel Reiche giebt, welche keine Hijosdalgo sind. Wenn aber unter dem Worte Güter die Tugenden zu verstehen sind, so legt das Landrecht diesen Theil eben so aus, wie wir ihn ausgelegt haben. [] Ein offenbares Beyspiel von derjenigen Ge burt, die der Mensch ausser seiner natürlichen Ge= 270 271
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burt haben kann, kömmt selbst in der heil. Schrift vor, da unser Heiland*) dem Nicodemus vor wirft und spricht: bist du ein Meister in Jsrael und weißt das nicht, daß ein Mensch von neuem müsse gebohren werden, daß er ein besseres Wesen und andre weit geehrtere Aeltern bekommen müs se, als die natürlichen sind? So lange also ein Mensch noch keine heldenmäßige Handlung ver richtet hat, so lange heißt er in dieser Bedeutung niemands Sohn, (hijo de nada) obgleich sein Titel jemands Sohn (hijo dalgo) ist. [] Bey dieser Gelegenheit kann ich mich nicht enthalten, ein gewisses Gespräch zu erzählen, wel ches zwischen einem berühmten Hauptmanne und einem Ritter vorfiel, welcher von seinem Ge schlechte viel Rühmens machte. Man wird dar aus nicht undeutlich sehen können, worinnen die wahre Ehre bestehet, und daß es schon damals etwas ganz bekanntes gewesen sey, was man mit dieser zwoten Geburt sagen wolle. Gedachter Hauptmann war einstmals in einer Gesellschaft von Rittern und andern adelichen Personen, wo von der uneingeschränkten Freyheit der Soldaten in Jtalien geredet wurde. Einer aus der Ge sellschaft, der eine gewisse Frage an ihn that, nannte ihn, in Betrachtung seines geringen Her kommens, seiner armen Aeltern und des kleinen schlechten Fleckens, welcher sein Geburtsort war, ihr. Der Hauptmann bemerkte dieses Wort und ward darüber empfindlich, sagte aber weiter nichts als: Ewr. Herrlichkeit sollen wissen, daß 272
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diejenigen Soldaten, welche einmal der italiäni schen Freyheit gewohnt sind, sich unmöglich in Spa nien wohl befinden können, weil daselbst alzuviel Gesetze wider diejenigen sind, welche den Degen ziehen. Als die übrigen, welche zugegen waren, höreten, daß der Hauptmann den Ritter Ewr. Herrlichkeit nannte; so konnten sie sich des La chens nicht enthalten. Der Ritter aber, als er sie lachen sah, wurde ganz zornig darüber, und sagte: meine Herren, sie müssen wissen, daß Ewr. Herrlichkeit hier nichts weiter heissen soll, als das spanische v. merced. (Ewr. Gnaden.) Der Herr Hauptmann weiß noch nicht, was hier Sitte ist; er nennt also alle diejenigen, welche er v. merced. nennen sollte, v. sennoria (Ewr. Herrlichkeit.) Nein, nein, fiel ihm der Haupt mann in das Wort; Ewr. Herrlichkeit dürfen mich nicht für so dumm ansehen, daß ich mich nicht sollte nach der italiänischen Sprache zu be quemen wissen, wenn ich in Jtalien bin, und nach der spanischen, wenn ich mich in Spanien aufhalte. Derjenige aber, der mich ihr zu nen nen Recht hat, der muß wenigstens in Spanien eine Herrlichkeit seyn; und auch alsdann würde er mir noch sehr unhöflich begegnet haben. Was? sagte der Ritter halb erzürnt; seyd ihr nicht, Herr Hauptmann, da und da her gebürtig? Sind eu re Aeltern nicht die und die? Und wißt ihr nicht, wer ich bin? wer meine Vorfahren gewesen sind? Mein Herr, sagte der Hauptmann, ob Ewr. Herrlichkeit gleich von sehr gutem Adel
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ist, und ob es gleich auch ihre Vorfahren gewe sen sind; so sind doch ich und mein rechter Arm, welchen ich jetzt allein für meinen Vater erken ne, weit besser, als ihr und euer ganzes Geschlecht. [] Auf was zielte dieser Hauptmann anders, als auf die zwote Geburt, welche bey einem Men schen Statt finden kann? Auf was könnten die Worte: ich und mein rechter Arm, den ich jetzt allein für meinen Vater erkenne, anders ge hen, als hierauf? Und er konnte auch in der That durch seine Geschicklichkeit und seinen De gen Thaten verrichtet haben, welche seine Per son mit dem Adel des Ritters in gleichen Werth setzten. [] Gemeiniglich, sagt Plato, *) sind das Ge setz und die Natur einander zuwider: denn wenn ein Mensch mit noch so vieler Weisheit und Großmuth, mit einem noch so freyen und durch dringenden Geiste aus ihren Händen kömmt, zu gleich aber in der Hütte eines Amicla, (dieses war der Name eines gewissen geringen und elen den Bauers,) gebohren wird, so bleibt er nach dem Gesetz aller Ehre und Freyheit, in die ihn die Natur setzen wollte, verlustig. Gegentheils sieht man andere, die nach ihrem Genie und ihren Sitten zu nichts als zu Sclaven bestimmt waren, gleichwohl aber, weil sie in berühmten Häusern auf die Welt kamen, von dem Gesetze für Herren erkannt wurden. 273
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[] Etwas sehr besonderes aber, das man so lange, als die Welt steht, noch nicht angemerkt hat, ist dieses, daß selten, oder vielmehr niemals grosse Helden, †) oder andere, die sich mit einem besondern Genie in den Waffen und in den Wissenschaften hervorgethan haben, anderswo als in Dörfern und kleinen Flecken, niemals aber in weitläuftigen und volkreichen Städten auf die Welt gekommen sind. Der Pöbel aber ist so unwissend und unverständig, daß es ihm gleich ein Beweis für das Gegentheil ist, wenn jemand einen kleinen Ort zu seinem Geburtsorte hat. Wir haben hiervon ein offenbares Beyspiel in der heil. Schrift, da das Jsraelitische Volk, vol ler Erstaunen über die grossen Thaten unseres Heylandes, ausrief: was kann aus Naza reth Gutes kommen! 274
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[] Auf das Genie des vorhin gedachten Haupt manns wieder zurückzukommen, so mußte er noth wendig mit derjenigen Art der Einbildungskraft, welche die Kriegskunst erfordert, sehr viel Ver stand verbinden. Er zeigte daher in seiner Re de keine geringe Einsicht; und wir werden mit leichter Mühe alle die Punkte herausziehen kön nen, welche den wahren Werth eines Menschen ausmachen, wenn er in der Republik hochgeach tet zu werden verdienen soll. [] Sechs Stücke, soviel ich einsehe, müssen bey einem Menschen anzutreffen seyn, wenn er den Namen eines Geehrten mit Recht verdienen soll. Wenn ein einziges daran fehlt, so ist er noch im mer in einer gewissen Verachtung. Doch sind sie nicht alle von einerley Grade, noch von einerley Wichtigkeit. [] Das erste Stück ist dasjenige, worauf das meiste ankömmt. Es besteht in dem persönli chen Werthe eines jeden, in seiner Klugheit, Ge rechtigkeit und Tapferkeit. Dieser persönliche Werth ist es, durch welchen man Reichthum und Vorzüge erlangt, und welcher allen denen, die man groß und berühmt nennen soll, das We sen geben muß. Aus ihm muß der Ursprung aller adelichen Geschlechter in der ganzen Welt hergeleitet werden; und wer dieses nicht zuge ben will, der betrachte einmal die vornehmsten Häuser in Spanien. Ein jedes, wie er in den Geschichten finden wird, hat seinen Anfang von Privatleuten, welche durch den eigenthümlichen
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Werth ihrer Person dasjenige erworben haben, was ihre Nachkommen noch jetzt besitzen. [] Das zweyte Stück, welches, nach dem per sönlichen Werthe, den Menschen geehrt macht, ist das Vermögen, ohne welches, wie wir sehen, niemand in dem Staate sehr geachtet wird. [] Das dritte ist der alte Adel seines Geschlechts. Aus einem berühmten Hause entsprungen zu seyn, ist ein sehr kostbarer Vorzug; ein Vor zug aber, der diesen grossen Fehler hat, daß er an und für sich selbst ohne Nutzen ist. Der blosse Adel kann weder dem Adelichen selbst, noch den Nothdürftigen etwas helfen. Er schafft we der zu essen noch zu trinken, weder Kleider noch Schuh; man kann niemanden ein Geschenk davon machen; niemand kann auf ihn trotzen. Er raubet vielmehr einem Armen alle Mittel, seinen Bedürfnissen abzuhelfen, und macht wohl, daß er bey gesundem Leibe vor Hunger sterben muß. Jst aber der Adel mit Reichthum ver bunden, alsdann ist nichts in der Welt, was ei nen Menschen geehrter machen könne, als er. Man pflegt den Adel mit einer arithmetischen Null zu vergleichen, welche in den Rechnungen durchaus nichts gilt, wenn sie nicht bey andern Zahlen steht: und so, wie diese sind, so ist ihr Werth groß oder klein. [] Das vierte Stück, was einen Menschen geehrt macht, ist, daß er irgend eine Würde oder ein Ehrenamt habe. Nichts hingegen drückt den Menschen so sehr nieder, als wenn er sein
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Brodt durch eine mechanische Handthierung verdienen muß. [] Das fünfte Stück bestehet darinnen, daß der Mensch einen schönen und wohlklingenden Namen habe, nicht aber einen rauhen und wi drigen, wie ich weiß, daß verschiedene haben. Man lieset in der Spanischen Geschichte folgendes Beyspiel. Es langten bey dem Könige Alphon sus, dem neunten(richtig ist König Alfons VIII. von Kastilien) , zwey französische Gesandten an, welche für ihren Herrn, den König Philipp, eine von seinen Prinzessinnen zur Ehe verlangen soll ten. Die eine von diesen Prinzessinnen war sehr schön, und hieß Urraca; die andere war so schön und reizend nicht, aber ihr Name war Blanca. Als nun beyde den Gesandten vorge stellt wurden, so meynte jedermann, die Wahl werde auf keine andere, als auf die Urraca, fal len, weil sie die älteste und zugleich auch die schönste sey. Doch, da die Gesandten nach bey der Namen fragten, so wurden ihre Ohren durch den Namen Urraca so sehr beleidiget, daß sie sogleich die Donna Blanca wählten, und dieses zur Ursache angaben, der Name Blanca würde in Frankreich angenehmer seyn, als der andere. [] Das sechste endlich, was den Menschen geehrt macht, ist, daß er wohl gekleidet, geputzt und mit vielen Bedienten umgeben sey. [] Der wahre Adel der Spanischen Hijosdalgo schreibt sich von denen her, welche durch ihre Verdienste und durch viele verrichtete grosse Tha ten in dem Kriege den Sold von fünfhundert
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Sueldos erworben hatten. Diesen Ursprung haben die neuern Geschichtschreiber nicht darthun können; denn was sie nicht geschrieben und auf gezeichnet finden, wozu eine eigene Erfindungs kraft gehört, das wissen sie nicht. Der Unter schied, welchen Aristoteles*) zwischen dem Ge dächtnisse und dem Erinnern angiebt, ist dieser, daß das Gedächtniß, wenn es etwas verloren hat, was es vorher wußte, unmöglich wieder dar auf kommen kann, es müste es denn von neuem ler nen. Das Erinnern hingegen hat diese beson dere Eigenschaft, daß es dasjenige, was es ver gessen hat, wieder findet, wenn nur noch die ge ringste Spur vorhanden ist, über die es seine Betrachtungen anstellen kann. Dasjenige Ge setz, welches man zum Vortheile tapferer Solda ten gegeben hat, ist sowohl in den Büchern, als in dem Gedächtnisse der Menschen verloren ge gangen, und nichts ist davon übrig geblieben, als die Worte: hijo dalgo de devengar qui- nientos sueldos, segun fuero de Espanna, y de solar conocido. Wenn man über diese Worte seine Betrachtungen und Schlüsse an stellt, so wird man leicht auf das übrige, was damit verbunden gewesen ist, fallen. [] Wenn Antonius von Lebrixa die Bedeutung des Worts vendico, angiebt, so sagt er, es hiesse so viel als devengar para si, das ist, sich das jenige zueignen, was einem vermöge des Solds und des Rechts gehört; so wie wir uns heut zu 275
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Tage der neuern Redensart tirar gajes del Rey o ventajas (Gehalt oder andere Vortheile von dem Könige ziehen,) bedienen. Sogar in Alt Castilien ist noch die Redensart, fulano bien ha devengado su trabajo (dem oder jenem ist seine Arbeit wohl bezahlt worden,) so gebräuch lich, daß auch Leute von Stande sie öfterer, als irgend eine andere, gebrauchen. Von dieser Be deutung muß auch das Wort vengar hergelei tet werden, wenn sich nämlich jemand wegen der erlittenen Beschimpfung an einem bezahlt macht: denn jede Beschimpfung kann man im verblüm ten Verstande eine Schuld nennen. Wenn ich folglich von jemanden sage, er ist hijo dalgo de devengar quinientos sueldos, so soll dieses so viel heissen: er ist ein Nachkomme eines Sol daten, welcher sich so tapfer gehalten hat, daß er durch seine Thaten den höchsten Sold, wel cher in fünfhundert Sueldos bestand, verdiente. Ein solcher nun war segun fuero de Espana, (nach den Gesetzen des spanischen Reichs,) mit allen seinen Nachkommen, von allen Abgaben und Diensten, womit er dem Könige verbunden war, befreyet. Auch hinter dem Worte, solar conocido, steckt kein anderes Geheimniß, als die ses, daß ein Soldat, welcher in die Zahl derje nigen kam, die sich den Sold von fünfhundert Sueldos erworben hatten, in die königlichen Re gister namentlich, nebst seinem Geburtsorte, sei nen Aeltern und Anverwandten aufgeschrieben wurde, damit das Gedächtniß desjenigen, wel
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chem der König eine so grosse Gnade erwiesen hatte, mit allen Umständen aufbehalten würde. Dieses kann man noch jetzt aus dem pergamen tenen Codex ersehen, welcher in Simancas auf bewahret wird, und worinnen die vornehmsten Häuser des ganzen spanischen Adels aufgezeich net sind. Gleiche Sorgfalt wendete Saul an, als David den Goliath umgebracht hatte, indem er sogleich dem Abner befahl, sich zu erkundigen, weß Sohn der Jüngling sey? (1. Sam. XVI.) Vor Alters hieß solar sowohl das Haus eines Bauern, als eines Adelichen. [] Nach dieser ziemlich langen Ausschweifung müssen wir wieder auf unsern Vorsatz zurückkeh ren, und untersuchen, woher es komme, daß sich in dem Schachspiele, welches wir für ein Bild des Krieges ausgegeben haben, derjenige, wel cher verliert, leichter erzürnt, als in irgend einem andern, obgleich um nichts gespielt wird: und also der Eigennutz im geringsten nicht dar unter walten kann. Ferner, woher es komme, daß diejenigen, die bey diesem Spiele zusehen, auf mehr Fallstricke fallen, als die Spieler, ob sie schon bey weitem nicht so gut spielen können? Endlich, welches ohne Zweifel der schwerste Punkt seyn wird, wie es zugehe, daß einige Spieler, wenn sie nüchtern sind, auf mehr Ränke fallen, als wenn sie gegessen haben; andere hingegen besser spielen, wenn sie satt sind? [] Bey dem ersten ist wenig Schwierigkeit: denn, wie wir schon gesagt haben, so findet we
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der in dem Kriege noch in dem Schachspiele das Glück Statt, so daß man niemals sagen kann: wer hätte das gedacht? Alles beruht, sowohl bey dem einen als bey dem andern, auf der Un wissenheit und Ungeschicklichkeit desjenigen, wel cher verliert, und auf der Klugheit und Geschick lichkeit desjenigen, welcher gewinnt. Wenn sich ein Mensch in Sachen, die einzig von dem Genie und der Fähigkeit abhängen, überwun den sieht, ohne daß er die Schuldauf etwas an ders, als auf seine Unwissenheit schieben kann; so muß er sich nothwendig erzürnen: denn ein jeder vernünftiger Mensch ist ehrbegierig, und kann es nicht leiden, daß ihn ein anderer in Wer ken, die von dem Verstande abhängen, übertref fe. Aristoteles*) wirft daher die Frage auf: διατι ἐj ἀρχης της μεν κατα το σωμα ἀγω- νιας ἀθλοντι προὐταjαν„{??} σοφιας δε οὐδεν ἠθηκαν; das ist: warum die Alten für den jenigen keinen Preiß bestimmt haben, welcher andere an Weisheit und Wissenschaft übertrift, da sie doch den Tänzern, den Läufern und den Ringern keine geringe Belohnung ausgesetzt hät ten? Er antwortet auf diese Frage: weil in dem Ringen und in allen körperlichen Uebungen Richter gesetzt werden könnten, welche eines je den vorzügliche Geschicklichkeit darinnen bestimm ten, indem es hier bey Ertheilung des Preises bloß auf die Entscheidung des Auges ankomme, 276
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welcher am besten tanze, oder am schnellsten ren ne. Jn den Wissenschaften hingegen sey es et was sehr schweres, wenn man mit dem Ver stande ausmachen sollte, welcher dem andern dar innen vorzuziehen sey, weil die Wissenschaften etwas geistiges sind. Wenn daher der Richter bey Austheilung des Preise ungerecht verfahren wollte, so würden es sehr wenige merken, indem sein Ausspruch auf eine sehr feine Entschei dung, die nicht in die Sinne fallen kann, an komme. Ausser dieser Antwort ertheilt Aristoteles auch noch eine bessere, diese nämlich: weil die Menschen sich nicht viel daraus machten, wenn sie von andern im Ringen, im Tanzen, und im Laufen übertroffen würden, indem alles dieses Ge schicklichkeiten wären, worinnen auch die Fertig sten nicht einmal gewissen unvernünftigen Thieren gleichkommen könnten. Was aber kein Mensch mit Geduld ertragen könnte, wäre dieses, wenn ein anderer für weiser und klüger erklärt würde, als er; er fasse sogleich einen heftigen Haß gegen die Richter, und suche sich an ihnen zu rächen, weil er gewiß glaube, sie hätten ihn aus Bosheit beschimpfen wollen. Diese Verdrüßlichkeiten nun zu vermeiden, haben die Alten niemals den jenigen Verrichtungen, welche von dem vernünf tigen Theile des Menschen abhängen, weder Rich ter noch Preise setzen wollen. Hieraus folgt, daß diejenigen Universitäten sehr übel thun, die durch gewisse Richter bestimmen lassen, welcher von den Licentiaten der erste, zweyte oder dritte, nach
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Maaßgebung der Geschicklichkeit, die ein jeder in der öffentlichen Prüfung gezeigt hat, seyn solle. Zu geschweigen, daß täglich alle die Verdrüßlich keiten daraus folgen, welche schon Aristoteles an gemerkt hat, so ist es sogar wider die Lehre des Evangeliums, welche durchaus keinen Rangstreit unter den Menschen duldet. Die Wahrheit hier von erhellet aus folgendem unwidersprechlich. Als eines Tags die Jünger unseres Heilandes auf dem Wege mit einander stritten, welcher unter ihnen der Größte sey; so fragte sie ihr Meister, nach dem sie in der Herberge eingekehret waren, was die Ursache ihres Streits unter Wegens gewesen wäre? So einfältig als sonst die Jünger waren, so begriffen sie doch wohl, daß sie eine unerlaubte Frage unter sich abgehandelt hätten. Die Schrift sagt, daß sie sich nicht unterstanden hätten, es ihm zu sagen. Jesus aber, dem als GOtt nichts verborgen war, sagte zu ihnen: so jemand will der erste seyn, der soll der letzte seyn vor allen und aller Knecht (Marc. IX. 35.) Daher waren auch die Pharisäer unserm Hei lande so verhaßt, weil sie, wie er (Matth. XXIII.) sagt, gern in den Schulen und über Tische oben an sassen. [] Der vornehmste Grund, worauf sich diejeni gen stützen, welche diese Staffeln auf den Univer sitäten vertheidigen, ist dieser: damit die Studiren den, wenn sie sehen, daß ein jeder nach der Geschick lichkeit, die er zeigt, belohnt werde, so zu reden Es sen und Trinken bey ihrem Fleisse vergessen möch
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ten. Dieses würden sie ohne Zweifel unterlassen, wenn man den Fleissigen nicht belohnte, und den Faulen und Nachlässigen nicht bestrafte. Doch dieser Grund ist sehr seichte, und hat kaum den Schein der Wahrheit, indem er eine offen bare Unwahrheit voraussetzt, diese nämlich, daß man nicht anders gelehrt werden könne, als wenn man unablässig über den Büchern liege, und immer gute Lehrmeister höre, von deren Vorle sungen man auch nicht das geringste verlieren dürfe. Sie bedenken nicht, daß, wenn dem Studierenden das Genie und die Fähigkeit fehlt, welche die Wissenschaft, auf die er sich legt, erfordert, es ganz vergebens ist, wenn er sich auch Tag und Nacht den Kopf über den Büchern zerbricht. Jhr Jrrthum ist auch schon hieraus klar, da sie Genies, welche himmelweit von ein ander unterschieden sind, unter sich streiten lassen. Das eine, weil es fein und durchdringend ist, macht sich in einem Augenblicke mit der Wis senschaft bekannt, ohne ein Buch angesehen zu haben; ein anderes hingegen ist zeitlebens un ermüdet fleissig, und lernet doch nichts, weil es von Natur roh und träge ist. Die Richter nun, als Menschen, ertheilen demjenigen den er sten Preis, welchen die Natur und nicht der Fleiß geschickt gemacht hat; den letzten aber demje nigen, welcher ohne Genie gebohren wurde, an seinem Fleisse aber es niemals ermangeln ließ: gleich als wenn jener seine Wissenschaft durch beständiges Lesen der Bücher erhalten, dieser aber
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seine Zeit mit Müssiggehen und Schlafen zuge bracht hätte. Es ist eben so, als wenn sie zween Läufern einen Preiß aussetzten, wovon der eine gesunde und schnelle Füsse hätte, der andere aber auf einem Beine hinkte. Ja, wenn die Uni versitäten niemanden zu den Wissenschaften lies sen, als diejenigen, welche das erforderliche Ge nie darzu haben, und wenn dieses Genie bey allen gleich wäre; so wäre es sehr wohl gethan, daß man Strafen und Belohnungen aussetzte. Denn alsdenn wäre es offenbar, daß derjenige, welcher das meiste wüßte, auch der Fleissigste gewesen wäre; derjenige hingegen, welcher weni ger könnte, seine Zeit mit Müssiggehen zuge bracht habe. [] Auf den zweyten Zweifel antworte ich folgen des. Eben so, wie die Augen Licht und Klarheit nöthig haben, wenn sie die Farben und Gestalten erkennen sollen; eben so unentbehrlich ist auch der Einbildungskraft das Licht in dem Gehirne, wenn sie die Bilder, die in dem Gedächtnisse sind, soll sehen können. Diese Klarheit aber entsteht we der von der Sonne, noch von einem andern körperlichen Lichte, sondern von den Lebensgeistern, welche in dem Herzen erzeugt werden, und sich hernach in dem ganzen Körper zertheilen. Ue brigens aber muß man wissen, daß die Furcht alle Lebensgeister in dem Herzen zusammenzieht, und also das Gehirn dunkel, und die übrigen Theile des Körpers kalt läßt. Aristoteles*) fragt 277
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daher: διατι οἱ φοβουμενοι μαλιϛα τρεμουσι την φωνην και χειρας, και το κατω χειλος; das ist: warum diejenigen, welche sich fürchten, mit der Stimme, an den Händen, und an der untersten Lippe zittern? Er antwortet hierauf, was wir eben jetzt gesagt haben, daß sich nämlich die natürliche Wärme durch die Furcht in dem Herzen zusammenziehe, und also alle Theile des Körpers kalt zurücklasse. Von der Kälte aber haben wir in dem Vorhergehenden nach der Meynung des Galenus*) behauptet, daß sie alle Kräfte und Vermögenheiten der Seele träge macht, und in ihren Wirkungen verhindert. Die Antwort auf den zweyten Zweifel wird also un widersprechlich diese seyn: daß sich diejenigen, welche Schach spielen, deswegen zu verlieren fürchten, weil es ein Spiel ist, wo es auf Ehre oder Beschämung hinausläuft, indem, wie wir schon gesagt haben, das Glück daran keinen An theil nehmen kann. Da sich nun durch diese Furcht die Lebensgeister in dem Herzen zusammen ziehen; da die Einbildungskraft folglich träge und kalt bleibt, und die Bilder in dem Gedächtnisse ohne Licht sind, so ist die Ursache offenbar, warum derjenige, welcher spielt, nicht wohl nachdenken kann. Diejenigen aber, welche bey diesem Spie le zusehen, welche keinen Vortheil dabey haben, und sich nicht zu verlieren fürchten dürfen, fallen auf weit mehr künstliche Züge, weil ihre Einbildungs kraft die erforderliche Wärme hat, und die Bil 278
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der in ihrem Gehirne von den Lebensgeistern er leuchtet sind. Zwar ist es auch wahr, daß die ses allzuviele Licht der Einbildungskraft schädlich seyn kann, welches sich besonders alsdenn zuträgt, wenn der Spieler entweder erzürnt oder beschämt über seinen Verlust wird: denn durch den Zorn wächst die natürliche Wärme und erleuchtet die Einbildungskraft mehr als nöthig ist. Von allen diesen Zufällen ist ein blosser Zuschauer befreyt. [] Eben hieraus entstehet auch dieses, was man nicht selten sich zutragen sieht, daß nämlich eben alsdenn, wenn ein Mensch seine Wissen schaft und Fähigkeit am meisten will sehen lassen, er sich am allerschlechtesten zeigt. Andere hinge gen, wenn sie ihre Geschicklichkeit zu zeigen gezwun gen werden, scheinen sich anzustrengen und mehr als sonst zu wissen. Bey beyden ist die Ursache klar: bey demjenigen nämlich, welcher sehr viel na türliche Wärme in seinem Kopfe hat, zieht sich ein Theil davon in dem Herzen zusammen, wenn ihm zum Beyspiel angekündigt wird, in vier und zwan zig Stunden wider eine verwirrte Materie zu oppo niren; das Gehirn bleibt also in einer gemässig ten Wärme, und von dieser werden wir im folgen den Hauptstücke beweisen, daß sie einen Menschen niemals an Einfällen und Gedanken arm läßt. Bey demjenigen hingegen, welcher in der That sehr geschickt und von grossem Verstande ist, bleibt, wenn man seine Geschicklichkeit auf die Probe stellen will, aus Furcht gar keine natürliche Wärme in dem Kopfe, daß ihm also, aus Mangel des Lichts
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in dem Gehirne, nichts beyfällt, was er sagen oder antworten könne. Wenn dieses diejenigen be dächten, welche sich mit ihrem Tadel über gros se Feldherren machen, welche ihre Kriegslisten, ihre Schlachtordnungen und Angriffe beurthei len, so würden sie leicht einsehen, was für ein grosser Unterschied dazwischen sey, dem Kriege aus seiner Stube zuzusehen, oder Krieg zu spie len, und ihn wirklich zu führen, voller Furcht das anvertraute Kriegsheer einzubüssen. [] Auch dem Arzte kann die Furcht bey seinen Kuren nicht wenig Schaden thun; denn seine Praxis, wie wir oben dargethan haben, hängt von der Einbildungskraft ab, welcher weit mehr, als irgend einer andern Fähigkeit, die Kälte zu wider ist, indem sie ihre Wirkung mit der Wär me verrichten muß. Die Erfahrung zeigt es daher, und schon Galenus*) hat es angemerkt, daß die Armen weit leichter kurirt werden, als Reiche und Vornehme. [] Ein Rechtsgelehrter, welcher wußte, daß ich diese Materie unter Händen hatte, fragte mich ei nes Tages, woher es wohl komme, daß ihm bey Rechtshändeln, von welchen er wüßte, daß sie wohl bezahlt würden, eine Menge Gesetze und unzählige rechtliche Anführungen, worauf er sich gründen könnte, beyfielen; wo er aber wüßte, daß ihm seine Arbeit nicht bezahlt würde, da schien es ihm, als wenn er auf einmal alle seine Wissenschaft vergessen hätte. Jch antwortete 279
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hierauf: der Vortheil gehöret der erzürnlichen Vermögenheit zu, welche in dem Herzen ihren Sitz hat; wenn dieser nun kein Genüge gethan wird, so giebt sie niemals gutwillig Lebensgeister her, durch deren Licht die Bilder in dem Gehir ne müssen erkannt werden; wenn man sie hin gegen zufrieden stellt, so giebt sie mit Lust genug same natürliche Wärme, wodurch die vernünfti ge Seele zureichende Klarheit bekömmt, die Ab drücke in dem Gehirne zu sehen. †) Diesen Fehler haben alle Leute von grossem Verstande; sie sind eigennützig und sehr geizig; und eben die ses waren die vornehmsten Eigenschaften des ge dachten Rechtsgelehrten. Doch wenn wir die Sache recht überlegen, so ist es ein Theil der Gerechtigkeit, daß derjenige bezahlt werde, wel cher in einem fremden Weinberge arbeitet. [] Eben dieses gilt auch von den Aerzten, wel chen, wenn sie gut bezahlt werden, unzählige Hülfsmittel beyfallen; und welche eben, wie jener Rechtsgelehrter, auf einmal alle ihre Kunst und Wissenschaft vergessen, wenn sie keine Be lohnung anreitzt. Hierbey fällt etwas sehr merk würdiges vor, dieses nämlich: die gute Einbil dung des Arztes fällt in einem Augenblicke auf 280
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das, was bey jedem Falle zu thun ist; wenn er sich aber lange Bedenkzeit darüber nimmt, so scheint er unzählige Unbequemlichkeiten dabey zu entdecken, welche ihn unentschlüssig machen; und unterdessen entgeht ihm die Gelegenheit, das Mittel, welches ihm zuerst einfiel, anzuwenden. Es ist daher schädlich, wenn man einen guten Arzt viel ermahnt, daß er ja wohl bedenken sol le, was er thue; man sollte ihn vielmehr er mahnen, dasjenige zu bewerkstelligen, was ihm sogleich das Beste zu seyn scheinte. Die Ursa che hiervon ist das, was wir in dem Vorherge henden von der Ueberlegung erwiesen haben. Die Ueberlegung nämlich vermehrt die natürli che Wärme, und kann sie zu einem solchen Gra de treiben, daß die Einbildungskraft dadurch ganz irre gemacht wird. Nur demjenigen Arz te, welcher eine nicht allzugute Einbildungskraft hat, kann eine lange Ueberlegung nicht schädlich seyn: denn durch die Ueberlegung erhält sein Gehirn nach und nach gleich denjenigen Grad der Wärme, welchen diese Fähigkeit der See le nöthig hat. [] Aus dem, was wir jetzt gesagt haben, er hellet auch die Antwort auf den dritten Zweifel ganz deutlich. Diejenige Art der Einbildungs kraft, welche zu einem guten Schachspiele erfor dert wird, braucht einen gewissen Grad der Wär me, wenn sie auf kunstreiche und listige Züge fallen soll. Derjenige nun, welcher mit nüchter nem Magen spielt, hat gleich alsdenn diesen nö
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thigen Grad; durch die hinzukommende Wär me der Speisen aber wird er höher getrieben, als es dienlich ist, so daß der Spieler folglich schlechter spielen muß. Das Gegentheil hiervon ereignet sich bey denen, welche nach dem Essen gut spielen; ihre natürliche Wärme hat durch die Speisen und den Wein denjenigen Grad erlangt, welchen sie bey nüchternem Magen nicht hatte. [] Jene Stelle bey dem Plato muß folglich ver bessert werden, wenn er *) sagt, daß die Natur sehr weislich die Leber so weit von dem Gehirne entfernt habe, damit die Speisen durch ihre Aus dünstungen die vernünftige Seele in ihren Be trachtungen nicht stören könnten. Wenn er die ses von den Wirkungen verstehet, die von dem Verstande abhängen, so hat er vollkommen recht; ein gleiches aber kann von keiner einzigen Art der Einbildungskraft behauptet werden. Den Beweis hiervon kann man alle Tage bey den Gesellschaften und Schmausereyen sehen. Wenn die Schmauserey über die Hälfte ist, alsdann fangen die Gäste erst an, recht aufgeweckt zu werden, und unzählige artige Einfälle und lustige Erzählungen vorzubringen; wenn auch schon im Anfange keiner ein Wort vorzubringen wußte. Zum Ende der Schmauserey aber ist kein einziger mehr zu reden im Stande, weil der Grad der Wärme weit höher getrieben ist, 281
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als ihn die Einbildungskraft braucht. †) Die, welche vorher ein wenig essen und trinken müs sen, ehe ihre Einbildungskraft recht rege wird, sind diejenigen, bey welchen die schwarze ver brannte Galle die Oberhand hat; denn dieser ihr Gehirn ist wie ungelöschter Kalk, welcher, wenn man ihn anfühlt, kalt und trocken ist, eine unerträgliche Hitze aber von sich giebt, wenn man ihn mit etwas Wasser befeuchtet. [] Gleichfalls muß jenes Gesetz der Karthagi nenser, welches Plato*) anführt, verbessert wer den, vermöge dessen nämlich keinem Feldherrn, so lange er im Kriege war, und keiner Raths person, so lange sie das Regiment führte, Wein zu trinken erlaubt war. Ob es Plato gleich für sehr gerecht hält, und es nicht genugsam loben kann, so ist doch dabey ein Unterschied zu ma chen nöthig. Das Richten und Entscheiden, wie wir in dem Vorhergehenden gesagt haben, ist ein Werk des Verstandes; der Verstand aber verabscheuet die Wärme, ††) und folglich 282 283 284
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ist ihm der Wein sehr schädlich. Eine Repu blik aber zu regieren, ist etwas ganz anders, als einen Proceß zu übernehmen und zu entscheiden, und ist eine Wirkung der Einbildungskraft, wel che nothwendig Wärme erfordert. Wenn sie nun den nöthigen Grad von Natur nicht hat, so ist es einem Regenten gar wohl erlaubt, ein wenig Wein zu trinken, damit er sie auf diesen Grad erhöhe. Ein gleiches versteht sich von ei nem obersten Anführer, dessen Anschläge gleich falls ein Werk der Einbildungskraft sind. Wenn er daher mit etwas Hitzigem seine natürliche Wärme vermehren muß, so ist nichts darzu bes ser, als der Wein: er muß ihn aber mässig trin ken, weil keine andere Nahrung dem Genie der Menschen schädlicher und nützlicher seyn kann, als der Wein. Der Feldherr muß folg lich den Grad seiner Einbildungskraft wohl ken nen, damit er wisse, ob er seine natürliche Wär me durch Speise und Wein vermehren oder nüch tern bleiben solle: denn hierauf allein kömmt es an, daß ihm eine Kriegslist wohl oder übel ausfalle.
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Vierzehntes Hauptstück. Worinnen gezeigt wird, welche Art des Genies ein König haben müsse, und welches die Merkmale sind, wor an man dieses Genie erkennet.

[] Als Salomo zum Könige und zum Haupte eines so grossen und zahlreichen Volks, als Jsrael war, erwählet wurde, so bat er, wie die heil. Schrift*) sagt, um nichts, als Weisheit vom Him mel, damit er wohl regieren könne. Diese Bitte war GOtt so angenehm, daß er ihn zur Belohnung zu dem weisesten Könige, der jemals in der Welt gewesen ist, machte. Doch auch hierbey ließ er es nicht bewenden; er gab ihm, ausser der Weis heit, grossen Reichthum und viel Ehre; und ge währte ihm also mehr, als er selbst in seinem gros sen Gebete verlangt hatte. Hieraus folgt deut lich, daß die allergrößte Klugheit und Weisheit, deren ein Mensch fähig seyn kann, diejenige ist, wel che der Grund der Regierung eines guten Königs seyn muß. Diese Folge ist so klar und unwider sprechlich, daß wir uns bey ihrem Beweise nicht aufhalten dürfen. Alles, was wir zu thun haben, ist dieses, daß wir zeigen, welcher Art des Genies die Kunst, ein König, und zwar ein solcher König zu seyn, wie ihn der Staat braucht, zukomme; 285
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und daß wir hernach die Merkmale aufsuchen, woraus man es erkennen kann, ob ein Mensch dieses Genie habe oder nicht. So unwider sprechlich es ist, daß die Kunst zu regieren, alle andere Künste in der Welt übertrift, so gewiß muß auch die vollkommenste Art des Genies, welche die Natur einem Menschen nur zu geben im Stande ist, darzu nöthig seyn. [] Was dieses für eine Art des Genies sey, haben wir bis hieher noch nicht sagen können, in dem wir uns nur bemüht haben, den übrigen Kün sten ihre erforderlichen Genies zu bestimmen. Weil wir aber nunmehr darauf kommen, so ist zu wissen, daß unter den neun Temperamenten, welche bey dem menschlichen Geschlechte zu finden sind, nicht mehr als ein einziges ist, welches, wie Galenus sagt, einem Menschen die allergrößte Weisheit, de ren er nur natürlicher Weise fähig seyn kann, ver schafft. *) Dieses Temperament ist dasjenige, wo alle vier Hauptbeschaffenheiten gemässiget sind, und einander die Waage halten, so daß weder die Wärme die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trocken heit übertrift, sondern, daß alle unter einander so harmoniren, als wenn sie einander ihrer Natur nach gar nicht zuwider wären. Aus die ser Harmonie enstehet ein Werkzeug, welches der vernünftigen Sele zu ihren Wirkungen so bequem ist, daß der Mensch ein vollkommenes Gedächt= 286
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niß, das Vergangene zu behalten, mit einer gros sen Einbildungskraft, das Zukünftige vorauszu sehen, und diese mit einem starken Verstande rich tig zu unterscheiden, zu folgern, zu schliessen, zu urtheilen und zu wählen, verbindet. Die übrigen Arten des Genies, welche wir bis hieher ange führt haben, sind alle unvollkommen gewesen. Denn wenn der Mensch wegen der vielen Trocken heit des Gehirns einen grossen Verstand hat; so kann er keine von den Wissenschaften erlernen, welche der Einbildungskraft und dem Gedächtnis se zukommen. Hat er ferner wegen der grossen Wärme des Gehirns eine starke Einbildungskraft; so bleibt er zu allen Wissenschaften unfähig, wel che von dem Verstande und dem Gedächtnisse ab hängen. Hat er endlich ein glückliches Gedächt niß, weil sein Gehirn sehr feucht ist; so ist er, wie wir oben erwiesen haben, zu allen andern Wissen schaften, welche Trockenheit und Wärme erfor dern, untüchtig. Diese einzige Art des Genies, die wir jetzt vor uns haben, ist diejenige, welche zu allen Künsten nach einer jeden besondern Be schaffenheit gebraucht werden kann. [] Wie schädlich einer Wissenschaft es sey, wenn man die übrigen nicht damit verbinden kann, die ses hat schon Plato angemerkt, wenn er behauptet, die Vollkommenheit in einer jeden Wissenschaft insbesondere, hänge von der allgemeinen Erkennt niß aller Wissenschaften ab: denn kein Theil der Gelehrsamkeit ist von dem andern so sehr entfernt, daß die Kenntniß des einen nicht zur Vollkommen
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heit in dem andern vieles beytragen könne. Was soll man aber denken, daß ich, so sorgfältig ich auch diese Art des Genies aufgesucht habe, nicht mehr als ein einziges Beyspiel davon in Spanien habe finden können? Sollte nicht daraus deutlich folgen, daß Galenus mit Recht behaupte, die Natur habe es sich nicht einmal im Traume ein kommen lassen, ausser Griechenland einen Men schen von einem gemässigten Temperamente, und einem Genie, daß sich zu allen Wissenschaften zu gleich schicke, zu machen? Die Ursache davon giebt Galenus*) selbst an, wenn er versichert, daß Griechenland die allergemäßigste Gegend in der ganzen Welt sey, wo weder die Wärme der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übertreffe. Diese Temperatur bringt die aller klügsten und zu allen Wissenschaften geschicktesten Leute hervor, wie es deutlich aus der grossen An zahl der berühmten Männer, welche in Griechen land sind gebohren worden, erhellt. Sokrates, Plato, Aristoteles, Hippokrates, Galenus, Theo phrastus, Demosthenes, Homerus, Thales, Dio genes, Solon und unzählige andre Weise, deren die Geschichte gedenkt, zeigen in ihren Werken eine allgemeine Kenntniß des ganzen Umfanges der Gelehrsamkeit. Schriftsteller aus andern Ländern hingegen, wenn sie etwas schreiben, das in die Medicin oder in eine andere Wissenschaft schlägt, rufen selten oder gar nicht die übrigen Wissenschaften, woraus sie Erläuterungen für ih 287
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re Materie nehmen könnten, zu Hülfe. Alle sind arm und bald erschöpflich, weil sie kein Ge nie haben, das zu allen Wissenschaften bequem ist. [] Was aber noch wunderbarer von Griechen land ist, ist dieses, daß obgleich das Genie der Weibspersonen, wie wir in dem folgenden bewei sen werden, zu den Wissenschaften ganz und gar ungeschickt ist, gleichwohl so viele Griechinnen sich finden, die sich in der Gelehrsamkeit so sehr hervorgethan haben, daß sie mit den allergröß ten Mannspersonen um den Rang streiten kön nen. †) Man betrachte nur die einzige Leon tium, jenes gelehrte Frauenzimmer, welches wi der den Theophrast, ob er gleich einer von den größten Weltweisen seiner Zeit war, schrieb, und ihm nicht wenige Jrrthümer in der Weltweis heit zeigte. Wenn wir die übrigen Gegenden der Welt betrachten, so haben sie kaum ein Ge nie hervorgebracht, welches Aufmerksamkeit ver diente. Die Ursache hiervon ist ihre schlechte natürliche Beschaffenheit, wodurch die Menschen dumm, von trägem Genie, und von übeln Sit ten werden. Aristoteles fragt daher: *) δια τι θηριωδεις τα ἐθη και τας ὀψεις, οἱ ἐν ταις ὑπερβολαις ὀντες, ἠ ψυχοις ἠ καυματος; das ist, warum die Menschen, welche in allzu 288 289
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heissen oder allzukalten Gegenden wohnen, so wohl von Gesicht, als von Sitten, wild sind. Er antwortet auf diese Frage sehr wohl, wenn er sagt, daß die gute Temperatur nicht allein dem Körper ein gutes Ansehen gebe, sondern auch dem Genie und der Fähigkeit sehr zuträg lich sey. *) Wie also eine unmässige Wärme die Natur an der schönen Ausbildung des Men schen verhindert, eben so stört sie die Harmonie der Seele, und macht ihr Genie faul und träge. [] Dieses sahen die Griechen sehr wohl ein, weswegen sie auch alle Völker in der Welt, in Betrachtung ihrer Ungeschicklichkeit und weni gen Wissenschaft, Barbaren nannten. Man sieht daher auch, daß sich, so viele auch ausser Grie chenland auf die Gelehrsamkeit gelegt haben, wenn sie Philosophen gewesen sind, doch weder dem Plato, noch dem Aristoteles gleich gekommen sind. Sind sie Aerzte gewesen, so sind sie weit unter einem Hippokrates und Galenus geblie ben; sind sie Redner gewesen, so haben sie es keinem Demosthenes gleich gethan; und sind sie Dichter gewesen, so hat Homer immer noch einen unendlichen Vorzug vor ihnen behalten. Auch in allen den übrigen Wissenschaften haben die Griechen ohne Widerspruch allezeit den er sten Rang eingenommen. **) Wenigstens hat 290 291
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also die Meynung des Aristoteles bey den Grie chen ihre Richtigkeit, weil sie in der That sowohl die schönsten, als klügsten Leute von der Welt sind: nur daß sie durch die Ueberschwemmung der Türken, welche sie mit Gewalt der Waffen un terwürfig machten, sehr vieles erlitten haben. Eben diese Ueberschwemmung war es, wodurch die Gelehrsamkeit aus Griechenland vertrieben, und die Atheniensische Hoheschule nach Paris in Frankreich, wo sie auch noch jetzt ist, verlegt wurde. Die fähigen Genies, welche auch noch jetzt in diesem Lande erzeugt werden, müssen al so nothwendig verlohren gehen, weil sie keine Cultur haben können, da sie wohl sonst den oben erzählten nichts nachgeben würden. Jn den übri gen Gegenden, ausser Griechenland, ob sie gleich Schulen und Uebungen in Wissenschaften gehabt haben, hat es doch niemals ein Mensch höher ge bracht, als der Grieche. Der Arzt denkt, alles gethan zu haben, was man von ihm fordern kann, wenn er es dahin bringt, daß er das, was Hippokra tes und Galenus sagen, versteht; und der na türliche Weltweise glaubt den höchsten Gipfel in seiner Wissenschaft erreicht zu haben, wenn er das, was Aristoteles vorgebracht hat, einsiehet. [] Gleichwohl ist es keine allgemeine Regel, daß alle, welche in Griechenland gebohren wer den, nothwendig von einem guten Temperamen te, und folglich weise seyn müssen; oder daß alle übrigen nicht anders, als von einer schlech ten Natur, und dumm seyn könnten. Galenus
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selbst erzählt von dem Anacharsis, welcher von Geburt ein Scythe war, daß er ein Genie gehabt habe, welches auch von den Griechen, ob er gleich ein Barbar gewesen wäre, sey be wundert worden. Als ein Atheniensischer Welt weise einmal über ihn spotten wollte, und zu ihm sagte: kehre in die Barbarey zurück, so antwortete ihm Anacharsis: ἐμοι μεν ἡ πατρις ὀνειδος, συδε τῃ πατριδι; das ist: mir gereicht zwar mein Vaterland, du aber gereichst deinem Vaterlande zum Schimpfe. So ein schlechter Erd strich Scythien auch ist, und so dumm die Leute daselbst gebohren werden, so bin ich doch klug ge worden; du aber bist ein Esel, ob dich gleich Athen, das Vaterland der Weisheit und des Genies, hervorgebracht hat. Man darf folglich wegen der Temperatur eines Landes nicht verzwei feln, oder glauben, daß ausser Griechenland kein grosses Genie könne gefunden werden; denn am leichtesten würde man es noch in Spanien finden, als welches Land noch gemäßigt genug ist. So gut ich ein grosses Genie darinnen habe finden können, eben so gut kann es noch mehrere der gleichen geben, ob sie mir gleich nicht bekannt ge worden sind, weil ich die Gelegenheit sie zu prü fen nicht gehabt habe. Es wird daher nunmehr nöthig seyn, daß ich die Merkmale angebe, wor aus man einen Menschen von dem gemäßigsten Temperamente erkennen kann, damit er, wenn er sich etwa irgend wo finden sollte, nicht länger im Verborgenen bleiben dürfe.
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[] Die Aerzte geben sehr viele Kennzeichen an, wodurch diese Art des Genies zu entdecken ist. Die Vornehmsten aber und diejenigen, woraus sich das meiste schliessen läßt, sind folgende. Das erste, wie Galenus*) sagt, ist dieses, daß das Haupthaar röthlich sey; eine Farbe, welche aus dem Weissen und aus dem Rothen zusammenge setzt ist, und von Jahr zu Jahr immer gelblich ter werden muß. Die Ursache hiervon liegt am Tage; weil die Causa materialis, woraus die Haa re erzeugt werden, nach der Meynung der Aerzte, eine grobe Dunst ist, welche aus dem Ge hirne aufsteigt, wenn diese seine Nahrung ver daut. Von welcher Farbe also das Glied ist, von eben der Farbe müssen auch seine Excremente seyn. **) Wenn das Gehirn in seiner Zusammen setzung viel Phlegma hat, so wird das Haupt haar weißlich; ist viel Cholera darinnen, so wird es safrangelb; sind aber diese zwo Feuchtigkeiten mit einander gleich vermischt, so wird das Ge hirn an Wärme, an Feuchtigkeit, und an Trocken heit wohlgemäßigt seyn, und die Haupthaare wer den eine röthliche Farbe haben, welche aus Ver mischung jener beyden besteht. Es ist zwar wahr, daß Hippokrates***) sagt, diese Farbe ent stehe bey denjenigen Menschen, welche weit gegen Norden wohnen, als den Engländern, Hollän dern und Deutschen, aus der, durch die viele Käl te verbrannten Weisse; nicht aber aus der Ur 292 293 294
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sache, die wir angeführt haben. Dieses Kenn zeichen muß man also wohl untersuchen, weil es in gewissen Fällen betrüglich seyn kann. [] Das zweyte Kennzeichen, woraus man ei nen Menschen erkennen kann, welcher diese Art des Genies erlangt hat, ist, wie Galenus*) sagt, dieses, daß er schön und wohl gewachsen sey, daß er eine freundliche und angenehme Ge sichtsbildung habe, so daß ihn jedermann mit eben so grossem Vergnügen ansieht, als er etwan ein vollkommenes Bild betrachtet. Die Ursa che hiervon ist klar. Denn wenn die Natur ge nugsame Stärke und einen wohldurchwirkten Saamen hat, so macht sie von allem möglichen das beste und vollkommenste in seiner Art; wenn sie aber merkt, daß sie nicht Kräfte genug hat, so wendet sie meistentheils allen ihren Fleiß auf den Bau des Gehirns, weil es unter allen Theilen des Körpers der vornehmste Sitz der vernünftigen Seele ist. Und daher findet man viel ungestaltete und häßliche Leute, die aber ein sehr feines Genie haben. [] Die Grösse des Körpers, von welcher derje nige seyn muß, der das gemässigste Tempera ment hat, ist wie Galenus**) sagt, von der Na tur nicht bestimmt. Er kann von grosser, klei ner und mittler Statur seyn, nach der Menge des gemässigten Saamens, der zu seiner Zeu= 295 296
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gung angewendet wurde. Jn Ansehung des Genies aber ist bey wohltemperirten Men schen die mittlere Statur besser, als die gros se, oder die kleine; wenn sie aber auf eins von diesen Aeussersten ausfallen muß, so ist es besser, daß sie klein als groß werde, weil, wie wir nach der Meynung des Plato und Aristoteles erwie sen haben, die vielen Knochen und das viele Fleisch dem Genie sehr schädlich sind. Diesem zu Folge pflegen die natürlichen Weltweisen die Fra ge vorzulegen: *) Cur homines, qui breui sunt corpore, prudentiores magna ex parte sunt, quam qui longo? Zum Beweise dieses Sa tzes führen sie den Homer an, welcher dem klu gen Ulysses eine kleine Statur, dem dummen Ajax aber eine grosse gegeben habe. Auf diese Frage antwortet Alexander von Aphrodisien sehr schlecht, wenn er spricht: die vernünftige Seele könne mehr Stärke in ihren Wirkungen anwen den, wenn sie in einen kleinen Raum zusammen geschränket sey, nach dem bekannten Ausspru che: Virtus vnita fortior est seipsa dispersa; wenn sie aber in einem grossen und weitläuftigen Körper wäre, so besässe sie nicht Gewalt genug, ihn gehörig zu regieren und zu beleben. Doch dieses ist die Ursache nicht, sondern es ist viel mehr diese: weil grosse Leute in ihrer Zusam mensetzung allzuviel Feuchtigkeit haben, welche das Fleisch ausdehnen, und zu der Vergrösse rung, wornach die natürliche Wärme allezeit 297
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strebt, geschmeidig macht. Das Gegentheil hier von ereignet sich bey denen, welche einen kleinen Körper haben, wo wegen der allzugrossen Trocken heit das Fleisch nicht zunehmen, noch von der na türlichen Wärme ausgedehnt werden kann, welches nothwendig eine kleine Statur verursachen muß. Jn dem Vorhergehenden aber haben wir bewie sen, daß unter allen Hauptbeschaffenheiten keine den Wirkungen der vernünftigen Seele so hin derlich sey, als die viele Feuchtigkeit; und kei ne, welche dem Verstande so zuträglich wäre, als die Trockenheit. [] Das dritte Kennzeichen, welches Galenus*) von einem wohltemperirten Menschen angiebt, ist dieses, daß er tugendhaft und von guten Sit ten sey; denn lasterhaft und böse seyn, entste het, wie Plato**) sagt, daher, weil der Mensch eine gewisse Hauptbeschaffenheit in einem unmäs sigen Grade besitzt, und dadurch zu sündigen an gereitzt wird. Wenn er also der Tugend ge mäß handeln soll, so muß er vorher seiner na türlichen Neigung entsagen. Derjenige aber, welcher vollkommen wohl temperirt ist, hat die se Mühe nicht nöthig, weil ihn die untern Fä higkeiten niemals zu etwas antreiben, was wider die Vernunft ist. Galenus sagt daher, ***) es sey unnöthig einem Menschen von solchem Temperamente gewisse Regeln im Essen und Trin 298 299 300
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ken vorzuschreiben, weil er schon von Natur die Menge und Mässigkeit, welche die Arzneykunst angiebt, niemals überschreite. Er nennt solche Leute daher nicht allein die allermässigsten, son dern behauptet auch von ihren übrigen Leiden schaften der Seele, daß man sich niemals einer Ausschweifung von ihnen beforgen dürfe, weil ihr Zorn, ihre Traurigkeit und ihre Freude al lezeit das Mittel hielten, und niemals der Ver nunft widerstritten. Sie sind daher allezeit ge sund, und kränkeln niemals, worinnen das vierte Kennzeichen besteht. [] Doch hierinnen hat Galenus nicht recht, weil es unmöglich ist, daß ein Mensch sich so vollkommen in allen seinen Vermögenheiten er zeigen könne, als vollkommen gemässigt sein Kör per ist. Der Zorn und die Begierden werden noch dann und wann die Oberhand über seine Vernunft davon tragen, und ihn zur Sünde an reitzen. Man muß daher niemals einen Men schen, von so gemässigtem Temperamente er auch immer sey, seinen natürlichen Neigungen folgen lassen, sondern ihn immer bey der Hand leiten, damit er der strengsten Vernunft gemäß hande le. Dieses wird man deutlich einsehen, wenn wir nicht allein das Temperament, welches das Gehirn haben muß, wenn es für die vernünfti ge Seele ein bequemes Werkzeug seyn soll, son dern auch das Temperament des Herzens betrach ten, damit die erzürnliche Vermögenheit nach Ehre, Sieg, Beherrschung und Vorzügen begie
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rig sey; das Temperament ferner der Leber, da mit es die Speisen gehörig verdaue, und das Tem perament der Testikeln, damit sie zur Fortpflan zung des menschlichen Geschlechts geschickt seyn können. [] Von dem Gehirne haben wir schon mehr als einmal erinnert, †) daß es Feuchtigkeit für das Gedächtniß, Trockenheit für den Verstand, und Wärme für die Einbildungskraft haben müsse. Gleichwohl ist es seiner natürlichen Beschaf fenheit nach kalt und feucht; nach den verschie denen Graden dieser zwo Beschaffenheiten aber nennen wir es bald warm, bald kalt, bald feucht, bald trocken; allein niemals verliert die Feuch tigkeit und die Kälte darinnen die Oberhand. [] Die Leber, in welcher die Begierden ihren Sitz haben, ††) ist ihrem natürlichen Tempera mente nach warm und feucht, welche Beschaf fenheit sie auch niemals verliert, so lange auch der Mensch lebt. Wenn wir sie aber ja einmal kalt nennen, so geschieht es nur in so fern, als sie nicht alle Grade der Wärme hat, welche ihre Verrichtungen erfordern. 301 302
|| [0408.01]
[] Von dem Herzen, welches das Werkzeug der erzürnlichen Vermögenheit ist, sagt Galenus*), daß es seiner Natur nach so heiß sey, daß, wenn man einem lebendigen Thiere den Finger in die Höhlungen desselben stecken könnte, man es un möglich länger als einen Augenblick, ohne sich zu verbrennen, aushalten würde. Wenn wir es daher manchmal kalt nennen, so ist es nicht so zu verstehen, als wenn die Kälte darinnen die Oberhand hätte, welches ein durchaus unmögli cher Fall ist; man will bloß damit sagen, daß die Wärme desselben nicht denjenigen Grad ha be, welchen seine Verrichtungen erfordern. [] Eben dieses versteht sich auch von den Testi keln, worinnen der andere Theil der Begierden seinen Sitz hat. Jhr natürliches Temperament ist Wärme und Trockenheit. Wenn wir also manchmal sagen: dieser oder jener Mensch hat kalte Testikeln; so ist dieses von keiner die Ober hand habenden Kälte, sondern nur von einem schwächern Grade der Wärme, als zur Erzeu gungsvermögenheit nöthig ist, zu verstehen. [] Hieraus ist offenbar zu schliessen, daß der Mensch, wenn er wohl gebaut und zusammen gesetzt seyn soll, nothwendig in dem Herzen eine ausserordentliche Hitze haben muß; weil sonst die erzürnliche Vermögenheit bey ihm sehr schwach seyn würde. **) Jst ferner auch die Leber nicht 303 304
|| [0409.01]
ausserordentlich heiß, so wird er weder die Spei se genugsam verdauen; noch das zur Erhaltung nothwendige Blut zubereiten können; eben so wenig, als er zur Fortpflanzung seines Geschlechts geschickt seyn wird, wenn seine Testikeln mehr Kälte als Wärme haben. [] Da also, wie wir gesagt haben, diese Glie der so vermögend sind, so muß nothwendig durch die allzugrosse Hitze eine Veränderung des Ge hirns daraus folgen, als welche Beschaffenheit die Vernunft am meisten verwirret, so daß der Wille hernach, ob er gleich frey ist, aufgebracht wird, und Neigung bekömmt, den Lüsten der niedern Vermögenheiten nachzugeben. *) Aus diesen Betrachtungen nun folgt, daß die Natur nicht vermögend sey, einen Menschen nach allen seinen Kräften vollkommen, und zur Tugend durchaus geneigt hervorzubringen. [] Wie entgegen es vielmehr der menschlichen Natur sey, daß ein Mensch zur Tugend geneigt gebohren werde, sieht man gar deutlich, wenn man den ersten Menschen und seine natürliche Beschaffenheit betrachtet. Diese war, wenn man das einzige Temperament unseres Hei landes ausnimmt, gewiß die vollkommenste, die jemals ein Mensch in der Welt gehabt 305
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hat, weil sie unmittelbar aus den Händen des größten Künstlers kam. Wenn ihm GOtt keine übernatürliche Eigenschaft hätte beygelegt gehabt, welche die niedern Vermögenheiten im Zaume zu halten fähig gewesen wäre, so hätte er seiner Natur nach unmöglich zu etwas andern, als zum Bösen geneigt seyn können. Daß aber GOtt wirklich den Adam mit Zorn und Begier den erschaffen habe, dieses läßt sich leicht aus dem Befehle, den er an ihn that, sehen: seyd frucht bar und mehret euch und füllet die Erde. Er mußte ihm also nothwendig eine starke Erzeu gungsvermögenheit, welche bey einem kalten Kör per nicht statt findet, beygelegt haben: denn er sollte die Erde mit Menschen füllen, welches ohne viele Hitze nicht geschehen kann. [] Gleiche Hitze gab er der Nahrungsvermögen heit, wodurch der Mensch die verlornen Kräfte er setzen und sich neue verschaffen könnte. Dieses erhellt nicht weniger deutlich aus dem, was er fer ner zu ihm sagte: sehet da, ich habe euch ge geben allerley Kraut, das sich besamet, auf der ganzen Erde, und allerley fruchtbare Bäume, und Bäume, die sich besamen zu eurer Speise. Wenn GOtt also dem ersten Menschen einen kalten Magen und eine kalte Le ber hätte geben wollen, so hätte er unmöglich weder die Speisen verdauen, noch sich bis in das neunhundert und dreyßigste Jahr erhalten können. [] Auch das Herz rüstete er ihm aus, und gab ihm die erzürnliche Vermögenheit, wodurch er zur Be
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herrschung und zur Regierung der ganzen Welt geschickt gemacht wurde. Machet die Erde euch unterthan, sagte er, und herrschet über Fische im Meer, und über Vögel unter dem Himmel, und über alles Thier, das auf Erden kreucht. Wenn er dem Adam also nicht genugsame Wärme gegeben hätte, so wür de er weder Muth, noch Ansehen bey seiner Re gierung gehabt haben; er würde weder nach Eh re, noch nach Ruhm, noch nach Majestät begie rig gewesen seyn. Wie schädlich es einem Fürsten sey, wenn die erzürnliche Vermögenheit bey ihm schwach ist, läßt sich nicht genug beschreiben: denn eben daher kömmt es, daß ihn die Unterthanen weder fürchten, noch ehren, noch seine Gesetze beobachten. [] Nachdem Gott also dem Adam die erzürnliche Vermögenheit und die Begierden, durch die Hitze, welche er gedachten Gliedern gab, beygebracht hatte, so gieng er weiter zu der vernünftigen Vermögen heit, und gab ihm ein Gehirn, welches so kalt und feucht, und von einer so feinen Substanz war, daß die Seele damit schliessen und überle gen, und also ihre eingeblasene Weisheit nutzen konnte. Denn, wie wir schon an einem andern Orte gesagt und bewiesen haben, so macht GOtt bey demjenigen Menschen, dem er eine natürli che Weisheit beybringen will, erst das Genie darzu bequem, und giebt ihm solche natürliche Fähigkeiten, die er anzunehmen geschickt ist.
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[] Da nun die erzürnliche Vermögenheit und die Begierden wegen der vielen Wärme so mäch tig, die Vernunft aber so schwach, und zum Wi derstehen so ohnmächtig war; so versah GOtt den Menschen mit einer übernatürlichen Eigen schaft, welche die Theologen die anerschaffene Gerechtigkeit nennen, und womit er die Rei zungen seines geringern Theils unterdrücken konn te, damit der vernünftige Theil die Oberhand behalten, und der Mensch zu allem Guten ge neigt seyn möge. Diese Eigenschaft aber ver loren unsere ersten Aeltern durch den Fall; das Erzürnliche und die Begierden behielten nachher ihre Natur, und sind seitdem allezeit durch die Gewalt der drey gedachten Glieder der Vernunft überlegen gewesen, so, daß es von dem Men schen heißt: das Dichten seines Herzens ist böse von Jugend auf. [] Adam wurde in dem Alter seiner Jugend er schaffen, welches nach der Meynung der Aerzte, besonders des Galenus, *) das allergemässigste ist. Gleich von diesem Alter also an, die wenige Zeit ausgenommen, die er in dem Stande der Un schuld blieb, war er mehr zum Bösen als zum Gu ten geneigt. [] Aus dieser Lehre folgt, nach den richtigsten Grundsätzen der natürlichen Weltweisheit, daß, wenn der Mensch eine tugendhafteHandlung, welche seinem Fleische entgegen ist, verrichten soll, er sie unmöglich ohne eine mitwirkende überna 306
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türliche Gnade vollziehen kann, weil die Beschaf fenheiten, womit seine untern Vermögenheiten wirken, die mächtigsten sind. Jch sage: eine tugendhafte Handlung, welche seinem Fleische entgegen ist; denn es giebt nicht wenig mensch liche Tugenden, welche bloß aus der Schwä che der erzürnlichen Vermögenheit und der Be gierden entstehen, wie zum Beyspiele die Keusch heit eines Menschen von kaltem Temperamente ist, welche eher eine Unvermögenheit, als eine Tugend genannt zu werden verdienet. [] Wenn uns also auch die katholische Kirche nicht lehrte, daß niemand ohne besondern Beystand GOttes seine Natur überwinden könnte, so könn te uns doch schon die natürliche Weltweisheit lehren, daß eine übernatürliche Gnade unsern Wil len stärken müsse. Alles, was Galenus hat sagen wollen, ist dieses, daß ein Mensch von dem gemäs sigsten Temperamente alle andre, die dieses Tem perament nicht haben, an Tugend übertreffe, weil er von seinem geringern Theile minder Reizungen auszuhalten habe. [] Die fünfte Eigenschaft, welche Leute von diesem Temperamente haben, ist ein sehr langes Leben; weil sie genugsame Kräfte haben, den meisten Anfällen zu widerstehen, wodurch die Menschen krank werden. Dieses ist es, was der Prophet David in seinem neunzigsten Liede sagen will: unser Leben währet siebenzig Jahr; und wenns hoch kömmt, so sinds achtzig Jahr;
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und wenns köstlich gewesen ist, so ists Mühe und Arbeit gewesen. [] Zum letzten Kennzeichen endlich giebt Gale nus*) dieses an, daß sie von sehr grossem Geiste sind, daß sie ein starkes Gedächtniß, das Vergangene zu behalten, eine starke Einbildungskraft, das Zukünf tige voraus zu sehen, und einen grossen Verstand besitzen, wodurch sie die Wahrheit bey allen Sa chen erreichen. Sie sind weder listig, noch tü ckisch, noch boshaft; weil diese Fehler von einem übeln Temperamente entstehen. [] Ein Genie, wie dieses ist, bestimmte die Na tur offenbar weder zur Erlernung der Sprachen noch der Vernunftlehre, weder der Weltweisheit noch der Arzneykunst, weder der Gottesgelahrheit noch der Gesetze. Denn wenn es auch alle diese Wissenschaften mit leichter Mühe erlernen könnte, so würde doch keine davon seine ganze Fähigkeit beschäftigen können. Das einzige Amt eines Kö niges ist das, welches seinem Umfange gemäß ist; und bloß zur Regierungskunst muß es angewen det werden. [] Dieses wird vollkommen deutlich erhellen, wenn wir alle Eigenschaften und Kennzeichen, die wir bey einem wohltemperirten Menschen an gemerkt und durchgegangen haben, nochmals durchgehen und untersuchen, wie ungemein wohl sich eine jede zum königlichen Scepter schicke, und wie unbrauchbar sie zu allen andern Wis senschaften sey. 307
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[] Daß ein König schön und wohlgebildet sey, ist eines von denjenigen Stücken, welches die Unter thanen am meisten ihn zu lieben und zu verehren anreitzt: denn der Gegenstand der Liebe, wie Pla to*) sagt, ist die Schönheit und die gute Ueberein stimmung. Wenn nun der König häßlich und ungestaltet ist, so können unmöglich die Seinigen einige Neigung gegen ihn empfinden; sie müssen sich vielmehr darüber entsetzen, daß sie von einem unvollkommenen und aller Vorzüge der Natur beraubten Menschen sollen regiert werden. [] Wie viel ferner auf ein tugendhaftes Leben und auf gute Sitten ankomme, dieses, hoffe ich, werde ich nicht weitläuftig beweisen dürfen. Der jenige, welcher das Leben der Unterthanen regieren, und ihnen Regeln und Gesetze, die der Vernunft gemäß sind, vorschreiben soll, der muß selbst sein Leben regieren und nach den Vorschriften der Ver nunft handeln. Denn wie der König ist, so sind die Grossen, so sind die Mittlern und Kleinen. Auf diese Art kann er seinen Befehlen einen weit stärkern Nachdruck geben; und diejenigen mit grösserm Rechte züchtigen, welche dawider handeln. [] An allen denjenigen Vermögenheiten vollkom men seyn, welche den Menschen regieren, und in den erwähnten drey Gliedern ihren Sitz haben, ist einem Könige anständiger, als irgend einem andern Künstler oder Gelehrten. Denn, wie Pla to**) sagt, so müssen in einer wohlgeordne 308 309
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ten Republik Brautwerber und Ehestifter seyn, welche die Eigenschaften derjenigen, die sich verbinden wollen, durch Kunst zu erkennen wissen, damit eine jede Mannsperson dasje nige Frauenzimmer bekomme, welches ihm am gemäßesten ist; und jedes Frauenzimmer diejenige Mannsperson, die sich am besten für sie schickt. Auf diese Weise würde niemand des Endzwecks der Ehe verfehlen; da wir ietzt aus der Erfahrung sehen, daß oft eine Weibsper son mit ihrem ersten Manne keine Kinder bekömmt, mit dem zweyten aber fruchtbar genug ist; daß auf eben diese Art eine Mannsperson mit der er sten Frau keine Nachkommen erzielt, in der zwey ten Ehe aber ohne Anstand welche erhält. Diese Kunst, sagt Plato, sollte vornehmlich bey Ver heyrathungen der Könige angewendet werden. Denn da zur Erhaltung des Friedens und der Ru he des Reichs nicht wenig darauf ankömmt, daß der Regent eheliche Kinder, die ihm in seinen Staaten folgen können, habe; so kann es ja wohl geschehen, daß ein König, wenn er sich nur auf gutes Glück verheyrathet, eine unfruchtbare Ge mahlin findet, mit der er zeitlebens, ohne Hof nung, Erben zu erhalten, beschäftiget seyn muß. Stirbt er nun ohne Erben, so entstehen alsobald wegen Erwählung eines Nachfolgers bürger liche Kriege. [] Doch diese Kunst, sagt Hippokrates, *) ist nur bey Leuten, die ein schlechtes Temperament 310
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haben, nöthig; aber nicht bey denen, die ein so vollkommenes Temperament haben, als es in dem Vorhergehenden von uns ist beschrieben worden. Diese haben es nicht nöthig, sich die Weiber auszusuchen, und diejenige zu erwählen, die sich für sie am meisten schickt. Sie mögen sich verheyrathen, mit welcher sie wollen, so wer den sie, wie Galenus*) sagt, unfehlbar Kinder bekommen. Dieses aber versteht sich, wenn die Frau gesund und in demjenigen Alter ist, in wel chem eine Weibsperson, nach dem Laufe der Na tur, empfangen und gebähren kann. Die Frucht barkeit ist also aus angeführten Ursachen bey dem Könige ein weit wichtigerer Punkt, als bey irgend einem andern Menschen. [] Die Nahrungsvermögenheit, wenn sie zu ei ner Gefrässigkeit und Unmässigkeit im Essen und Trinken ausschlägt, entstehet, wie Galenus sagt, daher, daß der Magen und die Leber nicht die jenige Temperatur haben, die zu ihren Verrich tungen erfordert wird. Die Menschen werden daher schwelgerisch, kränklich, und leben sehr kur ze Zeit. Wenn aber diese Glieder eine gemäs sigte Mischung und gleich die erforderliche Be schaffenheit haben, so verlangen sie, wie Galenus sagt, nicht mehr Speise und Trank, als zur Er haltung des Lebens nöthig ist. Diese Eigen schaft ist bey einem Könige etwas so wichtiges, daß GOtt dasjenige Land besonders beglückt hat, 311
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dessen Regent sie besitzt. Wohl dir, Land, des König edel ist: und des Fürsten zu rechter Zeit essen, zur Stärke und nicht zur Lust*). [] Von der erzürnlichen Vermögenheit, nach dem sie zu stark oder zu schwach ist, sagt Gale nus, **) daß sie ein Herz von einer üblen Beschaf fenheit verrathe, welches dasjenige Temperament nicht habe, das zu seinen Verrichtungen erfor dert wird. Das eine äusserste, sowohl als das andere, muß bey einem Könige weit weniger, als bey irgend einem andern Menschen, anzu treffen seyn. Die Rachsucht bey einer unum schränkten Gewalt ist für die Unterthanen eben so schädlich, als schädlich es für den König ist, wenn ihn nichts aufbringen kann. Wenn er alles leicht übersieht, was in seinem Reiche übels gethan wird, so wird er weder von den Unter thanen gefürchtet, noch verehret; woraus für den Staat so viel Unheil und so viele Uebel flies sen, daß ihnen sehr schwer abzuhelfen ist. Wenn aber ein Mensch ein gemässigtes Temperament besitzt, so erzürnt er sich, so oft er Ursache darzu hat, und ist friedfertig, so lange er es seyn kann. Diese Eigenschaft ist bey einem Könige wenig stens eben so nöthig, als alle die übrigen, die wir angeführet haben. [] Wie viel daran gelegen sey, daß auch ferner die vernünftige Vermögenheit, das Gedächtniß, 312 313
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die Einbildungskraft, der Verstand bey einem Könige vollkommen sey, ist eine Sache, die sich selber beweiset. Alle übrige Wissenschaften und Künste können, wie es scheint, durch die blosse Stärke des menschlichen Genies begriffen, und zur Ausübung gebracht werden; ein Reich aber zu regieren, es in Frieden und Eintracht zu er halten, darzu wird nicht allein erfordert, daß der König eine grosse natürliche Klugheit besitze, sondern GOtt selbst muß ihm mit seiner Weis heit beystehen und regieren helfen. Die heil. Schrift, bemerkt dieses, wenn sie *) sagt: des Kö nigs Herz ist in der Hand des Herrn. [] Auch lange Zeit zu leben, und beständig ge sund zu seyn, ist eine Eigenschaft, die bey einem guten Könige weit mehr zu sagen hat, als bey irgend einem andern Künstler und Gelehrten. Seine Sorgfalt und sein Fleiß muß allgemein seyn, und sich über alles erstrecken; wenn er nun nicht gesund ist, und folglich diese Arbeit nicht aushalten kann, so muß nothwendig die Republik zu Grunde gehn. [] Die ganze Lehre, die wir bisher abgehandelt haben, würde ungemein deutlich erläutert wer den, wenn wir ein wahres Beyspiel auftreiben könnten, daß irgend einmal ein berühmter Mann, der alle die erzählten Tugenden und Kennzeichen gehabt, zum Könige sey erwählt worden. So viel ist gewiß, es würde ihm niemals an Gele genheit oder Stof gefehlt haben, seine Eigenschaf ten an den Tag zu legen. 314
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[] Die heilige Schrift erzählt, *) daß, als GOtt über den Saul zornig geworden, weil er dem Amaleck das Leben geschenkt hatte, er dem Samuel befohlen habe, zu dem Bethlehemiter Jsai zu gehen, und einen von seinen acht Söhnen zum Könige zu salben. Der heilige Mann glaub te, GOtt würde vielleicht an dem Eliab seinen Gefallen haben, weil er von einer grossen und ansehnlichen Gestalt war; er fragte ihn also: ob er vor dem HErrn sein Gesalbter sey? GOtt aber antwortete auf diese Frage: siehe nicht an seine Gestalt, noch seine grosse Person; ich habe ihn verworfen. Denn ein Mensch siehet, was vor Augen ist, der HErr aber siehet das Herz an. Samuel ward bestürzt, daß er so unfähig im Wählen sey; er gieng also weiter, und that, was ihm befohlen war, indem er bey einem jeden GOtt fragte, ob er diesen zum Könige salben solle? Weil aber keiner GOtt angenehm war, so sagte er endlich zu dem Jsai, du hast vielleicht noch mehr Söh ne, als die, welche vor uns stehen? Jsai ant wortete hierauf: es ist noch übrig der Klein ste, und siehe, er hütet der Schafe. Und eben wegen der kleinen Gestalt schien er dem Vater zum königlichen Scepter ungeschickt zu seyn. Samuel aber, weil ihn schon GOtt ein mal erinnert hatte, daß die grosse Gestalt eben kein gutes Zeichen sey, sagte, er solle ihn holen las sen. Hier nun ist es in der That etwas sehr 315
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merkwürdiges, daß die heilige Schrift, noch ehe sie seine Salbung zum Könige erzählt, dieses voransetzt: und er war bräunlich, mit schö nen Augen und guter Gestalt. Und der Herr sprach: auf und salbe ihn, denn er ists. David hatte also die zwey ersten Kenn zeichen, die wir angefühet haben; er war bräunlich, er war wohlgebildet und von mittler Statur. [] Auch das dritte Kennzeichen, ein tugendhaftes Leben und gute Sitten, fehlte an ihm nicht, welches man aus dem, was GOtt selbst von ihm sagte, sie het: ich habe funden einen Mann nach mei nem Herzen. *) Gesetzt auch, daß er oft sündigte, so verlohr er doch deswegen nicht den Namen und die Fähigkeit eines Tugendhaften; eben so we nig als einer, welcher seiner Neigung nach laster haft ist, ob er gleich manchmal einige moralisch gute Handlungen verrichtet, den Namen eines Bösen und Lasterhaften verliert. [] Daß er Zeit seines Lebens beständig gesund gewesen sey, scheint man beweisen zu können; denn in seiner ganzen Geschichte wird **) nicht mehr als einer einzigen Schwachheit gedacht. Und auch diese war nichts, als ein natürlicher Zufall, dem alle Menschen unterworfen sind, welche viele Jahre leben; weil sich nämlich die natürliche Wärme bey ihm verlohren hatte, und er in den Betten nicht mehr warm werden konn te, so legten sie ein schönes Mädchen zu ihm, die ihn erwärmen sollte. Uebrigens lebte er so lan 316 317
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ge, daß die Schrift sagt *): und er starb in gutem Alter, voll Lebens, Reichthum und Ehre; ob er gleich in seinem Leben unzählige Mühseligkeiten, besonders im Kriege ausgestan den, und seine Sünden sehr gebüsset hatte. Die Ursache hiervon war sein gutes gemässigtes Temperament, wodurch er den meisten Zufällen, die den Menschen kränklich machen und seine Lebenszeit verkürzen, widerstand. [] Von seiner grossen Klugheit und Weisheit redet jener Bediente des Sauls, wenn er **) sagt: siehe, ich habe gesehen einen Sohn Jsai des Bethlehemiten, der kann wohl auf Saiten spielen: ein rüstiger Mann, und streitbar, und verständig in Sachen, und schön; und der HErr ist mit ihm. Aus diesen angeführten Kennzeichen ist es also offenbar, daß David das gemässigste Tempera ment gehabt habe; und daß Leuten seines glei chen der königliche Scepter zukomme, weil ei gentlich ihr Genie das beste ist, welches die Natur hervorbringen kann. [] Eine sehr grosse Schwierigkeit ereignet sich noch bey dieser Lehre, diese nämlich: warum GOtt, ob er schon alle Genies und Fähigkei ten in ganz Jsrael kannte und wußte, daß nur diejenigen, welche das gemäfsigstegemässigste Temperament besitzen, die Klugheit und Weisheit haben, wel che zu dem Amte eines Königs erfordert wird, 318 319
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gleichwohl bey der ersten Wahl eines Jsraeliti schen Königs keinen solchen Menschen ausgesucht habe? Die Schrift sagt vielmehr, *) daß Saul eines Haupts länger, denn alles Volk ge wesen wäre. Dieses Kennzeichen verräth nicht allein nach der natürlichen Weltweisheit ein schlechtes Genie, sondern GOtt selbst, wie wir erwiesen haben, tadelte den Samuel, daß ihm die grosse Gestalt des Eliabs so wichtig geschie nen, daß er ihn deswegen zum Könige habe salben wollen. [] Doch diese Schwierigkeit bekräftiget das, was Galenus**) sagt: daß man es sich nicht einmal im Traume dürfe einkommen lassen, ei nen wohl temperirten Menschen ausser Griechen land zu finden; weil in einem so grossen Vol ke, als Jsrael war, GOtt nicht einen einzigen fand, den er zum Könige hätte wählen können, son dern warten mußte, bis David gebohren wurde und heranwuchs. Unterdessen aber erwählte er den Saul, weil dieser, wie die Schrift sagt, der beste in ganz Jsrael war; und auch in der That mehr Redlichkeit, als Weisheit besitzen mochte. Die Redlichkeit aber allein ist zum Herrschen und Regieren nicht genug: bonitatem et disci- plinam et scientiam doce me, sagte der Kö nig und Prophet David; weil er wohl einsah, daß ein König nicht bloß tugendhaft, sondern auch zugleich klug und weise seyn müsse. 320 321
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[] Durch dieses Beyspiel des Königs David sollte ich meynen, hätten wir unsere Meynung hinlänglich bestärkt. Doch es wurde noch ein anderer König in Jsrael gebohren, von welchem es hieß *): wo ist der neugebohrne König der Jüden? Wenn wir nun beweisen, daß auch dieser bräunlich, von einer angenehmen Bil dung, von mittler Statur, tugendhaft, gesund, und von grosser Klugheit und Weisheit gewesen sey, so werden wir wohl nichts thun, als was sich zu unserm Vorhaben sehr wohl schickt. [] Die Evangelisten geben sich zwar nicht da mit ab, die körperliche Beschaffenheit unseres Heilandes zu beschreiben, weil sie nicht zu dem Zwecke, den sie sich vorgesetzt hatten, gehöret; allein man kann sie mit leichter Mühe schliessen, vorausgesetzt, daß in dem allergemässigsten Tem peramente alle Vollkommenheit besteht, die ein Mensch natürlicher Weise haben kann. Da ihn nun der heilige Geist selbst bauete und organi sirte, so ist es unwidersprechlich, daß weder der Stof, aus dem er ihn bildete, noch die üble Be schaffenheit der Nazarethischen Gegend ihm wi derstehen, oder ihn, wie andere natürlich wirkende Ursachen, in seinen Wirkungen irre machen konn ten. Er that vielmehr alles, was er wollte, weil ihm weder die Macht, noch die Weisheit, noch der Wille fehlte, den vollkommensten Men schen, der auch nicht den geringsten Fehler ha be, zu bilden: besonders da Christus bloß des 322
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wegen in die Welt gekommen war, daß er, wie er selbst *) von sich sagt, für die Menschen leiden, und sie die Wahrheit lehren sollte. Zu beyden Stü cken ist diese Temperatur, wie wir bewiesen haben, das allerbequemste Werkzeug. Jch halte auch daher diejenige Nachricht, welche der Proconsul Publius Lentulus an den römischen Senat aus Je rusalem schickte, für wahrhaft und unverfälscht. Sie ist folgende: „Es ist zu unsern Zeiten ein Mann von grosser Tugend, mit Namen Jesus Christus, aufgetreten, welcher noch lebt. Von dem Vol ke wird er ein Prophet der Wahrheit und von seinen Schülern ein Sohn GOttes ge nannt. Er erweckt Todte und heilt alle Krankheiten. Er ist von einer mittlern und geraden Statur, und von angenehmer Bil dung. Jn seinem Gesichte hat er etwas, welches Hochachtung erweckt, so, daß ihn al le, die ihn sehen, lieben und fürchten müs sen. Die Haupthaare sind nußgelb, und bis an die Ohren sind sie einerley: von den Ohren aber bis an die Schultern sind sie so gelb als Wachs, und schimmern recht. Mitten auf dem Kopfe hat er eine Abscheidung von Haaren, so wie sie die Nazarener zu tragen pflegen. Seine Stirne ist platt, aber sehr heiter. Das Gesicht ist ohne Runzeln und Flecken, und von einer mässigen Röthe. 323
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Die Nase und der Mund sind untadelhaft. Der Bart ist dicht, und an Farbe den Haupt haaren gleich, nicht lang, in der Mitten aber getheilt. Sein Blick ist unschuldig und ge setzt; seine Augen sind blau und helle. Wenn er bestraft, ist er schrecklich; wenn er ermahnt, ist er freundlich. Er macht sich beliebt. Er ist freudig, aber dabey gesetzt. Niemals hat man ihn lachen, wohl aber weinen sehen. Seine Armen und Hände sind fein. Jn Gesellschaften ist er sehr an genehm, er findet sich aber selten darbey ein; und wenn er sich dabey einfindet, so ist er stille. Kurz, seiner äusserlichen Gestalt nach ist er der schönste Mensch, den man sich nur einbilden kann.“ [] Jn dieser Nachricht kommen drey bis vier Kennzeichen eines vollkommen temperirten Men schen vor. Das erste ist das Haupthaar und der Bart, welche beyde nußgelb waren; eine Farbe, die, wenn wir sie wohl betrachten, nichts als ein verbranntes Roth ist, und von welcher, nach dem Befehl GOttes, *) die Kuh seyn mußte, die zum Vorbilde Christi geopfert wurde. Und als er wie der in den Himmel mit einem ihm anständigen Triumphe zurück kam; so sagten einige Engel, welche nichts von seiner Menschwerdung wußten: wer ist der, so von Edom kömmt, mit röthlichen Kleidern von Bazra? Sie woll ten hiermit fragen: wer ist der, der von dem 324
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rothen Lande kömmt, in Kleidern von gleicher Far be? Sie meynten sein Haupthaar, seinen rothen Bart und das Blut, womit er noch bezeichnet war. [] Gleichfalls erzählt der Brief, daß er der aller schönste Mensch dem Ansehen nach gewesen sey, welches das zweyte Kennzeichen eines wohl tem perirten Menschen ist. Jn der heil. Schrift felbstselbst war es vorher verkündigt worden, daß man ihn an diesem Merkmale erkennen sollte: (Ps. LXV.) du bist der Schönste unter den Menschenkindern; und (1. B. Mos. XLIX. 12.) seine Augen sind röthlicher denn Wein, und seine Zähne weisser denn Milch. Diese Schönheit und gute Beschaffenheit des Körpers trug sehr viel darzu bey, daß ihm alle geneigt waren, und nichts Verabscheuungswür diges an ihm fanden. Der Brief sagt ferner, daß er von mittler Statur gewesen sey: nicht et wa, weil es dem Heil. Geiste an Stof gefehlet habe, woraus er ihn hätte können grösser machen, sondern weil er seine vernünftige Seele nicht mit allzuviel Knochen und Fleisch belästigen wollte, als welches, nach der Meynung des Plato und Aristoteles, dem Genie sehr nachtheilig ist. [] Das dritte Kennzeichen, ein tugendhaftes Leben nämlich und gute Sitten, bekräftigt der Brief gleichfalls: und die Juden konnten mit allen ihren falschen Zeugen das Gegentheil nicht beweisen, noch auf seine Frage antworten: wel cher unter euch kann mir eine Sünde bezeu=
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gen? Josephus selbst, *) nach der Aufrichtigkeit, die er als ein guter Geschichtschreiber beobachten mußte, versichert von ihm, daß er in Ansehung seiner Güte und Weisheit eine ganze andere Na tur, als alle andere Menschen, gehabt zu haben ge schienen. Bloß das lange Leben findet bey un serm Heilande nicht statt, weil er in so jungen Jahren hingerichtet wurde, seiner Natur aber nach, älter als achtzig Jahre hätte werden kön nen. Denn der, welcher in einer Wüste vierzig Tage und vierzig Nächte **) zubringen konnte, ohne daß er starb oder krank ward, der würde sich noch weit leichter gegen andere kleinere Zufälle haben vertheidigen können: obschon diese That als ein Wunder und als eine Sache, die na türlicher Weise nicht geschehen kann, betrach tet wird. [] Diese zwey Beyspiele von Königen, die wir angeführt haben, werden genugsam zu verstehen geben, daß der königliche Scepter nur dem wohl temperirtesten Menschen zukomme, und daß nur diese das Genie und die Klugheit haben, welche zu dem Amte eines Königes nöthig sind. Doch es ist noch ein Mensch übrig, welcher von den eigenen Händen in der Absicht gemacht wurde, daß er ein König seyn, und über alles Erschaffene herrschen sollte. Auch diesen zog er aus einer rothen Erde, machte ihn zu einem angenehmen Manne, gab ihm Tugend, Gesundheit, langes 325 326
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Leben und Weisheit. Dieses zu beweisen, wird unsrer Meynung nicht schädlich seyn können. [] Plato*) hält es für etwas Unmögliches, daß GOtt oder die Natur in einer übel temperirten Gegend einem Menschen ein gutes Temperament geben könne; er sagt daher, GOtt habe, weil er den ersten Menschen weise und vollkommen ge mäßigt habe schaffen wollen, einen Ort darzu ausgesucht, wo weder die Wärme der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit über steige. Die heil. Schrift, aus welcher diese Meynung gezogen ist, sagt nicht, daß GOtt den Adam in dem Paradiese, welches der allergemäs sigste Ort war, erschaffen; sondern ihn nur nach seiner Erschaffung darein gesetzt habe. Denn da die Macht GOttes unendlich, da seine Weis heit ohne Grenzen ist, und er durch sein blosses Wollen dem Menschen alle natürliche Vollkom menheit, deren einer aus seinem Geschlechte nur fähig ist, mittheilen konnte; so stehet zu glauben, daß weder das Stückchen Erde, aus welchem er den Adam bildete, noch die Gegend von Damas cus, wo er gebildet wurde, ihm an der Erschaf fung eines vollkommen temperirten Menschen hinderlich gewesen sey Die Meynung des Pla to, Aristoteles und Galenus findet nur bey den natürlichen Wirkungen Statt; und auch bey die sen trägt es sich noch manchmal zu, daß auch in ungemäßigten Gegenden ein gemäßigtes Genie hervorgebracht wird. Daß aber Adam das er 327
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ste Kennzeichen eines gemäßigten Menschen, ro thes Haupthaar und einen rothen Bart gehabt habe, ist eine ausgemachte Sache; weil er wegen dieser so merklichen Unterscheidung den Namen Adam bekam, welches, nach der Auslegung des heil. Hieronymus, einen rothen Mann bedeutet. [] Daß er wohlgestaltet und von einer angeneh men Gesichtsbildung, worinnen das zweyte Kenn zeichen bestehet, gewesen sey, auch dieses kann man nicht leugnen. Denn nachdem ihn GOtt erschaf fen hatte, so setzt die Schrift*) hinzu: und GOtt sah an alles, was er gemacht, und siehe da, es war alles sehr gut. Es ist al so unwidersprechlich, daß er aus den Händen GOttes weder ungestaltet, noch häßlich gekom men sey: denn GOttes Werke sind vollkom men. **) Sogar von den Bäumen sagt die heil. Schrift, daß sie lustig anzusehen gewesen wären; wie vielmehr wird es also nicht Adam gewesen seyn, welcher das Hauptwerk GOttes war, und ein Herr über die ganze Welt seyn sollte? [] Daß er tugendhaft, weise, und von guten Sit ten, worinnen das dritte und sechste Kennzeichen besteht, gewesen sey, dieses ist aus den Worten zu schliessen: laßt uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sey. Denn nach der Meynung der alten Weltweisen, ***) beruht 328 329 330
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die Gleichheit des Menschen mit GOtt auf nichts, als auf Tugend und Weisheit. Auch Plato sagt daher, *) daß GOtt kein grösseres Ver gnügen im Himmel habe, als wenn er höre, daß auf Erden ein weiser und tugendhafter Mann gepriesen und hochgeachtet werde: denn dieser sey, in so fern er weise und tugendhaft ist, sein leben diges Ebenbild; hingegen erzürne sich GOtt, wenn Thoren und Lasterhafte hochgeachtet und verehrt würden; und dieses zwar wegen der Ungleichheit, die sich zwischen ihnen und GOtt befände. [] Daß Adam endlich gesund und lange gelebet habe, worinnen das vierte und fünfte Kennzei chen bestehet, wird nicht schwer zu erweisen seyn; weil er sein Leben bis auf neunhundert und dreys sig Jahr brachte. Aus allen diesen nun wird man schliessen können, daß derjenige Mensch, wel cher röthlich, von angenehmer Gesichtsbildung, von mittler Statur, tugendhaft, gesund und von langem Leben ist, nothwendig auch der allerklüg ste seyn und das Genie haben müsse, welches zum königlichen Scepter erfordert wird. †) Wir haben hierbey zugleich die Art und Weise entdeckt, wie sich ein grosser Verstand mit einer starken Ein bildungskraft und einem starken Gedächtnisse verbinden lasse, obgleich hierzu auch noch ein anderer Weg möglich ist, ohne daß der Mensch vollkommen gemäßigt sey. Die Natur aber 331 332
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macht so wenige Genies von dieser Art, daß ich unter allen, die ich bisher untersucht, deren nicht mehr als zwey gefunden habe. [] Wie es möglich sey, daß ein grosser Verstand bey einer starken Einbildungskraft und einem starken Gedächtnisse seyn könne, wenn auch der Mensch nicht vollkommen gemäßigt ist; dieses läßt sich leicht einsehen, wenn man die Meynung verschiedener Aerzte voraussetzt, die Einbildungs kraft habe ihren Sitz in dem Vordertheile des Hauptes, der Verstand in der Mitte, und das Gedächtniß in dem hintern Theile. Man kann sich dieses ganz wohl einbilden, ob es gleich ein wenig schwer zu begreifen ist, daß, da das Gehirn zur Zeit der Erzeugung an Grösse kein Pfeffer korn übertrift, das eine Ventrikel nur aus sehr hitzigem Saamen, das andere nur aus sehr feuch tem, und das mittelste nur aus sehr trockenem soll te gemacht werden. Wenigstens aber ist es keine Unmöglichkeit.

Funfzehntes Hauptstück. Welches ohne Zweifel das wichtig ste seyn wird, weil man darinnen zeigt, wie die Väter weise und zu den Wis senschaften fähige Söhne erzeu gen sollen.

[] Es ist in der That etwas sehr merkwürdiges, daß, obschon die Natur, wie wir alle wis sen, sehr weise, klug, geschickt, künstlich und mäch=
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tig ist; obschon der Mensch dasjenige Werk ist, woran sie ihre Kunst am meisten zeigt: daß, sage ich, die Natur gleichwohl unter unzähligen Thoren und unfähigen Menschen kaum einen weisen und tugendhaften hervorbringt. Da ich mich, von dieser Beobachtung die natürlichen Ursachen zu ergründen, bemühte, so kam ich endlich durch mein Nachdenken darauf, daß die Väter bey der Erzeu gung nicht nach der Ordnung, welche die Natur darinnen festgesetzt habe, verführen; und daß sie die Bedingungen nicht kennten, welche, wenn die Söhne klug und weise werden sollen, nothwendig beobachtet werden müssen. Denn so wie in einer gemäßigten oder ungemäßigten Gegend, ein sehr grosses Genie gebohren wird; eben sowohl können derer hundert tausend gebohren werden, wenn beständig auf einerley Art damit verfahren würde. Wenn wir also dieser Unbequemlichkeit durch die Kunst abhelfen könnten, so würden wir ohne Zweifel der Republik den allergrößten Dienst von der Welt damit leisten. Die Schwierig keit aber hierbey ist, daß man bey dieser Materie sich nicht so zierlich und ehrbar ausdrücken kann, als es vielleicht die natürliche Schamhaftigkeit der Menschen erforderte. Wenn wir also aus dieser Ursache hier und da etwas anzumerken, und uns darüber nicht deutlich zu erklären unterlassen sollten, so würde nothwendig alles vergebens seyn; besonders da es die Meynung vieler angesehener Weltweisen ist, daß die weisesten Leute gemeinig lich die allerdümmsten Söhne zeugen, weil sie bey
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dem Erzeugungswerke aus Ehrbarkeit diese und jene Sorgfalt unterlassen, welche doch nothwendig angewendet werden muß, wenn die Weißheit des Vaters auch auf den Sohn soll fortge pflanzt werden. [] Von der natürlichen Schamhaftigkeit der Augen, wenn sie die Werkzeuge der Fortpflanzung sehen, von dem natürlichen Verdrusse, der den Ohren aus ihren Benennungen entsteht, haben viele alte Weltweisen die Ursachen aufzusuchen sich bemüht. Sie sahen, daß die Natur die se Theile des Leibes mit so vieler Kunst und Sorgfalt, und zu einem so grossen Endzwe cke, als die ewige Erhaltung des menschli chen Geschlechts ist, gemacht hatte: sie konn ten es also nicht begreifen, wie es möglich seyn könne, daß einem Menschen der Anblick und die Benennung derselben desto verhaßter sey, je klüger und weiser er ist. [] Die Schamhaftigkeit und Bescheidenheit ist, nach dem Ausspruche des Aristoteles, die eigen thümliche Eigenschaft des Verstandes. Derje nige also, welcher sich über die Handlungen bey dem Erzeugungswerke nicht ärgert, von dem kann man gewiß behaupten, daß er an dieser Vermögenheit Mangel habe; †) eben sowohl als 333
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man sagen kann, daß derjenige kein Gefühl hat, welcher die Hand in das Feuer halten kann, ohne sich zu verbrennen. Aus diesen Kennzeichen schloß der ältere Cato, daß es jenem berühmten Römer, dem Manilius, am Verstande fehlen müsse, weil er seine Frau in Gegenwart der Toch ter, die er hatte, küssen konnte. Er stieß ihn deswegen aus dem Rath, und gab es durchaus nicht zu, daß er jemals wieder unter die Zahl der obrigkeitlichen Personen aufgenommen wurde. [] Diese Betrachtung giebt dem Aristoteles zu folgender Aufgabe Gelegenheit: δια τι μαλιϛα αἰχυνονται ὁμολογειν οἱ ἐπιθυμουντες ἀφρο- δισιαzεσϑαι, ἀλλ' οὐ πιειν, οὐδε φαγειν, οὐδε ἀλλο των τοιουτων οὐδεν; das ist: warum der Mensch, wenn ihm die venerische Lust ankomme, sich sein Verlangen zu entdecken schäme, da er sich doch nicht schäme, seine Begierde zu essen und zu trinken und zu andern dergleichen unumgängli chen Sachen, zu gestehen? Er antwortet auf diese Frage sehr schlecht, wenn er sagt: ἠ ὁτι των μεν πλειϛων ἀναγκαιαι ἁι ἐπιθυ- μιαι, ἐνια δε και ἀναιρει τους μη τυγχανοντας! ἡ δε των ἀφροδισιων, ἐκ περιουσιας ἐϛι; das ist: weil es nicht wenige Begierden gäbe, wel che zu dem Leben des Menschen so unumgäng lich nöthig wären, daß einige davon, wenn sie nicht gestillet würden, den Tod verursachten;
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die venerische Lust aber sey vielmehr ein Zeichen des Ueberflusses, als einer Nothdürftigkeit. [] Doch die Wahrheit zu gestehen, nicht allein die Antwort, sondern auch selbst die Aufgabe ist falsch. Der Mensch scheuet sich nicht allein seine Begierde zur fleischlichen Vermischung zu bekennen, sondern auch sogar seine Begierde zu essen, zu trinken und zu schlafen. Auch wenn er sich entladen muß, scheuet er sich, davon zu reden, und es zu thun; und wenn er es ja thut, so begiebt er sich an den allerverborgensten Ort, wo ihn niemand sehen kann. Es giebt so gar so scham hafte Leute, die unmöglich in Gegenwart ande rer Leute das Wasser lassen können, wenn es auch noch noch so dringend ist; sobald sie aber allein sind, so stößt die Blase den Urin von sich. Auch dieses sind Begierden, dasjenige, was in dem Körper überflüssig ist, wegzuschaf fen; und wenn sie nicht gestillet werden, so verursachen sie eben so leicht den Tod, als die Unterlassung des Essens und des Trin kens. Hippokrates sagt sogar, daß derjeni ge, welcher sich in Gegenwart anderer schäme ihnen Genüge zu leisten, nicht bey gesundem Verstande sey. [] Der Saame, sagt Galenus, *) verhält sich gegen die Saamengefässe eben so, als der Urin gegen die Blase. Denn gleichwie der viele Urin in der Blase einen Kützel verursacht, damit er herausgelassen werde, eben so kützelt der viele 334
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Saame die Saamengefässe. Daß aber Aristo teles meynt, es könne weder eine Mannsperson, noch ein Frauenzimmer durch die lange Zurück haltung des Saamens krank werden, oder gar das Leben verlieren, dieses streitet mit der durch gängig angenommenen Meynung aller Aerzte, besonders des Galenus, welcher *) sagt und be hauptet, daß viele Frauenzimmer, wenn sie ent weder unverehelicht oder im Wittwenstande blie ben, nach und nach Empfindung und Bewe gung, Puls und Athem, und endlich gar das Leben verlöhren. Aristoteles selbst **) erzählt verschiedene Krankheiten, welchen enthaltsame Menschen aus eben dieser Ursache ausgesetzt sind. [] Die wahre Antwort auf diese Frage kann aus der natürlichen Weltweisheit nicht hergeholt werden, als deren Umfang sich so weit nicht er streckt. Wir müssen uns also in eine andere höhere Wissenschaft machen, nämlich in die Me taphysik, worinnen Aristoteles***) behauptet, daß die vernünftige Seele das niedrigste von allen geistigen Wesen sey. Da sie nun mit den Engeln einerley generische Natur hätte, so wür de sie verdrüßlich, so oft sie empfände, daß sie in einem Körper eingeschlossen sey, welchen sie mit den unvernünftigen Thieren gemein habe. Auch die heilige Schrift merkt es als eine ge heimnißvolle Sache an, daß der erste Mensch 335 336 337
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anfangs sich nicht geschämt habe, nackend zu ge hen; sobald er es aber gesehen, habe er sich zu schämen angefangen, weil er zugleich wahrge nommen, daß er sich aus eigener Schuld der Unsterblichkeit verlustig gemacht, daß sein Kör per hinfällig und vergänglich sey, daß er diese Glieder und Werkzeuge nur deswegen empfan gen habe, weil er nothwendig sterben, und an dere seines gleichen nach sich lassen müsse, weil er Essen und Trinken, und die unverdaulichen schändlichen Reste von sich schaffen müsse, wenn er sich anders seine kurze Lebenszeit hindurch er halten wolle. Diese Schaam wurde noch grös ser, wenn er überlegte, daß die Engel, welchen er doch gleich komme, unsterblich wären; daß sie nicht nöthig hätten, zur Erhaltung ihres Le bens zu essen, zu trinken und zu schlafen; daß sie keine Werkzeuge brauchten, wodurch einer den andern hervorbrächte, weil sie alle zugleich aus keiner Materie erschaffen worden wären, und keine Auflösung ihres Wesens befürch ten dürften. Von allen diesen Stücken sind die Augen und Ohren von Natur schon unter richtet, so, daß sich die vernünftige Seele ärgert und schämt, wenn ihr dasjenige ins Gedächtniß gebracht wird, was den Fall des Menschen, und folglich seine Sterblichkeit und Vergänglichkeit verursachte *). 338
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[] Daß dieses die wahre Antwort sey, erhellet deutlich daher: weil GOtt, die vernünftige See le zufrieden zu stellen, und sie gänzlich zu ver herrlichen, nach dem allgemeinen Gerichtstage ihrem Körper die Eigenschaften der Engel, die Feinheit, die Geschwindigkeit, die Unsterblichkeit, und den Glanz geben will, so, daß sie nicht mehr nöthig habe, gleich den unvernünftigen Thieren, zu essen und zu trinken. Wenn sie nun bey diesen Umständen im Himmel seyn wird, so wird sie sich des Fleisches nicht schämen, eben so wenig, als sich jetzt unser Heiland und seine Mutter des ihrigen schämen. Es wird vielmehr ein zufälliges Stück ihres Ruhms seyn, daß nunmehr der Gebrauch derjenigen Theile, wel che das Gehör und das Gesicht sonst so sehr beleidigten, aufgehört habe. [] Jn Ansehung nun dieser natürlichen Scham haftigkeit des Gehörs, will auch ich mich bemü hen, die harten und anstössigen Worte in dieser Materie zu lindern, und sie durch bescheidenere Redensarten zu umschreiben. Wo es sich aber nicht wohl thun lassen will, so wird es mir der geneigte Leser verzeihen, weil es eine ungemein nützliche Sache für die Republik ist, die Art und Weise, wie man Kinder von einem feinen Genie erzeugen soll, in Form einer Kunst zu bringen; indem diese Kunst zugleich dem Staa te tugendhafte, wohlgebildete, gesunde, und ein langes Leben geniessende Bürger verschafft.
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[] Die Materie dieses Hauptstücks läßt sich, sollten wir meynen, auf vier besondere Haupt punkte bringen, wenn unser Vortrag nicht un deutlich, und der Leser nicht irre werden soll. Der erste Punct besteht darinnen, daß wir zei gen, was für Beschaffenheiten und was für ein natürliches Temperament sowohl die Mannsper son, als das Frauenzimmer haben müsse, wenn sie zur Fortpflanzung ihres Geschlechts geschickt seyn sollen. Der andere Punkt betrift dasje nige, was die Aeltern zu beobachten haben, da mit ihre Kinder männlichen und nicht weiblichen Geschlechts werden. Der dritte Punkt zeigt, was sie für Behutsamkeit anwenden müssen, wenn diese Kinder männlichen Geschlechts auch klug werden sollen. Der vierte Punct endlich lehrt, wie sie auferzogen werden müssen, damit sich das natürliche Genie bey ihnen erhalte. [] Was den ersten Punkt betrift, so haben wir schon aus dem Plato*) angeführt, daß in ei ner wohlbestellten Republik gewisse Ehestifter seyn sollten, die durch Kunst die Beschaffenhei ten derjenigen Personen, welche einander heyra then wollen, zu entdecken wüßten, damit jede Mannsperson dasjenige Frauenzimmer, welches ihr am gemässesten ist, und jedes Frauenzim mer diejenige Mannsperson bekommen möge, die sich am besten für dasselbe schickt. [] Jn dieser Materie haben schon Hippocra tes und Galenus angefangen zu arbeiten, indem 339
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sie viele Vorschriften und Regeln gegeben, wor aus man erkennen könne, welches Frauenzimmer fruchtbar, und welches zum Gebähren ungeschickt sey; ferner, welche Mannsperson untüchtig sey, Vater zu werden, und welche hingegen Nach kommen hinterlassen könnte. Allein sie sagen von allen diesen Stücken nur sehr wenig, und nicht mit so genauer Auseinandersetzung, als wir es zu unserm Vorhaben nöthig haben. Wir sind daher gezwungen, diese Kunst aus ihren Grundsätzen herzuleiten, und kürzlich die Ord nung zu beschreiben, die dabey beobachtet wer den muß, wenn man es genau erkennen will, von welchen Aeltern weise und fähige Kinder, von welchen hingegen dumme und unfähige kommen müssen. [] Hierzu wird vor allen Dingen erfordert, daß man eine gewisse Philosophie inne habe, welche zwar den Erfahrnen in dieser Kunst ganz deutlich und begreiflich, dem Pöbel aber völlig unbekannt ist. Es hängt aber von ihr alles ab, was wir bey dem ersten Punkte werden zu sagen haben; nämlich dieses, daß eine Manns person, wie sie uns auch nach ihrer äusserlichen Gestalt vorkommen mag, dennoch nach dem Aus spruche des Galenus*) von einer Weibsperson in nichts weiter unterschieden ist, als darinnen, daß sie die Geburtsglieder ausser dem Leibe hat. Denn wenn man ein Mädchen zergliedert, so 340
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findet man in ihr zween Testikel, zwey Saa mengefässe, und die Mutterscheide von eben dem Baue, als das männliche Glied, ohne daß eine einzige Gleichheit daran fehlt. Dieses ist so ge wiß, daß die Natur, wenn sie einen vollkom menen Mann gebildet hat, und ihn wieder in ein Weib verwandeln will, nichts weiter thun darf, als daß sie die Werkzeuge der Erzeugung wie der hineinzieht. Wenn sie hingegen aus einer Weibsperson eine Mannsperson machen wollte, so brauchte sie nichts weiter zu thun, als die Te stikeln und die Mutterscheide herauszutreiben. [] Dieses pflegt die Natur nicht selten zu thun, sowohl, wenn die Creatur noch in dem Leibe, als auch wenn sie schon ausser dem Leibe ist. Die Geschichte ist von diesen Beyspielen voll, ob sie gleich einigen fabelhaft scheinen, weil sie se hen, daß sich die Dichter damit abgegeben ha ben. Es verhält sich aber in der That also, daß die Natur oft ein Weibsbild gemacht, und es als ein solches die ersten zween Monate in dem Leibe der Mutter erhalten hat; weil aber durch einen gewissen Zufall in die Geburtsglie der eine grosse Hitze gekommen, so sind sie her ausgetrieben worden, so daß endlich eine Manns person daraus entstanden ist. Mit wem sich die se Verwandlung in dem Leibe der Mutter zuge tragen hat, der ist hernach sehr leicht an gewis sen Merkmalen zu erkennen; an gewissen Be wegungen, welche dem männlichen Geschlechte gar nicht geziemen; an einem gewissen weibi
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schen und verzärtelten Betragen; an der kla ren und weichen Stimme; an der Neigung zu weiblichen Verrichtungen, welche nicht selten in die abscheulichsten und unnatürlichsten Verbre chen ausschlägt. Gegentheils ereignet es sich eben so oft, daß die Natur eine Mannsperson mit allen ihren männlichen Gliedern gemacht hatte; weil aber allzuviel Kälte darzu kam, so zog sie diese Glieder wieder herein, daß folglich ein Frauenzimmer daraus wurde †). Auch die ser Fall ist nach der Geburt leicht zu erkennen, wenn nämlich das Frauenzimmer ein männli ches Ansehen, eine grobe Sprache, und ihrem Geschlechte nicht gewöhnliche Bewegungen hat. Es scheint zwar, als ob dieses sehr schwer zu beweisen sey; wenn man aber die Zeugnisse so vieler glaubwürdigen Geschichtschreiber überlegt, so kann man unmöglich daran zweifeln. Daß aber auch nach der Geburt Frauenzimmer sich in Mannspersonen verwandeln, ist eine Sache, worüber auch der Pöbel nicht mehr erstaunt, weil ausser den vielen Erzählungen, die uns die Alten hinterlassen haben, sich selbst in Spanien vor kurzem ein solches Beyspiel ereignet hat. ††) 341 342
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Was aber die Erfahrung lehrt, dawider sind alle Einwendungen und Gegengründe zu schwach. [] Aus welcher Ursache aber die Geburtsglie der sich bald in dem Leibe, bald ausser dem Leibe befinden, so daß bald Mannspersonen, bald Weibspersonen daraus werden, ist eine ausge machte Sache, da man weiß, daß die Wärme alle Sachen erweitert und ausdehnet, die Kälte aber enge macht und einzieht. [] Es ist daher ein Ausspruch, worinnen alle Weltweisen und Aerzte übereinkommen, *) daß kalter und feuchter Saame das Weibliche und nicht das Männliche, warmer und trockener Sa me aber das Männliche und nicht das Weibliche hervorbringe. Und hieraus nun folgt deutlich, daß keine Mannsperson in Betrachtung einer Weibsperson kalt, noch eine Weibsperson in Be trachtung einer Mannsperson hitzig genannt wer den könne. [] Wenn die Weibsperson, sagt Aristoteles, **) fruchtbar seyn soll, so muß sie kalt und feucht seyn; denn wenn sie es nicht ist, so kann sie unmöglich weder ihre Monatszeit bekommen, noch genugsame Milch haben, die Frucht im Lei= 343 344
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be neun Monate lang zu erhalten; und wenn sie sie ja erhält, so ist sie doch aufs längste in zwey Jah ren nach ihrer Geburt hin. [] Der Mutterleib verhält sich, wie alle Aerz te und Weltweisen behaupten, zu dem männli chen Saamen nicht anders, als die Erde zu dem Waizen, oder zu einer andern Art von Saamen. Wenn die Erde nicht kalt und feucht ist, so wagt es der Ackermann nicht, seinen Saamen auszu streuen; weil er sich mit der Erde nicht gehörig verbinden kann. [] Auch unter den Arten der Erde sind dieje nigen die fruchtbarsten *), welche die meiste Käl te und Feuchtigkeit haben; welches aus der Er fahrung erhellet, wenn man die Länder gegen Norden, England, Holland, und Deutschland be trachtet, deren Fruchtbarkeit an allen Arten des Ge traides so groß ist, daß sie jeden in Erstaunen setzt, der die Ursache davon nicht weiß. Jn eben diesen Ländern wird sich auch selten eine Weibs person verheyrathen, ohne Kinder zu bekommen; sie wissen fast nicht, was Unfruchtbarkeit ist, in dem sie alle, wegen der vielen Kälte und Feuch tigkeit, zur Erzeugung sehr geschickt sind. [] Ob es nun gleich wahr ist, daß die Weibs person kalt und trocken seyn muß, wenn sie em pfangen und gebähren soll; so kann sie doch beydes in einem so grossen Grade seyn, daß der Saamen dadurch erstickt wird; so wie wir se hen, daß durch allzuhäufigen Regen das Korn 345
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verdirbt, und durch die allzugrosse Kälte zu sei ner Reife nicht gelangen kann. Es versteht sich also, daß diese zwo Beschaffenheiten einen gewissen Grad haben müssen; denn wenn sie zu heftig sind, so verliert sich die Fruchtbarkeit eben sowohl, als wenn sie zu schwach sind. Hip pokrates*) hält diejenige Weibsperson für frucht bar, deren Leib so gemässigt ist, daß weder die Wärme die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteigt. Er sagt daher, daß diejenigen Weiber nicht empfiengen, welche einen allzukalten Leib hätten, auch diejenigen nicht, welche einen allzufeuchten, oder einen allzuhitzigen, oder einen allzutrockenen hät ten. Aus eben diesem Grunde, wenn nämlich die Weibspersonen und ihre Geburtsglieder voll kommen gemässiget wären, sey es unmöglich, daß sie empfangen, ja gar eine Weibsperson bleiben könne. Denn wenn der Saame, aus dem sie erzeugt worden, gleich anfangs gemässigt gewe sen wäre, so wären die Geburtsglieder her aus getrieben worden, welches sie zu einer Manns person gemacht hätte; es wäre ihr der Bart gewachsen; die Monatszeit wäre weggeblieben; kurz, sie wäre die vollkommenste Mannsperson geworden, welche die Natur nur hervorbringen kann. Eben so wenig kann die Weibsperson oder ihr Leib ausnehmend hitzig seyn: denn wenn der Saame, aus dem sie gebohren wor den, diese Temperatur gehabt hätte, so hätte er 346
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eine Mannsperson und nicht eine Weibsperson hervorgebracht. [] Es ist also unwidersprechlich, daß die zwo Beschaffenheiten, welche eine Weibsperson frucht bar machen, Kälte und Feuchtigkeit sind; weil die Natur des Menschen viel Nahrung erfor dert, wenn er empfangen und erhalten werden soll. Wir sehen daher auch, daß bey keinem unvernünftigen Thiere das Weibchen seine mo natliche Zeit bekömmt, wie eine Weibsperson. †) Sie muß also durchaus kalt und feucht seyn, und zwar in einem so grossen Grade, daß viel phlegmatisches Blut erzeugt wird, welches sich bey ihr nicht verzehren kann. Jch sage mit Fleiß phlegmatisches Blut, weil dieses zur Her vorbringung der Milch am geschicktesten ist. Und eben hiervon, wie Hippokrates und Gale nus behaupten, ernähret sich die Creatur, so lan ge sie in dem Leibe der Mutter ist. Wenn die se nun von einem gemässigten Temperamente ist, so erzeugt sich in ihr viel Blut, welches zu Hervorbringung der Milch ganz ungeschickt ist; es löset sich gänzlich auf, und läßt nichts zurück, wovon sich die Creatur erhalten könne. [] Jch halte also gänzlich dafür, daß keine Weibsperson eines gemässigten und hitzigen Tem peraments seyn könne; sie müssen vielmehr al= 347
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le kalt und feucht seyn. Diejenigen Weltwei sen und Aerzte, die mir dieses nicht zugeben wollen, mögen mir einen andern Grund sagen, warum keiner Weibsperson der Bart wächst; warum sie alle, so lange sie gesund sind, ihre mo natliche Zeit haben; oder warum, wenn der Saame, aus welchem sie erzeugt worden sind, gemässigt und hitzig gewesen ist, nicht vielmehr eine Mannsperson als eine Weibsperson daraus entstanden sey? Ob es nun aber gleich wahr ist, daß alle insgesammt kalter und feuchter Na tur sind; so haben doch nicht alle einerley Grad der Feuchtigkeit und Kälte. Bey einigen ist es der erste, bey andern der zweyte, bey andern der dritte Grad. Alle aber können empfangen, wenn nur die Hitze der Mannsperson jedem von diesen Graden gemäß ist; wovon wir in dem folgenden reden wollen. Aus welchen Kennzei chen man es aber schliessen könne, welcher von diesen drey Graden der Kälte und Feuchtigkeit bey einer Weibsperson anzutreffen sey, ist eine Sache, welche bis jetzt noch kein Weltweiser oder Arzt entdeckt hat. Wenn wir aber die Wirkungen betrachten, welche diese Beschaffen heiten bey den Weibspersonen hervorbringen, so können wir sie füglich in gewisse Klassen einthei len, nach welchen sich die Stärke oder Schwä che ihrer Ursachen schliessen läßt. Jn die erste Klasse setzen wir das Genie und die Fähigkeit der Weibsperson; in die zweyte ihr Betragen und ihre Sitten; in die dritte ihre Stimme,
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ob sie stark oder klar ist; in die vierte, das Fleisch, ob sie dessen wenig oder viel hat; in die fünfte die Farbe; in die sechste die Haare; in die siebente die Schönheit oder Häßlichkeit. [] Was das erste anbelangt, so ist folgendes zu wissen. Ob es gleich wahr ist, wie wir in dem Vorhergehenden behauptet haben, daß sich das Genie und die Fähigkeit einer Weibsper son nach dem Temperamente des Gehirns und nach keinem andern Gliede richtet; so haben doch die Testikeln und der Mutterleib eine sol che Gewalt, daß sie den ganzen Körper verän dern können, so, daß wenn sie warm und tro cken, oder kalt und feucht sind, nach dem Aus spruche des Galenus*), alle übrige Glieder eben diese Beschaffenheit erhalten. Dasjenige Glied aber, welches, nach der Meynung aller Aerzte, die meisten Veränderungen von dem Mutterlei be erduldet, ist das Gehirn; ob man gleich kei ne Ursache von einer so genauen Verknüpfung angeben kann. Galenus beweiset es aus der Erfahrung**), daß, wenn man ein Schwein schneiden lasse, das Fleisch sogleich fett und schmack haft werde, da es hingegen wie Hundefleisch schmecke, wenn man ihm die Testikeln lasse. Man sieht also hieraus, daß die Testikeln und der Leib eine besondere Kraft haben, den übrigen Theilen des Körpers ihr Temperament mitzutheilen; 348 349
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besonders dem Gehirne, weil dieses von Natur gleichfalls feucht und kalt ist, so daß der Ueber gang in dasselbe wegen dieser Gleichheit sehr leicht seyn muß. [] Wenn wir uns nun besinnen, daß die Käl te und Feuchtigkeit diejenigen Beschaffenheiten sind, welche den vernünftigen Theil des Men schen unfähig machen, und daß die gegenseiti gen Beschaffenheiten, die Wärme und Trocken heit nämlich, ihn stärken und schärfen: so sieht man leicht, daß diejenige Weibsperson, welche viel Genie und Fähigkeit zeigt, die Kälte und Feuchtigkeit im ersten Grade besitzen müsse. Jst aber das Frauenzimmer ungemein dumm, so ist es ein Kennzeichen des dritten Grades; daß also der mittelste Grad bey denjenigen Statt finden wird, welche weder sehr fähig, noch sehr dumm sind. Denn daß man glauben wollte, eine Weibsperson könne hitzig und trocken seyn, ohne das Genie und die Fähigkeit zu besitzen, welche diese Beschaffenheiten hervorzubringen pflegen, ist ein sehr grosser Jrrthum. Wä re der Saame, aus welchem sie erzeugt wur de, ungemein hitzig und trocken gewesen, so wä re eine Mannsperson und nicht eine Weibsper son daraus entstanden; weil er aber kalt und feucht war, so kam ein Weib und nicht ein Mann hervor. [] Die Wahrheit von dieser Lehre erhellt ganz deutlich, wenn man die erste Weibsperson, die
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in der Welt gewesen ist, betrachtet. Ob sie gleich GOtt mit seinen eigenen Händen gebaut, und sie so vollkommen gemacht hatte, als eine ihres Geschlechts werden kann, so ist es doch eine aus gemachte Sache, daß sie weit weniger Verstand, als Adam hatte. Der Teufel merkte dieses sehr wohl; er versuchte daher sie, und wagte es nicht, seine Gründe dem Manne vorzulegen, vor dessen Genie und Weisheit er sich fürchtete. Denn, daß man sagen wollte, Eva hätte aus eigener Schuld nicht eine so grosse Weisheit be sessen, als Adam, das wäre eine Behauptung, die man nicht beweisen könnte, weil sie damals noch nicht gesündiget hatte. Die Ursache also, war um schon das erste Weib nicht so viel Genie hatte, als der Mann, ist offenbar diese, weil sie GOtt kalt und feucht erschuf, als welches Temperament nothwendig zur Fruchtbarkeit erfordert wird, dem Verstande aber ganz zu wider ist. Hätte sie GOtt von einem so ge mässigten Temperamente gemacht, als den Adam, so würde sie auch eben so vollkommen weise gewesen seyn, als er; sie würde aber weder gebohren, noch die monatliche Zeit gehabt haben, wenn GOtt nicht etwas Uebernatürliches hätte thun wollen. Auf diese Natur gründet sich der heil. Paulus, wenn er befiehlt, daß kein Weib lehren, sondern schweigen und lernen, und ihrem Manne unterthänig seyn solle. Dieses aber versteht sich nur alsdenn, wenn das Weib keinen göttlichen Geist oder eine andere natürli
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che Gnadengabe hat: denn wenn diese da ist, so ist es ihr ganz wohl erlaubt zu reden und zu lehren. Dieses sieht man an jener weisen Frau, der Judith, welche, als die Jsraeliten von den Assyrern in Bethulien eingeschlossen wurden, die Aeltesten Chambri und Charmi zu sich holen ließ, und zu ihnen sagte: was soll das seyn, daß Osias gewilliget hat, die Stadt den Assyrern aufzugeben, wenn uns in fünf Ta gen nicht geholfen wird? Wer seyd ihr, daß ihr GOtt versucht? Das dient nicht, Gnade zu erwerben, sondern vielmehr Zorn und Ungnade. Wollt ihr dem HErrn eures Gefallens Zeit und Tage be stimmen, wenn er helfen soll? Nachdem sie ihnen auf diese Art ihr Unrecht vorgehalten hatte, so zeigte sie ihnen auch, wie sie GOtt ver söhnen, und das Gebetene von ihm erlangen müß ten. Auf gleiche Art lehrte die Elbora, ein nicht weniger weises Weib, das Jsraelitische Volk, wie es GOtt für den gegen seine Feinde erfochtenen grossen Sieg gehörig danken sollte. Wenn aber eine Weibsperson in ihrer natürlichen Beschaf fenheit bleibt, so sind alle Theile der Gelehrsam keit und Weisheit ihrem Genie ganz und gar zuwider. Die katholische Kirche hat es also aus sehr gutem Grunde befohlen, daß kein Weib, weder lehren noch predigen, noch Beichte hören soll, weil ihr Geschlecht keiner Klugheit, und Kirchenzucht fähig sey.
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[] Auch aus den Sitten und Betragen einer Weibsperson kann man den Grad der Kälte und Feuchtigkeit ihres Temperaments schliessen. De