1785.
Einleitung.
[
↔] Wenn
Plato eine wichtige, schwere, und wider die Meynung des
Pö bels laufende Lehre vortragen wollte, so wählte er von seinen Schülern die jenigen, welche ihm das beste
Genie zu
haben schienen; und diesen allein theilte er seine Ge danken mit: denn er wußte aus der Erfah rung, daß der,
welcher Leuten von einem nie drigen Verstande schwer zu begreifende Wahr heiten beybringen wollte, seine Zeit verliere, den Kopf sich umsonst zerbreche, und die Lehre
schände. Das zweyte, was er nach dieser Wahl that, war, daß er
gewisse wahre und deutliche Sätze voraus schickte, die seine
Zuhörer den Folgerungen, die er daraus ziehen wollte, ganz nahe brachten: denn die Aussprüche und
Meynungen, die den gewöhnlichen Begriffen des Pöbels zuwider
laufen, wenn sie unver muthet vorgetragen
werden, dienen anfangs zu weiter nichts, als daß sie die Zuhörer,
welche man nicht darauf vorbereitet hat, verwirren, und sie endlich so verdrüßlich machen, daß sie
die Hochachtung gegen den Lehrenden verlie ren,
und seinen Vortrag verabscheuen.
[
↔] Jch wünschte, neugieriger Leser, daß ich auf eben
diese Art auch mit dir verfahren könn te. Jch
wollte, daß ich anfangs das Talent
deines
Genies entdecken und untersuchen
könnte, damit ich dich, wenn es so beschaffen wäre, als es die gegenwärtige Lehre erfordert, von den
gemeinen
Genies absondern, und dir im Geheim solche neue und so besondre
Wahrhei ten entdecken könnte, als du
nimmermehr ge glaubt hast, daß sie einem
Menschen in den Sinn kommen könnten. Da aber dieses nicht angeht, indem dieses Werk zum allgemeinen
Gebrauch an das öffentliche Licht treten soll, so werde ich dich
freylich nicht anders als stu tzig machen
können. Denn bist du eines von den gemeinen und pöbelhaften
Genies, so wirst du dir, wie ich gar wohl
weiß, die Mey nung nicht benehmen lassen, daß
schon vor lan ger Zeit von den Alten die Wissenschaften insgesammt erfunden und zur Vollkommenheit wären gebracht worden; und zwar aus
dem seichten Grunde: weil in den Gegenständen
selbst seitdem nichts neues vorgefallen sey, so könne man auch
nichts mehr davon sagen, als das, was sie schon gesagt hätten.
Wenn du also vielleicht diese Meynung hegen solltest, so bleib nur hier stehen, und erspare dir die Mü he weiter zu lesen; weil du nur das Mißver gnügen haben möchtest, in der Folge bewiesen zu sehen, was du für ein elendes
Genie ha best. Bist du aber verständig, überlegend und geduldig, so will ich dir drey vollkommen rich tige Grundsätze sagen, welche wegen ihrer
Neuigkeit deine Bewunderung verdienen. Der
erste ist dieser: von allen verschiednen Gat tungen des
Genies, die unter dem menschli chen Geschlechte
Statt haben können, kannst du nur eine einzige vorzüglich
besitzen; die Natur müßte denn zur Zeit, als sie dich bil dete, sehr stark gewesen seyn, und alle ihre
Kräf te zusammen genommen, und dir deren
zwey oder drey gegeben haben; oder sie müßte ganz und gar ohnmächtig gewesen seyn, daß sie dich
dumm und von allen Arten des
Genies ins gesammt entblößt gelassen hätte †). Der
zweyte ist dieser: einer jeden Gattung des
Genies ist nur eine einzige WissenfchastWissenschaft vorzüglich gemäß; so daß, wenn du nicht gleich diejenige wählest, welche sich zu deiner natürlichen
Fähigkeit schickt, du es in allen übrigen zu nichts bringen
wirst, wenn du auch Tag und Nacht darüber studiertest. Der
dritte ist dieser: wenn du nun entdeckt hast, welche Wissenschaft deinem
Genie am ge mässesten sey, so ist noch eine
Schwierigkeit übrig, die Schwierigkeit nämlich auszuma chen, ob sich deine Fähigkeit mehr zur Theo=
5
rie als zur Ausübung
dieser Wissenschaft schickt; denn diese zwey sind in allen
Thei len der Gelehrsamkeit einander so entgegen, und erfordern so
verschiedne
Genies, daß ei nes das andere schwächt, als ob sie in der That von ganz
widriger Natur wären. Diese drey Sätze, †) ich bekenne es selbst, klingen hart: doch andre Sachen sind noch schwieriger und noch
schwerer zu begreifen, die man gleichwohl nicht in Zweifel ziehen
oder gar verwerfen darf. Denn da GOtt
der Urheber der Natur war und sahe,
daß diese, wie ich oben gesagt, dem Menschen nur eine Gattung des
Genies, we gen der untereinder streitenden
Beschaffenhei ten derselben, geben könne; so
bequemte er sich nach ihr, und theilte auch von den übernatür lichen Gnadengaben
einem Menschen nicht mehr, als eine in einem hohen Grade mit.
Es sind mancherley Gaben, aber es ist ein Geist. Es sind mancherley Aemter,
aber es ist ein Herr. Und es sind man cherley Kräfte, aber es ist ein GOtt, der da wirket alles in
allen. Jn einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des Geistes
zum gemeinen Nutz. Einem wird gegeben
durch den Geist zu reden von der Weis heit, dem andern wird gegeben zu reden
6
von der Erkenntniß, nach demselbigen
Geist. Einem andern der Glaube
in demselbigen Geist; einem andern die Gabe gesund zu machen, in demselbigen Geist. Einem an dern Wunder zu thun, einem
andern Weis sagung, einem andern Geister zu
unterschei den, einem andern mancherley
Sprachen, einem andern die
Sprachen auszulegen. Dieß aber alles wirkt derselbige
einige Geist, und theilt einem jeglichen seines zu, nachdem er will. (1.
Corinth. XII.)
[
↔] Diese Eintheilung der Wissenschaften beob achtet GOtt ohne Zweifel nach Maßgebung
des
Genies und der natürlichen Fähigkeit;
weil auch dort in dem Gleichnisse die Cent ner
(Matth. XXV.)
einem jeden nach sei nem
Vermögen zugetheilet wurden. Es ist daher ein sehr
grosser Jrrthum, wenn man glaubt, diese übernatürlichen
Gnadengaben er forderten, ehe sie mitgetheilet
würden, keine ge wisse Eigenschaften des
Subjects. Denn als GOtt den Adam und die Eva bildete, hat er unwidersprechlich, ehe er ihnen die Weisheit beylegte, erst ihr Gehirn so organisirt, daß
es derselben fähig seyn, und der vernünftigenSee le ein bequemes
Werkzeug zum Schliessen und Ueberlegen werden könnte. *) An dem Bey spiele dieser ersten Aeltern
siehet man es ganz
7
deutlich, daß G O T T dem Menschen diese und keine
andre Gabe, in diesem und keinem anderm Grade ertheilt, als es
sein
Genie er fordert; weil er zwar beyden Weisheit
gab, der Eva aber offenbar weniger als dem Adam. Die Gottesgelehrten behaupten daher, daß der
Teufel eben deswegen sich an das Weib, und nicht an den Mann, vor dessen Weisheit er sich
fürchten mußte, gemacht habe. **) Die Ursache aber, wie wir in der Folge dieses Werks beweisen werden, ist diese, weil die na türliche Beschaffenheit des Gehirns einer
Weibsperson keines grossen
Genies und kei ner grossen Weisheit fähig seyn
kann.
[
↔] Auch mit dem Wesen der Engel hat es gleiche Bewandniß: denn wenn GOtt einem Engel
einen höhern Grad der Herrlichkeit und vorzüglichere Gaben hat
geben wollen, so muß er ihm vorher eine feinere Natur gegeben ha ben.
Und wenn man die Gottesgelehrten fragt, zu was diese feinere
Natur nütze, so ant worten sie, daß derjenige
Engel, welcher einen grössern Verstand und eine bessre Natur habe, sich leichter zu
GOtt wenden und seine Gaben nachdrücklicher brauchen könne; nicht
anders als es bey den Menschen zu geschehen pflege.
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[
↔] Wenn nun zu den übernatürlichen Gna dengaben eine Wahl der
Genies
erfordert wird, und nicht eine jede Art des
Genies ein bequemes Werkzeug für dieselben ist: so
folgt unwidersprechlich daraus, daß die menschlichen Wissenschaften noch weit eher diese Wahl nö thig haben, weil diese der Mensch durch die eignen Kräfte seines Geistes erlernen muß.
[
↔] Die Natur und verschiednen Gattungen des
menschlichen
Genies nun gehörig zu be stimmen, und einer jeden diejenige Wissen schaft anzuweisen, welche ihr vorzüglich zu kömmt, ist die Absicht des gegenwärtigen Werks. Bin ich darinnen so glücklich, als ich wünsche,
so gehöret GOtt allein die Ehre; weil allein von ihm Wahrheit und Gewißheit kömmt. Bin ich es
aber nicht, so wirst du, billiger Le ser,
bedenken, daß es eine Unmöglichkeit ist, ei ne
Kunst zugleich erfinden und vollkommen zu machen: weil die menschlichen Wissenschaften
sich so weit erstrecken, daß eines Menschen Le ben nicht zureicht, sie zu entdecken, und ihnen auch zugleich
alle Vollkommenheiten, die sie haben
sollten, zu geben. Genug, wenn der er ste
Erfinder verschiedne merkwürdige Grund sätze an
die Hand gegeben hat, welche seinen Nachfolgern Gelegenheit geben
können, die Kunst zu erweitern, und sie so einzurichten, wie sie eigentlich eingerichtet werden sollte.
Hierauf zielt
Aristoteles, wenn er sagt, daß man die Jrrthümer derjenigen, welche zuerst zu
philosophiren angefangen hätten, sehr hoch achten müsse; weil es sehr schwer sey, neue Sachen zu
erfinden, hingegen sehr leicht, etwas zu dem schon erfundenen
hinzuzusetzen. Die Fehler des Er finders
verdienen also nicht sehr getadelt, noch die Zusätze seiner
Nachfolger sehr gelobt zu wer den. †) Jch will es ganz gern
gestehen, daß in diesem meinem Werke einige Fehler vielleicht mit untergelaufen sind; weil die Materie all zu fein ist, und ich mir selbst die Bahn bre chen mußte. Sollten sie sich aber nur in den jenigen Stücken befinden, wo der menschliche Verstand zu muthmassen berechtiget ist, so bit te ich dich, scharfsinniger Leser, vorher das gan ze Werk zu lesen und dein eigen
Genie zu erforschen. Findest du nun etwas, was dei nem Bedünken nach unrichtig ist, so untersu che mit Fleiß die Gründe, die dich am meisten darwider aufbringen; und kannst du sie nicht
auflösen, so lies nochmals das zwölfte Haupt
stück, worinnen du ganz gewiß die Antwort
darauf finden wirst. Lebe wohl!
9
Erstes Hauptstück. Worinnen durch
ein Beyspiel gezeigt wird, daß, wenn der Knabe nicht die Fä higkeit besitzt, welche zu der Wissenschaft, der er sich widmet, erfordert wird, alles
vergebens ist, ob er schon die besten Lehr meister höret, viel Bücher besitzt, und seine ganze Lebenszeit
darüber zubringt.
[
↔]
Cicero glaubte zwar, um seinen Sohn
Mar cus in demjenigen Theile der
Gelehrsam keit,
welchen er sich erwählet hatte, so weit zu bringen, als er es
wünschte, sey es schon genug, wenn er ihn auf eine so bekannte
und durch die ganze Welt so berühmte Hoheschule schickte, als Athen war; wenn er ihm den
Kratippus, den größten Weltweisen seiner Zeit, zum Lehrmei ster gäbe, und ihn seinen Aufenthalt in einer
so volkreichen Stadt nehmen liesse, wo
ihm we gen des grossen Zusammenflusses von
allerley Leuten, die daselbst anlangten, nothwendig viel Beyspiele und besondre Fälle vorkommen müß ten, die ihn durch die Erfahrung verschiednes lehren würden, was mit der
Wissenschaft, auf die er sich legte, einige Verwandschaft
haben könnte. Dieser und vieler andern Vorsorgen aber ungeachtet, die er als ein guter Vater für
ihn trug, da er ihm Bücher schafte, und sogar selbst für ihn
schrieb, erzählen die Geschicht schreiber, daß
nichts aus ihm geworden sey; daß er wenig in der Beredsamkeit,
und noch weniger in der Weltweisheit
gethan habe; wie es denn ein sehr gemeines Schicksal unter den Menschen ist, daß der Sohn den
grossen Ver stand des Vaters bezahlen muß. Jn
der That konnte sich
Cicero
zwar einbilden, daß, obgleich sein
Sohn aus den Händen der Natur das
Ge nie und die Fähigkeit
nicht bekommen habe, welche die Beredsamkeit und Weltweisheit
er fordern, durch den redlichen Fleiß eines
solchen
Lehrmeisters, durch viele Bücher und viele
Bey spiele in Athen, durch ununterbrochene
Bemü hungen des Jünglings mit der Zeit den
Fehlern seiner Seelenkräfte würde können abgeholfen wer den. Am Ende aber sehen wir, daß er sich geirrt habe; worüber ich mich aber gar nicht
verwundre, weil er nicht wenig Beyspiele vor Augen hatte, die ihn
zu hoffen verleiteten, es könne ein gleiches auch mit seinem
Sohne ge
schehen. Er selbst,
Cicero, erzählet, (
in seinem Buche vom Schicksale) daß
Xenokrates ei nen sehr unlehrsamen Kopf, sowohl zur morali schen als natürlichen Weltweisheit, gehabt
habe, so daß
Plato von ihm
gesagt, dieser sein Schü ler bedürfe der
Sporen: gleichwohl wurde er durch den redlichen Fleiß seines
Lehrmeisters und durch seinen
eigenen unablässigen Eifer ein sehr grosser Weltweise. Eben
derselbe führt auch das Beyspiel des
Kleantes an, welcher so dumm und ungeschickt
gewesen seyn soll, daß ihn kein Lehrmeister in seine Schule habe
nehmen wol len; der dadurch empfindlich beschämte Knabe aber habe
hierauf so eifrig zu studiren angefangen, daß er endlich der
zweyte Herkules in der Gelehrsamkeit
sey genannt worden. Eben so ungeschickt schien das
Genie des
Demosthenes†) zur Beredsamkeit,
da er als ein erwachsener Jüngling, wie man sagt, noch nicht einmal recht reden konnte. Besonders,
wie
Cicero erzählt, konnte er das R nicht
aus sprechen, weil er ein wenig lispelte.
Durch sei nen Fleiß aber lernte er es endlich
so wohl ausspre
10
chen,
als wenn er niemals diesen Fehler gehabt hätte. Daher kömmt das
Sprichwort, welches ungefähr sagt: es sey mit dem
Genie des Menschen zu den Wissenschaften, wie mit einem, der im Brete spielet; wenn der Wurf unglück lich ist, so muß er ihn durch eine geschickte Se tzung erträglich zu machen, und also sein
schlech tes Glück zu verbessern wissen. Doch
keines von den Beyspielen, welche
Cicero anführt, ist eigent lich wider
meine Meynung, weil es, wie wir weiter unten beweisen wollen, in
jungen Leuten eine gewisse Ungelehrigkeit giebt, welche auf
ein andres Alter ein grösseres
Genie
prophezeyt, als wenn sie von Kindheit an viel Fähigkeit ge wiesen hätten. Das allzufrühe Vernünfteln
und Klugseyn ist sogar eine Anzeige eines künftigen Narren. Hätte
Cicero die
wahren Merkmale eingesehen, welche in der ersten Jugend ein
Ge nie verrathen, so würde
er es sowohl bey dem
Demosthenes, als bey dem
Xenokrates, für ein gutes Zeichen gehalten haben, daß jener lang sam und schwer reden lernte, und dieser in sei nem Studiren angespornt zu werden bedurfte. Jch spreche in der Ausbesserung, sowohl der
langsamen als fähigen
Genies, dem guten Lehr meister, der Kunst und
dem Fleisse nicht alle Kraft und Tugend ab. Jch will nur so viel sagen, daß, wenn der
Knabe nicht von der Na tur einen Verstand bekommen hat, welcher gleich sam schon von den Grundsätzen und Regeln der Kunst, die er erlernen will, schwanger ist
und ihn
nur zu dieser und
sonst zu keiner andern be stimmt, alle
Sorgfalt, welche
Cicero für seinen
Sohn anwandte, und jeder Vater für den sei nigen anwenden kann, vergebens ist. Die Wahrheit dieser Lehre wird jeder leicht begrei fen, welcher bey dem
Plato*) gelesen hat, daß
Sokrates, wie er selbst von sich erzählt,
eine Hebamme zur Mutter hatte, und daß, so wie diese, ob sie gleich eine Meisterinn in ihrer Kunst war, keine
Frau konnte gebähren lassen, wenn sie nicht schon schwanger war,
ehe sie unter ih re Hände kam, auch er, als
einer, welcher ähn liche Verrichtungen mit
seiner Mutter hätte, kei ne Wissenschaft aus
seinen Schülern hervorzie hen könnte, wenn ihr
Verstand nicht schon da mit schwanger sey. Er
hatte es eingesehen, daß die Wissenschaften nur denjenigen Menschen gleich sam natürlich wären, welche ein
Genie hätten, das darnach eingerichtet sey, und daß es
eben die Bewandniß damit habe, die es, wie uns die Er fahrung lehret, mit denen hat, welche etwas, das sie vorher wußten, vergessen haben: wenn man
ihnen nur auf ein Wort hilft, so besinnen sie sich sogleich
wieder auf alles das übrige. So viel ich einsehe, thun die
Lehrmeister mit ih ren Schülern nichts, als daß
sie die Wissenschaft in ihnen anblasen. Denn haben sie ein
fähiges
Genie, so ist dieses fähige
Genie
hinreichend, aus ihnen die vortreflichsten Begriffe
hervorzu bringen; haben sie aber keines, so
plagen sie
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sich, und die, die sie
unterweisen, ohne es iemals dahin zu bringen, wohin sie es
bringen wollen. *) Jch wenigstens, wenn ich ein Lehrmeister wäre, würde, ehe ich einen Knaben in meine Schule
nähme, vielerley Proben und Erfahrungen mit ihm anstellen, sein
Genie zu erforschen,
und wenn ich eine gute natürliche Geschicklichkeit zu der Wissenschaft, die ich lehrte, bey ihm fände,
so würde ich ihn mit Freuden annehmen, weil es kein geringes
Vergnügen für einen Lehrer ist, wenn er ein fähiges
Genie zu unterweisen hat. Fände ich aber das
Gegentheil, so würde ich ihm rathen, sich auf diejenige
Wissenschaft zu legen, welche sich für seinen Kopf schickte,
und hätte er zu gar keinem Theile der Gelehrsam keit Neigung und Fähigkeit, so würde ich voller Liebe und mit den sanftesten Worten zu ihm sa gen: mein Sohn, auf dem Wege, welchen ihr
euch erwählt habt, werdet ihr kein brauchbarer Mensch werden. Um
des Himmels willen! verlieret eure Zeit und eure Arbeit nicht,
und sucht euch eine andere Lebensart aus, welche we niger Fähigkeit erfordert, als die
Wissenschaften.
[
↔] Die Erfahrung kömmt hiermit auf das genau ste überein. Eine grosse Anzahl von Schü lern, wie wir sehen, begeben sich in einerley Schranken, deren einige am Ende ihres Laufs, der
Lehrer mag gut oder schlecht gewesen seyn,
12
als grosse, einige als
mittelmässige Gelehrte her auskommen; einige
aber auf dem ganze We ge nichts als die Zeit
verlohren, ihr Vermögen zugesetzt, und sich den Kopf vergebens
zerbro chen haben.
[
↔] Jch weiß nicht, wo diese Verschiedenheit her kommen soll, da sie alle eben denselben Lehrmei ster gehöret, und ihn mit einerley
Aufmerksam keit und Begierde gehöret haben; da wohl gar die langsamen
Köpfe noch arbeitsamer gewesen sind, als die fähigen. Die
Schwierigkeit wird noch grösser, wenn ich sehe, daß diejenigen,
wel che in einer Wissenschaft ungeschickt
sind, in ei ner andern viel Fähigkeit haben,
und diejenigen, welche in einem Theile der Gelehrsamkeit noch so sinnreich sind, wenn sie sich in einen andern
wagen, ihn nicht begreifen können. Jch kann von dieser Wahrheit
selbst einen Zeugen abge ben. Wir waren ihrer
drey, welche zugleich Lateinisch lerneten; der eine von uns
begriff es sehr leicht, die andern beyden aber konnten es nie mals dahin bringen, daß sie eine zierliche
Rede hätten machen lernen. Da wir aber alle drey zur Dialektik kamen, so wurde einer von denen,
welche in der Sprachlehre nichts begreifen konn ten, ein recht scharfsichtiger Adler darinnen. Als wir endlich
alle drey zur Astrologie schritten, schien es etwas recht
wunderbares zu seyn, daß der, welcher weder das Lateinische noch
die Ver nunftlehre fassen konnte, in wenig
Tagen sogar mehr, als unser Lehrer, wußte, und mehr, als
die andern bey ihm lernen
konnten. Jch stutz te, und fing sogleich an,
meine Betrachtungen darüber zu machen, und brachte durch mein
ei genes Nachsinnen heraus, daß jede
Wissenschaft ihr besondres und bestimmtes
Genie erfordre, welches nur in diesem, in den andern Theilen der Gelehrsamkeit aber nichts tauge. Wenn dieses
nun wahr ist (wie es denn ist, und wir weiter unten beweisen
wollen) und einer heut zu Tage in unsre Schulen kommen sollte,
eine Musterung und Prüfung der Köpfe anzustellen; wie vielen würde er nicht andre Wissenschaften
anweisen, wie viele würde er nicht als Dumme und zum Studiren
gänzlich Ungeschickte, auf das Feld verweisen, und wie viele von
denen, welche ihre kümmerliche Umstände zu den nie drigsten Handthierungen verdammen, deren Kö pfe aber die Natur
allein zu den Wissenschaften erschaffen hat, würde er nicht
hervorziehen müs sen? Doch, da diesem nicht
mehr abzuhelfen ist, muß man es so hingehen lassen.
[
↔] Wenigstens ist das, was ich gesagt habe, nicht zu
leugnen, daß es nämlich Köpfe giebt, welche zu einer Wissenschaft
durchaus gebohren, zu jeder andern aber durchaus ungeschickt
sind. Ehe also der Knabe zu studiren anfängt, muß man seine Seelenkräfte erforschen, sehen, welche
Wissenschaft mit seiner Fähigkeit überein kömmt, und ihn nur
diese und keine andere lernen las sen. Doch muß
man nicht vergessen, daß das, was ich gesagt habe, noch nicht
hinlänglich sey,
einen
vollkommenen Gelehrten zu machen, son dern, daß man auch noch andre Stücke in Acht zu nehmen habe, welche nicht weniger nothwen dig, als die natürliche Fähigkeit, sind. Daher sagt
Hippokrates, *) daß das
Genie des Menschen gegen die
Wissenschaft eben die Bewandniß habe, welche die Erde gegen den
Saamen hat; obgleich die Erde von sich selbst fruchtbar sey, so müsse man sie doch bebauen und untersuchen,
zu welcher Art des Saamens sich ihre natürli che Beschaffenheit am besten schicke, weil nicht jede Erde ohne
Unterschied jeden Saamen fort bringen könne. Jn
dieser Erde geräth der Waitzen besser als die Gerste; in jener
die Gerste besser als der Waitzen; und auch gegen den Waitzen ist die Erde nicht einerley, weil ei nige nur den besten Waitzen annimmt, welchen sie hundertfältig wieder giebt, den schlechtern Waitzen aber
durchaus nicht fortbringt. Doch auch mit diesen Unterscheidungen
ist ein guter Landmann noch nicht zufrieden. Nachdem er das Feld zur rechten Zeit bestellet hat, wartet
er auf die bequemste Zeit zum Säen, welche nicht durch das ganze
Jahr ist. Wenn die Saat endlich aufgeschossen, so begätet er sie,
da mit sie ohne Verhinderung des Unkrautes
zur Reife kommen, und die erwünschten Früchte
tragen möge. Aus eben der Ursache muß man, sobald man weiß, zu
welcher Wissenschaft der Knabe die meiste Geschicklichkeit habe,
sie ihn
13
sogleich von Kindheit an
lernen lassen; denn die se, sagt
Aristoteles, *) ist die allergeschickteste Zeit zum Lernen. Da übrigens
das menschliche Le ben sehr kurz ist, und die
Künste sehr langwie rig und weitläuftig sind; so muß er nicht allein gnugsame Zeit sie zu lernen haben, sondern auch
Zeit übrig behalten, sie auszuüben, und dem Staate damit zu dienen. Das Gedächtniß ei nes Kindes, sagt
Aristoteles am angeführten Or te, weil es noch nicht lange auf der Welt gewe sen, ist noch leer und ohne Eindruck, und
kann also alles gar leicht annehmen. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Gedächtnisse er wachsener Leute, welches nicht viel mehr anneh men kann, weil es schon mit so vielen
unzähli chen Sachen angefüllet ist, †) die sie durch ihr
14
15
ganzes Leben gesehen
haben.
Plato*) rieth daher, man solle den Kindern nützliche Fabeln und
lehrreiche Historien erzählen, welche sie zu tugendhaften und grossen Handlungen anreizten; denn das, was man in diesem
Alter lerne, ver gesse man nimmermehr. Die
Erlernung der Künste muß man also nicht, ob es gleich
Ga lenus**) verlangt, so lange verschieben, bis unsre Natur alle die
Stärke erlangt hat, de ren sie fähig ist. Diese
Meynung hat keinen Grund, man müsse sie denn mit Unterscheid
an nehmen. Wer Lateinisch, oder eine
andre Sprache lernen soll, der muß gleich in der Kindheit anfangen: denn wenn er warten will, bis
der Körper zu seiner Reife und zu derjeni gen
Vollkommenheit gelangt ist, deren er fähig ist, so wird er nimmermehr damit zu Stande
kommen. ***) Jn dem zweyten Alter, wel ches die
Jugend ist, muß er zur Vernunftleh re schreiten, weil alsdann der Verstand sich zu entwickeln anfängt,
gegen welchen die Vernunft=
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lehre eben das ist, was
die Stricke in Ansehung des wilden Maulesels sind, die man ihm an
die vordern und hintern Füsse legt, und durch die er, wenn er einige Tage darinnen gegangen ist,
gesetzt und anständig gehen lernt. Eben so nimmt unser Verstand,
wenn ihn die Grundsä tze und Regeln der Vernunftlehre gebändiget
haben, in den Wissenschaften und Streitunter redungen eine gesetztere und anständigere Art zu schliessen und
zu untersuchen an. Mit zuneh mender Jugend kann
man sodann alle übrige Wissenschaften erlernen, welche von dem
Ver stande abhängen, weil er nunmehr
entwickelt ge nug ist. Zwar nimmt
Aristoteles die Natur lehre davon aus, und behauptet, ein Jüngling sey nicht geschickt genug dazu. Er hat auch Recht, weil es
diejenige Wissenschaft ist, welche ein weit tieferes Nachdenken,
und weit mehr Vorsichtigkeit erfordert, als jede andere.
[
↔] Wenn man nunmehr weiß, in welchem Al ter man die Wissenschaften
erlernen müsse, so ist es nöthig, sich nach einem Orte
umzusehen, wo nichts als Gelehrsamkeit getrieben wird, der gleichen die Universitäten sind. Der Jüngling muß das
väterliche Haus verlassen, weil die Schmeicheleyen, die ihm seine
Mutter, sein Ge schwister, seine Anverwandte
und Freunde, wel che mit ihm nicht einerley Wissenschaft treiben, erzeigen, kein
geringes Hinderniß in seinem Stu diren sind.
Dieses siehet man deutlich an den Studirenden, welche an den
Orten gebohren sind,
wo es
Universitäten giebt. Keiner von ihnen, oder es wäre ein grosses
Wunder, wird sehr ge lehrt werden. Diesem aber
ist leicht abzuhel fen, wenn man die
Universitäten verwechselt, und die, welche in Salamanca gebohren
sind, nach Alcale, die aber, welche in Alcale geboh ren sind, nach Salamanca auf die Hoheschule schickt. Daß ein junger Mensch seine Hey math verlasse, groß und gelehrt zu werden, ist ein sehr wichtiger Punkt. Diese Aenderung des
Orts muß ihm mehr Vortheile bringen, als ihm ein Lehrmeister in
der Welt schaffen kann; besonders wenn er sieht, daß er nunmehr
aller väterlichen Nachsichten und Verzärtlungen be raubet ist.
Gehe aus deinem
Vaterlande, sagte GOtt zu dem
Abraham, (1. Buch M. 12.)
und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters
Hause, in ein Land, das ich dir zeigen will; Und ich will
dich zum grossen Volk machen, und will dich segnen. Eben dieses sagt GOtt zu allen Men schen, welche nach Tugend und
Weisheit stre ben. Denn ob er sie gleich in ihrem Vaterlan de segnen könnte; so will er doch, daß die Menschen die Mittel,
die er ihnen vorgeschrie ben hat, gebrauchen,
und die Weisheit nicht von seiner unmittelbaren Gnade erwarten sollen. Bey diesem allen
aber wird voraus gesetzt, daß der Mensch ein gutes
Genie ha be: denn wenn er das nicht hat, so
wird ein Vieh nach Rom reisen und ein Vieh wie
derkommen. *) Was hilft es, daß ein Unfähi ger nach
Salamanca, des Studirens halber, reiset? Fähigkeit und Verstand
zu haben, wird ihn kein Meister lehren, und wie er sie haben
könne, wird er von keinem Katheder hören.
[
↔] Die dritte Sorge muß seyn, daß man sich einen
solchen Lehrmeister aussucht, welcher Deut lichkeit und Ordnung in seinem Vortrage ver bindet, dessen Lehre brauchbar und gründlich und keine
sophistische Grübeley sey: denn al les, was der
Schüler thut, so lange er Schüler ist, bestehet darinnen, daß er
alles glaubt, was ihm der Lehrer vorsagt, weil ihm die Kraft,
das Gehörte zu beurtheilen, und das Falsche von dem Wahren zu unterscheiden, noch fehlt. Es beruht aber mehr
auf dem Glücke, als der Wahl des Studirenden, daß er gleich zu
der Zeit auf die Hoheschule kömmt, wenn sie gute oder schlech te Lehrer hat. Das letztere war gewissen
Aerz ten wiederfahren, von welchen
Galenus**) er zählt, sie hätten, als er sie aus
verschiedenen Er fahrungen und Gründen
überführt, ihre Praris
<Praxis> sey irrig und der menschlichen Wohlfahrt
nachtheilig, die bittersten Thränen geweinet, und in seiner Gegenwart ihren Unstern verflucht, welcher sie
in ihren Lehrjahren zu so schlechten Lehrern ge bracht habe. Zwar ist es wahr, es giebt Schü ler von so glücklichen Köpfen, daß sie den Au
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genblick
die Stärke des Lehrmeisters, und das, was er vorträgt, einsehen.
Jst es etwas schlechtes, so wissen sie es zu widerlegen, und
wissen es zu bil ligen, wenn es etwas gutes
ist. Von dergleichen Schülern lernt der Lehrer in einem Jahre
mehr, als sie von ihm; weil ihn ihre Zweifel und spitzi gen Fragen, auf die er antworten muß, auf so feine und besondre Sachen führen, auf die er
nimmermehr würde gefallen seyn, wenn der Schü ler, vermöge seines glüklichen Kopfs, nicht dar auf gefallen wäre. Doch, dergleichen Köpfe
giebt es einen oder zwey, da der Unfähigen ei ne unzählige Menge ist. Es ist daher, weil die se Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften nicht so leicht
angestellt werden kann, sehr gut, wenn sich die Universitäten
allezeit mit guten Lehrern versehen, welche gesunde Grundsätze
und einen aufgeräumten Kopf haben, damit sie den Unwissenden keine Jrrthümer oder falsche Be griffe beybringen.
[
↔] Die vierte Sorgfalt, welche man anzuwen den hat, ist: daß man die Wissenschaften mit Ordnung treibt; daß man von den Grundsätzen anfängt, und von diesen Schritt vor Schritt bis
zum Ende fortgehet; daß man nichts höret, was schon etwas, das
man noch nicht gehört hat, voraus setzt. Jch habe es daher
allezeit für einen Fehler gehalten, viele Vorlesungen von verschiedenen Materien zugleich zu hören, und
sie zu Hause alle mit einander zugleich zu wie derholen. Es verursacht in dem Kopfe eine
allzugrosse Verwirrung, daß der Mensch her nach bey Ausübung dessen, was er gelernet hat, die Regeln der Kunst weder zu brauchen, noch an dem rechten Orte
anzuwenden weiß. Es ist viel besser, daß man eines nach dem
andern, und jedes nach der natürlichen Ordnung der Zu sammensetzung erlernt: denn so, wie man eine Sache erlernt, so behält man sie auch. Dieses
ist besonders bey denen in Acht zu nehmen, wel che von Natur einen verwirrten Kopf haben; dem man aber leicht
abhelfen kann, wenn man sie jede Materie besonders hören, keine
andere eher, als bis sie die vorhergehende begriffen ha ben, anfangen, und dieses durch die ganze
Wissen schaft beobachten läßt.
Galenus sah es wohl ein, wie
viel an der Ordnung bey dem Studi ren gelegen
sey; er schrieb daher ein eignes Buch, in welcher Folge man seine
Werke lesen solle, damit sich der angehende Arzt nicht ver wirre. Einige fügen noch hinzu: ein Studi render solle, so lange als er studiret,
nicht mehr, als ein Buch haben, welches die Wissen schaft, die er treibt, völlig in sich fasse; in
die em allein, und in keinem mehr, solle er
studiren, damit er sich nicht zerstreue oder verirre. Und gewiß, sie haben nicht Unrecht. Das letzte end lich, was einen Menschen zu einem grossen Ge lehrten macht, ist,
daß er viel Zeit auf die Wis senschaften
wendet, und die Zeit erwartet, bis das, was er gelernt hat, in
ihm feste Wurzeln schlägt. Denn wie sich der Leib nicht davon
erhält, was er an einem Tage ißt oder trinkt, sondern von dem,
was der Magen verdauet und in Säfte verwandelt; so wird auch
unser Ver stand
nicht davon stark, was wir in weniger Zeit lesen, sondern von
dem, was wir nach und nach begreifen, und, so zu reden,
wiederkauen. Unser
Genie muß von Tag zu Tage stärker werden, und mit der Zeit es
dahin bringen, daß es Sachen begreift, die es vorher nicht
begreifen konnte. Der Verstand hat seinen Anfang, sein Wachsthum, seine höchste Staffel und sein Ab nehmen, so gut als der Mensch und alle übri ge Thiere und Pflanzen. Sein Anfang ist in
der Kindheit; sein Wachsthum in der Jugend; seine höchste Staffel
in den männlichen Jah ren, und sein Abnehmen in
dem Alter. Wer also zu wissen verlangt, wenn sein Verstand al le diejenige Stärke erlangt habe, deren er
fähig ist, der wisse, daß dieses ohngefähr zwischen dem drey und dreyssigsten bis funfzigsten Jahre sey.
Jn diesem Zeitalter kann man grossen Schrift stellern sicher glauben, wenn sie etwa vorher an derer Meynung sollten gewesen seyn. Das
Bücherschreiben aber überhaupt sollte man erst in diesem
Zeitalter, und weder eher noch später anfangen, wenn man nicht
der Gefahr zu wi derrufen, oder seine Meynung
zu ändern, aus gesetzt seyn will. Doch sind die
Alter der Men schen nicht durchgängig bey allen von einerley
Beschaffenheit. *) Bey einigen endet sich die Kindheit im zwölften, bey einigen im vierzehen ten, bey einigen im sechzehenten, auch wohl
bey einigen im achtzehenten Jahre. Bey diesen
dauert jedes Alter weit länger, weil ihre Jugend beynahe auf das
vierzigste, und ihre männlichen Tage auf das sechzigste Jahr
reichen, wozu noch zwanzig Jahre für ihr Alter kommen, daß sie also ihr Leben auf achtzig bringen, welches das
Ziel der stärksten Naturen ist. Die erstern aber, deren Kindheit
sich mit dem zwölften Jah re schliesset, haben
gemeiniglich ein weit kürze res Leben. Sie
fangen zeitig an, ihre Vernunft zu brauchen; der Bart schießt
ihnen zeitiger hervor, und zeitiger verliert sich ihre Einbildungs kraft, so,
daß sie mit dem fünf und dreyssigsten Jahre schwach zu werden
beginnen, und gegen das acht und vierzigste gar abfahren.
[
↔] Jedes von den Stücken, auf die man, wie ich gesagt
habe, sorgfältig Acht haben muß, ist noth wendig, und trägt das seine zu dem Fortgange eines iungen
Menschen in den Wissenschaften bey; das meiste aber kömmt noch
immer auf das
Genie an: denn haben wir nicht
Beyspie le, daß Leute, welche dieses gehabt
haben, ob sie gleich erst nach ihrer Jugend zu studiren angefangen, ob sie gleich schlechte Lehrer gehö ret, ob sie gleich nicht aus ihrem Orte gekom
21
men, und
in ihrem Fleisse sehr unordentlich ge wesen
sind, in weniger Zeit sehr grosse Gelehrte geworden sind? Wenn aber das
Genie fehlt, sagt
Hippokrates,
so ist alle andre Sorgfalt ver gebens. *)
Cicero drückt dieses noch stärker aus, wenn er, bey Gelegenheit seines
Sohnes, der aller angewandten Mittel
ohngeachtet, nichts lernte, und zu des Vaters größter
Betrübniß, ein dummer Kopf blieb, sagt: **) „Was sieht dem Streite der Riesen wider die
Götter ähnlicher, als wenn sich
ein Mensch auf die Wis senschaften legt, dem
das
Genie dazu fehlt?“ Wie die
Riesen die Götter nicht überwanden, sondern allezeit von ihnen
überwunden wurden, so wird auch ein Studirender, der mit
seinem schlechten Kopfe kämpfet, ihm allezeit unterlie gen müssen.
Cicero giebt daher selbst den Rath, uns nicht wider
unsre Natur zu zwingen, und mit
Gewalt Redner werden zu wollen, weil alle Mühe vergebens seyn
würde, wenn das
Genie darzu mangele.
22
23
Zweytes Hauptstück. Nur die Natur
ist es, von welcher der Knabe die Geschicklichkeit zum Lernen bekommen muß.
[
↔] Es ist ein bekannter und von den alten
Welt weisen
sehr oft wiederholter Ausspruch *): die Geschicklichkeit zum Lernen giebt die Natur; die Leichtigkeit erlangt man durch die Grundsä tze und Vorschriften der Kunst;
die unfehlbare Fertigkeit aber durch Uebung und Erfahrung. Keiner hat hat uns erklärt,
worinnen diese Na tur bestehe, und zu welcher
Gattung von Ursa chen sie zu rechnen sey: alle
nur bekräftigen, wann diese den Lernenden fehle, so wären
Kunst, Erfahrung, Lehrer, Bücher und Fleiß umsonst. **) Der Pöbel, wenn er einen Mann von grossem Geist und grosser Fähigkeit siehet, macht GOtt zum Urheber, bekümmert sich um keine andere
Ursache, und hält alles für Grillen, was von die ser abweicht. Der Philosoph aber ist mit dieser Art zu reden nicht zufrieden. Gesetzt auch, daß
sie einem Gottesfürchtigen anständig ist, so ent stehet sie doch nichts desto weniger aus der Un
24
25
wissenheit der natürlichen Ursachen und der Ord nung, welche GOtt gleich in der
Schöpfung fest gesetzet hat. Damit aber der
Pöbel seine Un wissenheit bescheinige und
ungetadelt dabey blei ben könne, so behauptet
er, alles sey so, wie es GOtt haben wolle, und nichts entstehe in
der Welt, was nicht unmittelbar aus seinem göttli chen Willen fliesse. So unleugbar diese Wahr heit ist, so tadelhaft macht sie den, der sie
bestän dig im Munde führet: denn da, wie
Aristote les
anmerkt, nicht alle Fragen auf einerley Art vorgelegt werden, so
muß auch nicht die Ant wort immer auf einerley
Art abgefaßt seyn.
[
↔] Ein Naturforscher besprach sich einst
mit einem Sprachgelehrten, als ein neugieriger Gärt ner darzu kam, und sie fragte: woher es doch komme, daß das Erdreich, so vielen Fleiß er auch
daran wende, so oft er es auch durchacke re,
dünge, und begiesse, dennoch keine Gartenge wächse, deren Saamen er ihm anvertraue, so leicht und so
glücklich hervorbrächte, als sie das Unkraut, ohne daß man es
säen darf, hervor bringt? Der Sprachgelehrte
antwortete: die ses käme daher, weil es GOtt so
haben wollte, und weil es zur Erhaltung der Welt so seyn müsse. Allein, der Naturforscher lachte, und sahe wohl, daß jener bloß deswegen seine
Zu flucht zu GOtt genommen, weil er die
natür lichen Ursachen und die Art, wie
dieselben wir ken, nicht wisse. Der
Sprachgelehrte sah ihn lachen, und fragte ihn, ob das Lachen ihm
gel
ten
sollte? Nein, sagte der Weltweise; nicht dich, sondern den lache ich aus, der dich so unter richtet hat. Die Erklärung derjenigen Dinge, fuhr er fort, welche unmittelbar von der göttlichen Vorsehung abhängen, dergleichen die übernatür lichen Wirkungen sind, stehet den Metaphysikern zu, (heut zu Tage nennen
wir sie Gottesge lehrte,) die Frage aber des
Gärtners betrift die Natur, und hänget also von der Entscheidung des Naturforschers ab; dieser weiß bestimmte und
ganz deutliche Ursachen anzugeben, die ei ne
solche Wirkung hervorbringen können. *) Die wahre Antwort wird also diese seyn: das Erdreich gleichet einer Stiefmutter, welche ihre
leibliche Kinder sehr zärtlich hält, den Kindern ihres Mannes aber die Nahrung entziehet: die
ersten sind stark und blühen, wenn die andern welkend und
verfallen da stehen. Das Unkraut, welches die Erde hervorbringt,
bringt sie aus ih rem eigenen Eingeweide
hervor; diejenigen Kräuter aber, die ihr der Gärtner mit
Gewalt fortzubringen aufdringt, sind Kinder einer andern Mutter; sie entzieht ihnen also den Saft und die
Nahrung, welche zum Wachsthum erfor dert
werden, und theilt sie den Kräutern mit, die sie selbst erzeuget.
[
↔] Jn gleicher Absicht erzählt
Hippokrates, (
in dem Briefe an den Damaget
) daß er
26
einstmals jenen grossen
Weltweisen, den
Demo krit, besucht, und sich mit
ihm von den Mey nungen unterredet habe, die der
Pöbel von der Arzeneykunst heget, indem er, sobald er sich ge sund siehet, behauptet, GOtt habe ihn gesund gemacht, ohne dessen Willen die
geschickteste Sorgfalt des Arztes ganz umsonst wäre. Die se Art zu urtheilen ist so alt, und so
unzählig mal von den Naturforschern widerlegt worden, daß es sehr
überflüssig, ja einigermassen nach theilig seyn
würde, wenn ich mich, hier sie gänz lich
abzuschaffen, bemühen wollte: weil es in der That besser ist, daß
der Pöbel, der die näch sten Ursachen einer
jeden Wirkung nicht weiß, die allgemeine Ursache, den Willen
GOttes an führet, als daß er eine Ungereimtheit
vorbringt. Unterdessen habe ich mich doch, mehr als ein mal, den Grund auszuforschen bestrebt, warum das gemeine Volk so gar gerne alle Dinge gleich
GOtt zuschreibt, die Natur verläßt, und alle natürliche Mittel,
deren sich die Allmacht be dient, übersieht.
Jch weiß nicht, ob ich es ge troffen habe; so
viel aber läßt sich leicht begreif fen, daß der
Pöbel, weil er nicht weiß, welche Wirkungen er unmittelbar GOtt,
und welche er der Natur zuschreiben soll, beynahe gedrun gen ist, so zu reden.
Erstlich, weil die Men schen
größtentheils sehr ungeduldig sind. Sie sehen nichts lieber, als
wenn das, was sie ver langen, sogleich
geschieht, und haben selten kal tes Blut genug,
die natürlichen Mittel ruhig
abzuwarten, welche sich sehr weit erstrecken, und ihre
Wirkungen nur mit der Folge der Zeit äus sern.
Sie wissen, daß GOtt allmächtig ist, und daß er in einem
Augenblicke alles schaffen kann, was er will; und nach den
Beyspielen, welche ihnen ihr Gedächtniß darbietet, verlan gen sie eben so unmittelbar gesund, wie der
Gicht brüchtige; weise, wie
Salomo; reich, wie
Hiob; und, wie
David, von ihren Feinden befreyet zu werden.
Zweytens sind wir Menschen ein
ver messenes und stolzes Geschöpfe. Es giebt
nicht wenige, welche sogar verlangen, GOtt solle ih nen eine besondere Gnade, nicht eine so allge meinnützige
erzeigen, als etwa der Gebrauch der Sonne ist, die er über Gute
und Böse aufge hen läßt; weil ihnen die
Wohlthaten desto grös ser scheinen, je wenigern
sie erwiesen werden. Daher kömmt es, daß gewisse Leute
Oertern, welche der Andacht gewidmet sind, Wunder, die daselbst geschehen seyn
sollen, andichten. Der Pöbel besucht sie, und er verehrt sie als
Perso nen, mit welchen GOtt eine besondre
Rechnung hat, und theilt ihnen, wenn sie arm sind, reich liche Allmosen mit, so, daß ihr Aberglaube je nen zum
Wucher wird.
Drittens sind die Menschen sehr
zur Bequemlichkeit geneigt; die natürlichen Ursachen aber sind so
geordnet und so an einander gekettet, daß man nicht ohne Mühe zu ihren Wirkungen gelangen kann. Sie
wollen also, daß GOtt mit ihnen nach sei ner
Allmacht handle, und daß ihre Wünsche oh
ne ihren Schweiß erfüllt werden. Der Bos heit derjenigen
will ich hier nicht gedenken, wel che von GOtt
Wunder verlangen, um seine Allmacht auf die Probe zu stellen, und
zu sehen, ob er sie thun kann; oder um Feuer vom Himmel und andre grausame Strafen bitten, ihr rachbe gieriges Herz zu befriedigen.
Endlich
will der größte Theil des Pöbels sehr fromm seyn. Er dringt auf die Verherrlichung GOttes,
und glaubt, daß diese weit eher durch Wunder, als durch natürliche Wirkungen erlangt werde. Er
weiß aber nicht, daß GOtt nur alsdenn über natürliche Begebenheiten verrichtet, wenn er
sei ne Allmacht an denjenigen, die sie nicht
erken nen, beweisen, oder seine Lehre
bestärken will; und daß ausser diesen Fällen sich GOtt natürli cher Mittel bedient. *) Dieses läßt sich leicht lich daher
begreifen, weil GOtt heut zu Tage keine Wunder mehr thut, wie er in dem alten Testamente und
zu Anfange des neuen gethan hat. Er thut sie aber deßwegen nicht
mehr, weil er nunmehr auf seiner Seite alle Vorsor ge angewandt hat, daß die Menschen ihre Un wissenheit nicht mehr vorwenden können. Zu glauben aber, GOtt werde eben die Beweise noch
einmal führen, und werde seine Lehre mit neuen Wundern, z. E.
durch Erweckung der
27
Todten, durch
Sehendmachung der Blinden, durch Heilung der Lahmen nnd
Gichtbrüchtigen, aufs neue bestärken, ist ein sehr grosser
Jrrthum, weil GOtt, was den Menschen zu wissen nöthig ist, nur einmal lehrt, und nur einmal mit Wundern
beweiset, ohne sie jemals zu wiederholen. *) Jch weiß kein Merkmal, aus welchem man sicherer schliessen könnte, daß ein Mensch keine Fähig keit zur Naturlehre habe, als
wenn man siehet, daß er geneigt ist, aus allen Sachen ohne Un terschied Wunderwerke zu machen: da man im Gegentheile demjenigen, welcher nicht eher
ruhet, als bis er die besondre Ursache einer Wir kung entdecket hat, das dazu erforderliche
Genie sicher zutrauen kann. Dieser weiß, daß es
Wirkungen giebt, mit welchen man unmittelbar auf GOtt zurück
gehen muß, dergleichen die Wunder sind; daß es aber weit mehrere
giebt, die ihre bestimmten Ursachen haben, die man al so aus der Natur erklären muß, ob man gleich in diesem Falle sowohl als in jenem nur GOtt zum
ersten Urheber angiebt. Wenn daher
Ari stoteles sagt: GOtt und die Natur thun
nichts umsonst; so ist seine Meynung nicht, als wäre die Natur eine von GOtt abgesonderte und mit ihm
gleich allgemeine Ursache. Er verstehet vielmehr unter der Natur diejenige Ordnung, welche GOtt in der Welt festgesetzt hat, und
28
nach welcher die Ursachen
und Wirkungen so verbunden sind, als es die Erhaltung der Welt erfordert. Auf eben die Art sagt man: der König
und das Gesetz thun niemanden Unrecht. Hier heißt das Gesetz
nicht etwas gewisses, wel ches mit dem Könige,
ohne von ihm abzuhän gen, die oberste Gewalt
zugleich führet; son dern es ist nichts, als
der Name, welcher alle Gesetze und Verordnung unter sich
begreift, die der König zur Erhaltung der Ruhe in seinem Staate hat bekannt machen lassen. Wie sich also der König gewisse Fälle vorbehalten hat,
welche durch das Gesetz nicht entschieden werden können, weil sie
allzu besonders und wichtig sind; eben so hat sich GOtt die
wunderbaren Wir kungen vorbehalten, welchen er
natürliche Ursa chen weder geben konnte, noch
wollte. Hier muß man aber wohl merken, daß es nur eine Sache für einen sehr grossen Naturforscher sey, die übernatürlichen Wirkungen zu
erkennen, und sie von den natürlichen zu unterscheiden, weil
er die bestimmten Ursachen aller und jeder Wir kungen kennen muß; welches aber gleichwohl
noch nicht genug ist, wenn nicht die rechtgläu bige Kirche dasjenige, was er für Wunder er kennet, gleichfalls für Wunder annimmt. Die Naturlehrer müssen eben das thun, was die Rechts gelehrten thun. *) Diese lesen das bürgerliche
29
Gesetz und drücken es
ihrem Gedächtnisse fest ein, damit sie in dem oder jenem Falle
untrüglich wissen mögen, was des Königs Wille sey; je ne bestreben sich die Ordnung und Folge zu er kennen,
welche GOtt, gleich von dem ersten Ta ge der
Schöpfung an, in der Welt feststellte, damit sie die Art einsehen
können, nach welcher er eine Wirkung aus der andern hat wollen
ent springen lassen. Wie es also sehr
lächerlich wä re, wenn ein Rechtsgelehrter in
seinen Schrif ten als etwas ausgemachtes
anführte, der Kö nig wolle diesen oder jenen
Fall so und nicht an ders entschieden wissen,
ohne das Gesetz zu nen nen, nach welchem er
entschieden werden muß; eben so lächerlich kömmt es den Naturforschern vor, wenn sie
jemanden sagen hören: dieses oder jenes Werk ist von GOtt, ohne
daß er die Reihe der besondern Ursachen, aus welchen es entspringen kann, angiebt. Und wie der Kö nig denjenigen nicht erhören will, welcher von ihm die Abschaffung eines gerechten Gesetzes, oder die Entscheidung eines Falles wider die Art, nach welcher er
will, daß in den Gerichten entschieden werden soll, bittet; so
will auch GOtt denjeni gen nicht erhören,
welcher ohne Noth Wunder oder Thaten,
die in dem Zusammenhange der Welt ihren Grund nicht haben,
verlangt. Denn obgleich ein König fast alle Tage Gesetze giebt und aufhebt, und die gerechtlichen Verfahrun gen ändert, theils, weil sich die Umstände der Zeit ändern, theils, weil die menschliche Klug
heit viel zu schwach
ist, als daß sie gleich auf das erstemal alles nach der
schärfsten Wahrheit und Gerechtigkeit
anordnen sollte; so hat doch der einmal von GOtt festgesetzte
Zusammenhang, nach welchem in der Welt eins aus dem andern folgt, und welchen wir die
Natur nennen, nicht nöthig, daß er nur in dem geringsten
Stücke aufgehoben oder verändert werde, weil ihn GOtt mit einer so unendlichen Weisheit
angeordnet hat, daß derjenige, welcher von ihm etwas aus ser und wider diesen Zusammenhang zu thun bittet, durch diese Bitte sein Werk für unvoll kommen erkläret.
[
↔] Damit wir aber auf den von den alten Weltweisen so oft gebrauchten Ausspruch:
die Natur giebt die Fähigkeit,
zurückkommen; so muß man wissen, daß es gewisse Fähigkeiten giebt, welche GOtt gewissen Menschen ausser der
natürlichen Ordnung beygelegt hat, wie zum Beyspiel die Weisheit
der Apostel gewesen ist, welches
einfältige und gemeine Leute waren, die aber auf einmal auf eine
wunderbare Weise er leuchtet, und mit Weisheit
und Gaben ausge rüstet wurden. Von dieser Art
der Weisheit und Gaben trift der Ausspruch:
die
Natur giebt die Fähigkeit, nicht ein; weil man da mit nicht auf die Natur, sondern unmittelbar auf GOtt zurückgehen muß. Gleiche Bewand niß hat es mit der Weisheit der Propheten, und mit allen denen, welche GOtt mit übernatürli chen Gaben begnadiget. Es giebt aber eine an
dere Art
von Fähigkeiten in den Menschen; da sie nämlich mit allen den
Ursachen, welche GOtt dazu festgesetzt hat, gleichsam
befruchtet, gebohren werden; und hier ist es, wo der an geführte Ausspruch eintrift. Jn dem letzten Hauptstücke dieses Werks aber werden wir es
beweisen, daß es allerdings eine gewisse bestimm te Folge natürlicher Ursachen giebt, vermöge wel cher, wenn sie von den Vätern zur Zeit der Er zeugung sorgfältig beobachtet wird, alle ihre
Kin der, ohne Ausnahme, eines fähigen Geistes gebohren werden.
[
↔] Unterdessen, weil die angegebene Bedeutung des
Worts
Natur zu allgemein und unbestimmt ist, der Verstand aber sich nicht eher zufrieden giebt, als bis
er zu der allerletzten Ursache hin durchgedrungen ist; so wird es nöthig seyn, ei ne andere Bedeutung dieses Worts aufzusuchen, welche meinem
Endzwecke näher kömmt.
[
↔]
Aristoteles, *) und die übrigen Philosophen,
drücken sich näher aus, und erklären die Natur durch die
selbstständige Form, welche einem Din ge das
Seyn giebt, und die Grundursache al ler seiner
Wirkungen ist. Nach dieser Erklä rung würde
unsere vernünftige Seele die Na tur zu nennen seyn, weil sie es ist, die uns zu Men schen macht, und von ihr alle unsre Handlungen und Verrichtungen herrühren.
Da aber alle vernünftige Seelen von einerley Vollkommen
30
heit
sind, sowohl die Seele des Weisen als des Narren, so kann man
nicht behaupten, daß die Natur in dieser Bedeutung dasjenige sey,
wel ches
den Menschen die
Fähigkeit gäbe; weil sonst alle Menschen ohne Ausnahme
einer ley
Genie, und einerley Seelenkräfte haben müß ten.
Aristoteles selbst sucht daher *) eine andre Bedeutung des Worts
Natur, in so ferne sie die Ursache ist, warum die Menschen fähig
oder unfähig sind. Er sagt nämlich, die verschiednen Vermischungen der Wärme, Kälte, Feuchtig keit und Trockenheit wäre es, welche man die Natur nennen müsse, weil nur von dieser Ver mischung alle Fähigkeiten des Menschen, seine Tugenden und seine Laster,
und die grosse Ver schiedenheit ihrer
Genies abhängen könnten. Dieses erhellet deutlich, wenn man die
verschied nen Lebensalter auch des weisesten
Menschen betrachtet. Er ist in seiner Kindheit nichts als ein unvernünftiges Thier, an welchem sich
keine andere Kräfte äussern, als Zorn und Be gierde. Jn seiner Jugend fängt er allmälig an, das vortrefliche
Genie zu entdecken, welches
aber, wie die Erfahrung lehret,
nur eine gewisse Zeit und nicht länger dauert; denn wenn das
Al ter herannahet, so vermindern sich seine
Kräfte von Tag zu Tage, bis sie sich endlich gar verlie=
31
ren. *) Daß diese Verschiedenheit des
Genies
nicht von der vernünftigen Seele herrührt, ist un widersprechlich, weil sie in allen Lebensaltern eben dieselbe ist, ohne an ihren Kräften oder an ih rem Wesen die geringsten Veränderungen zu er dulden; sondern daher, daß jedes Alter sein be sondres
Temperament, und seine verschiedne Lei besbeschaffenheit hat, vermöge welcher die See le gewisse Handlungen in der Kindheit, andre in der Jugend, und
andre im Alter vornimmt. Da aber, welches unleugbar ist, eben
dieselbe Seele in eben demselben Körper ganz verschie dene Handlungen
wirken kann, weil sie in jedem Alter ein ganz verschiednes
Temperament hat; so kann ja wohl auch der Unterschied zweyer Knaben, wovon der eine fähig, der andre aber
dumm ist, nirgends anders herrühren, als aus beyder durchaus
verschiednem Temperamente, welches die Arzneygelehrten und Weltweisen, weil von ihm alle
Handlungen der vernünftigen Seele bestimmt werden, die Natur
nennen. Jn dieser Bedeutung nun hat der Ausspruch seine vollkommene Richtigkeit:
die Natur macht
32
uns fähig. Zur Bestärkung dieser Lehre
schrieb
Galenus ein ganzes Buch, worinnen er bewies, daß die
Eigenschaften der Seele von dem Temperamente des mit ihr
verbundenen Körpers abhängen, und daß, nach Beschaffen heit der Wärme, Kälte, Trockenheit oder
Feuch tigkeit des Landes, nach
Beschaffenheit der Spei sen, des Wassers, und
der Luft, die Menschen bald dumm, bald klug; bald tapfer, bald
feige; bald grausam, bald barmherzig; bald zurückhal tend, bald
offenherzig; bald lügenhaft, bald auf richtig;
bald verrätherisch, bald treu; bald unru hig,
bald stille; bald verschmitzt, bald einfältig; bald geitzig, bald
freygebig; bald verschämt, bald unverschämt; bald schwer, bald
leicht zu überre den wären. Er führt in dieser
Absicht eine ziem liche Anzahl Stellen aus dem
Hippokrates,
Pla to und
Aristoteles an, welche alle behaupten, daß
die Verschiedenheit der Völker, sowohl in Ansehung des Baues
ihrer Körper, als der Aeus serungen ihrer Seelen, von der
Verschiedenheit des Temperaments herrühre. Und man darf nur die Erfahrung zu Rathe ziehen. Wie un endlich sind nicht die Griechen
von den Scy then, die Franzosen von den Spaniern, die Jn dianer von den Deutschen, die Aethiopier von den Engländern unterschieden! Doch, was brau chen wir so weit entlegene Länder gegen einan der zu halten? Wir dürfen ja nur die Pro vinzen betrachten, die das einzige Spanien
um schließt, und es wird nicht schwer seyn,
eine Aus
theilung der nur gedachten Tugenden und Laster unter ihnen zu
machen. Man betrachte nur einmal das
Genie und die Sitten der Catalo nier, der Valencianer, der Murcianer, der Gra nadiner, der Andalusier, der Estremenger,
der Portugiesen, der Galleger, der Asturianer, der Montangesen, der Biscajaner, der Navarrer, der
Arragonesen, und der innersten Einwohner Castiliens. Wer sieht
nicht, wie sehr sie nicht allein nach ihrer Gesichtsbildung, und
nach dem Baue ihres Körpers, sondern auch nach den Tu genden und Lastern ihrer Seelen von einander
abweichen? Alle diese Abweichungen aber ent stehen bloß daher, weil jede Provinz ihre beson dere, und von andern unterschiedene natürliche Einrichtung hat. Doch auch diese Provinzen mögen
noch zu weit auseinander liegen; der Unterschied der Sitten
äussert sich schon an Oer tern, die kaum eine
kleine Meile von einander entfernet sind, so daß die
Mannigfaltigkeit der
Genies unter den Einwohnern eines sehr klei nen Strichs ganz unglaublich ist.
[
↔] Kurz, was
Galenus in seinem Buch vor trägt, alles das nehme ich zum Grunde meines Buchs an, ob er sich gleich nicht auf die ver schiedenen Fähigkeiten der Menschen, noch auf die Wissenschaften, welche sich für jede derselben schickt, besonders einläßt. Sonst erkannte er es
aber sehr wohl, wie nothwendig es sey, daß man die Wissenschaften
unter die Knaben ver theile, und jedem
diejenige zuerkenne, welche sei
ner natürlichen Fähigkeit gemäß ist; indem
er sagt: *) es wäre billig, daß jede wohlgeordnete Re publik gewisse verständige und gelehrte Männer unterhielte, welche jedes Menschen
Genie und
na türliche Wirksamkeit in der zartesten
Jugend er forschten, damit ieder diejenige
Kunst erlerne, zu welcher er
aufgelegt sey, und keiner seinem eignen Gutdünken überlassen
würde. †)
33
34
Drittes Hauptstück. Welcher Theil
des Körpers beson ders wohl beschaffen seyn
muß, wenn der Knabe Fähigkeiten besitzen soll.
[
↔] Der menschliche Körper hat so viel verschie dene
Glieder und Kräfte, welche alle nach einer besondern Absicht
eingerichtet sind, daß es von unserm Vorhaben nichts entferntes,
vielmehr etwas dazu nothwendiges seyn wird, vor allen Dingen zu untersuchen, welches Glied die Na tur zu dem vornehmsten Werkzeuge bestimmt
habe, den Menschen verständig und fähig zu ma chen. Denn es ist gewiß, daß wir nicht mit den Füssen denken,
noch mit dem Kopfe gehen, noch mit der Nase sehen, noch mit den
Augen hören; sondern jedes von diesen Gliedern hat seinen be stimmten Gebrauch und seinen besondern, zu
die sem Gebrauche eingerichteten Bau.
[
↔] Vor den Zeiten des
Hippokrates
und
Plato war es eine von den
Naturforschern fast durch gängig angenommene Meynung, das Herz sey
der vornehmste Theil, wo die Seele ihren Sitz habe, und das Werkzeug,
wodurch sie alle Hand lungen der Klugheit, der
Scharfsinnigkeit, des Gedächtnisses und des Verstandes verrichte. *) Sogar die heilige Schrift bequemt sich nach der damals gewöhnlichen Art zu reden, indem sie
hin und wieder des Herzens, als des vorzüg lichsten Theiles des Menschen gedenkt. Als aber jene zwey
grossen Weltweisen auftraten, so
bewiesen sie aus unzähligen Gründen und Erfah rungen, daß das Gehirn der vornehmste Sitz der vernünftigen
Seele sey. Diese Entdeckung nahmen alle an, nur
Aristoteles nicht, welcher aus Begierde, dem
Plato in allen zu widerspre chen, die alte Meynung wieder aufwärmte, und sie mit topischen Argumenten wahrscheinlich zu machen suchte.
Welches die wahrscheinlichste Meynung sey, ist jetzt nicht mehr
Zeit zu fra gen; denn keiner von den jetzigen
Weltweisen wird es noch in Zweifel ziehen, daß das Gehirn dasjenige Werkzeug sey, welches die Natur be stimmt habe, den Menschen
verständig und fä hig zu machen. Nur kömmt es
darauf an, daß man erkläret, wie dieser Theil beschaffen seyn müsse, wenn er die gehörige Vollkommenheit haben, und der Knabe aus diesem Grunde
von
Genie und Fähigkeit seyn soll.
35
[
↔] Vier Eigenschaften muß das Gehirn haben, wenn die
vernünftige Seele zu den Verrichtun gen des
Verstandes und der Klugheit geschickt seyn soll. Die erste
Eigenschaft ist, daß es eine gute Struktur habe; die zweyte, daß
seine Thei le wohl verbunden sind; die dritte,
daß weder die Wärme die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteige; die vierte, daß seine
Substanz aus den feinsten und zärtesten Thei len zusammengesetzt sey.
[
↔] Zu dem guten Baue des Gehirnes gehören abermals
vier Stücke. Das erste Stück ist die gute Figur; das zweyte die
hinlängliche Menge; das dritte die genaue Absonderung sei ner vier Ventrikeln, wovon jedes an seiner
ge hörigen Stelle liegen muß; das vierte der
Raum derselben, welcher weder grösser noch geringer seyn muß, als es ihre Wirkungen erfordern.
[
↔] Die gute Figur schließt
Galenus*) aus der äussern Gestalt des Kopfes. Diese, spricht er, ist alsdann so, wie sie seyn muß, wenn in einer vollkommenen runden hohlen Kugel von Wachs, die
man ganz sachte auf den Seiten zusam men
angedrückt hat, die Stirne und das hinte re
Theil des Haupts einen kleinen Buckel ma chen.
Wenn folglich der Knabe eine sehr plat te
Stirne hat, und der hintere Theil des Hauptes sehr abschiessend
ist, so ist es ein Zeichen, daß sein
Gehirn die Figur nicht hat, welche es ha ben
muß, wenn er geschickt und fähig seyn sollte.
36
[
↔] Was die Menge des Gehirnes anbelangt, welche die
Seele zum Denken und Schliessen braucht, so ist es etwas sehr
bewundernswürdi ges, daß es kein einziges
unvernünftiges Thier giebt, welches so viel Gehirne hat, als
der Mensch. †) Und wenn man sogar das Gehirn von zwey
der größten Ochsen zusammen neh men wollte, so
würde es doch noch nicht so viel ausmachen, als ein einziger
Mensch hat, wenn er auch noch so klein ist. Was aber noch mehr angemerkt zu werden verdienet, ist, daß diejeni gen unvernünftigen Thiere, die der menschlichen Vernunft am nähesten kommen können, als der Affe, der Fuchs und der Hund, weit mehr Gehirne haben, als
andre Thiere, die ungleich grösser sind, als sie.
[
↔]
Galenus sagt daher, *) daß ein kleiner Kopf allezeit ein Fehler an einem
Menschen sey, weil nur wenig Gehirn darinnen seyn könne; doch sey auch ein grosser Kopf oft ein schlechtes Merk mal, wenn ihn nämlich nur die viele, und zur Zeit, als ihn die Natur bildete, unzugerichtete
37
38
Masse groß mache, weil er
alsdenn nur aus Knochen und Fleisch bestehe, und eben so we nig Gehirn habe; nicht anders als die
grossen Pommeranzen, die, wenn man sie eröfnet, we nig Fleisch und Saft, wohl aber eine desto
di ckere Schale zeigen. Nichts ist der
vernünfti gen Seele hinderlicher, als ein
Körper von all zustarken Knochen, und von allzuviel Fleisch und Fett. Daher
sagt
Plato, daß die Köpfe
kluger Leute sehr schwach, und bey der geringsten Kleinigkeit
empfindlich wären; die Natur ha be sie mit
Fleiß nur mit einer ganz leichten Rinde bedeckt, damit sie ihren
Geist nicht mit allzuviel Masse belästigen möchte. Diese An merkung des
Plato ist so gegründet, daß sogar der Magen, wenn er mit
allzuviel Fleisch und Fett angefüllet ist, das Gehirn beleidiget,
so weit er auch davon entfernt ist. Zum Beweise führt
Galenus das Sprichwort an:
ein
dicker Bauch, ein dicker Verstand; worunter nichts wei ter verborgen liegt, als, daß das Gehirn und
der Magen durch gewisse Nerven mit einander ver bunden sind, wodurch eines dem andern, wenn es beleidiget wird, seine Empfindungen
mittheilt. Ein leerer und von Speisen unbelästigter Ma gen gegentheils trägt sehr vieles zur
Scharfsin nigkeit bey, wie man an den
Ausgehungerten
39
und Dürftigen sieht,
worauf ohne Zweifel
Per sius zielet, wenn er sagt: der Bauch sey es wel cher Künste lehre,
und Scharfsinnigkeit schen ke. Dieses aber
verdienet hier vorzüglich an gemerkt zu werden,
daß, wenn die übrigen Glie der auch fleischigt
sind, und der Körper also überhaupt stark ist, die
Scharfsinnigkeit, wie
Ari stoteles*) sagt, gleichfalls verlohren gehet. Jch bin daher gewiß
überzeugt, daß derjenige, welcher einen grossen Kopf hat, ob er
ihn schon seiner stärkern Natur und der grössern Menge einer von ihr wohl zubereiteten Masse zu danken hat,
weniger Fähigkeit besitzt, als er besitzen würde, wenn der Kopf
von einer mässigern Grösse wäre. †)
[
↔] Sonst ist
Aristoteles**) einer ganz entge gengesetzten Meynung,
wenn er die Frage unter sucht: warum der Mensch das klügste unter allen Thieren
sey? Er antwortet auf diese Auf gabe, weil
keines von allen Thieren, in Verglei chung mit
seinem Körper, einen so kleinen Kopf habe, als der Mensch: und
unter den Men schen, sagt er, sind dieienigen
die klügsten, wel che den kleinsten Kopf haben.
Allein
Aristote
40
41
42
les hat Unrecht; denn wenn er einen Menschen kopf jemals geöfnet hätte, so würde er gesehen haben, daß er mehr Gehirn habe, als zwey
Pferdeköpfe nicht einmal zusammen haben. Was ich hierbey aus der
Erfahrung weiß, ist die ses, das es an kleinen
Personen besser ist, wenn sie einen etwas grossen Kopf haben, und
an gros sen Personen, wenn sie einen etwas
kleinen ha ben; die Ursache ist, weil alsdann
gleich so viel Gehirn da ist, als die Seele zu ihren Wir kungen braucht.
[
↔] Ausser diesem muß das Gehirn seine vier Ventrikel
haben, wenn die vernünftige Seele
schliessen und überlegen soll. Der eine muß auf der rechten, der
zweyte auf der linken Seite des Haupts, der dritte zwischen
diesen beyden inne, und der vierte in dem Hintertheile des
Kopfs liegen, wie man aus den anatomischen Zeich nungen ersehen kann. Zu was aber je des dieser Ventrikel dient, und wie weit
oder wie enge sie für die vernünftige Seele seyn müs sen, werden wir im folgenden erklären, wenn wir von der Verschiedenheit der menschlichen
Fähigkeiten handeln werden.
[
↔] Es ist aber nicht genug, daß das Gehirn eine gute
Figur habe, daß es in erforderlicher Menge da sey, und daß seine
vier Ventrikel in der gehörigen Lage, und so weit oder so enge
sind, als sie seyn müssen: seine Theile müssen auch unter sich eine gewisse Art der Festigkeit haben, und nicht von einander abgesondert seyn. Da
her kömmt es, daß
einige, wie die Erfahrung gelehret hat, durch Verwundungen des
Kopfes das Gedächtniß, andere den Verstand, und an dere die Einbildungskraft verlohren haben; und
gesetzt auch, daß sich das Gehirn, nachdem sie wieder
hergestellet worden, von neuem zusam men
gegeben, so hat es doch nimmermehr zu seiner ersten natürlichen
Verbindung wieder ge langen können.
[
↔] Die dritte der vier Haupteigenschaften war, daß
das Gehirn eine gemässigte Wärme habe, und daß keine von den
übrigen Beschaffenhei ten die andern besiege.
Diese Eigenschaft ha ben wir in dem
vorhergehenden die gute Natur
genannt, weil sie vornämlich den Menschen fä hig, ihr Gegentheil aber ihn unfähig macht.
[
↔] Die vierte Haupteigenschaft endlich, da näm lich die Substanz des Gehirnes aus den feinsten und zärtesten Theilen zusammengesetzt seyn soll,
ist, wie
Galenus sagt, die wichtigste von
allen. Wenn er daher die Merkmale angeben will, ob das Gehirn von einer feinen Zusammensetzung sey,
so sagt er: die Scharfsinnigkeit des Ver standes sey ein sichres Zeichen, daß das Gehirn aus feinen und zarten Theilen zusammengesetzt
sey; ein langsamer Verstand aber zeige an, daß es von einer
groben Substanz sey; und hierbey kömmt das Temperament in keine
Betrachtung. †)
43
Diese Eigenschaften muß
also das Gehirn ha ben, wenn die vernünftige
Seele ihre Folgerun gen und Schlüsse soll
machen können: nur mischt sich noch eine grosse Schwierigkeit
dabey ein. Wenn wir nämlich den Kopf eines jeden unvernünftigen Thieres öfnen, so finden wir, daß
sein Gehirn von eben der Beschaffenheit ist als das Gehirn des
Menschen, ohne daß ihm die geringste der oben genannten
Eigenschaften fehlen sollte. Hieraus folgt, daß entweder
die sogenannten unvernünftigen Thiere vermittelst ihres Gehirns gleichfalls Vernunft
und Klug heit besitzen, oder daß unsere
vernünftige Seele sich des Gehirns zum Werkzeuge ihrer
Verrichtun gen nicht bedienet: welches aber
durchaus nicht behauptet werden kann. Auf diese Schwierig keit antwortet
Galenus dieses: Ει
μεν
μηδο- λως λογου
μετεϛι
τοις
ἀλογοις
ὀνομαzομε- νοις
zωοις, ἀδηλον
ἐϛι. Ισως
γαρ εἰ
και του μη
κατα
την
φωνην, ὁν και
προφορι- κον ὀνομαzουσιν, ἀλλα τουγε την
ψυχην, ὁν
ἐνδιαθετον καλουσι, μετεχει
παντα, τα μεν
μαλλον,
τα δ'
ἡττον. Οτι
μεν- τοι
πλειϛον
ὁσον
ἀυτων
διενηνοχασιν
οἱ ἀν- θρωποι,
προδηλον
ἡμιν
ἑϛιν. Mit diesen Worten giebt
Galenus, obgleich
ziemlich furcht sam, zu verstehen, daß die
Thiere allerdings ei
nige mehr, andre weniger, an der Vernunft Theil nehmen, daß sie in ihrer Seele
Schlüsse und Ueberlegungen machen, ob sie sie gleich nicht mit Worten ausdrücken können, und also der Unter schied zwischen den Menschen und Thieren dar innen bestehe, daß jene nur vernünftiger sind, als diese, und die Klugheit in einem höhern
Grade der Vollkommenheit ausüben.
[
↔]
Galenus beweiset sogar durch
verschiedene Erfahrungen und Gründe, daß selbst die Esel, die doch unter allen Thieren die dümmsten sind,
mit ihrem Verstande tiefsinnigere Sachen, als weder
Plato noch
Aristoteles erfunden hätten, begreifen können; und
schließt endlich: Και τοσουτον
τοινυν
δεον τους παλαιους
φιλοσο- φους
ἐπαινειν,
ὡς
μεγα τι
και
σοφον
ἐjευρον- τας, ὁτι το
ταυτον
και τον
ἑτερον
και το
ἑν και
το οὐχ ἑν, οὐ μονον
κατ' αριθμον,
ἀλλα και
κατ' εἰδος
χρη
νοειν, ὡϛε
και
τοις
ονοις (οἱπερ
ἁπαντων
των
θρεμματων
ἀνοητοτα) φημι τουτο
ὑπαρχειν
φυσει. Eben
dieses will
Aristoteles zu
verstehen geben, wenn er *) die Frage aufwirft: warum der Mensch klü ger als alle Thiere sey? und wenn er an ei nem andern Orte die Aufgabe vorlegt: warum
der Mensch das ungerechteste unter allen Thie ren sey? Er sagt daselbst eben das, was
Ga lenus sagt, daß nämlich der Mensch von
den Thieren nicht anders unterschieden sey, als ein
44
Weiser von einem Narren;
das ist, nicht wei ter als nach dem mehrern. So
viel wenigstens ist ausser allem Zweifel, daß die
unvernünftigen Thiere Gedächtniß und Einbildungkraft, und auch noch etwas anders haben,
welches wenigstens dem Verstande eben
so ähnlich ist, als der Affe einem Menschen; und daß ihre Seele
sich des Gehirns, als ihres Werkzeugs bedient, welches, wenn es so ist, wie es seyn soll, macht, daß die Handlungen vernünftig genug scheinen, die ge gentheils ganz unsinnig sind, wenn das
Gehirn übel organisirt ist. Daher sehen wir, daß es Esel giebt, die es nach ihrer Dummheit recht
eigentlich sind, da andre oft so viel verschmitzte Bosheit
zeigen, daß man sie fast nicht zu ihrem Geschlechte rechnen
sollte. Auch unter den Pferden findet man Unarten und Tugenden, so, daß diese besser und andre
schlechter zuge ritten werden können; welches
nirgends anders, als von der guten oder übeln Einrichtung des Gehirns herrühret. Die Gründe und die Auf lösung dieses Zweifels werden wir in dem fol genden Hauptstücke anführen, als in welches diese Materie eigentlich einschlägt.
[
↔] Es giebt noch andre Theile des Körpers, deren Bau zu den Fähigkeiten der Seele
eben so viel beyträgt, als das Gehirn; und von die sen werden wir in dem letzten Hauptstücke
die ses Werks handeln. Doch auch ausser
diesen und ausser dem Gehirn ist eine gewisse Sub stanz in dem Körper, dessen sich die Seele zu
ihren Verrichtungen
bedienet, und welche, eben sowohl als das Gehirn, die drey
letzten Eigen schaften, nämlich eine
erforderliche Menge, eine feine Zusammensetzung, und eine gute
Tempera tur haben muß. Diese Substanz sind
die Le bensgeister und das Blut der Pulsadern,
wel che sich durch den ganzen Körper
ergiessen. Die Verrichtung dieser geistigen Substanz ist, die Kräfte des Menschen anzufrischen, und ihnen
Stärke und Lebhaftigkeit zu ihren Verrichtun gen mitzutheilen. Daß dieses ihre Verrichtung sey, sieht man
deutlich aus der Einbildungskraft,
und aus dem, was dabey vorgeht. Wenn ein Mensch sich, zum
Beyspiel, einbildet, eine Be leidigung erlitten
zu haben, alsbald tritt das Blut näher zum Herzen und reizt das
Erzürn liche, und giebt ihm Feuer und
Stärke, sich zu rächen: oder, wenn eine Mannsperson ein schö nes Frauenzimmer
lebhaft betrachtet, und sie her nach entweder
umfängt, oder, sie zu umfangen, sich einbildet, alsbald schiessen
diese Lebensgeister in die Zeugungsglieder, und ermuntern sie
zu dem Werke. Eben diese Bewandniß hat es,
wenn uns ein schmackhaftes Gerichte vorkömmt: die Lebensgeister
ziehen sich sogleich aus dem gan zen Körper in
den Magen zusammen, und ma chen das Maul
wässerigt, wobey ihre Bewegung so
schnell ist, daß eine schwangere Frau, wenn sie nach diesem
Gerichte lüstern ist, und mit ih rer
Einbildungskraft darauf bestehet, wohl gar, wie man aus der
Erfahrung weiß, mit einer un
zeitigen Geburth niederkömmt, wenn man es
ihr nicht bald giebt. Die natürliche Ursache hiervon ist diese:
die Lebensgeister sind, ehe die Frau lüstern wird, in dem Leibe,
wo sie die Frucht halten; sobald sich aber die Einbildungs kraft nur mit dem Gerichte beschäftiget, so
zie hen sie sich in dem Magen zusammen, den
Ap petit zu erwecken. Wenn nun die
Gebährmut ter unterdessen nicht für sich
Kräfte genug hat, die Frucht zu halten, so muß nothwendig eine unzeitige Geburth erfolgen.
[
↔]
Galenus hat die Beschaffenheit
dieser Le bensgeister sehr wohl eingesehen,
wenn er den Aerzten *) den Rath giebt, den Kranken nichts essen zu lassen, so
lange die Natur noch die dicken und ungesunden Säfte zu
verzehren habe; weil die Lebensgeister, sobald sie merken, daß Speise in dem Magen ist, dasjenige, wo mit sie vorher beschäftiget waren, augenblicks verlassen, und dem Magen zu Hülfe eilen: ἐτι
τε προς τουτοις
ἀμεινον
ἐπιτρεψαι
τῃ
φυσει
χολαzειν
τῃ
πεψει του νοσου κατα
τας ακ- μας, και μη
περιελκειν
ἀυτην
εἰς την
των
ἀρτι
ληφθεντων
σιτιων
κατεργασιαν.
[
↔] Gleichen Beystand erhält das Gehirn von den
Lebensgeistern, wenn die vernünftige Seele etwas überlegen, begreifen, behalten, oder sich
vorstellen will, so, daß sie, ohne die Lebensgei
45
ster,
alles dieses nicht verrichten kann; und wie die Fähigkeiten durch
die grobe Substanz und durch die üble Temperatur des Gehirns
ver lohren gehen, eben so verhindern auch
die Lebens geister und das Blut der Pulsadern,
wenn sie nicht aus feinen und wohl gemässigten Theilen bestehen, den Menschen an dem vollkommenen
Gebrauche der Vernunft.
Plato sagt daher: *) ein weiches und zartes Herz mache, daß der Mensch geschwind und durchdringend im Be greifen sey, ob er schon vorher bewiesen hatte, daß |{??}das
Gehirn, und nicht das Herz, der vor nehmste
Sitz der vernünftigen Seele wäre. Die Ursache aber ist diese:
weil die Lebensgeister in dem Herzen erzeugt werden, und daselbst
die jenige Beschaffenheit annehmen, von
welcher der Ort ihrer Erzeugung ist. Von dem Blute der Pulsadern ist das zu verstehen, was
Aristote les**) sagt: daß diejenigen Menschen von einer guten
Beschaffenheit des Körpers wären, welche warmes, zartes und
reines Blut hätten; weil nicht allein ihre Leibesstärke sehr
groß, son dern auch ihr Verstand sehr fein zu
seyn pflegte. Auch die Lebensgeister
nennen die Aerzte ***) die Natur, weil sie mit das
vornehmste Werk zeug der vernünftigen Seele
sind, so, daß auch
46
47
48
in diesem Verstande der
Ausspruch von der Natur wahr ist:
von ihr haben
wir die Fähigkeit.
Drittes<Viertes> Hauptstück. Worinnen erwiesen wird, daß die vegetativische, die sensitivische und ver nünftige Seele weise sind, ohne den ge ringsten Unterricht empfangen zu haben,
wenn ihnen nur das Temperament nicht fehlet, welches ihre
Verrichtun gen erfordern.
[
↔] Die Mischung der vier
Hauptbeschaffenhei ten, welche wir in dem
vorhergehenden die Natur genannt haben, ist von solcher Ge walt, daß sie Pflanzen, Thiere und Menschen, jedes zu denjenigen Verrichtungen antreibt, wel che seinem Geschlechte zukommen. Wenn sie
so vollkommen ist, als sie seyn kann, so wissen, ohne jemands
Unterricht, die Pflanzen sogleich in der Erde Wurzel zu schlagen,
durch dieselbe Nahrung an sich zu ziehen, sie zu behalten, sie in Säfte zu verwandeln, und das Unbrauchba re derselben wieder von sich zu stossen. Die Thiere kennen sogleich von ihrer Geburt an das, was ihrer
Natur zuträglich ist, und fliehen das,
was ihr zuwider und verderblich ist. Was aber
diejenigen, die keine Kenntniß der Natur ha ben, zu noch grösserm Erstaunen bringen muß, ist, daß der
Mensch, wenn er ein wohleingerich tetes Gehirn
hat, das zu dieser oder jener Wis senschaft
besonders bequem ist, aus dieser Wis senschaft
sogleich, ohne daß er sie jemals erlernt hat, so feine und
versteckte Sachen vorzubrin gen weiß, daß man
es kaum glauben sollte. Die gemeinen Philosophen, wenn sie die wun derbaren Handlungen der unvernünftigen Thiere sehen, sagen, man
dürfe sich eben darüber nicht wundern, weil sie alles aus einem
eingepflanz ten Triebe der Natur thäten,
welcher jedes Thier lehre, was ihm nach seiner Art zu thun
zukom me. Und sie haben auch nicht Unrecht,
weil, wie wir schon bewiesen haben, die Natur nichts anders ist, als die Mischung der vier
Hauptbe schaffenheiten, nach welcher eine
jede Seele, was ihr zukömmt, wirket: wenn sie nur unter dem eingepflanzten Triebe der Natur nicht einen
Mischmasch von Dingen verständen, wovon sie nur die Hülle kennen,
keines aber zu er klären und deutlich zu machen
wissen. Die tiefsinnigern Weltweisen,
Hippokrates,
Plato und
Aristoteles
schränken alle diese wunderbaren Handlungen auf die Wärme, Kälte,
Feuchtig keit und Trockenheit ein, und
nehmen diese zu der ersten Ursache an, ohne einen Schritt wei ter zu gehen. Wenn man also fragt: wer ist es, der den Menschen schliessen lehret? so ant
wortet
Hippokrates: *) φυσιες
παντων
ἀδι- δακτοι;
gleich als ob er sagen wollte: die Vermögenheiten oder das
Temperament, wel ches diese Vermögenheiten
ausmacht, sind alle verständig, ohne daß sie von jemanden den
ge ringsten Unterricht bekommen hätten.
Dieses scheinet sehr deutlich aus der Betrachtung der Seele, von welcher der Mensch regieret wird, zu erhellen, besonders der Pflanzenseele, die aus einem Stäubchen menschlichen Saamens, nach dem sie es wohl durchwirkt und zubereitet, und ihm die gehörige
Temperatur mitgetheilet hat, einen so schönen und so wohl
organisirten Kör per macht, daß alle Künstler
in der Welt ihn so schön nicht nachmachen können.
Galenus**) selbst erstaunt über dieses wundervolle Gebäu de, über die Anzahl seiner Theile, über die
Ge stalt und über den Gebrauch eines jeden
Thei les insbesondere so sehr, daß er gar
behauptet, es wäre unmöglich, daß die vegetativische See le, oder das Temperament, ein so
erstaunliches Werk machen könnten, ohne daß GOtt oder ein anderes weises Wesen der
Urheber davon sey. Ακραν
γαρ ὁρω
ἐν τη
διαπλασει
σοφιαν
τε
ἁμα και
δυναμιν,
οὐτε την
ἐν τω
σπερματι
ψυχην, φυτικην
μεν ὑπο
των
περι
τον
Αρι- ϛοτελην καλουμενην,
ἐπιθυμιτκην
δε ὑπο
Πλατωνος,
ὑπο
δε των
ϛωικων οὐδε
ψυχην ὁλως
ἀλλα
φυσιν, ἡγουμαι
διαπλαττειν
το
49
50
ἐμβρυον,
οὐ μονον,
οὐκ οὐσαν
σοφην, αλλα
και
πανταπασιν
ἀλογον
u. s. w. Doch diese Art von GOtt zu reden, welche zwar überhaupt
ih ren Grund hat, ist schon in dem
vorhergehen den von uns verworfen worden,
weil es einem Naturforscher unanständig ist, mit den Wir kungen unmittelbar auf GOtt zurückzugehen, und die nächsten natürlichen Ursachen zu über springen. Besonders aber ist es ihm in die sem Falle unanständig, wo uns die Erfahrung nicht selten lehret, daß, wenn der menschliche Saamen nicht
beschaffen ist, wie er seyn soll, die vegetativische Seele
tausend Fehler begehet. Jst er z. E. feuchter und kälter, als er
seyn soll, so kommen, sagt
Hippokrates, *) Untüchtige oder Zwitter daraus; ist er allzutrocken
und warm, sagt
Aristoteles,
**) so entstehen Dick lippigte,
Krummbeinigte und Stumpfnäsigte, wie die Mohren sind; ist er
allzu feuchte, sagt
Galenus, ***) so wird der Körper groß und
unförmlich; ist er aber zu trocken, so wird der Körper zu klein.
Alles dieses sind Mängel an dem menschlichen Geschlechte,
derentwe gen die Natur weder gelobt, noch
weise ge nannt werden kann, und deren keiner
da seyn würde, wenn GOtt die unmittelbare
Ursache von dem Baue des menschlichen Kör pers
wäre. Die ersten Menschen allein, sagt
Plato, ****) sind von GOtt erschaffen worden;
51
52
53
54
die andern alle hat die
Folge natürlicher Ursa chen hervorgebracht.
Wenn diese Folge so ist, wie sie seyn soll, so bringt die
vegetativische Seele ihre Wirkungen glücklich zu Stande: ist
sie es aber nicht, so begeht diese Seele in ihrem Baue tausend Fehler. Worinnen besteht aber die
gute Verbinduug der zu dieser Absicht be stimmten natürlichen Ursachen? Jn nichts anders, als in dem
guten Temperament der vegetativischen Seele. Wenn sie darinnen
nicht besteht, so sa ge mir einmal
Galenus, oder ein anderer Welt weise, er sey wer er wolle, warum die vegetati vische Seele in dem zartesten Alter des Men schen so viel Weisheit und Macht hat, daß sie den Körper bilden,
wachsen lassen, und erhalten kann; und warum sie im Alter diese
Weisheit und Macht nicht hat? Warum, wenn einem Alten ein Backzahn ausfällt, dieser Backzahn nimmermehr wieder
wachsen kann, und warum gleichwohl ein Kind die Zähne, wenn sie
ihm auch alle ausfielen, wieder bekömmt? Jst es wohl möglich, daß eine Seele, die Zeit ihres Daseyns mit
nichts anders beschäftiget gewe sen ist, als
Nahrung an sich zu ziehen, sie zu behalten, sie zu verdauen, das
Unnütze von sich zu stossen, und die fehlenden Theile zu
ersetzen, al les dieses am Ende ihres Daseyns
so sehr ver gessen sollte, daß sie keines mehr
thun könnte? Was
Galenus
hierauf antworten könnte, ist un widersprechlich, daß nämlich die vegetativische Seele darum in
ihrer Jugend so weise und
mächtig sey, weil sie viel natürliche Wärme und Feuchtigkeit
habe: daß sie es aber in ihrem Al ter nicht
sey, weil der Körper alsdann allzu trocken und
kalt ist.
[
↔] Auf eben die Art hänget die Weisheit der
sensitivischen Seele von der Mischung in dem Gehirne ab. Wenn
diese gut ist, und so wie sie ihre Verrichtungen erfordern, so
gehen ihre Ver richtungen auch wohl von
statten; wo aber nicht, so fällt sie in eben so viel Fehler als
die vegetativische Seele.
Galenus hat ein Mittel ausfindig gemacht, die Weisheit
der sensitivi schen Seele mit Augen zu sehen
und zu betrach ten. Er nahm nämlich ein junges
Böckchen, das nur erst geworfen worden: sobald man es auf die Erde setzte, fieng es an zu ge hen, nicht anders, als wenn man es gelehrt
hätte, daß die Beine zu diesem Gebrauche ge macht wären; hierauf schüttelte es sich die über flüssige Feuchtigkeit ab, die es mit aus der Mutter gebracht; es hob den Fuß auf, und kratzte sich damit
hinter dem Ohre, und als man ihm verschiedene kleine Näpfe
vorsetzte, wovon eins mit Wein, das andre mit Was ser, das dritte mit Essig, und endlich eins mit Milch, gefüllet war, so beroch es zwar alle,
aus keinem aber trank es, als aus dem mit der Milch. Verschiedne
Weltweise, die diese Er fahrung zugleich mit dem
Galenus
anstellten,
55
gestanden einmüthig,
Hippokrates habe das größ te Recht gehabt, zu sagen, die Seelen wären weise, ohne einigen Unterricht bekommen zu
ha ben. Hierbey aber blieb
Galenus noch nicht stehen. Als zwey Monate
verflossen waren, nahm er es halb todt vor Hunger auf das Feld, wo es verschiedene Kräuter beroch, keine
andre aber fraß, als die, welche die Thiere sei nes Geschlechts zu fressen pflegen. Hätte er aber seine
Bemerkungen, so wie er sie mit ei nem jungen
Bocke vorgenommen, mit drey oder vieren zugleich angestellt, so
würde er gesehen haben, daß einer besser, als der andere gehe,
sich mehr, als der andere schüttele, oder kratze, kurz, daß jeder alle gedachte Handlungen besser oder
schlechter zeige, alsdie andern. Hätte er ferner ver schiedene Füllen aufgezogen, so würde er gesehen haben, daß immer eines die Füsse mit mehr Ge schwindigkeit und Anmuth hebe, oder stärker laufestärkerlaufe, oder leichter anzuhalten sey, oder auch mehr Treue beweise, als das andre; gesetzt, sie wären auch
alle nur von einem Vater und einer Mutter gewesen. Er hätte auch
nur ein Nest junger Falken nehmen, und diese aufziehen dürfen; einer würde ohne Zweifel schneller im Fluge; ein
anderer geschickter zur Jagd; ein dritter ge frässiger oder sonst unfähiger geworden seyn. Eben dieses kann
man an jungen Hünerhun den sehen; der eine, ob
sie gleich alle von ei nem Wurfe sind, kann mit
wenig Mühe zur Jagd abgerichtet werden, wenn aus dem andern
kaum ein guter Hirtenhund
wird. Das alles kann man unmöglich jenem von den Philoso phen erdachten
und nichts erklärenden Natur triebe
zuschreiben. Denn, wenn man sie fragt, woher es denn nun komme,
daß unter Hunden von einer Art und von einem Wurfe einer immer einen stärkern Naturtrieb habe, als der andere?
was können sie anders, als die Ausflucht vor bringen: GOtt hat es so haben wollen. Fragt man sie ferner:
warum ist denn dieser und je ner Hund, wenn er
jung ist, ein guter Jäger, und warum ist er es nicht mehr, wenn
er alt wird? oder umgekehrt; warum ist dieser Hund wann er jung ist, zur Jagd untüchtig und war um wird erst in seinem Alter fähig und ver schmitzt? Jch sehe nicht, was sie vernünftiges antworten
können, wann sie nicht sagen wollen: der eine Hund ist deswegen
geschickter zur Jagd, als der andere, weil das Temperament
seines Gehirns dazu fähiger ist; und der eine ist des wegen in der Jugend auf der Jagd zu gebrau chen, im Alter aber nicht, weil er in der
Jugend das zur Jagd erforderliche Temperament hat, und weil er es im Alter verliert. Hieraus al so fließt, daß die Mischung der vier Hauptbe schaffenheiten der Grund ist, warum sich dieses oder jenes Thier zu dieser oder jener Verrich tung seiner Art fähiger oder unfähiger zeiget, und daß das Temperament dasjenige ist, von dem
die sensitivische Seele was ihr zu thun ob liegt, lernet. Hätte
Galenus die Wege der
Amei
sen, ihre Klugheit, ihre Barmherzigkeit, ihre Ge rechtigkeit, ihre Regierungsart betrachtet, so wür de er vielleicht sein Urtheil noch weiter
getrie ben haben, voller Erstaunen, daß ein
so klei nes Thier solche Weisheit, ohne einen Lehr meister
gehabt zu haben, besitze. *) Wenn man aber das Gehirn der Ameise betrachtet, und
vor züglich dieses überlegt, welches wir im
folgen den zeigen werden, wie vortheilhaft
es zur Weis heit eingerichtet sey, so muß das
Erstaunen auf hören, und man lernt einsehen,
daß die unver nünftigen Thiere zu den
Geschicklichkeiten und Ueberlegungen, die wir an ihnen
wahrnehmen, vermöge des Temperaments und der Bilder, welche durch die fünf Sinne in dasselbe gebracht werden,
gelangen; daß der Unterscheid unter Thieren von einer Art, da
immer eines leichter abzurichten ist, als das andre, daher
rühret, weil das Gehirn des einen immer von einer bessern Einrichtung ist, als des andern; und daß, wenn
diese gute Einrichtung entweder durch den langen Gebrauch, oder
durch Krankheiten verlo ren geht, sich die
Klugheit und Fähigkeit, eben
56
sowohl, wie bey dem
Menschen, sogleich auch verliere. *)
[
↔] Wir kommen nun auf die vernünftige See le, wo es etwas schwer zu begreifen seyn wird, daß auch diese einen Naturtrieb zu den Verrich tungen ihrer Art, welches Weisheit und Klug heit sind, habe, und daß sie, vermöge des guten Temperaments, Wissenschaften sogleich fassen
könne, von welchen sie niemals etwas gehört hat, da wir doch aus
der Erfahrung wissen, daß niemand mit demselben gebohren wird,
sondern daß man sie lernen muß.
[
↔]
Plato und
Aristoteles haben sich über die Fra ge, woher eigentlich die Weisheit des Menschen komme? nicht wenig gestritten.
Jener sagt, unsre vernünftige Seele
wäre älter, als der Kör per, und ehe die Natur diesen gebauet
habe, wäre sie im Himmel in der Gesellschaft der Götter gewesen; aus diesem komme sie voller Weisheit und Wissenschaft auf die
Erde herab, die sie aber, sobald sie in den Körper zöge, we gen des übeln Temperaments, in welchem sie ihn fände, gänzlich verlöre, bis sich dieses üble Temperament mit der Zeit verbessere, und ein anders an dessen
Stelle komme, vermöge dessen
57
sie sich nach und nach,
weil es den verlornen Wissenschaften bequemer sey, auf das
Vergesse ne besänne. Diese Meynung ist
falsch; und ich muß mich sehr wundern, daß so ein grosser Weltweise, als
Plato war, die
Ursache der mensch lichen Weisheit nicht hat
angeben können, da er doch eingesehen, daß auch die
unvernünftigen Thiere ihre Klugheit und natürliche
Fähigkeiten haben, ohne daß ihre Seele aus dem Körper kömmt, und in den Himmel steigt, wo sie ver ständig zu seyn lernen könnte. Er ist daher nicht ausser allem Tadel, besonders, da er es aus den Büchern
des Moses, die bey ihm in sehr grossem Ansehen standen, hat
wissen kön nen, daß GOtt den Körper Adams eher, als seine Seele, erschaffen
habe. *) Dieses geschieht noch alle Tage, nur daß den Körper die
Natur bauet, in welchem, wenn sie die Hand daran gelegt hat, GOtt die Seele erschafft, so daß die se auch nicht einen Augenblick ausser ihrer Woh nung gewesen ist.
[
↔]
Aristoteles, **) geht einen andern Weg und und spricht: πασα
διδασκαλια,
και
πασα
μαθησις
διανοητικη,
ἐκ
προ{!D}ϋπαρχουσης
γι- νεται
γνωσεως.
Dieses will so viel sagen:
58
59
alles, was die Menschen
lernen und wissen, ler nen und wissen sie durch
das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen; und der Ver stand kann von
nichts einige Erkenntniß haben, was
nicht durch einen von diesen fünf Sinnen in ihn gekommen ist.
Er
spricht daher an ei nem andern Orte, *) diese Vermögenheiten kämen, gleich einer polirten Tafel,
auf welche noch nichts gezeichnet worden, aus den Händen der
Natur. Doch auch diese Meynung ist falsch. Damit wir es aber desto besser beweisen können, müssen
wir erst mit den gemeinen Weltweisen darinnen einig werden, daß nur eine Seele in
dem mensch lichen Körper sey, nämlich die
vernünftige, wel che der Grund von allem ist,
was wir thun und wirken; obgleich ganz verschiedne Meynungen davon sind, und es auch an Leuten nicht fehlt,
welche behaupten, daß die vernünftige Seele noch zwey oder drey
andre Seelen **) neben sich habe.
[
↔] Da die vernünftige Seele in ihren Hand lungen eben so verfährt, als die vegetativische, so haben wir schon bewiesen, daß sie den Men schen bauen, ihm seine gehörige Bildung geben, Nahrung an sich ziehen, diese Nahrung behal ten und verdauen, das Unnütze von sich ausstos sen, und, wenn ein Theil an dem Körper fehlt,
60
61
diesen Theil ersetzen, und
ihm die Bildung ge ben kann, welche er zu dem
bestimmten Ge brauche haben muß. Was die Handlungen der sensitivischen und bewegenden Seele anbelangt, so weiß ein
Kind gleich den Augenblick nach sei ner Geburt, wie es saugen, und die Lippen be wegen soll, daß sie die Milch an sich ziehen kön nen. Es verrichtet dieses alles auch mit
solcher Geschicklichkeit, daß kein erwachsener Mensch, so verständig er auch sey, es ihm nachmachen
kann. Mit eben der Fertigkeit erlangt es alle übrige
Eigenschaften, die ihm zur Erhaltung sei ner
Natur nothwendig sind; es weiß das Schädliche und Verderbliche zu
fliehen; es kann weinen und lachen, ohne es von jemanden erlernt zu haben. Wenn dieses die gemeinen
Weltweisen nicht zugeben wollen, so mögen sie doch sagen, von wem
es das neugebohrne Kind gelernt hat, oder durch welchen Sinn
diese Ge schicklichkeiten in dasselbe gekommen
sind? Jch weiß zwar wohl, sie werden antworten, GOtt habe ihm diesen Naturtrieb eben sowohl, wie den
unvernünftigen Thieren eingepflanzt. *) Sie haben auch so unrecht nicht, wenn sie nur unter diesem Naturtriebe nichts anders, als das Tem perament, verstehen.
62
[
↔] Zu den eigentlichen Verrichtungen der ver nünftigen Seele, als dem Ueberlegen, dem Ein bilden, dem
Behalten und Erinnern, ist der Mensch nicht gleich nach seiner
Geburt ge schickt; weil das Temperament eines
neugebohr nen Kindes dazu ganz unfähig,
hingegen zu den vegetativischen und sensitivischen
Verrichtungen desto fähiger ist; so wie das Temperament ei nes Alten mehr Fähigkeit zu jenen, als zu
diesen hat. Wenn also das Temperament, welches zur Klugheit erfordert wird, und sich nur nach und nach in dem
Gehirne einfindet, auf einmal da seyn könnte, so würde auch der
Mensch auf einmal besser schliessen und philosophiren können, als wenn er es in den Schulen
gelernet hätte: da aber die Natur nichts, als mit der Folge
der Zeit thun kann, so kann auch der Mensch nicht anders, als nach und nach zur Weisheit gelan gen. Daß dieses die
wahre Ursache sey, erhellet deutlich daraus, daß auch der
allerweiseste Mensch nach und nach wiederum unverständig wird, weil sich sein Temperament alle Tage, je näher
er dem hohen Alter kömmt, mehr und mehr verändert.
[
↔] Jch bin also bey mir gewiß überzeugt, daß, wenn
die Natur, so wie sie den Menschen aus einem feuchten und warmen Saamen macht, (welcher dasjenige
Temperament hervorbringt, das zu den vegetativischen und
sensitivischen Verrichtungen erfordert wird,) ihn aus einem kalten und trocknen Saamen machte, so würde
der Mensch gleich nach seiner Geburt
überle gen und schliessen, nicht aber saugen
können, als wozu dieses Temperament ganz ungeschickt ist. *) Damit man aber auch aus der Erfahrung er kennen möge, daß man
keinen Lehrmeister braucht, wenn das Gehirn das zu den Wissen schaften erforderliche Temperament hat; so
darf man nur auf einen einzigen Fall Acht geben, welcher sich fast alle Tage zuträgt. Wenn näm lich der Mensch in eine Krankheit fällt, welche das Temperament des Gehirnes auf einmal ver ändert, dergleichen Schwermuth und Raserey
sind, so verliert er augenblicklich, wenn er ver ständig gewesen ist, allen seinen Verstand, und redet tausend ungereimte Sachen; wenn er aber
ein Narr gewesen ist, so erlangt er weit mehr Fähigkeit und
Einsicht, als er vorher gehabt hat. †)
63
64
Von einem Landmanne kann
ich aus meiner eignen Erfahrung erzählen, daß er in einer phre netischen Krankheit in meiner Gegenwart eine Rede gehalten, worinnen er die Umstehenden für
seine Seligkeit zu beten, und, wenn er von diesem Lager nicht
aufkommen sollte, für seine Kinder und seine Frau zu sorgen, mit
solchem oratorischen Nachdruck und mit so ausgesuchten Worten ermahnte, daß
Cicero
auch vor dem Rathe nicht hat beredter seyn können. *) Alle, die mit mir zugegen waren, erstaunten darüber, und fragten mich, woher doch einem Menschen so
viel Weisheit und Beredsamkeit kommen
könne, der bey gesunden Umständen kaum habe reden können? So viel
ich mich besinne, ant wortete ich ihnen damals,
daß die Beredtsamkeit eine Wissenschaft sey, die aus einem gewissen Grade der Wärme
entstünde, und daß das Ge hirn des Bauers durch
die Krankheit gleich diesen Grad bekommen hätte.
65
[
↔] Von einem andern gleichfalls phrenetischen Kranken
*) kann ich versichern, daß er länger, als acht Tage lang
nicht ein Wort geredet, wor auf er nicht gleich
einen Reim gesucht hätte, so daß oft sehr artige Zeilen und
Strophen heraus kamen. Als die Umstehenden über
diese Fer tigkeit in Versen zu reden, die der
Kranke in seinen gesunden Tagen niemals gehabt hatte, er staunten: so sagte ich, es geschehe sehr
selten, daß derjenige auch in der Phrenesie ein Poet sey, welcher es bey gesundem Körper
wäre, weil das Temperament des Gehirns, das ihn, als er ge sund gewesen, dazu gemacht, in der Krankheit gemeiniglich so verändert wird, daß es zu ganz
entgegen gesetzten Verrichtungen aufgelegt ist. Jch besinne mich,
daß die Frau und Schwester dieses Wahnwitzigen, welche Mari
Garcia hieß, ihn einmal bestraften, daß er von den Heiligen so verächtlich rede. Hierüber ward der Kranke
ganz zornig und schrie: Pues reniego de Dios
por amor de vos, y de sancta Maria por amor de Mari Garcia; y
de S. Pedro por amor
66
de Juan de Olmedo. Auf diese Art gieng er
noch viel andre Heilige durch, deren Namen mit den Namen der
Herumstehenden einigen Gleichlaut hatten.
[
↔] Doch alles dieses ist nichts, und bloß ein Werk
von wenig Augenblicken, wenn man es mit den Besonderheiten
vergleicht, die sich an einem wahnsinnig gewordenen Pagen eines
der Vornehmsten dieses Königreichs geäussert ha ben. Jn gesunden Tagen hatte man ihn durch gängig für einen Menschen von sehr wenigem
Verstande gehalten. Als er aber in die Krank heit verfiel, brachte er so viel anmuthige Sachen, so viel
sinnreiche Gleichnisse, so viel vortrefliche Antworten, wenn man
ihn fragte, und so viel unverbesserliche Vorschläge, das Reich,
(dessen Herr er zu seyn, sich einbildete,) wohl zu regie ren vor, daß
nicht wenig Leute aus fremden Orten so was wunderbares zu hören,
herbey kamen, daß selbst sein Herr sein
Bette selten oder gar nicht verließ, und nichts eifriger von GOtt wünschte, als daß er nie wiederhergestellt werden möchte. Dieses gab er ganz deutlich zu
verstehen, als der Page gesund worden war, und der Arzt, in der
gewissen Hofnung, Lob und Belohnung davon zu tragen, sich von
ihm beurlauben wollte: „mein Herr, sagte er zu
dem Arzte, ich kann sie versichern, daß mich niemals ein Unfall mehr geschmerzt hat, als die Gene sung meines Pagen. Eine so weise Narrheit
hatte man gar nicht wieder in eine so langsa
me gesunde Vernunft, wie er sie jetzo hat, da er genesen ist,
verwandeln sollen. Es kömmt mir vor, als wenn sie ihn mit gutem
Bedacht wieder zum Narren gemacht hätten, welches doch die elendeste Krankheit ist, in die ein
Mensch verfallen kann.“ Der arme Arzt sah, daß seine
Cur sehr übel aufgenommen worden, und glaubte wenigstens von dem
Pagen einen bessern Abschied zu bekommen; doch auch die ser, nach vielem Hinundwiederreden, sagte
ihm zum Schlusse: „mein Herr Arzt, ich danke ih nen, daß sie haben wollen so gütig seyn, mir zu meinem gesunden Verstande wieder
zu verhel fen. Einigermassen aber, ich
versichere sie, es hei lig, verdrießt es mich,
daß ich wieder gesund bin. *) Jn meiner sogenannten Unsinnigkeit lebte ich in der größten Achtung vor der Welt, und ich schien
mir ein so grosser Herr zu seyn, daß kein Kö nig auf der Welt wäre, der nicht seine Krone von mir zur Lehn
hätte. Ob es gleich eine falsche Einbildung war, was schadet das? Ge nug, sie vergnügte mich eben so sehr, als wenn sie wahr gewesen
wäre. Wie viel schlechter stehet es jetzt um mich, da ich sehe,
daß ich nichts, als ein armer Page bin, und daß ich vielleicht morgen demjenigen wieder aufzuwar ten anfangen muß, den ich in meiner Krank=
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heit nicht würdig genug
geachtet hätte, mein Bedienter zu seyn.“
[
↔] Alle die jetzt erzählten Fälle sind so beschaf fen, daß sie die Weltweisen leicht als mögliche und geschehene Fälle annehmen können. Was werden
sie aber sagen, wenn ich sie aus unleug baren
Begebenheiten versichere, daß einige in ihrem Wahnwitze
lateinisch geredet haben, ohne daß sie es jemals vorher erlernt
hatten? Daß eine phrenetische Weibesperson allen und jeden, die sie besuchten, ihre Tugenden und
Laster ge sagt,
und sehr oft die Wahrheit mit einer sol chen Gewißheit getroffen hat, als man sie nur immer aus Muthmassungen und Merkmalen haben
kann, so daß endlich aus Furcht, ver drüßliche Wahrheiten zu hören, niemand mehr zu ihr kommen wollte. Worüber man aber bey dieser Frau am
meisten erstaunte, war, daß sie dem Balbirer, welcher ihr zur
Ader ließ, sagte: mein Freund, bedenkt ja, was ihr thut; denn ihr habt nur noch wenig Tage zu leben, und
eure Frau wird sich an den und den wie der
verheyrathen. Jhre Prophezeyhung war so richtig, daß beydes noch,
ehe ein halb Jahr vergieng geschahe.
[
↔] Es scheint mir, als wenn ich diejenigen, wel che sich um keine natürliche Weltweisheit be kümmern, sagen
hörte: alles das sind Possen und Lügen, und, wenn es ja wahr seyn
sollte, so hat der Teufel, welcher ein sehr kluger und verschmitzter Geist ist, mit Zulassung GOttes,
den
Körper dieser Frau, und der andern ange führten phrenetischen Kranken besessen
gehabt; und er ist es gewesen, der so wunderbare Sachen aus ihnen geredet. Allein diese
Antwort würde ihnen schwer zu vertheidigen werden, weil der Teufel, der keinen prophetischen Geist hat, un möglich das Zukünftige wissen kann. Jhr wich tigster Beweis ist, dieses oder jenes ist falsch, weil ich nicht begreifen kann, wie es zugehen
sollte: als wenn dergleichen schwere und ver wickelte Sachen für einen kleinen Verstand ge hörten, und von ihm sich einsehen liessen. Die jenigen, denen es an der erforderlichen Fähig keit fehlt, mag ich hier gar nicht überzeugen, weil alle Mühe
umsonst angewandt wäre, und sie doch nimmermehr mit dem
Aristoteles beken nen würden, daß ein Mensch, wenn er das ge hörige Temperament dazu habe, unzählige Din ge wissen könne, ohne sie jemals empfunden oder gelernt zu haben: πολλοι
δε και
δια το
εγ- γυς
εἰναι του νοερου τοπου την
θερμοτητα
ταυτην,
νοσημασιν
ἁλισκονται
μανικοις
ἠ ἐνθουσιαϛικοις
.Οθεν
σιβυλλαι
και
βακιδες και οἱ
ἐνθεοι
γινονται
παντες,
ὁταν
μη
νοση- ματι
γενωνται
αλλα
φυσικη
κρασει.
Μα- ρακος
δε ὁ Συρακουσιος
και
ἀμεινων
ἠν
ποιη- της
ὁτ' ἐκϛαιη.
Οσοις
δ' ἀν
ἐπανθη
την
ἀγαν
θερμοτητα
προς το
μεσον, οὑτοι
με- λαγχολικοι
μη
εισι, φρονιμωτεροι
δε. Jn diesen Worten bekennt der PhilosophPhilosoh ganz deut lich, daß durch die
allzugrosse Hitze des Gehirns
viele Menschen das Zukünftige voraus sehen
könnten, dergleichen die Sibyllen gewesen wä ren; *) und dieses, setzt er hinzu, wird nicht durch die
Krankheit, sondern durch die Ungleich heit der
natürlichen Wärme verursachet. Daß aber die Wärme die wirkliche
Ursache sey, beweiset er unwidersprechlich durch das Bey spiel des Syrakusaners
Marakus, welcher ein weit besserer Dichter
war, wenn er durch die allzugrosse Hitze des Gehirns ausser sich
ge rieth, und die Fertigkeit zu Dichten
verlor, so bald diese Hitze mässiger und er
also gesetzter und verständiger ward.
Aristoteles giebt also nicht nur das
Temperament des Gehirns, als die Ursache solcher wunderbaren
Wirkungen an, son dern er tadelt auch
diejenigen, welche das zu ei ner göttlichen
Eingebung machen, was doch nichts, als ein natürlicher Zufall ist.
[
↔] Der erste, welcher bey dergleichen wunder baren, Begebenheiten das Göttliche zu Hülfe rief, war
Hippokrates: (προγνωϛ.) ἁμα
δε
και εἰ
τι
θειον
ενεϛιν
ἐν τησι νουσησι, {??}και του-
68
του την
προνοιαν
ἐκμανθανειν.
*) Hiermit will er den Aerzten rathen, daß sie sich auch
das Göttliche, was etwa ein Kranker sagen möchte, zu verstehen, und was es für einen Ausgang haben
würde, vorher verkündigen zu können, be streben
sollten. Worüber ich mich aber bey die ser
Materie nicht genug verwundern kann, ist, daß
Plato, als man ihn fragte: woher es doch
komme, daß von zwey Söhnen eines Vaters der eine Verse machen
könne, ohne es jemals gelernt zu haben, der andre aber, der Mühe
un geachtet, die er daran wende, keine
machen ler ne; daß, sage ich,
Plato hierauf hat antworten können: es käme
daher, weil der eine, welcher als ein Dichter gebohren worden, begeistert sey; der andre
aber es nicht sey.
Aristoteles hatte also Grund, ihn zu tadeln, weil er nur auf das
Temperament hätte zurück gehen dürfen, wie er es sonst schon
gethan hatte.
[
↔] Daraus, daß ein phrenetischer Kranker la teinisch reden kann, ohne es jemals gelernt zu haben, erhellet nicht nur, daß die lateinische
Sprache mit der vernünftigenSeele genau über einstimme, sondern auch, daß (wie wir weiter
69
unten beweisen werden,)
ein besondres
Genie zur Erfindung der Sprachen gehöre.
Die Wör ter und Redensarten, welche die
lateinische Spra che hat, kommen auch in der
That dem Gehö re so vernünftig vor, daß die
Seele, wenn sie das Temperament bekömmt, das zur Erfindung der zierlichsten Sprache erfordert wird, sogleich auf diese, und auf keine andere fallen würde. Daß aber zwey
Spracherfinder, wenn sie einer ley
Genie und Fähigkeit hätten, auch einerley
Worte erdenken würden, kann man sich durch folgendes Beyspiel
begreiflich machen. Wenn GOtt, als er den Adam erschuf, und ihm alle Dinge, sie zu benennen, vorstellte, sogleich einen andern Menschen mit eben der Vollkommenheit, und mit eben den übernatürlichen Gaben aus gerüstet, erschaffen hätte; was würde wohl erfolgt seyn, wenn auch dieser die ihm vorgeführten Ge schöpfe hätten benennen sollen? Die Namen
des letztern würden mit den Namen des Adams ohne allen Zweifel
übereingestimmet haben. Die Ursache ist leicht zu begreifen: weil
beyde auf die Natur der vorgestellten Geschöpfe gesehen hätten, diese Natur aber nur eine einzige ist.
Auf eben die Art nun hat der phrenetische Kran ke auf die lateinische Sprache fallen, und sie, oh ne sie jemals gelernt zu haben, sprechen können. Das natürliche Temperament seines Gehirns hatte
sich nämlich durch die Krankheit verändert, und war auf eine
zeitlang so geworden, wie das Temperament des Erfinders der
lateinischen
Sprache
gewesen ist, daß er also nothwendig eben die Worte erfinden
mußte, ob er sie gleich nicht in eben der Ordnung, und in eben
der an einanderhängenden Zierlichkeit erfand, welches sonst, wie die Kirche ihre Exorcisten
lehret, ein Merkmal gewesen wäre, daß ein Geist die Zunge bewege. Fast eben dieses sagt
Aristote les,
*) wenn er die Ursache untersucht, warum manchmal Kinder
gleich nach ihrer Geburt ver schiedne Worte
ganz deutlich reden könnten, und bald darauf wieder stumm würden?
Er vergißt bey dieser Gelegenheit nicht die gemei nen Weltweisen
seiner Zeit zu widerlegen, wel che diese
Wirkung bloß, weil sie die natürliche Ursache davon nicht wußten,
den Geistern zu schrieben.
[
↔] Die wahre Ursache, warum manchmal Kin der gleich nach ihrer Geburt reden,
und hernach wieder stumm werden, hat
Aristoteles nicht fin den
können, ob er sich gleich ziemlich weitläuf tig
dabey aufhält. Dennoch aber kam es ihm niemals ein, eine
Erfindung der Geister oder sonst eine übernatürliche Wirkung
daraus zu machen, wie die gemeinen Philosophen thun, die, wenn sie sich von allzufeinen
und verworrenen Aufgaben aus der Naturwissenschaft umringt se hen, den unwissenden Pöbel bereden, die
Geister wären die Urheber der seltenen und wunderbaren Wirkungen, von welchen sie die natürlichen Ur sachen nicht wissen noch einsehen.
70
[
↔] Die Kinder, welche aus kaltem und trocknen Saamen
erzeugt werden, dergleichen alle dieje nigen
sind, welche die Aeltern in ihrem Alter bekommen, fangen sehr wenig Tage oder Mo nate nach ihrer Geburth an zu denken und zu schliessen: weil das kalte und trockene Tempe rament, wie wir unten beweisen werden, zu den Verrichtungen der
vernünftigen Seele am ge schicktesten ist, und
die erforderliche Beschaffen heit des Gehirns,
welche aus vielen Ursachen sich so früh einfindet, dasjenige
ersetzt, was sonst nur die Länge der Zeit wirken kann. Andre
Kin der, sagt
Aristoteles am angeführten Orte, kön nen gleich nach ihrer Geburt reden, und werden hernach so lange
wieder stumm, bis sie zu dem Alter gelangen, in welchem man
gewöhnlicher Weise reden lernt. Diese Wirkung hat eben die Ursache, die wir bey Gelegenheit des Pagen,
der übrigen Wahnwitzigen, und des Kranken, welcher auf einmal
lateinisch reden konnte, ohne daß er es jemals gelernt hatte,
angeführet ha ben. Daß aber die Kinder gleich nach ihrer Geburt, ja
sogar schon im Mutterleibe, in eben diese Krankheiten fallen
können, ist eine Sache, die man schwerlich leugnen wird.
[
↔] Wie man aber die Prophezeyhung der phre netischen Weibsperson begreifen solle, werde ich mit den Worten des
Cicero
besser, als mit ir gend eines Philosophen,
erklären können. Er sagt nämlich, wenn er die menschliche Natur mit wenig Worten beschreiben will:
Animal
prouidum, sagax, multiplex, astutum, memor,
plenum rationis et consilii; quem vocamus hominem.
Besonders sagt er, daß gewisse menschliche Naturen in Erkenntniß
zukünftiger Dinge vor andern einen grossen Vorzug ha ben. *) Der Fehler der Philosophen bestehet darinnen, daß sie, wie es gleichwohl
Plato that, die Aehnlichkeit nicht in
Betrachtung ziehen, nach wel cher der Mensch
mit GOtt erschaffen ward, und vermöge welcher er an der
göttlichen Vorherse hung Theil nimmt, so daß er alle drey Verschie denheiten der Zeit zu erkennen fähig ist, die ver gangene durch das Gedächtniß, die
gegenwärtige durch die Sinne, und
die zukünftige durch die Einbildung und den Verstand. Wie es nun Menschen giebt, welche andre in
Erinnerung ver gangener Sachen, oder in
Empfindung des Ge genwärtigen übertreffen; so
giebt es auch Men schen, welche mehr natürliche
Fähigkeit, sich das Zukünftige vorzustellen, besitzen, als andre.
Ei ner von den stärksten Bewegungsgründen,
wel che den
Cicero, die Unvergänglichkeit der vernünf tigen Seele zu glauben,
zwangen, war die Ge wißheit, mit welcher die
Kranken das Zukünf tige vorher sagten,
besonders, wenn sie dem To de sehr nahe wären. Der Unterschied aber zwi schen dem prophetischen Geiste und dieser na
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türlichen Fähigkeit bestehet darinnen, daß das jenige, was GOtt durch den Mund der Prophe ten verkündiget, untrieglich seyn muß, weil
es sein ausdrückliches Wort ist, da dasjenige, was der Mensch, vermöge seiner natürlichen Einbil dungskraft vorher sagt, diese untrügliche Ge wißheit nicht hat.
[
↔] Diejenigen, welche es für ein Kunststück des
Teufels ausgeben, daß jene phrenetische Kran ke
die Tugenden und Laster
derjenigen, die sie zu besuchen kamen, zu sagen gewust, sollen
wissen, daß GOtt manchem Menschen die übernatürli che Fähigkeit zu erkennen, welche Werke von GOtt, und welche von dem Teufel sind, ertheilt.
Diese Gabe rechnet
Paulus unter die
göttlichen Gnadengaben, und nennt sie διακρισιν
πνευμα- των, weil man durch sie
erkennet, ob es ein böser oder ein guter Engel sey, welcher uns treibet. Denn da uns oft der
Teufel unter der Gestalt eines guten Engels zu verführen sucht,
so ist die se übernatürliche Gabe höchst
nöthig, um ihn von den guten Engeln zu unterscheiden. Diese übernatürliche Gabe aber anzunehmen, sind die jenigen, welche kein
Genie zur Naturforschung haben, weit
ungeschickter, als alle andre, weil diese Wissenschaft und jene von GOtt ertheilte
übernatürliche Gabe einerley Vermögen, näm lich
den Verstand betreffen: wenn es anders wahr ist, daß sich GOtt meistentheils, wie ich oben gesagt
habe, in Austheilung seiner unmit
telbaren Gnade, nach der natürlichen Fähig keit eines jeden richtet.
[
↔] Als
Jacob eben sterben wollte,
(welches die Zeit ist, da die vernünftige Seele am unge bundesten und also am geschicktesten ist, in
die Zukunft zu dringen,) traten alle seine zwölf Söhne vor ihn, und jedem von diesen zwölfen
sagte er nicht nur seine Tugenden und seine La ster, sondern prophezeyhete ihm auch, was mit ihm und seinen
Nachkommen geschehen werde. Es ist gewiß, daß
Jacob dieses von dem Geiste GOttes
getrieben, that. Wenn uns nun aber die heilige Schrift und unser Glaube
davon nicht überzeugten; woran sollten es denn jene Natur forscher erkennen, daß dieses ein Werk
GOttes gewesen wäre, jenes aber ein Werk des Teufels, da die phrenetische Kranke allen, die sie zu be suchen kamen, ihre Tugenden und Laster gesagt hat? Sie glauben zwar, die Natur der ver nünftigen Seele sey von der Natur des Teufels ganz unterschieden, und ihre Kräfte, ich meyne
den Verstand, die Einbildungskraft und das Ge dächtniß, wären von einer ganz andern Art. Al lein, sie irren sehr. Wenn die vernünftige See le sich in einem vortheilhaften Körper befindet, wie etwa der
Körper des Adams war, so weiß sie fast eben so viel, als der
verschmitzteste Teu fel, und wenn sie ausser
dem Leibe ist, so hat sie eben so feine Fähigkeiten als er.
Können also die Teufel das Zukünftige durch Muthmassun gen, und aus den und jenen Merkmalen gezoge
ne
Folgerungen erkennen, so muß es auch die vernünftige Seele erkennen können, wenn sie im
Begriffe ist, von dem Körper getrennt zu wer den, oder dasjenige Temperament hat, welches den Menschen, in die Zukunft zu dringen, ge schickt macht. Dem Verstande aber ist es gleich schwer zu begreifen, wie die Teufel diese Fä higkeit haben können, oder wie sie die vernünf tige Seele haben kann. Uebrigens haben sich diejenigen, welche wider unsre vorgebrachte Mey nung streiten, niemals in Sinn kommen lassen, daß es in den natürlichen Ursachen gewisse Zei chen geben könne, aus welchen sich das Zukünf tige einigermassen schliessen liesse. Jch
versiche re sie also, daß es nicht nur
Merkmale giebt, aus welchen man das Vergangene und Gegen wärtige erkennen kann, sondern auch Merkma le, aus welchen sich das Zukünftige, ja
sogar Geheimnisse des Himmels, muthmassen lassen. *) Wer das natürliche Vermögen dazu besitzt, der wird gewiß, sowohl in diese, als in jene, ein dringen, wenn es von den andern, wie
Homerus sagt, heissen wird: der Dumme sieht
das, was vergangen ist, nicht das, was kommen soll, ein: der Kluge aber ist der Affe der Götter. Er ah met ihnen in unzähligen
Sachen nach, und ob=
72
gleich seine Nachahmungen die vollkommensten nicht
sind, so wird er ihnen doch dadurch schon gewissermassen ähnlich,
daß er ihnen nachahmet.
Fünftes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß bloß aus den drey Hauptbeschaffenheiten der Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit, alle
Verschiedenheiten des menschli chen Genies entsprin gen.
[
↔] Da die vernünftige Seele in dem Körper
ist, so wäre es unmöglich, daß sie verschiede ne und oft einander entgegengesetzte Wirkun gen hervorbringen könnte, wenn sie nicht zu je der dieser Wirkungen ihre besondern Werkzeu ge hätte. Dieses erhellet deutlich aus der
ani malischen Vermögenheit, welche in den
äusserli chen Sinnen ganz verschieden
wirket, weil jeder seinen besondern Bau hat. Einen besondern Bau haben die Augen, einen besondern die Oh ren, einen besondern der Geschmack, einen beson dern der Geruch,
und einen besondern das Ge fühl. Wenn dieses
nicht wäre, so würde die animalische Vermögenheit nur eine Art
der Ver richtungen haben, und alles würde
entweder se
hen, oder schmecken, oder fühlen seyn; weil das Werkzeug die Vermögenheit nur zu einer, nicht
aber zu mehrern Handlungen einrichten und bestimmen kann.
[
↔] Aus dem, was an den äusserlichen Sinnen so klar und deutlich ist, können wir
schliessen, wie es mit den innern Sinnen beschaffen seyn müsse. Durch eben diese animalische Vermö genheit haben wir Verstand,
Einbildung und Gedächtniß. Wenn es
also wahr ist, daß jede Wirkung ihr besonderes Werkzeug
erfordert, so muß nothwendig in dem Gehirne ein besonderes Werkzeug zum Verstande, ein besonderes zur
Einbildung, und ein besonderes zum Gedächt nisse seyn; weil, wenn das Gehirn nur auf einer ley Art organisirt wäre, alles entweder nur Ge dächtniß, oder Verstand, oder Einbildung
seyn würde. Da wir aber die Verschiedenheit der Wirkungen erkennen, so müssen wir auch die Verschiedenheit der
Werkzeuge eingestehen. Laßt uns also den Kopf öfnen, und das
menschliche Gehirn untersuchen. Alles ist darinnen auf ei nerley Art und von einerley homogenischer Ma terie, ohne die geringste Vermischung
heteroge nischer Theile zusammmengesetzt;
nur vier kleine Ventrikel fallen in die Augen, die aber auch
alle viere von einerley Zusammensetzung und Gestalt sind, so daß man auch nicht das geringste wahr nehmen kann, woran sie etwa unterschieden
seyn möchten.
[
↔] Welches aber der besondere Gebrauch und Nutzen
dieser Ventrikel sey, und warum sie ei gentlich
in dem Gehirne da sind, ist sehr schwer zu sagen. Weder
Galenus, noch die übrigen
sowohl alten als neuen Zergliederer, die sich mit dieser
Untersuchung abgeben, wissen genau zu be stimmen, zu was der rechte oder linke, der mitt lere oder hinterste Ventrikel des Gehirns diene. Kaum, daß sie (und auch dieses noch ganz
furchtsam,) uns versichern, diese vier Höhlun gen wären die vier Werkstäte, wo die Lebens geister zubereitet, und in animalische ver wandelt würden, damit sie in alle Theile des KörpersEmpfindung und Bewegung
bringen könnten. Bey dieser Beschäftigung, sagt
Ga lenus an
einem Orte, thut der mittelste Ventri kel das
Vornehmste; an einem andern Orte aber giebt er zu verstehen, daß
es der hinterste Ventrikel sey, auf welchen das Hauptwerk an komme *)
[
↔] Doch diese Lehre ist nichts weniger, als wahr,
oder in der Naturwissenschaft gegründet; weil es in dem ganzen
menschlichen Körper keine Verrichtungen giebt, die so verschieden
und ein ander so verhinderlich wären, als das
Denken und das Verdauen der Säfte. Das Denken
erfordert Ruhe, Stille und Klarheit der anima
73
lischen
Geister; die Verdauung aber geschiehet mit grosser Bewegung und vielem Geräusche; daher
nicht wenig Dünste dabey in die Höhe getrieben werden, welche die
Lebensgeister so ver wirren und verdunkeln, daß
die vernünftige See le die Gestalten der Dinge
dadurch unmöglich erkennen kann. So unvorsichtig aber ist die Natur gewiß nicht gewesen, daß sie zwey einan der so widerstreitende Verrichtungen an einen Ort sollte gelegt haben.
Plato
erhebt vielmehr *) ihre Weisheit ganz
ausserordentlich, daß sie in unserm Baue die Leber so weit von
dem Ge hirne gelegt habe, damit durch den Lerm,
wel chen die Untereinandermengung der
Nahrung verursacht, und durch die Dunkelheit und den Nebel, welcher von den aufsteigenden Dünsten in
den animalischen Geistern entstehet, die ver nünftige Seele in ihrem Denken und Schliessen nicht gestöret
würde. Doch, ohne daß uns
Pla to dieses durch seine Philosophie hätte lehren dür fen,
sehen wir denn nicht aus der täglichen Er fahrung, daß, so weit die Leber und der Magen auch von dem Gehirne entfernet sind, der Mensch
gleichwohl eine ziemliche Zeit nach dem Essen zum Studiren gar
nicht aufgelegt ist?
[
↔] Was das Wahrscheinlichste hierbey zu seyn
scheinet, ist dieses, daß der vierte und hinterste Ventrikel das
Amt habe, die Lebensgeister zu bereiten, und sie in animalische
zu verwandeln, damit sie zu besagtem Gebrauche dienlich wer
74
den. Die
Natur entfernte ihn daher mit Fleiß so weit von den andern
dreyen, und machte, so zu reden, ein besonderes Gehirn daraus,
damit er mit seinen Verrichtungen die übrigen drey in ihren Betrachtungen nicht störete. Die drey
vordersten Ventrikel bestimmte die Natur ohne Zweifel zum
Schliessen und Nachdenken; welches man daraus deutlich genug
erkennet, daß bey allzuvielem und starken Nachdenken nur derjenige Theil des Kopfes Schmerzen empfin det, welcher diesen drey Höhlungen entgegen steht. Die Stärke dieses Schlusses aber erhel let daher, daß, wenn die übrigen Kräfte in ih ren Verrichtungen ermüdet sind, allezeit dieje nigen Theile schmerzen, welche in den Verrich tungen sind angegriffen worden; z. E. von all zuvielem Sehen schmerzen die Augen, und von allzuvielem Gehen
die Fußsohlen.
[
↔] Die vornehmste Schwierigkeit ist nunmehr, wie wir
erkennen wollen, welcher Ventrikel dem Verstande, welcher der
Einbildung, und welcher dem Gedächtnisse bestimmt sey, da sie so
nahe und verbunden unter einander sind, daß man weder aus dem vorhin angeführten Grunde, noch durch irgend ein
andres Zeichen einen Unter schied an ihnen entdecken kann. Wenn wir
aber überlegen, daß der Verstand nicht wirken kann, ohne die Gegenwart des Gedächtnisses,
welches ihm die Bilder vorstellen muß; noch das Gedächtniß, ohne Beystand der Einbil
dungskraft: *) so begreifen wir gar leicht, daß alle drey Vermögenheiten
in einem jeden Ven trikel beysammen seyn
müssen, und daß nicht in dem einen der Verstand allein, in dem
andern al lein das Gedächtniß, und in dem
dritten allein die Einbildungskraft
ihren Sitz haben könne, wie sich die gemeinen Weltweisen
eingebildet ha ben. Diese Verbindung der
Vermögenheiten ist auch sonst in dem menschlichen Körper
anzu treffen, da keine ohne Beyhülfe der
andern wir ken kann, wie zum Beyspiel aus den
vier na türlichen Kräften erhellet, der Kraft
zu verdauen, der Kraft an sich zu behalten, der Kraft an sich zu ziehen, und der Kraft von sich auszustossen,
welche die Natur, weil jede der andern unent behrlich ist, an einen einzigen, und nicht
an verschiedene Oerter legte.
[
↔] Wenn dieses nun aber wahr ist, warum machte denn
die Natur drey besondere Ventri keln, und warum
verband sie in allen dreyen al le drey
Vermögenheiten, da ein einziger hinläng lich
gewesen wäre, die Werke des Verstandes, des Gedächtnisses, und
der Einbildung, zu voll ziehen? Hierauf kann
man antworten: daß sich eben diese Schwierigkeit finden würde,
wenn man untersuchen wollte, warum uns die Natur zwey Augen und zwey Ohren gegeben habe, da doch in
einem jeden Ohre, und in einem jeden Auge das Vermögen zu hören
und zu sehen sey, und
75
wir also mit einem Ohre
hören, und mit einem Auge sehen könnten? Die Ursache davon ist diese: weil ein Thier seiner Vollkommenheit de sto sicherer seyn
kann, je zahlreicher an ihm die jenigen
Vermögenheiten sind, die diese Vollkom menheit
ausmachen. Wie leicht können eine oder zwey aus der oder jener
Ursache daran feh len, daß es also sehr gut
ist, wenn es mehrere von gleicher Art hat, die es brauchen
kann. Jn derjenigen Krankheit, welche die Aerzte den Schlag oder die Paralysis nennen, verlieret ge meiniglich derjenige Ventrikel seine Wirksam keit, welcher auf der Seite liegt, die der Schlag getroffen hat. Wenn also die übrigen zwey nicht
unverletzt blieben, so würde der Mensch aller seiner Seelenkräfte
beraubt seyn, da man ohnedem schon merkt, daß die Werke des
Ver standes, der Einbildungskraft, und des
Gedächt nisses um ein grosses geschwächt
werden, wenn auch nur eines von den Ventrikeln untüchtig ge worden ist. Empfindet man doch schon an dem Gesichte eine grosse
Abnahme, wenn man ein Auge verlieret, da man vorher mit zweyen
zu sehen gewohnt war. Es ist daher unwider sprechlich, daß in jedem Ventrikel alle drey Ver mögenheiten verbunden sind, weil, wenn eine
da von verletzt wird, alle drey geschwächt
werden.
[
↔] Da nun offenbar ist, daß alle drey Ventri kel auf einerley Art zusammengesetzt sind, und daß in ihnen keine Verschiedenheit der Theile
anzutreffen ist; so müssen wir nothwendig zu den
vier Hauptbeschaffenheiten unsre
Zuflucht neh men, und aus ihrer Anzahl die
Anzahl der Hauptverschiedenheiten der
Genies zu bestim men suchen: denn sich
einzubilden, daß die ver nünftige Seele, so lange sie in dem menschlichen Körper ist, ohne Mithülfe eines körperlichen Werkzeuges wirken könne, ist wider alle natür liche Philosophie. Von den vier
Hauptbeschaf fenheiten aber, der Wärme und
Kälte, der Tro ckenheit und Feuchtigkeit,
verwerfen alle Aerzte einmüthig die Kälte, als diejenige, welche
zu den Wirkungen der vernünftigen Seele ganz
und gar ungeschickt ist. Auch alle übrige Ver mögenheiten, wenn die Kälte die Wärme über steigt, sind, wie die Erfahrung lehret, in ihren Wirkungen sehr
träge und schläfrig, so, daß we der der Magen
verdauen, noch die Testikel frucht baren Saamen
zubereiten, noch die Muskeln den Körper bewegen, noch das Gehirn
überle gen kann.
Galenus spricht daher: *) Φανε- ρως
γαρ
ψυχροτης
πασι
τοις
ἐργοις
της ψυ- χης
λυμαινεται;
als wollte er sagen: die Kälte macht, daß die Seele alle ihre
Wirksam keit verlieret, und dient in dem
Körper zu nichts, als die natürliche Hitze zu mässigen. Nur
Ari stoteles*) scheint einer andern Meynung zu seyn, wenn er behauptet,
das warme und dicke
76
77
Blut verursache Stärke und
Kräfte, das dün ne und kalte aber mache, daß
der Mensch einen grossen Verstand
habe. Aus der Kälte also müßte die größte Verschiedenheit der
Genies, die in dem Menschen sind, entstehen;
denn diese ist ohne Zweifel der Verstand. Von gleichem Jn halte ist die Antwort, die
er*) auf die Frage er theilet: warum die
Einwohner in heissen Län dern, zum Beyspiel die
Aegyptier, sinnreicher und weiser wären, als die Einwohner in
kalten Ländern? Er sagt nämlich, die allzugrosse Hi tze des Erdstrichs verderbe und verzehre die
na türliche Hitze des Gehirns, und lasse
nichts als Kälte zurück, welche eben dasjenige sey, was einige Menschen vernünftiger als andere mache;
die allzugrosse Kälte der Luft aber stärke die na türliche Hitze des Gehirns, und lasse sie nicht zum Ausduften kommen. Daher sind, fähret er
fort, diejenigen, welche ein hitziges Gehirn haben, zum
Nachdenken und Philosophiren gar
nicht aufgelegt; sie sind vielmehr sehr unruhig, und bleiben
selten lange bey einer Meynung. Auf diesen Satz scheinet
Galenus zu zielen, wenn er **) sagt: die Hitze des Gehirns sey die Ur sache, daß diese und jene so unbeständig wären, und jeden
Augenblick eine andre Meynung hät ten; da
hingegen die Beständigkeit, mit wel cher man
bey den einmal gefaßten Gedanken bliebe, aus der Kälte des
Gehirns entstünde.
78
79
[
↔] Jn Wahrheit aber entstehet aus dieser Be schaffenheit keine Verschiedenheit des
Genies, und
Aristoteles hat eigentlich auch nicht sagen wollen, daß ein
kaltes, sondern, daß ein am we nigsten hitziges
Geblüte die Ursache eines grös sern Verstandes
sey. Gleichfalls rühret die Un beständigkeit
eines Menschen nur von der allzu grossen Hitze
her, welche die Bilder in dem Gehirne
erhebet, und so zu reden zum Aufsie den bringt,
so daß sich deren allzuviele dem Gei ste darstellen, und ihn, sie zu betrachten,
einladen; da er denn, weil er sie alle geniessen will, von
ei nem auf das andre springen muß. Das Ge gentheil hiervon äussert sich bey der Kälte,
die, weil sie die Bilder unterdrückt, und nicht aufkom men läßt, den Menschen bey einer Meynung fe ste erhält, indem keine andre aufsteigen, die
ihn davon abziehen könnten. Ueberhaupt ist das die Eigenschaft der Kälte, daß sie die Bewegun gungen nicht allein der körperlichen
Dinge, son dern auch der Bilder und Begriffe,
welche die Weltweisen für etwas geistiges halten, verhin dert, und sie in dem Gehirne unbeweglich
macht; diese Festigkeit aber ist vielmehr für eine Träg heit, als für eine Verschiedenheit des
Genies zu halten. Doch giebt es auch noch
eine andre Art der Festigkeit, welche daher entstehet, weil der Verstand allzusehr eingeschlossen
ist, nicht aber, weil das Gehirn zuviel Kälte hat. Es bleiben also bloß die Trockenheit, die Feuchtigkeit, und die Wärme, die Werkzeuge der vernünfti
gen Vermögenheiten.
Welcher Weltweise aber kann denn bey jeder Gattung des
Genies das jenige
bestimmen, was eigentlich ihre Verschie denheit
ausmacht?
Heraklitus*) sagte: ἀυγη
jηρη, ψυχη
σοφωτατη,
und will uns durch diesen Ausspruch zu verstehen geben, die
Trocken heit wäre es, welche den Menschen
weise ma che; er sagt aber nicht, welche Art
der Weisheit er hier verstehe. Eben
dieses sagt
Plato, wenn er
vorgiebt, unsere Seele komme sehr weise in den Körper; durch die viele
Feuchtigkeit aber, die sie in demselben fände, würde sie träge und thöricht, bis sich diese mit der Zeit verlöre, und die Trockenheit ihre erste Weisheit wieder entdecke. Unter
den unvernünftigen Thieren, sagt
Aristoteles, sind diejenigen die klügsten, in deren
Temperamente die Kälte und Trockenheit herrschet, dergleichen die
Ameisen und Bienen sind, welche an Klugheit mit den
allervernünftig sten Menschen um den Rang
streiten. Jm Ge gentheil ist das Schwein
dasjenige Thier, wel ches die meiste
Feuchtigkeit und also den wenig sten Verstand
hat; daher auch
Pindarus, wenn
er die Dummheit der Böotier beschreiben will, sagt: ἠν ὁτε
συας
βοιωτιον οὐθνος
ἐνεπον,
**)
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Sogar das Blut, sagt
Galenus, *) macht die Men schen wegen der
allzuvielen Feuchtigkeit einfältig. Er erzählt daher, die Komödienschreiber hätten über die Söhne
des
Hippokrates, als über Leute gespottet, die viel natürliche Wärme hätten, als welches eine
sehr feuchte und flüchtige Substanz ist. **) Diesem Fehler sind fast alle Söhne weiser Leute
unterworfen, wovon wir weiter un ten den Grund
angeben wollen. Unter den vier Flüssigkeiten endlich ist die
Melancholie die käl teste und trockenste von allen; und gleichwohl versichert
Aristoteles, ***) daß alle, die sich je mals in der Welt
durch die Gelehrsamkeit her vorgethan hätten, Melancholici gewesen wären. Kurz, alle kommen darinnen überein, daß die
Trockenheit den Menschen geschickt mache; kei ner aber bestimmt zu welchen Wirkungen der vernünftigen Seele
eigentlich die Trockenheit am vortheilhaftesten sey. Der einzige
Prophet
Je saias nennt sie mit Namen, wenn er (im 28. Hauptst.) sagt:
Anfechtung giebt
Ver stand; denn die Anfechtung, die
Traurigkeit, die Betrübniß verzehret nicht allein die
Feuchtigkeit des Gehirns, sondern trocknet auch die Gebeine aus, daß sie also durch die Trockenheit, welche
sie verursacht, den Verstand weit schärfer und
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83
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durchdringender macht.
Einen unwidersprechli chen Beweis kann man
daraus nehmen, wenn man überlegt, daß oft Leute, so lange sie in
Ar muth und Verachtung gelebt, die
bewunderns würdigsten Lehren gesagt und
geschrieben haben; sobald sie aber in bessere Umstände, zum
guten Essen und Trinken gekommen sind, haben sie selten was gescheutes mehr reden können, weil
das köstliche Leben, die Ruhe, der gute Fortgang, die Erlangung
aller Wünsche das Gehirn schlaff und feuchte machen. Dieses ist
es, was
Hip pokrates*) unter dem ἡ
ἐυθυμιη
ἀφιει
καρ- διην
verstehet; die Zufriedenheit erweitert das Herz, und giebt ihm
Wärme und Fettigkeit. Man kann dieses auch auch ganz leicht auf
eine andre Art beweisen: wenn nämlich die Traurig keit und die Anfechtung das Fleisch
austrocknet und verzehret, und also den Verstand des Men schen vermehret, so muß ihr Gegentheil,
welches die Freude ist, nothwendig das Gehirn feuchte, und den Verstand schwach machen. **) Dieje nigen also, die ein solch
Genie bekommen sollen, legen sich sogleich
auf Zeitvertreib, wohnen den Schmausereyen, der Musik, und andern lustigen Gesellschaften bey, und fliehen im Gegentheil al les, was ihnen vordem Freude und Vergnügen machte. Hieraus mag das gemeine Volk die
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Ursache einsehen lernen,
woher es komme, daß ein weiser und
tugendhafter Mann, der vorher in
Armuth und Verachtung gelebt hat, wenn er zu einer grossen
Ehrenstelle erhaben wird, sogleich alle seine Gewohnheiten, und
sogar seine Art zu denken ändert. Diese Veränderung nämlich entsteht daher, weil er ein ganz anderes, feuch tes und dunstiges Temperament bekommen hat, welches die Bilder, die er vorher im Gedächt nisse hatte, auslöscht, und den Verstand trä ge macht.
[
↔] Von der Feuchtigkeit ist es schwer zu be stimmen, welche Gattung des
Genies aus ihr entstehe, weil sie sogar sehr den vernünf tigen Vermögenheiten widerstrebet. Nach der Meynung wenigstens des
Galenus, machen alle Feuchtigkeiten unsers Körpers, wenn sie allzuflies send sind, den Menschen dumm und unverstän dig. Το
μεν ὀjυ, spricht
er, *) και
συνετον
ἐν τῃ
ψυχῃ
δια τον
χολωδη
χυμον
ἐϛαι. Το δ'
ἑδραιον
και
βεβαιον
δια τον
μελαγχο- λικον. Το δ' ἁπλουν και
ἠλιθιωτερον
δια
το
ἁιμα. Του δε
φλεγματος
ἡ φυσις εἰς
μεν
ἠθοποιϊαν
ἀχρηϛος.
Die Klug heit, will er sagen, und die Stärke
des Geistes, entstehen von der Galle;
die Beständigkeit des Menschen entspringt aus der
melancholischen Feuchtigkeit; die Dummheit und Einfalt aus dem Blute; das Phlegma aber kann die See
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le zu
nichts brauchen, als zum Schlafen. Das Blut also, weil es flüssig
ist, und das Phlegma ma chen, daß die Seele ihre vernünftigen Vermögen heiten und ihr
Genie verliert; doch
ist dieses nur von den thätigen, und nicht von den leidenden
ver nünftigen Vermögenheiten zu verstehen,
wie zum Beyspiel das Gedächtniß ist, welches von der Feuchtigkeit abhänget, so wie der Verstand von
der Trockenheit. Wir nennen aber das Gedächt niß deswegen eine vernünftige Vermögenheit, weil ohne dasselbe
der Verstand und die Einbil dungskraft ohne allen Nutzen ist. *) Beyden muß es den Stoff zum Schliessen und die Bil der hergeben;
daher
Aristoteles sagt: ὁταν δε
θεωρῃ, ἀναγκη
ἁμα
φαντασμα
τι
θεωρειν. Diese Bilder muß das Gedächtniß beständig in
Bereitschaft halten, so oft sie der Verstand be trachten will. Wenn also das Gedächtniß ver loren geht, so ist es unmöglich, daß die übrigen Vermögenheiten
wirken können. Daß aber sei ne ganze
Verrichtung in weiter nichts besteht, als in Behaltung dieser
Bilder, ohne daß sie ei gene Erfindungen hat,
dieses drückt
Galenus**) folgender Gestalt aus: την
μνημην
ἀποτι-
88
89
θεσϑαι τε
και
φυλαττειν
ἐν ἀυτῃ γνωσϑεν- τα δἰ αἰσϑησεως
και νου, ταμειον
τι των
εἰρημενων
ἀτοις οὐσα, οὐκ
ἀυτην ἑυρισκουσαν ἑκαϛου
πραγματος
φυσιν. Seine
Verrich tung erhellet auch daraus, daß es
von der Feuch tigkeit abhänget, weil diese das
Gehirn weich macht, und die Bilder sich ihm, vermittelst des Eindrucks, einverleiben. Dieses zu beweisen,
kann man keinen stärkern Beweis, als die Kind heit anführen, als in welchem Alter man mehr in das Gedächtniß faßt, als in allen übrigen,
weil das Gehirn zu der Zeit am feuchtesten ist. Auch
Aristoteles legt *) die Frage vor: δια
τι
πρεσβυτεροι
μεν
γινομενοι
μαλλον νουν ἐχο- μεν, νεωτεροι
δε
ὀντες, θαττον
μανθανο- μεν; das ist: warum wir
im Alter mehr Ver stand haben, und in der Jugend leichter
lernen? Er antwortet hierauf: weil das Gedächtniß al ter Leute von allen den Sachen, die sie Zeit
ihres Lebens gesehen und gehört haben, schon so erfüllt sey, daß es nichts mehr fassen könne, was sie
auch noch hereinbringen wollten, indem kein lee rer Platz in dem Gehirne zu finden wäre; bey jungen Leuten
aber, die seit noch nicht langer Zeit gebohren worden, sey das
Gedächtniß noch ganz unbesetzt, und können also alles, was man sie lehre, ganz leichte fassen. Dieses noch deut licher zu machen, vergleiche ich das Morgenge dächtniß mit dem Abendgedächtnisse, und
sage, daß man des Morgens weit besser lerne, weil
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das Gedächtniß noch leer
sey, daß man aber des Abends sehr schwer lerne, weil das
Gedächt niß mit allem angefüllet sey, was
uns den Tag über begegnet ist. Doch die Antwort des
Ari stoteles
auf diese Aufgabe ist nichts weniger als richtig. Wenn die Bilder
in dem Gedächtnis se körperlich und also einen
Platz einnähmen, so möchte sie ganz gut seyn; da diese Bilder aber unkörperlich und geistig
sind, so können sie den Ort, wo sie sind, weder voll noch leer
machen. Und sehen wir nicht aus der Erfahrung, daß das Gedächtniß von Tag zu Tag stärker, und desto
fähiger wird, je mehr man es angreift? Aus meinen Grundsätzen
folgt eine weit klärere Auf lösung dieses
Problems, diese nämlich: die Al ten haben viel
Verstand, weil sie viel Trocken heit haben, und
haben wenig Gedächtniß, weil sie wenig Feuchtigkeit haben. Die
Substanz ihres Gehirns wird also hart, und kann den Eindruck der Bilder nicht annehmen; so wie das
harte Wachs den Abdruck des Siegels sehr schwer, das weiche aber
sehr leicht annimmt. Das Gegentheil ereignet sich an iungen
Leuten, welche wegen der vielen Feuchtigkeit ihres Ge hirns die verständigsten nicht sind, wegen
seiner grossen Weiche aber ein weit stärkeres Ge dächtniß haben; weil die Bilder, welche von
aus sen in das Gehirn kommen, in dasselbe,
vermö ge seiner Feuchtigkeit, einen weit
grössern, leich tern, tiefern und deutlichern
Eindruck machen können. Daß das Gedächtniß des Morgens weit fähiger sey, als des Abends, kann man
nicht leugnen; nur trift
Aristoteles die rechte Ursache
nicht, welche diese ist: der Schlaf der vergangenen Nacht hat das GehirnGehien befeuchtet und gestärkt, da es das Wachen den ganzen Tag über austrocknet und harte macht. Daher sagt
Hippokrates*): ὀκοσοισι
δε
πινειν
ὀρεjιες
νυκτωρ
τοισι
πλην
διψωσιν,
ἠν
ἐπικοιμη- θωσιν, αγαθον;
das ist: diejenigen, welche des Nachts grossen Durst empfinden, verlieren ihn durch das
Schlafen, weil der Schlaf das Fleisch befeuchtet, und alle
Kräfte, durch die der Mensch regieret wird, stärket. Daß aber
der Schlaf diese Wirkung habe, bekennet
Aristo teles selbst. **)
[
↔] Aus dieser Lehre fliesset unwidersprechlich, daß
der Verstand und das Gedächtniß ganz
entgegengesetzte und widrige Vermögenheiten sind, so, daß der,
welcher ein starkes Gedächt niß hat, nothwendig
am Verstande Mangel haben muß, und der, welcher einen grossen Verstand besitzet, kein gutes Gedächtniß besitzen kann, †) weil das
Gehirn ohnmöglich zugleich übermässig trocken und übermässig
feuchte seyn
91
92
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kann. Auf diesen Grund
stützt sich
Aristote les, *) wenn er beweisen will, daß das Gedächtniß und das
Erinnern ganz verschiedne Vermögen heiten
wären. Sein Schluß ist dieser: Leute, bey welchen das Erinnern
stark ist, sind Leute von grossem Verstande; Leute aber, bey
wel chen das Gedächtniß stark ist, sind
Leute von wenig Verstande: folglich müssen das Erinnern und das Gedächtniß entgegengesetzte Vermögenheiten
seyn. Der Vorsatz ist nach meiner Lehre falsch, weil diejenigen,
bey welchen das Erinnern sehr stark ist, wenig Verstand und eine
grosse Ein bildung
haben, wie ich jetzo gleich beweisen wer de:
der Nachsatz aber hat seine gute Richtig keit,
obgleich
Aristoteles die Ursache nicht traf, in welcher die Feindschaft des Verstandes und
des Gedächtnisses gegründet ist.
[
↔] Aus der Wärme, welches die dritte Haupt beschaffenheit ist, entstehet die Einbildungskraft; weil weder eine andere vernünftige Vermögen heit in dem Gehirne, noch eine andere Haupt beschaffenheit, die sie verursachen könnte, mehr übrig ist; und weil überdieses die Wissenschaf ten, welche Wahnwitzige in ihrer Krankheit be sitzen, lauter solche Wissenschaften sind, die von der Einbildungskraft
abhängen, und niemals solche, die dem Verstande, oder dem
Gedächt nisse zugehören. Da aber der
Wahnwitz, die Schwermuth, und die Raserey, nichts als hitzi ge Krankheiten des Gehirns sind, so ist der Be=
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weis stark genug, daß die
Einbildungskraft in der Hitze bestehen müsse. Eine einzige
Schwie rigkeit finde ich hierbey, und zwar
diese, daß die Einbildungskraft sowohl dem Verstande, als dem Gedächtnisse entgegen ist. Hier nun kömmt der
Grund mit der Erfahrung nicht überein, weil nicht nur viel Hitze und viel Trockenheit, sondern auch
viel Hitze und viel Feuchtigkeit vollkommen wohl in dem Gehirne
beysammen seyn, und also ein Mensch ganz wohl mit einer grossen Einbildungskraft sowohl einen
grossen Verstand, als auch ein starkes Gedächtniß verbin den könnte. Und gleichwohl ist es ein
wirkliches Wunder, wenn man einen Menschen von grosser Einbildungskraft findet, welcher zugleich einen
grossen Verstand oder ein starkes Gedächtniß besitzet. Die
Ursache aber ist ohne Zweifel die se, daß, wenn
der Mensch verständig seyn soll, das Gehirn aus den allerfeinsten
und zärtesten Theilen zusammengesetzt seyn muß, wie wir oben aus dem
Galenus bewiesen
haben. Die allzu grosse Hitze aber verderbt und
verzehrt das Zarte, und läßt das Grobe und Jrrdische
unbeschädi get. Aus eben diesem Grunde kann
ein star kes Gedächtniß bey einer starken
Einbildungs kraft nicht bestehen, weil die
allzugrosse Hitze die Feuchtigkeit des Gehirns auflöset, und es
tro cken und hart zurück läßt, daß es die
Bilder so leicht nicht annehmen kann. *)
95
[
↔] Es sind also in dem Menschen nicht mehr als drey
Hauptverschiedenheiten, weil es nicht mehr als drey
Hauptverschiedenheiten des Ge hirns giebt, aus
welchen sie entstehen könnten. Unter diesen drey
Hauptverschiedenheiten aber sind sehr viel andre besondre
Verschiedenheiten begriffen, nach den Graden, welche die
Wärme, die Feuchtigkeit und die Trockenheit haben können.
[
↔] Doch entstehet auch nicht aus einem jeden Grade
dieser drey Hauptbeschaffenheiten eine Ver schiedenheit des
Genies; weil die Trockenheit, die Wärme und die Feuchtigkeit zu
einem sol chen auschweifenden Grade steigen
können, daß die Vermögenheiten der Seele gänzlich vernich tet werden, wie
solches
Galenus bekräftiget, wenn er *) sagt: πασαν
ἁμετρον
δισκρασιαν
ἐκ- λυειν
τας
ἐνεργειας.
Dieses ist so gewiß, daß selbst die Trockenheit, so zuträglich
sie auch dem Verstande ist, einen solchen Grad erlangen kann, daß seine Wirkungen dadurch vernichtet werden.
Galenus**) und die alten Philosophen wollen dieses zwar nicht zugeben: sie versichern viel mehr, daß, wenn das Gehirn der Alten nicht
erkältete, ihr Verstand nimmermehr schwach und ohnmächtig werden
würde, wenn ihre Trocken heit auch schon bis zu
dem vierten Grade gestie gen wäre. Allein ihr
Vorgeben hat keinen Grund, wie wir bey der Einbildungskraft zei
96
97
gen
wollen, die ihre Wirkungen vermittelst der Wärme verrichtet,
sobald sie aber den dritten Grad derselben übersteigt, verwirrt
zu werden anfängt. Eben dieses ereignet sich mit dem Ge dächtnisse, wenn die Feuchtigkeit allzugroß
ist.
[
↔] Wie viel Verschiedenheiten des
Genies aus den verschiednen Graden der drey Hauptbeschaf fenheiten eutstehen
<entstehen>, können wir eher nicht beson ders
bestimmen, bis wir alle Wirkungen und Handlungen des Verstandes, der Einbildungs kraft, und des Gedächtnisses werden
durchgegan gen haben. Jm voraus aber darf
man nur so viel wissen, daß der Verstand drey verschiedene Verrichtungen hat. Die erste
ist das Schlies sen; die andere das
Unterscheiden; die dritte das Erwählen; und aus diesen drey
Stücken entstehen drey Verschiedenheiten des Verstandes. Gleichfalls in drey Verschiedenheiten theilt sich das Gedächtniß: das eine begreift schnell und vergißt gleich
wieder; das andre begreift schwer und behält lange Zeit; das
dritte ist eben so schnell im Begreifen als langsam im Vergessen.
[
↔] Weit mehr Verschiedenheiten finden sich bey der
Einbildungskraft. Sie hat nicht allein drey Hauptverschiedenheiten, wie der Verstand
und das Gedächtniß, sondern aus jedem Gra de,
dessen sie fähig ist, entspringen drey andere. Hiervon werden wir
in der Folge deutlicher handeln, wenn wir jeder diejenige
Wissenschaft, die sich für sie schickt, bestimmen werden.
[
↔] Wer will, kann noch drey andre Verschieden heiten des
Genies, nach den verschiedenen Fä higkeiten der
Studirenden, bemerken. Einiger ihre Fähigkeit erstreckt sich
nicht weiter, als auf die deutlichsten und leichtesten Theile der
Wis senschaft,
die sie erlernen; sobald sie auf etwas Dunkles und Verwirrtes
darinnen kommen, so bald ist alle Mühe des
Lehrers, ihnen durch aus gesuchte Beyspiele
einen Begrif davon zu ma chen, und alle ihre
eigene Anstrengung der Ein bildungskraft
vergebens angewandt. Zu dieser Art gehören alle die Halbgelehrten
aus jeder Fa cultät, die, wenn sie in den
deutlichsten Din gen zu Rathe gezogen werden,
nichts zu ant worten wissen, als was jedermann
einsieht, und tausend Ungereimtheiten vorbringen, wenn sie von einer etwas besondern Sache reden sollen.
[
↔] Andre
Genies stehen einen Grad höher, weil sie alles geschwind und ohne Mühe fassen
können, sowohl die deutlichsten als dunkelsten, sowohl die
leichtesten als schwersten Regeln und
Untersuchungen ihrer Kunst. Die Lehre aber selbst, die Zweifel,
die Unterscheidungen, alles dieses muß für sie schon erfunden
seyn. Sol che
Genies
müssen die Wissenschaften von den besten und gelehrtesten
Meistern lernen, müssen viel Bücher haben, und in diesen Büchern
oh ne Unterlaß studiren; denn nur so viel
wer den sie weniger wissen, als sie zu lesen
und zu begreifen unterlassen haben. An ihnen trift der
Aussprnch
<Ausspruch> des
Aristoteles*) ein: ὡσπερ
ἐν
γραμματειῳ
ᾡ μηδεν
ὑπαρχει
ἐντελεχειᾳ
γεγραμμενον,
ὁπερ
συμβαινει
ἐπι του νου. Denn alles, was sie wissen und begreifen
sollen, müssen sie erst von einem andern gehöret haben; aus sich selbst erfinden sie nichts.
[
↔] Der dritte Grad endlich ist der, da die Na tur gewisse
Genies so vollkommen macht, daß sie
gar keinen Lehrmeister brauchen, der ihnen, wie sie philosophiren sollten, sagen müßte. Aus
einer Betrachtung, die ihnen der Lehrer vorträgt, ziehen sie
hundert andere; und wenn er ihnen auch nichts vortrüge, so würde
ihr Mund doch immer voller Weisheit
und Wissenschaft seyn. **) Diese Art von
Genies betrog den
Plato, und brachte ihn dahin,
daß er die ganze menschliche Wissenschaft für nichts, als eine
Art des Erin nerns hielt; weil er sie Sachen
vorbringen hör te, die niemals in eines
Menschen Sinn ge kommen waren.
98
99
[
↔] Diesen letztern allein ist es erlaubt, Bücher zu
schreiben, den andern aber nicht. *) Denn, wenn die Wissenschaften
von Tag zu Tag zu nehmen und vollkommener werden sollen; so muß
dasjenige, was uns die Alten in ihren
Schriften hinterlassen haben, mit den neuen Er findungen der jetzt lebenden vermehrt werden. Wenn jeder zu
seiner Zeit dieses thäte, so wür den die Künste nothwendig steigen, und die
Nachwelt würde die Erfindungen und Arbeiten der vergangenen
Zeiten nützen können. Allen denen, welche keine Erfindungskraft
haben, soll te man es in einem Staate gar nicht erlauben, daß sie
Bücher schrieben, und ans Licht stellten; weil alles, was sie
thun, darinn besteht, daß sie in beständigen Zirkeln von
Meynungen und Aus sprüchen grosser
Schriftsteller, die sie ohn Un terlaß anführen
und wieder anführen, herum laufen. Wenn man
hier ein Stück borgen und dort ein Stück stehlen darf, so wird
jeder ein Werk schreiben können. Die toscanische Spra che nennt die erfindenden Köpfe wegen der Gleichheit, die sie mit den Ziegen im Gehen
100
undnnd in dem äusserlichen Betragen haben, ca- pricciosi. *) Die Ziege geht nicht gern auf dem Ebenen; sie liebt die
Hügel und Felsen, auf welchen sie ganz allein herumklettert, und
die Abgründe überschauet; sie bleibt auf keinem ge bahnten Wege, und sondert sich immer von der Heerde ab. Eben diese Eigenschaften hat die
vernünftige Seele, wenn sie in einem wohlorga nisirten und gemässigten Gehirne wohnet; sie kann sich bey keiner Betrachtung lange aufhal ten; sie geht, ohne sich wo aufzuhalten, immer weiter fort, und sucht stets neue Sachen zu ent decken und zu begreifen. Von solchen Seelen trift der Ausspruch des
Hippokrates ein:
ψυ- χης
περιπατος
φροντις
ἀνθρωποισιν.
**) Jm Gegentheile giebt es andere Leute, die an einer einzigen Betrachtung hängen bleiben, und sich
nicht einbilden können, daß in der Welt noch etwas mehr zu entdecken sey. Diese haben die
Eigenschaften der Schafe, welche niemals die Fuß tapfen ihres Vorgängers verlassen, noch in wü sten und ungebähnten Orten herumzuschweifen sich getrauen; sie
müßten denn dem betretenen Wege, oder dem, der sie anführt,
folgen. Bey de Gattungen des
Genies sind unter den Ge=
101
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lehrten nicht selten: die
einen sind kühn, ver fahren nie nach den
gemeinen Meynungen, beur theilen und treiben
alles auf eine besondere Art, entdecken alle ihre Gedanken frey,
und sind sich selbst ihre eignen Führer. Die andern sind furchtsam, demüthig, ruhig, und haben zu den
Meynungen eines angesehenen Gelehrten ge schworen, welchem sie in allen folgen, dessen
Mey nungen und Aussprüche sie für lauter
Wahr heiten und
unwidersprechliche Beweise halten, und dem allein zu glauben sey,
wenn andre, die von ihm abgehen, nichts als Grillen und Lü gen vorbringen müssen. *)
[
↔] Diese zwey Gattungen der
Genies zu sammen, schaffen sehr grosse Vortheile. Denn wie die Hirten zu einer grossen Heerde Schafe
gemeiniglich ein Dutzend Ziegen gesellen, die sie beleben, und
ihr mit geschwinden Schritten auf neue und unbetretene Weiden
vorgehen müssen: so müssen auch in den menschlichen Wissenschaf ten einige
erfindende Geister seyn, welche den
Schafen in der Gelehrsamkeit neue Wunder der Natur entdecken, und sie auf niemals erhör te Betrachtungen, in welchen sie sich üben kön nen, bringen müssen. Nur auf diese Art wach sen die Wissenschaften, und nur auf diese
Art lernen die Menschen von Tag zu Tage mehr.
103
Sechstes Hauptstück. Worinnen
verschiedne Gründe und Zweifel wider die Lehre des vorhergehen den Hauptstücks vorgetragen und gehoben werden.
[
↔] Eine von den Ursachen, warum die Weisheit des
Sokrates noch bis auf den heutigen Tag so
ausnehmend gepriesen wird, ist, daß er, als ihn schon das Orakel für den weisesten Men schen auf der Welt erklärt hatte, noch immer sagte:
das einzige, was er wisse, sey, daß er
nichts wisse. Von allen denjenigen, wel che diesen Ausspruch gelesen oder gehört haben, ist er dahin
ausgelegt worden, daß
Sokrates
ein sehr demüthiger Mann gewesen sey, der al les Menschliche verachtet, und in Ansehung des Göttlichen nichts wichtig und würdig genug be funden habe. Jn der That aber haben sich die se Ausleger geirret; weil keiner von den
alten Philosophen die Tugend der
Demuth erreicht, ja nicht einmal gekannt hat, †) bis GOtt selbst in die Welt herab kam, sie zu lehren.
104
[
↔] Alles, was
Sokrates damit zu
verstehen ge ben wollte, war, daß alle
menschliche Wis senschaften höchst ungewiß wären, und daß der
Verstand eines Weltweisen in allem, was er wisse, nicht anders, als unruhig und furchtsam
seyn könne, weil alles voller Zweifel und nichts in der Welt sey,
das man ohne Furcht des Gegen theils glauben könne.
Salomo selbst sagt:
der sterblichen
Menschen Gedanken sind miß lich, und unsre
Anschläge sind gefährlich. Wer eine wahrhafte
Wissenschaft besitzen will, der muß ruhig und beständig bleiben,
und muß niemals befürchten dürfen, er habe sich vielleicht geirret. Derjenige Weltweise aber, der in die sen Umständen nicht ist, kann mit Grunde der Wahrheit von sich behaupten, er wisse nichts.
[
↔] Eben diese Betrachtung macht
Galenus, *) wenn er sagt: ἐπιϛημη
γαρ ἐϛι
γνωσις
ἀρα- ρυια
και
βεβαια
και
ἀμεταπτωτος
ὑπο
105
λογου!ἀυτη
δε οὐδε
παρα
τοις
φιλοσοφοις ἐϛι, μαλιϛα
ἐν τῳ
φυσιολογειν!πολυ
δε δη
μαλλον οὐκ ἀν
εἰη ἐν
ἰατρικη,
ἀλλ' ουδ'
ὁλως
εἰς ἀνθρωπους
ἐρχεται.
Diesem Aus spruche zu Folge möchte wohl die
wahre Wis senschaft ganz und gar wegfallen, und
dem Men schen nichts als eine Art von Meynungen
übrig bleiben, die ihn voller Ungewißheit und Furcht, ob das, was er bejahet, wahr sey, oder nicht,
lassen. Was aber
Galenus an diesem Orte be sonders anmerkt, ist, daß unter allen
Wissenschaf ten, deren sich die Menschen
bedienen, die Welt weisheit und Arzeneykunst die allerungewissesten
sind. Wenn dieses wahr ist, was wird man von der Weltweisheit
sagen müssen, mit der wir uns jetzo beschäftigen, da wir eine so
dunkle und schwere Sache, als die Kräfte und Fähigkeiten der vernünftigen Seele sind, mit dem
Verstan de zu zergliedern suchen, und uns in
eine Mate rie einlassen, die so voller Zweifel
und Wider sprechungen ist, daß man nirgends
festen Fuß setzen kann?
[
↔] Einer von den vornehmsten Zweifeln, die uns
gemacht werden können, ist, daß wir den Verstand sowohl, als die
Einbildungskraft und das
Gedächtniß, zu einer organischen Vermögen heit
gemacht, und ihm das trockene Gehirn zum Werkzeuge seiner
Verrichtungen gegeben haben. Dieses ist schnurstracks wider die
Lehre des
Ari stoteles*) und aller seiner Anhänger, welche, da
106
sie den Verstand zu etwas
machten, das von dem körperlichen Werkzeuge ganz unterschieden wäre, gar leichte beweisen konnten, daß die Seele unsterblich sey, und nach ihrem Ausgan ge aus dem Körper,
ewig bliebe; und obschon das Gegentheil noch streitig war, so
blieb doch die Thüre allen Einwendungen verschlossen, weil sie nicht bewiesen werden konnten.
[
↔] Ueberdieses sind die Gründe, auf die
Ari stoteles den Beweis seines
Satzes, daß der Ver stand keine organische
Vermögenheit sey, grün det, von solcher Stärke,
daß es scheint, man kön ne unmöglich etwas
anderes daraus schliessen. Da nämlich der Verstand dasjenige ist, wodurch wir die Natur und das Seyn aller körperlichen
Dinge erkennen, so kann er mit nichts körperli chem verbunden seyn, oder das körperliche, mit welchem er
verbunden wäre, würde ihn die an dern
körperlichen Dinge zu erkennen verhindern. Wir sehen dieses
deutlich an den äussern Sin nen: wenn der Geschmack durch etwas
bittres verdorben ist, so wird ihm alles, was die Zun ge anrühret, bitter vorkommen; wenn die kry stallische Feuchtigkeit grün oder gelb ist, so
wird das Auge glauben, alles, was es sieht, sey von dieser Farbe. Denn παρεμφαινομενον
κωλυει το
αλλοτριον.
Diesem fügt
Aristoteles noch
hinzu: wenn der Verstand mit einem körperli chen Werkzeuge vermischt wäre, so müßte er ποιος seyn: denn
alles, was sich mit etwas
Kalten oder Warmen verbindet, muß nothwen dig
selbst kalt oder warm werden. Den Ver stand
aber warm oder kalt, feuchte oder trocken zu nennen, ist in den
Ohren eines Philosophen ein
abscheulicher Ausdruck.
[
↔] Der andere Hauptzweifel ist, daß
Aristote les und alle
Peripatetiker, ausser dem Verstan de, der
Einbildungskraft und dem Gedächtnisse, noch zwey andere
Vermögenheiten annehmen, das Erinnern nämlich und den
allgemeinen Sinn. Denn, sagen sie, die Vermögenheiten werden aus ihren Wirkungen erkannt; daß es aber
ausser den Wirkungen des Verstandes, der Einbildungskraft und des
Gedächtnisses, noch zwey andere ganz verschiedene Wirkungen
giebt, ist offenbar. Das
Genie des Menschen wür de also von fünf
Vermögenheiten abhängen, und nicht nur von dreyen, wie wir doch
in dem Vor hergehenden bewiesen haben.
[
↔] Ferner haben wir in dem vorhergehenden
Hauptstücke, nach der Meynung des
Galenus, behauptet, daß das Gedächtniß keine andere
Verrichtung in dem Gehirne habe, als die Bil der und die Eindrücke der Dinge zu bewahren, nicht anders, als wie die Kiste das Kleid, oder
was man sonst hineingelegt hat, bewahret. Wenn wir aus dieser
Vergleichung das ganze Amt die ser Vermögenheit
begreifen sollen, so müssen wir noch eine andere vernünftige Kraft annehmen, welche die
Bilder des Gedächtnisses hervorzieht, und sie dem Verstande
darstellt; eben wie bey
der Kiste auch einer seyn muß, der sie öfne, und das, was
darinnen verschlossen war, herausnehme.
[
↔] Ausser diesem haben wir auch behauptet, der
Verstand und das Gedächtniß wären einander ganz entgegengesetzte
Fähigkeiten, so, daß die ei ne die andere
schwäche, weil die eine viel Tro ckenheit, und
die andere viel Feuchtigkeit und Weiche des Gehirns erfordere.
Wenn dieses wahr ist, warum sagen denn
Aristoteles*) und
Plato, daß diejenigen, welche weiches Fleisch
ha ben, viel Verstand besitzen, da doch die
Weiche eine Wirkung der Feuchtigkeit ist?
[
↔] Gleichfalls haben wir gesagt, wenn das Ge dächtniß gut seyn sollte, so müsse das Gehirn weich seyn, damit sich die Bilder leicht eindrück ten, welches nicht geschehen könnte, wenn das Gehirn hart wäre. Nun ist es zwar unwider sprechlich, daß die Weiche dem Gehirn unum gänglich nöthig ist, wenn es die Eindrücke ge schwind annehmen soll; wenn es aber eben die se Eindrücke lange Zeit behalten soll, so muß,
wie alle darinnen übereinkommen, das Gehirn hart und trocken seyn. Man kann dieses aus allen
körperlichen Eindrücken ersehen: geschehen sie in etwas weiches,
so können sie leicht ausgewischt werden; geschehen sie aber in
etwas trockenes und hartes, so gehen sie so bald nicht
verloren. Und giebt es denn nicht sehr viele, welche den Augenblick etwas fassen, den Augenblick es aber
auch vergessen? Kann die Ursache eine ande
107
re seyn,
als
Galenus anführet, *) daß nämlich bey ihnen die Substanz des Gehirns, wegen der
all zugrossen Feuchtigkeit, ganz flüssig,
und gar nicht zusammenhängend sey, und daß sich also die Bilder eben so leicht darinnen verlieren, als wenn sie ins Wasser gedrückt wären? Andere im Gegentheil fassen
sehr schwer; was sie aber ein mal gefaßt haben,
vergessen sie nicht wieder. Es scheint also unmöglich zu seyn,
beyde Fähig keiten des Gedächtnisses, die
Fähigkeit, leicht zu fassen, und die Fähigkeit, lange zu
behalten, bey sammen haben zu können.
[
↔] Nicht weniger ist es schwer zu begreifen, wie es
möglich sey, daß so viele Bilder in dem Ge hirne abgedrückt seyn können, ohne daß eins das andere
auslöscht. Wenn man wenigstens in ein Stückchen weiches Wachs
allzuviel Siegel von verschiedener Art drückt, so werden die
Figuren derselben vermengt werden, und eins wird das andere unkenntlich machen.
[
↔] Noch schwerer ist es zu begreifen, wie es möglich
sey, daß das Gedächtniß durch die Uebung immer geschickter werde,
die Bilder leicht anzu nehmen; da es doch gewiß
ist, daß nicht allein die Uebung des Körpers das Fleisch aussauget, und vertrocknet, sondern,
daß es die Uebung des Geistes noch weit mehr thut.
[
↔] Auch dieses ist keine geringe Schwierigkeit: die
Einbildungskraft soll dem Verstande zuwi der seyn, (welches
alles aus keinem andern
108
Grunde Statt finden kann,
als weil die allzu grosse Hitze die feinen
Theile des Gehirns ver zehrt, und nur die
irrdischen und groben übrig läßt,) und gleichwohl ist die Melancholie eine von den allergröbsten
und irdischsten Feuchtig keiten in unserm
Körper; die Melancholie, mit der sich, nach des
Aristoteles Ausspruche, der Verstand am
allerbesten verträgt. Diese Schwie rigkeit wird
noch grösser, wenn man bedenkt, daß die Melancholie eine grobe,
kalte, und tro ckene Feuchtigkeit, die Cholera
aber von einem sehr feinen Wesen und von einer sehr warmen und trockenen Mischung ist; und daß dennoch die
Melancholie dem Verstande gemässer ist, als die Cholera. Scheinet
es nicht wider alle Ver nunft zu seyn? Diese
Feuchtigkeit ist mit zwey Eigenschaften dem Verstande zuträglich,
und nur mit einer ist sie ihm zuwider, nämlich mit der Wärme; die Melancholie hingegen befördert den
Verstand nur mit einer einzigen Eigenschaft, mit der Trockenheit;
mit den übrigen aber, der Kälte und groben Substanz, welche der
Ver stand am meisten verabscheuet, ist sie
ihm hin derlich; daher auch
Galenus*) sagt: το
μεν
ὀjυ και
συνετον
ἐν τη
ψυχη, δια τον
χο- λωδη
χυμον
ἐϛαι!το δ'
ἑδραιον
και βε- βαιον
δια τον
μελαγχολικον.
[
↔] Endlich ist zu untersuchen, wie der Fleiß und die
anhaltendende Betrachtung in einer
109
Wissenschaftfenschaft viele weise machen kann, welchen An fangs die gute Natur der angeführten Eigen schaften fehlte, indem sie nach und nach durch die Anstrengung
der Einbildungskraft zu unzäh ligen Wahrheiten gelangen, die sie vorher nicht wußten. Gleichwohl hatten sie das erforderli che Temperament nicht darzu: denn, wenn sie es gehabt hätten,
so hätten sie so vieler Arbeit nicht nöthig gehabt.
[
↔] Diese und noch viele andere Schwierigkei ten lassen sich gegen die Lehre des vorhergehen den Hauptstücks machen; weil die natürliche Weltweisheit nicht so unwidersprechliche Grund sätze hat, als die mathematischen Wissenschaften haben. Jn diesen kann
der Arzt sowohl als der Weltweise, wenn er zugleich ein
Mathematiker ist, allezeit demonstriren; sobald er aber zur Ausübung der Arzneywissenschaft schreitet, wird
er ganz sicher unzählige Jrrthümer begehen, und dieses nicht etwa
allezeit aus eigner Schuld, denn er traf ja in mathematischen
Sachen immer die Wahrheit, sondern wegen der grossen Ungewiß heit seiner Kunst.
Aristoteles spricht daher: *) οὐτε γαρ
ὁ
ρητορικος
ἐκ
παντος τροπου πει- σει, οὐδ' ὁ{??}
ἰατρικος
ὑγιασει!ἀλλ' ἐαν τον
ἐνδεχομενον
μηδεν
παραλιπη,
ἱκανως
ἀυ- τον
ἐχειν
την
ἐπιϛημην
φησομεν.
Er will hiermit so viel sagen: ein Arzt, wenn er alle Behutsamkeit anwendet, die er bey seiner Kunst
anzuwenden hat, ob er gleich nicht allezeit gesund
110
macht, ist deswegen nicht
für einen schlechten Arzt zu halten. Hätte er aber in
mathemati schen Sachen einen Jrrthum
begangen, so könn te er auf keine Weise
entschuldiget werden; weil es unmöglich ist, daß man in der Mathematik irren kann, wenn man alle
Behutsamkeit an wendet, die sie erfordert. Man
darf also die Schuld nicht ganz auf uns schieben, wenn unse re Lehre nicht unwidersprechlich ist, noch
vielwe niger darf man sie deswegen für
falsch halten.
[
↔] Auf den ersten Hauptzweifel unterdessen kann man
folgendes antworten. Wenn der Verstand ganz und gar von dem Körper abgesondert wä re, und gar nichts mit der Wärme, der Kälte, der Trockenheit und Feuchtigkeit, und allen übri gen körperlichen Beschaffenheiten zu thun hätte; so würde daraus folgen, daß alle Menschen ei nerley Verstand haben, und auf einerley Art schliessen müßten. Wir sehen es aber aus der Erfahrung, daß
immer ein Mensch besser denkt und schließt, als der andere; weil
nämlich der Verstand eine organische Vermögenheit ist, wel che in dem einen immer besser geordnet ist, als
in dem andern. Es ist unmöglich, daß man eine
andere Ursache davon angeben kann: denn alle vernünftige Seelen, und alle ihre Kräfte, wenn sie
von dem Körper abgesondert sind, sind von gleicher Vollkommenheit und von einerley Fä higkeit.
[
↔] Die Nachfolger des
Aristoteles,
weil sie es aus der Erfahrung
erkannten, daß immer ein
Mensch besser schliesse, als der andere, sind auf folgende
scheinbare Ausflüchte gefallen. Diese Verschiedenheit, sagen sie,
kömmt nicht daher, weil der Verstand eine organische Vermögen heit ist, welche in einem eine bessere
Verfassung hat, als in dem andern; sondern daher, weil der menschliche Verstand, so lange die vernünf tige Seele in dem Körper ist, die Bilder und Phantasien der Einbildungskraft und des Ge dächtnisses nöthig hat. Wenn also der Ver stand falsch denkt und schließt, so denkt und schließt er nicht
aus eigner Schuld, oder deswe gen falsch, weil
er mit einer übel organisirten Materie verbunden ist, sondern deswegen, weil ihm jene Bilder und Phantasien fehlen. Doch
diese Antwort ist wider die eigene Lehre des
Ari stoteles, welcher ausdrücklich
behauptet, *) je un geschickter das Gedächtniß sey,
desto stärker sey der Verstand, und je fähiger der Verstand
sey, desto unfähiger sey das Gedächtniß. Ein glei ches haben wir in dem Vorhergehenden von der Einbildungskraft bewiesen. Zur Bekräftigung
dieser Meynung wirft
Aristoteles**) noch die Frage auf: woher es komme, daß im Alter das Gedächtniß so schwach, und
der Verstand so stark sey, und warum sich in der Jugend das Gegentheil ereigne, da das Gedächtniß nämlich
sehr stark, und der Verstand sehr schwach ist? Auch die Erfahrung, wie
Galenus
sehr wohl an
111
112
merkt,
ist für diesen Satz: denn, wenn das Tem perament und die gute Beschaffenheit des Gehirns in einer
Krankheit verändert wird, so verlieren sich sehr oft die
Wirkungen des Verstandes; die Wir kungen des
Gedächtnisses und der Einbildungs kraft aber
bleiben, wie sie waren. Dieses nun könnte nimmermehr geschehen,
wenn der Verstand nicht sein bestimmtes Werkzeug, das von den
Werkzeu gen der andern Vermögenheiten
unterschieden wäre, hätte. Jch weiß nicht, was man hierauf antworten kann; man müßte denn mit einer me taphysischen Unterscheidung, mit einem
actuali ter und
potentialiter, das ist, mit Wörtern antworten, die weder
die, welche sie brauchen, noch sonst jemand auf der Welt
verstehet. Nichts verhindert das Wachsthum der menschlichen Weisheit mehr, als wenn man die Wissenschaften mit einander vermenget; wenn man das,
was in die Naturlehre gehört, in
der Metaphysik, und das, was in die
Metaphysik gehört, in der Na turlehre abhandeln will.
[
↔] Die Gründe, auf die sich
Aristoteles stützet, sind von keiner besondern Wichtigkeit;
weil es gar nicht folgt, daß der Verstand deswegen, weil er die körperlichen Sachen erkennen muß, mit
keinem körperlichen Werkzeuge verbunden seyn könne: denn die
körperlichen Beschaffenheiten, aus welchen das Werkzeug bestehet,
verändern seine Vermögenheiten nicht, und bringen auch keine Bilder hervor, sondern das, was
Aristote les von den
äusserlichen Sinnen sagt, gilt auch
hier: ἐπιτιθεμενων
γαρ ἐπι
το
ἀισθητη- ριον, οὐκ αἰσϑανεται.
*) Dieses sieht man deutlich an dem Gefühle. Ob es gleich aus den vier körperlichen
Beschaffenheiten zusammenge setzt, und entweder
weich oder hart ist, so erken net die Hand
dennoch, ob etwas kalt oder warm, hart oder weich, groß oder
klein ist. Fragt man nun, warum die natürliche Wärme in der
Hand das Gefühl nicht verhindere, die Wärme, wel che z. E. in einem Steine ist, zu empfinden: so antworte ich: weil die Beschaffenheiten, die
das Werkzeug vermöge seiner Zusammensetzung hat, das Werkzeug
selbst nicht ändern, und auch keine Bilder, wodurch sie könnten
empfunden werden, hervorbringen. Gleichfalls ist es die Verrichtung des Auges, daß es die Gestalten und
Grössen der ausser ihm befindlichen Dinge erkennet. Sehen wird
denn aber nicht, daß das Auge selbst seine Gestalt und Grösse
hat, und daß die Flüssigkeiten und Häute, aus welchen es bestehet, theils farbicht, theils durchsichtig, theils von sonst einer Beschaffenheit sind? Gleich wohl verhindert dieses nicht, durch das Auge die
113
Gestalten und Grössen
aller Sachen, die uns vorkommen, zu erkennen; weil die
Flüssigkeiten und Häute, die Gestalt und Grösse des Auges, die Vermögenheit, zu sehen, nicht verändern,
noch den Verstand an der Empfindung der äus serlich befindlichen Gestalten verhindern
kön nen. Eben dieses muß man von dem Verstan de sagen, daß
er nämlich sein eigenes Werk zeug, ob es gleich
körperlich und mit ihn ver bunden ist, nicht
empfinden kann, weil keine Bil der aus demselben entstehen, die auf ihn
wirken können: denn ἐπιτιθεμενων
ἐπι τον νουν οὐ
νοειται.
Er kann also alles, was ausser ihm ist, empfinden, ohne, daß ihn
etwas daran verhindert. Der zweyte Grund, worauf
sich
Aristoteles stützet, ist noch schwächer,
als der vorhergehende; weil weder der Verstand, noch sonst ein ander Accidens ποιον wird,
in dem es an und für sich selbst keiner
Beschaffen heit fähig seyn kann. Daraus
also, daß der Verstand das Gehirn, nebst der Mischung der vier Hauptbeschaffenheiten zu seinen Werkzeugen
hat, folgt es noch gar nicht, daß er ποιος seyn müsse; weil nicht der Verstand, sondern das Ge hirn der Wärme und Kälte, der Feuchtigkeit
und Trockenheit unterworfen ist. Auf das drit te endlich, worauf sich die Peripatetiker stützen, daß nämlich,
wenn man den Verstand zu einer organischen Fähigkeit mache, ein
Grundsatz ver lohren gehe, aus welchem man die
Unsterblich keit
der Seele herleiten könne, antworten wir,
daß man zu dieser Absicht schon andere
und weit stärkere Beweise habe, die wir in dem fol genden Hauptstücke abhandeln werden.
[
↔] Der andere Einwurf läßt sich folgender Ge stalt beantworten: nicht jede Verschiedenheit der Wirkungen zeigt auch eine Verschiedenheit
der Kräfte an. Die Einbildung zum Beyspiel, wie wir in der Folge beweisen werden, bringt so
sonderbare Wirkungen hervor, daß, wenn jene Maxime so wahr wäre,
als die Philosophen glauben, daß sie
ist, oder wenn sie wirklich so ausgelegt werden müßte, als sie
dieselbe ausle gen, in dem Gehirne zehn bis
zwölf Vermögen heiten mehr seyn müßten, als
wirklich sind. Weil aber alle diese Wirkungen auf eine einzige
gene rische Ursache hinauslaufen, so zeugen
sie nicht mehr, als von einer Einbildungskraft, die sich aber nach ihren verschiedenen Handlungen in viel be sondere Verschiedenheiten theilet. Die Bilder mit ihren Gegenständen, sowohl, wenn diese ge genwärtig, als wenn sie abwesend sind, zu verglei chen, zeigt nicht nur keine Verschiedenheit
der generischen Vermögenheiten, (wie z. E. der all gemeine Sinn und die Einbildungskraft sind,) sondern nicht einmal eine Verschiedenheit der be sondern Arten dieser Vermögenheiten an.
[
↔] Auf den dritten Zweifel antworte ich: daß das
Gedächtniß nichts als eine Weiche des Ge hirns
ist, da es durch einen gewissen Grad der Feuchtigkeit geschickt
gemacht wird, dasjenige
anzunehmen und zu behalten, was die Einbil dung
wahrgenommen hat. Das Gedächtniß verhält sich also eben so zu der
Einbildung, wie sich das reine und weisse Papier gegen den
Schrei benden verhält. Denn so wie der
Schreibende dasjenige auf das Papier bringt, was er nicht vergessen will, und wie er es, nachdem er es dar auf gebracht hat, wieder überlieset; eben so schreibet gleichsam die Einbildungskraft die Bil der derjenigen Sachen in das Gedächtniß, welche die Sinne empfunden, oder der
Verstand begrif fen, oder sie sich selbst
gebildet hat; und wenn sie sich ihrer wieder erinnern will, sagt
Aristoteles, *) so übersieht und betrachtet sie sie wieder. Fast eben so ein Gleichniß braucht
Plato, wenn er spricht: aus Furcht vor dem schwachen Ge dächtniß im Alter,
solle man sich bey Zeiten ein Gedächtniß von Papiere, worunter er
die Bü cher verstehet, zulegen, damit Fleiß und
Arbeit nicht vergebens sey, und man einmal etwas ha be, welches uns an alles erinnern könne, was wir für anmerkungswürdig gehalten haben. Die se Verrichtung nun hat die Einbildung, welche in das Gedächtniß schreibt, und was sie geschrie ben hat, so oft wieder überlieset, als sie sich des sen erinnern will. Der erste, der auf diese
Er klärung fiel, war
Aristoteles, **) und der ande re
Galenus, welcher sich folgendermassen aus
114
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drückt:
*) το
γαρ τοι φαντασιουμενον
της ψυ- χης
ὁτι
ποτ' ἀν ἠ, ταυτο τουτο και
μνη- μονευειν
ἐοικεν.
Dieses erhellet auch deutlich daraus, weil dasjenige, was wir uns
scharf ein bilden, sich dem Gedächtnisse tief
eindrückt, und weil das sich im Gegentheil leicht vergißt, was
wir nur obenhin betrachtet haben. So wie der
Schreibende dadurch, daß er jeden Buchstaben mit Fleiß zieht, die
Schrift sehr leserlich macht, so macht auch die Einbildungskraft, daß jedes Bild lange
und deutlich in dem Gedächtnisse bleibet, wenn sie es mit Fleiß
in das Gehirn gedrückt hat, da es sonst gar bald kaum mehr zu erkennen ist, wenn sie sich weniger Mühe da mit gegeben hat. Was sich übrigens bey alten Schriften, an welchen ein Theil durch die Zeit verdorben
worden, ein Theil aber unbeschädiget geblieben ist, ereignet, daß
man sie nämlich nicht lesen kann, ohne das meiste aus
wahrscheinlichen Gründen errathen zu müssen; das ereignet
sich auch hier, wenn in dem Gedächtnisse einige Bil der geblieben sind, einige aber sich verloren
ha ben. Und eben dieses war es, was den
Aristo teles
auf den Jrrthum brachte, das Erinnern müßte ein von dem
Gedächtnisse verschiedenes Vermögen seyn; †) und was ihn zu sagen be
116
117
wegte,
diejenigen, welche eine lebhafte Erinne rung
hätten, besässen einen grossen Verstand. Doch auch hier irret er
sich: denn die Einbil dungskraft, welche die
Erinnerung verursacht, ist dem Verstande ganz zuwider. Die
Sachen also in das Gedächtniß fassen, und sich der ge faßten Sachen wieder zu erinnern, ist ein
Werk der Einbildungskraft; so wie schreiben, und des Geschriebenen sich erinnern, ein Werk des Schrei benden und nicht des Papiers ist. Das Ge dächtniß selbst ist folglich bloß eine leidende, nicht aber eine thätige Vermögenheit; so wie das rei ne und weisse Papier nichts als eine Bequem lichkeit für den ist, welcher schreiben will.
[
↔] Auf den vierten Einwurf antworte ich fol gender Gestalt: es trägt zu dem
Genie nichts bey, ob man hartes oder weiches Fleisch hat, wenn das Gehirn nicht von eben dieser Beschaf fenheit ist; denn dieses hat, wie uns die Er fahrung lehret, sehr oft ein ganz verschiedenes Temperament, als alle übrige Theile des Kör pers. Wenn aber beyde, das
Gehirn und das Fleisch, in der Weiche übereinkommen, so ist es ein sehr schlechtes Zeichen für den
Verstand,
und ein eben so
schlechtes für die Einbildungs kraft. Man darf
ja nur das Fleisch der Weibs personen und der Kinder betrachten; findet man nicht, daß es weit weicher
ist, als das Fleisch der Mannspersonen? Ueberhaupt aber kann man ganz wohl sagen, daß das männliche
Geschlecht mehr Fähigkeit habe als das weibli che. Die Ursache ist ganz natürlich: die Flüs sigkeiten, welche die Weiche des Fleisches ver ursachen, sind Phlegma und Blut; diese aber, wie wir schon
angemerkt haben, sind beyde feuchte, und machen, nach des
Galenus Ausspruche, die
Menschen einfältig und dumm. *) Die Flüs sigkeiten gegentheils, welche
das Fleisch hart ma chen, sind Cholera und
Melancholie, und aus diesen
erwächst die Klugheit und der Verstand des Menschen. Es ist also ein weit schlechteres Merkmal, mehr
weiches Fleisch haben, als sprö des und hartes;
**) daß es folglich bey denjeni gen, welche
in ihrem ganzen Körper ein gleiches Temperament haben, nicht
schwer fallen muß, die Beschaffenheit ihres
Genies aus der Wei che oder Härte
ihres Fleisches zu schliessen: denn wenn es hart ist, so zeigt es
einen guten
118
119
Verstand und eine gute
Einbildungskraft an; ist es aber weich, so läßt sich das
Gegentheil nämlich ein starkes Gedächtniß bey einem schwa chen Verstande und einer schwachen
Einbildungs kraft daraus schliessen. Will
man aber wis sen, ob die Beschaffenheit des
Gehirns mit der Beschaffenheit des Fleisches übereinkomme, so muß man die Haupthaare betrachten. Sind diese
stark, schwarz, spröde und dichte, so zeugen sie von einer guten
Einbildungskraft und ei nem guten Verstande;
sind sie aber zart und weiß, so zeugen sie von weiter nichts, als
einem gu ten Gedächtnisse. †) Will man nun ferner, wenn die Haare von der erstern Beschaffenheit sind,
unterscheiden, ob sie einen guten Verstand oder eine gute
Einbildungskraft anzeigen, so muß man auf das Lachen des Knabens
Acht haben: denn das Lachen ist es,
welches die Beschaffen heit der
Einbildungskraft verräth.
[
↔] Die Ursache und die Art des Lachens ha ben viele Weltweisen zu
erklären sich bestrebt:
120
keiner aber hat etwas
verständliches davon vor gebracht. Darinnen
kommen sie alle überein, daß das Blut diejenige Flüssigkeit sey,
welche den Menschen zum Lachen anreizt; wenn sie nur auch erklärten, was für Beschaffenheiten die se Flüssigkeit vor andern Flüssigkeiten habe, wo durch sie den Menschen zum Lachen treibt.
Hip pokrates
spricht: *) ἁι
παραφρυσυναι,
ἁι
μεν
μετοι
γελωτος
γινομεναι,
ἀσφαλεϛεραἰ
αἱ δε
μετα σπουδης, ἐπισφαλεϛεραι.
Die Kran ken, will er sagen, wenn sie den
Verstand ver lieren, und in ihrer Unsinnigkeit
lachen, sind bey weitem nicht in so grosser Gefahr, als wenn
sie bey ihrem Wahnwitze verdrüßlich und ängstlich sind: denn das erstere entstehet aus dem Ge blüte, welches ein sehr gutartige Flüssigkeit ist, das andere aber aus der Melancholie.
Damit wir uns aber nicht von unserer Hauptsache ver lieren, so wollen wir von dieser Materie nur
das leichteste und was hier nothwendig hergehört, an führen. So viel ich wenigstens einsehe, ist
die Ursache des Lachens keine andere, als der Bey fall, welchen die Einbildungskraft alsdenn erthei let,
wenn sie Handlungen oder Einfälle sieht oder hört, die sehr gut passen. †) Da nun die
121
122
se
Vermögenheit in dem Gehirn ihren Sitz hat, so bewegt sie, sobald
als ihr solche Handlungen oder Einfälle vorkommen, das Gehirn,
und die
ses bewegt hernach die Muskeln im ganzen Kör per; wie man denn wahrnimmt, daß wir eine scharfsinnige Rede
oft mit dem Nicken des Kopfs zu billigen pflegen. Wenn nun die
Einbildungs kraft sehr gut ist, so vergnügt
sie sich nicht an allen Einfällen ohne Unterscheid, sondern
nur an denen, welche sehr wohl passen; diejenigen aber, die nur ein wenig passen, verursachen ihr
mehr Verdruß als Freude. Daher kömmt es, daß es ein Wunder ist,
wenn man einen Mann von einer sehr grossen Einbildungskraft
lachen sieht. Daher kömmt es ferner, was fast noch sonderbarer ist, daß die aufgeräumtesten und
scherzhaftesten Leute weder über ihre eigene Ein
fälle, noch über die
Einfälle anderer lachen; weil sie einen so feinen Witz haben, daß ihnen nicht einmal ihre
eigene Einfälle alle die Artig keit zu haben
scheinen, die sie suchen. Diese Artigkeit aber bestehet nicht
allein in dem Ge mässen und Passenden, sondern
auch in der Neuig keit, und ist also nicht
allein ein Werk der Ein bildungskraft, sondern
auch der übrigen Kräfte, von welchen der Mensch regieret wird.
Der Magen verabscheuet eine Speise, die man ihm mehr als einmal vorsetzt; das Gesicht verab scheuet immer einerley Gestalten und Farben; das Gehör immer
einerley Consonanzen, so wohl klingend sie auch
sind, und der Verstand immer einerley
Betrachtung. Daher kömmt es auch, daß ein witziger Kopf über die
Einfälle, die er vorbringt, nicht lachen kann; denn ehe er sie durch die Rede von sich giebt, hat er sie schon
gedacht, und denkt sie zum andernmale, wenn er sie sagt. Jch
mache also den Schluß, daß alle, welche unmässig lachen, ohne
Ausnahme keine Einbildungskraft haben; weil ihnen alle Einfälle und Scherze, sie mögen so frostig seyn,
als sie wollen, als wohlpassend vorkommen. Weil nun das Blut,
wenn es zu viel Feuch tigkeit hat, die
Einbildungskraft, wie wir schon erinnert haben, verdirbt; so
sieht man leicht die Ursache, warum diejenigen, welche am meisten sanguinisch sind, auch am meisten
lachen. Es ist überhaupt die Eigenschaft der Feuchtigkeit, daß
sie die Kräfte der Wärme
schwächt, und ihr die Kraft zu trocknen benimmt. Die
Einbildungskraft muß sich also mit der Trockenheit besser
vertragen, als die alle ihre Wirkungen gleichsam schärft. Wo
übrigens allzuviel Feuchtigkeit ist, da muß nothwendig auch eine sehr geschwächte Wärme seyn; denn
sonst würde sie diese Feuchtigkeiten auflösen, und vertrocknen.
Bey einer so ohnmächtigen Wärme aber kann die Einbildungskraft unmöglich wirken.
Hieraus ist nunmehr auch zu schliessen, daß Leu te von grossem Verstande gemeiniglich viel la chen, weil ein grosser Verstand und eine grosse
Einbildungskraft nicht beysammen zu seyn pfle gen. Man lieset dieses von jenem grossen Welt weisen, dem
Demokrit; und ich selbst habe
es bey vielen wahrgenommen, und mir angemerkt. Nunmehr kann man es leicht wissen, ob es der Verstand oder die
Einbildungskraft sey, welche an einem Knaben das harte und spröde
Fleisch und die schwarzen, dichten, harten und spröden Haare verrathen. Diesesmal also war die Leh re des
Aristoteles die
richtigste nicht.
[
↔] Jch komme auf den fünften Einwurf, auf welchen ich
folgendes antworte. Es giebt eine doppelte Feuchtigkeit in dem
Gehirn: die eine entsteht von der Luft, wenn diese nämlich in
der Mischung das die andern übersteigende Element ist; die andere von dem Wasser, mit welchem
zugleich die übrigen vermengt sind. Wenn es die erste Art der
Feuchtigkeit ist, welche das Gehirn weich macht, so wird das
Gedächtniß
sehr gut seyn;
es wird die Bilder leicht annehmen,
und ihren Eindruck auch lange behalten: denn die Feuchtigkeit der
Luft ist ölicht und voller Fett, daß sich also die Bilder
darinnen recht feste se tzen können. Wir sehen
ein gleiches nicht nur an den Gemählden, die mit Oel überstrichen sind, und die weder
in der Sonne noch im Wasser den geringsten Schaden leiden,
sondern auch an jeder Schrift, die man nur mit Oel überziehen darf, wenn sie unauslöschlich bleiben soll, oder
wenn man ihr, nachdem sie schon blaß und un leserlich geworden ist, Deutlichkeit und Glanz wieder ertheilen
will. Wenn aber die Weiche des Gehirns aus der zweyten Art der
Feuchtig keit entstehet, so hat der Einwurf
seine gute Rich tigkeit; das Gedächtniß nimmt
die Bilder sehr geschwind an, und läßt mit eben der Geschwin digkeit die Eindrücke derselben wieder
vergehn. Diese zwey Arten der Feuchtigkeit erkennt man auch aus den Haaren; die erste macht sie kleb richt, voller Oel und Fett, die andre aber macht sie fein und weich.
[
↔] Die Antwort auf den sechsten Einwurf ist diese:
die Bilder drücken sich in dem Gehirne nicht auf die Art ab, wie
sich die Figuren des Siegels auf dem Wachse abdrücken; sondern sie dringen nur tief hinein, damit sie darinnen
hängen bleiben, wie etwa die Vögel in dem Sprenkel, oder die
Fliegen in dem Honige, so,
daß sich keines mit dem andern vermengen oder eines das andere
verderben kann. †)
[
↔] Der siebente Einwurf ist auf diese Art zu heben:
die Bilder machen die Substanz des Gehirns geschmeidiger und
weicher, so wie das Wachs immer weicher und weicher wird, je
län ger man es mit den Fingern durchwirkt;
da ohnedem die Lebensgeister die Kraft haben, die harten und trocknen Glieder anzufeuchten und
geschmeidig zu machen, so wie das äusserliche Feuer das Eisen
durchdringt und geschmeidig macht. Daß aber die Lebensgeister in das Ge hirn steigen, wenn man mit dem Gedächtnisse arbeitet, haben wir
oben schon bewiesen. Ueber haupt aber kann man
es gar nicht von allen, weder körperlichen noch geistigen
Uebungen sa gen, daß sie austrocknen; die
Aerzte versichern vielmehr, daß gemässigte Uebungen fett machen.
[
↔] Dem achten Einwurfe gehe ich damit ent gegen, daß es zweyerley Arten der Galle giebt. *) Die eine ist die natürliche, (χολη) und beste het aus nichts, als aus den Hefen des Bluts. Jhrer Beschaffenheit nach ist sie kalt, trocken,
von einer groben Substanz, und trägt gar nichts
123
124
zu dem
Genie bey. Die andere ist die schwar ze Galle.
(μελαινη
χολη) Jhre Beschaffen heit ist verschieden, wie die Beschaffenheit
des Essigs; und von ihr sagt
Aristoteles, *) daß sie weise Leute mache. **) Bald hat sie gleiche Wirkungen mit der Wärme, indem sie
das Jrr dische gährend macht; bald kältet sie;
allezeit aber ist sie trocken, und von einer sehr feinen Substanz.
Cicero bekennt es
selbst von sich, daß er ein langsames
Genie
habe, weil er kein Melancholicus wäre. Er sagt die Wahrheit: denn wäre er dieses gewesen, so wäre er nimmer mehr so beredt worden, weil die Melancholici kein gut Gedächtniß haben, welches unumgäng lich nöthig ist, wenn man keinen Mangel an Worten und Gedanken
haben soll. Die schwar ze Galle hat noch eine
andere Eigenschaft, wel che dem Verstande sehr
vortheilhaft ist, diese nämlich, daß sie glänzend ist, gleichsam
wie ein Agat. Durch diese Eigenschaft macht sie es in dem Gehirne helle, daß die Bilder leicht zu er kennen sind. Dieses ist es, was
Heraklit zu verstehen geben wollte, wenn er
sagte: ἀυγη
jη- ρη, ψυχη
σοφωτατη.
Diesen Glanz hat die natürliche Galle nicht; ihre Schwärze ist
viel
125
126
mehr
ganz todt. Daß aber die vernünftige Seele in dem Gehirne Licht nöthig habe, die Bilder und Eindrücke zu erkennen, werden wir in
der Folge beweisen.
[
↔] Auf den neunten Einwurf antworte ich, daß die
Klugheit und Fähigkeit des Geistes, von wel cher
Galenus
redet, zur Einbildungskraft gehö ret, durch die
man das Zukünftige vorher sieht.
Cicero*) spricht daher: memoria praeterito-
rum, futurorum prudentia. Das Gedächt niß, will er sagen, geht auf das Vergangene und die Klugheit
auf das Zukünftige. Diese Fähigkeit des Geistes ist das, was der
Spanier agudeza, List, Verschlagenheit nennet. Cice ro **) sagt es selbst: prudentia est callidi-
tas, quae ratione quadam potest delectum ha- bere bonorum et
malorum. Diese Art der Klugheit und Fähigkeit nun fehlt
Leuten von grossem Verstande, weil ihnen die Einbildungs kraft fehlet. Die Erfahrung lehrt es uns
deut lich an allen grossen Gelehrten in denjenigen Wissenschaften,
welche von dem Verstande ab hängen: wenn man
sie aus ihrer Sphäre nimmt, so taugen sie nirgends, am
wenigsten aber in den Welthändeln. Daß aber diese Klug heit aus der Cholera entsteht, darinnen hat
Ga lenus ganz
recht. Wenn
Hippokrates seinem
Freunde dem
Damaget erzählt, wie er den
De mokrit
angetroffen, als er ihn habe besuchen und
127
128
gesund machen wollen, so
schreibt er: er habe auf dem Felde unter einem Ahornbaume in
blos sen Beinen, ohne Schuhe, auf einem
Steine gesessen, und ein Buch in der Hand gehabt; *) um ihn herum hätten todte und lebendige Thie re gelegen.
Hippokrates habe sich darüber ge wundert und ihn gefragt, was er mit diesen Thie ren mache? Worauf
Demokrit geantwortet ha be: er
untersuche, welche Flüssigkeit den Men schen
unbeständig, listig, falsch, tückisch, betriege risch mache, und habe durch die Zergliederung dieser Thiere
gefunden, daß die Cholera die Ur sache dieser
Unarten sey; er wolle also um sich an den listigen Menschen zu
rächen, gegen sie eben so verfahren, als die Menschen gegen den
Fuchs, die Schlange und den Affen verführen. Diese Art der Klugheit ist nicht allein den Menschen
verhaßt, sondern auch
Paulus sagt:
fleischlich gesinnet seyn, ist eine Feindschaft
wider GOtt. Röm.
8. Daher hat
Plato Recht,
wenn er der Klugheit diesen Namen abspricht, und sie
Verschlagenheit nennet, sobald sie sich von der Gerechtigkeit
entfernet. Diese ist es, deren sich der Teufel bedient, wenn er
den Men schen schaden will: es ist nicht die,
welche von
129
oben herab kömmt, sagt
St. Jacobus, sondern es ist
die irrdische, menschliche und teuflische. Die wahre Klugheit
aber ist die, welche mit Aufrichtigkeit und Einfalt verbunden
ist, und die Menschen das Gute zu erkennen, das Böse aber zu verabscheuen lehrt. Und diese nur, sagt
Galenus, *) geht den Verstand an, als
welche Vermögenheit keiner Arglist, keiner Falschheit, keines
Bösen fähig ist; alles ist an ihr gerecht, untadelhaft, billig
und unverfälscht. Denienigen, welcher zu dieser Art des
Genies gelangt, nennt man schlecht und recht. Daher auch
Demosthenes, als er in der Rede
wider den
Aeschines um die
Wohlgewogenheit seiner Richter bittet, sie schlechte und gerechte
Männer, in Ansehung der Einfalt ihres Amtes nennet, von welchem
Cicero (pro Sylla) sagt: sim- plex est officium atque vna
bonorum omnium caussa. Für diese Art der Weisheit ist die Käl te und Trockenheit der schwarzen Galle das be quemste Werkzeug; nur muß sie aus den fein sten und zartesten Theilen zusammengesetzt seyn.
[
↔] Auf den letzten Zweifel endlich habe ich die ses zu antworten. Wenn ein Mensch einer Wahrheit nachdenkt, die er gern begreifen woll te, sie aber sogleich nicht begreifen kann, so
liegt die Schuld daran, weil das Gehirn das Tem perament nicht hat, welches diese Wahrheit ein
130
zusehen
erfordert wird: wenn er aber eine Zeit lang in
dem Nachdenken verharret, so steigt die natürliche Wärme, welche
in den Lebensgeistern und in dem Blute der Pulsadern besteht,
nach dem Kopfe, und erhöhet das Temperament des Gehirns, bis es den erforderlichen Grad erlangt hat. *) Es ist gewiß, daß einigen das viele Nachsinnen Schaden,
andern aber Vortheil bringt. Denn wenn dem Gehirne nur noch we nig fehlt, bis es zu dem gehörigen Grade der Wärme gekommen ist, so muß man auch nur wenig
nachdenken; überschreitet man aber das Maaß, so wird der Verstand
durch die Gegen wart der allzuvielen
Lebensgeister verwirrt, und kann die Wahrheit nicht begreifen.
Daher kömmt es, daß man nicht wenig Leute sieht, die sehr gut reden, wenn sie plötzlich reden, nichts besonders aber vorbringen, so bald sie nachdenken. Andere hingegen haben entweder wegen der all zugrossen Kälte, oder der allzugrossen Trocken heit, einen so niedrigen Verstand, daß die na türliche Wärme sehr lange in dem Kopfe blei ben muß, wenn das Temperament den erforder lichen Grad erhalten soll; und diese reden bes ser, wenn sie nachgedacht haben, als wenn sie plötzlich reden.
131
Siebentes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß, ob gleich die vernünftige
Seele sowohl zu ihrem Aufenthalte in dem Körper, als auch zu ihrem Schliessen und Nach denken, die Mischung der vier Hauptbe schaffenheiten unumgänglich nöthig hat,
man doch hieraus ihre Vergänglich lichkeit und
Sterblichkeit nicht schliessen könne.
[
↔]
Plato nimmt es *) als eine ausgemachte Sache an, daß die vernünftige Seele ein unkörperliches, geistiges,
unverderbliches, und nicht, wie die Seelen der Thiere,
sterbliches We sen sey; und daß sie, wenn sie
diesen Körper verläßt, in ein
besseres und ruhigeres Leben ein gehe: nur muß,
setzt er in der Schutzrede des
Sokrates hinzu, der Mensch hier der Vernunft gemäß gelebt haben; ist das
aber nicht gesche hen, so wäre es besser, die
Seele bliebe ewig in dem Körper, als daß sie die Martern
erträgt, womit GOtt die Bösen zu züchtigen nicht un terläßt. Dieser Schluß ist so vortreflich und
ka tholisch, daß
Plato, wenn er ihn mit seinem ei genen glücklichen
Genie erreicht hat,
mit Recht den Namen des Göttlichen verdient. Gleich
132
wohl hat
er dem
Galenus niemals in den Kopf gewollt; er hat ihn vielmehr allezeit für ver dächtig gehalten, weil er sah, daß ein kluger Mann unsinnig werden könnte, wenn das Ge hirn allzuhitzig würde, und daß er wieder zu sei nem Verstande käme, wenn man ihm mit kältenden Arzneymitteln zu Hülfe käme. Er
spricht daher, *) er wünsche es recht herzlich, daß
Plato noch leben möchte, damit er ihn nur
fra gen könnte, wie es denn möglich wäre,
daß die vernünftige Seele
unsterblich seyn könne, da sie durch Wärme und Kälte,
durch Trockenheit und Feuchtigkeit so leicht zu verändern sey? Sein Zweifel ward noch grösser, wenn er über legte, daß sie durch ein heftiges Fieber, durch allzustarkes Aderlassen, durch bekommenen Gift,
und durch andere Zufälle, welche das Leben zu kosten pflegen, den
Körper gar verlasse. Wenn sie unkörperlich und geistig wäre, wie
Plato in seinem Gespräche von der Natur versichert,
so würde sie die Wärme, welche etwas körperliches ist, unmöglich um ihre Vermögenheiten bringen,
oder ihre Wirkungen verhindern können. Die se
Gründe verwirrten den
Galenus, und preß ten ihm den Wunsch aus, daß sich ein Plato niker nur einmal, sie zu widerlegen, die
Mühe nehmen möchte. Jch glaube nicht, daß ihm
sein Wunsch bey Lebzeiten ist erfüllet worden;
133
nach seinem Tode aber wird
ihn die Erfahrung schon das gelehrt
haben, was sein Verstand nicht
begreifen konnte. *) So gewiß es aber ist, daß man aus keinen Gründen der
Vernunft die Un sterblichkeit der Seele
unwidersprechlich †)
be weisen kann; eben so gewiß ist es auch,
daß man ihre Vergänglichkeit auf keine Art darthun kann. Den erstern sowohl als den andern kann man
gar leicht antworten; und nur unser aller heiligster Glaube macht uns wegen der Unsterb lichkeit unserer Seele vollkommen gewiß. Un terdessen sind die Gründe, wodurch sich
Gale nus hat
irre machen lassen, doch noch viel zu
134
135
seichte. Schliesset man
denn in der natürlichen Weltweisheit so: diese oder jene Wirkung, wel che vermittelst dieser oder jener Werkzeuge
ge schieht, hat ihren Erfolg nicht gehabt;
also muß die Schuld an der wirkenden Grundursache liegen? Jst es denn dem Mahler, welcher mit
einem guten und zu seiner Kunst geschickten Pinsel gut zu mahlen weiß, zur Last zu legen, wenn er
mit einem schlechten Pinsel auch schlechte Ar beit macht? Es würde sehr schlecht geschlossen seyn, wenn man
sagen wollte: der Schreiben de muß eine
Verletzung an der Hand haben, weil er, in Ermangelung einer
wohlgeschnitte nen Feder, mit einem Hölzchen
zu schreiben gezwungen ist.
[
↔] Aus der Betrachtung der wunderbaren Wer ke in der Welt, aus der Weisheit und Vorsicht, mit
welcher sie geschaffen und geordnet sind, schließt
Galenus, es müsse ein GOtt in der Welt seyn, ob man ihn gleich nicht mit den
körperli chen Augen sehen könne. Ὁ{??}λως
γαρ οὐδ' ἐγε- νετο
ποτε, διαπαντος
ὠν
ἀγεννητος
και
ἀί{??}διος.
*) An einem andern Orte sagt er, der Bau des menschlichen
Körpers sey weder ein Werk der Seele, noch der natürlichen
Wärme, sondern ein Werk GOttes, oder eines andern sehr weisen Geistes. Hieraus läßt sich ein
Beweis wider den
Galenus ziehen, wodurch man auf folgende Art seine schlechte Folgerung
136
zu Schanden machen kann.
Du vermuthest, die vernünftige Seele sey vergänglich, weil sie
bes ser schließt und denkt, wenn das Gehirn
von ei ner guten Beschaffenheit ist; weil sie
unsinnig wird, und hundert Ungereimtheiten begeht, so bald das Gehirn hitziger oder kälter wird, als
es seyn soll: allein läßt sich denn nicht eben dieses aus der
Betrachtung derjenigen Werke schliessen, die du selbst für Werke
GOttes aus giebst? Sind nicht diejenigen
Menschen, wel che unter einer gemässigten
Himmelsluft geboh ren werden, wo die Wärme
weder die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit
übersteiget, weit klüger und sinnreicher? Und sind nicht jene die entweder in allzuhitzigen oder allzukalten
Gegenden leben, dumm und närrisch? Sagst du,
Galenus, nicht selbst, *) daß es ein Wun der wäre, wenn aus
Scythien ein weiser Mann käme, da in Athen fast alle als
Weltweise ge bohren würden? Hieraus aber zu
schliessen, daß GOtt vergänglich wäre, weil seine Werke bey gewissen Beschaffenheiten gut, bey den ent gegengesetzten Beschaffenheiten aber minder gut ausfallen, ist wider deine eigene Lehre, da du
GOtt für unerschaffen und ewig hältst.
[
↔]
Plato geht einen andern Weg, und
kömmt der Wahrheit näher. GOtt ist
zwar ewig, spricht er; er ist allmächtig und von einer un endlichen Weisheit; gleichwohl bezeugt er sich
137
in seinen Werken als eine
natürlich wirkende Ursache, und unterwirft sich den Umständen
der vier Hauptbeschaffenheiten, so, daß er, wenn er einen weisen und ihm gleichenden Mann erschaf fen will, nothwendig den allergemässigsten Ort in der ganzen Welt darzu aussuchen muß, wo weder
die Wärme der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die
Trockenheit übersteigt. Ατε οὐν
φιλοπολεμος
τε και
φιλοσοφος
ἡ θεος οὐσα, τον προσφερεϛατους ἀυτῃ
μελλοντα
οἰσειν
τοπον
ἀνδρας τουτον
ἐκλεjαμενη, πρωτον
κατωκισεν.
Wenn GOtt also woll te, daß in Scythien, oder
in sonst einer unge mässigten Gegend ein weiser
Mann sollte ge bohren werden, so müßte er
nothwendig seine Allmacht dabey anwenden, oder es würde ein Narre daraus werden; weil ihm die ersten Haupt beschaffenheiten zuwider sind. Aus diesen allen aber zieht
Plato nichts
weniger als den Schluß, welchen
Galenus daraus ziehen müßte, daß GOtt nämlich
veränderlich und vergänglich sey, weil die Wärme und die Kälte
seine Werke ein schränken. Auf eben diese Weise
nun muß man auch bey der vernünftigen Seele verfahren, wenn sie das allzuhitzige Gehirn weise
und klug zu seyn verhindert, und muß daraus nicht schlies sen, daß sie deswegen vergänglich und
sterblich seyn müsse. Daß sie aber aus dem Körper geht, und die tödtliche Hitze des
Fiebers, oder andere Zufälle, welche
dem Menschen das Le ben kosten, nicht ertragen
kann; dieses bewei
set nur so viel, daß sie die thätige und selbst ständige Form des menschlichen Körpers ist; daß ihr, so lange sie in demselben bleibt, gewisse Beschaffenheiten des Körpers, die sich zu ihrem Wesen
schicken, unumgänglich nothwendig sind; daß die Werkzeuge, mit
welchen sie wirkt, wohl gebauet, nicht verstümmelt, und von dem
gehö rigen Temperamente seyn müssen, welches
ihre Handlungen erfordern, und daß sie, wenn die ses nicht ist, nothwendig irren, oder sich
gar von dem Körper absondern muß. Der Fehler
des
Galenus liegt darinnen, daß er es aus
Grün den der natürlichen Weltweisheit ausmachen will, ob die
vernünftige Seele, wenn sie keinen Körper mehr hat, gleich
untergehe oder nicht; da dieses doch eine Frage ist, welche in
eine weit höhere Wissenschaft gehört,
und weit gewissere Gründe erfordert. Aus dieser nun wollen wir es beweisen, daß seine Einwürfe sehr schwach
sind, und daß er ganz falsch geschlossen hat, die vernünftige
Seele müsse vergänglich seyn, weil
sie bey gewissen Beschaffenheiten des Körpers in dem Körper
bleibt, bey den entgegengesetz ten
Beschaffenheiten aber ihn verläßt. Der Beweis wird uns nicht
schwer fallen, weil es sogar weit vollkommenere geistige Wesen giebt, als die
vernünftige Seele ist, die sich Oerter von gewissen körperlichen
Beschaffenheiten er wählen, wo sie mit
Vergnügen zu wohnen schei nen, diese Oerter
aber sogleich verlassen, wenn sie andere körperliche
Beschaffenheiten, die sie
nicht vertragen können, annehmen. Sogar in dem menschlichen
Körper giebt es gewisse Be schaffenheiten, auf
welche der Teufel so begierig ist, daß er in denjenigen Menschen
fährt, in welchen sie sich befinden, und ihn zu einem Be sessenen macht: sobald aber diese Beschaffen heiten durch widrige Arzneymittel verändert, oder vernichtet werden, sobald man die schwarzen, faulen, und stinkenden Säfte aus dem Körper geschaft hat, so
fährt er natürlicher Weise von selbst aus. Die Erfahrung lehrt es
uns auch sonst deutlich genug; zum Beyspiel, in ein grosses, altes, dunkles, feuchtes und übelriechen des Haus, in welchem sich Diebe und Mörder
verstecken können, gewöhnen sich Gespenste; so bald man aber den Ort reiniget, und die Fen ster alle öfnet, damit der Tag und die Sonne überall hin kann,
sogleich machen sie sich wieder fort, besonders, wenn viel Leute
darinnen woh nen, wenn viel Lustbarkeiten und
Zeitvertreibe darinnen angestellt werden, und viel Musik da bey ertönet.
†) Wie sehr dem
Teufel aber die
138
Harmonie und die gute
Uebereinstimmung zuwi der sind, erkennet man
deutlich an dem, was uns die heilige Schrift sagt, daß nämlich,
sobald David seine Harfe ergriffen, der Teufel geflo hen, und aus dem Körper des
Sauls gewichen ist. Obgleich dieses seinen
besondern Sinn hat, so glaube ich gleichwohl mit Grunde daraus schliessen zu können, daß der Teufel natürlicher
Weise ein Feind der Musik sey, und sie durch aus nicht leiden könne. Das Jsraelitische
Volk muß dieses schon aus der Erfahrung gewußt haben, wie man aus der Rede der
Bedienten des
Sauls
sieht:
Siehe, ein böser Geist von GOtt macht dich
sehr unruhig; unser Herr sage seinen Knechten, die vor ihm stehen, daß sie einen Mann suchen, der
auf der Harfen wohl spielen könne; auf daß, wenn der böse
Geist GOttes über dich kömmt, er mit seiner Hand spie le, daß es besser mit dir werde. Es
giebt also allerdings Worte und Beschwörungen, wel che den Teufel zittern machen, und ihn aus
dem Orte, den er sich zu seinem Aufenthalte erwählt hatte, treiben, damit er sie nur nicht hören mö ge. Von dem
Salomo
erzählt
Josephus in dem achten
Buche seiner jüdischen
Heiligthümer, daß er gewisse Beschwörungsformeln
schriftlich
hinterlassen
hätte, welche den Teufel nicht nur austrieben, sondern auch
verhinderten, daß er je mals wieder in den
Körper fahren könne, aus dem er einmal sey getrieben worden.
Gleich falls soll
Salomo die Wurzel gewiesen haben, deren
Geruch dem Teufel so entsetzlich ist, daß er, wenn sie dem
Besessenen nur an die Nase gehalten wird, sogleich ausfähret.
†) Dieser Geist liebt das Finstere und Unreine so sehr, und ist ein solcher Feind von aller Reinigkeit, Freu de und Klarheit, daß als JEsus, wie uns Mat thäus erzählt, in die Gegend der Gergesener kam, ihm zwey Besessene, die in zwey todte Kör per gefahren waren, welche sie aus den Gräbern gerissen hatten, entgegen rannten, und schryen: JEsu, du Sohn GOttes, was haben wir mit dir zu thun? Bist du hergekommen, uns zu quälen,
ehe denn es Zeit ist? Willst du uns austreiben, so erlaube uns in
die Heerde Säue zu fahren. Ueberhaupt nennt die Schrift die Teufel unreine Geister. Und nunmehr
erhellet ganz deutlich, daß nicht nur die vernünftige Seele, wenn sie den Körper regieren, der Grund
von allen seinen Handlungen seyn, und in ihm, als in einer für
sie bequemen Wohnung bleiben soll, gewisse körperliche
Beschaffenheiten braucht; sondern daß auch die Teufel, die ihrem
Wesen nach weit vollkommener sind,
gewisse körperli=
139
che Beschaffenheiten
verabscheuen, andre aber ungemein wohl leiden können. Der
Schluß des
Galenus ist also
der beste nicht, wenn er be hauptet: ein
hitziges Fieber kann die vernünftige Seele aus dem Leibe
verjagen; folglich muß sie vergänglich seyn. Mit dem Teufel, wie
wir bewiesen haben, verhält es sich eben so, und gleichwohl ist er nicht sterblich.
[
↔] Hierbey ist besonders anzumerken, daß der Teufel
nicht allein auf Oerter begierig ist, wel che
gewisse körperliche Beschaffenheiten haben, die sie haben müssen,
wenn er sich gern darin nen aufhalten soll;
sondern daß er sich auch der körperlichen Beschaffenheiten zu
bedienen weiß, wenn er etwas thun will, woran ihm vie les gelegen ist. Wenn ich nun hier fragen
woll te, worauf wohl der Teufel gesehen
habe, als er die Eva zu
verführen, die Gestalt einer giftigen Schlange, und nicht
vielmehr die Gestalt eines Pferdes, eines Bärs, eines Wolfs, oder
sonst ei nes wilden Thieres, das nicht so
schrecklich aus sieht, angenommen habe? Was
würde man mir wohl antworten? Das weiß ich wohl,
Galenus würde mir gar nicht antworten, weil er weder die Lehren und Aussprüche des Moses, noch
Christi annimmt: denn beyde, sagt er, *) reden ohne Beweis. Allein von einem Katho liken habe ich sehr oft eine Auflösung dieses Problems zu hören gewünscht, niemals aber bin
140
ich meines Wunsches
gewährt worden. So viel ist gewiß, daß die verbrannte und
trockene Cho lera, wie wir oben erwiesen haben,
diejenige Feuchtigkeit ist, welche die vernünftige Seele lehrt, wie sie listig und betrügerisch seyn soll. Unter allen unvernünftigen Thieren aber ist kein einziges,
welches so viel von dieser Feuchtig keit hatte,
als die Schlange; †) und
daher kam es, daß sie, wie die Schrift sagt, klüger war, als alle Thiere auf dem Felde. Die vernünf tige Seele, gesetzt, daß man
sie auch für das niedrigste in der Reihe der Geister annimmt, ist gleichwohl von eben dem Wesen,
von welchem der Teufel und die Engel
sind; wie also nun die Seele diese giftige Cholera zu ihrem
Gebrauche haben muß, wenn der Mensch listig und verschlagen
seyn soll, so ward auch der Teufel, sobald er in den Körper der cholerischen Schlange fuhr, weit li stiger und verschlagener. Ueber diese Art zu philosophiren, wird kein Naturforscher
erstaunen, weil sie nicht von aller Wahrscheinlichkeit ent blößt ist.
*) Was sie aber vollkommen davon zu urtheilen in Stand
setzen wird, ist, daß ich auf die Frage, warum GOtt, als er die
Welt
141
142
aus dem Jrrthume reissen,
und ihr die lautere Wahrheit lehren wollte, (welches gleich das Ge gentheil von dem ist, was der Teufel thut)
in Gestalt einer Taube, nicht aber in Gestalt eines Adlers, eines Pfaues, oder sonst eines andern
Vogels, der noch schöner aussieht, herabkam? daß ich, sage ich,
antworte: die Ursache war, weil die Taube sehr viel von
derjenigen Feuch tigkeit hat, welche am meisten
zur Redlichkeit, Wahrheit und Einfalt geneigt macht, von aller Cholera aber frey ist, als welche das Werkzeug
der List und Bosheit ist.
[
↔] Keine von diesen Ursachen räumen
Galenus oder ein anderer Naturforscher seiner Art ein, weil sie nicht begreifen
können, wie die vernünf tige Seele und der
Teufel, als geistige Wesen, durch körperliche Beschaffenheit,
dergleichen die Wärme, die Kälte, die Trockenheit und Feuch tigkeit sind, einige Veränderungen leiden
kön nen: denn daß das Feuer dem Holze seine
Wär me mittheile, geschehe, weil beyde etwas
körper liches wären, welcher Umstand bey den
geistigen Wesen wegfalle. Doch laßt uns, sprechen sie, die se Unmöglichkeit für wahr annehmen, daß näm lich ein geistiges Wesen durch körperliche
Be schaffenheiten Veränderungen leiden
könne: was für Augen hat denn ein Teufel, oder die ver nünftige Seele, womit sie die Farben und Ge stalten der Dinge erkennen können? Was haben sie für Nasen, den Geruch zu empfinden? Was
haben sie für ein Gehör, die Musik zu verneh
men? Was
haben sie für ein Gefühl, wodurch ihnen die allzugrosse Wärme
empfindlich wer den kann? Zu diesen allen sind körperliche Werkzeuge nöthig.
Wenn aber die vernünf tige Seele, auch wenn sie
ausser dem Kör per ist, empfindet, und dem
Schmerze und der Betrübniß
unterworfen ist, so muß noth wendig ihr Wesen
selbst hinfällig seyn, und ein mal vergehen.
[
↔] Diese Schwierigkeiten und Gründe haben den
Galenus und alle neuern Weltweisen irre gemacht; mir aber sind sie viel zu
schwach. Denn, wenn
Aristoteles sagt, daß die vornehm ste
Eigenschaft der Substanz diese ist, daß sie das Subject der
Zufälligkeiten sey, so schränkt er dieses weder bloß auf das
Körperliche, noch auf das Geistige ein, weil an der
Eigenschaft des Geschlechts die Arten desselben alle
gleichen Theil nehmen. Die Zufälligkeiten des Kör pers, sagt er, treffen also auch das Wesen der vernünftigen Seele, und die Zufälligkeiten
der Seele den Körper. Auf diesen Satz grün det
er alles, was er von der Physiognomie ge schrieben hat. Und da besonders die Zufällig keiten, durch welche die Vermögenheiten verän dert werden, alle geistig, ohne Figur, ohne Grös se und ohne Körper sind; da sie sich in einem Au genblicke durch das Medium vervielfältigen,
und durch ein Glas, ohne es zu zerbrechen, hindurch gehen können; da mehr als eine, wenn sie
auch schon mit einander streiten, nach allen Graden,
deren sie fähig sind, in
einem Subjecte beysam men seyn können, weswegen
sie von dem
Ga lenusindiuisibilia, von den gemeinen Philoso phen aber intentionalia genannt
werden: so können sie gar wohl einem geistigen Wesen ge mäß seyn.
[
↔] Jch wenigstens kann es ganz wohl begrei fen, daß die vernünftige Seele,
wenn sie von dem Körper abgesondert ist, sowohl als der Teu fel, die Kraft zu sehen, zu hören, zu riechen
und zu fühlen haben müsse. Jch kann es auch gar leicht beweisen: denn wenn es wahr ist, daß man die
Vermögenheit aus den Wirkungen er kennt, so muß
der Teufel nothwendig das Ver mögen, zu
riechen, haben, weil er die Wurzel riechen konnte, welche
Salomo den Besessenen an die
Nase halten ließ; †) er
muß auch das Ver mögen zu hören haben, weil er
die Musik hörte, welche David dem
Saul
machte. Wollte man aber sagen, der Teufel habe die Musik und
den Geruch mit dem Verstande
empfunden; so wür de man etwas sagen, was man
nach den Lehr sätzen der gemeinen Weltweisen
nicht behaupten kann, weil der Verstand etwas geistiges ist,
die
143
Gegenstände der fünf Sinne
aber körperlich sind, †) und man also an der vernünftigen See le und an dem Teufel andere Kräfte aufsuchen müßte, mit welchen sie übereinkommen können. Wo nicht, so laßt
uns einmal den Fall setzen, die Seele des reichen Geitzhalses
habe es von dem Abraham endlich
erlangt, daß Lazarus wie der in die Welt geschickt würde, seinen Brü dern die Tugend zu predigen,
und sie zu bekeh ren, damit sie nicht auch an
den Ort der Quaal kommen möchten, wo sich der Reiche befand. Wie würde sich wohl Lazarus,
frage ich nunmehr, in die Stadt und in ihr Haus gefunden
haben? Wie hätte er sie, wenn er sie auf der Gasse in Gesellschaft anderer angetroffen hätte, an dem
Gesichte erkennen, und von den andern, welche mit ihnen giengen,
unterscheiden können? Wür de er wohl, wenn ihn
die Brüder des Reichen gefragt hätten, wer er wäre, und wer ihn
sende, das Vermögen gehabt haben, ihre Worte zu vernehmen? Eben dieses kann man von dem Teufel fragen, als er
Christo unserm Erlöser
nachfolgte, ihn predigen hörte, seine Wunder mit ansah, und mit
ihm den Streit in der Wüsten
144
hatte. Mit was für Ohren
vernahm der Teu fel damals die Rede und
Antwort, die ihm JE sus ertheilte?
[
↔] Der muß gewiß sehr wenig Verstand haben, wer da
denken wollte, der Teufel, oder die von dem Leibe getrennte
vernünftige Seele könnten die Gegenstände der fünf Sinne nicht
empfin den, weil ihnen die körperlichen
Werkzeuge man gelten; denn aus eben diesem
Grunde würde er auch schliessen müssen, die vom Leibe
getrennte vernünftige Seele könne
weder Verstand, noch Einbildungskraft, noch Gedächtniß haben, weil sie während ihres Aufenthalts im Körper nicht sehen kann, wenn die Augen ausgestochen
sind, und weder schliessen, noch sich vergangener Din ge erinnern kann, wenn das Gehirn entzündet ist. Zu behaupten aber, die vernünftige See le könne nicht mehr schliessen, wenn sie von dem Körper getrennt sey, weil sie kein Gehirn mehr
habe, wäre eine sehr grosse Thorheit. Die an geführte Geschichte des reichen Mannes bewei set es nur allzudeutlich: †)
Gedenke Sohn, sprach Abraham, daß du dein Gutes em pfangen habest in deinem Leben, und La zarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er
getröstet, und du wirst
145
gepeiniget. Und über das alles ist zwi schen uns und euch eine grosse Kluft be festiget: daß die da wollten von hinnen
herab fahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen
zu uns herüber fahren. Da sprach er: so
bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Va ters Haus; denn ich habe noch fünf Brü der, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie
nicht auch kommen an diesen Ort der Quaal. Hieraus schliesse ich, daß, wie diese beyden See len sich mit einander ohne Gehirne vernünftig unterreden konnten; wie sich der Reiche ohne
Gehirne besinnen konnte, daß er noch in seines Vaters Hause fünf
Brüder habe; wie ihm Abraham ohne Gehirn zu Gemüthe führen konn te, er habe sein Gutes in seinem Leben
empfan gen, Lazarus aber habe Böses empfangen: eben so können auch
die vernünftigen Seelen ohne kör perliche Augen
sehen, ohne Ohren hören, ohne Zunge sprechen, ohne Nase riechen,
und ohne Nerven und Fleisch fühlen; und zwar dieses alles weit vollkommener. Eben dieses versteht
sich auch von dem Teufel, weil er mit der ver nünftigen Seele von gleichem Wesen ist. Alle Zweifel in dieser
Materie kann die Seele des reichen Geizhalses heben, von welcher
Lucas er zählt, sie habe in der Hölle die Augen aufgeho ben, den Lazarus in Abrahams Schoosse gesehen, und geschrien:
Vater Abraham, erbarme dich mein, und sende Lazarum, daß er das
äusserste seines Fingers ins Wasser tauche; denn
ich leide Pein in dieser Flamme. Aus der vorhergehenden
Lehre, und aus den kla ren Worten dieser Stelle
ist unwidersprechlich zu schliessen, †) daß das Feuer, welches in der Hölle die Seelen umgiebt, ein körperliches Feuer
seyn muß, wie das Feuer ist, welches wir hier haben; daß es die
Seele des Reichen, wie an dere Seelen, nach
göttlicher Fügung, durch sei ne Hitze
gepeiniget habe, und daß es ihr eine unbeschreibliche Erquickung
würde gewesen seyn, wenn ihr Lazarus einen Becher voll frischen Was sers, womit sie sich hätte abkühlen können, gebracht hätte. Die
Ursache davon ist klar: wenn die hef tige Hitze
des Fiebers die Seele aus dem Körper treibt, wenn ihr in dem
Körper ein frischer Trunk Wassers eine grosse Labung ist; warum
sollen wir nicht eben dieses von ihr sagen, wenn sie von den Flammen des höllischen Feuers umgeben ist? Die
aufgehobenen Augen des Reichen, seine lech zende Zunge, der Finger des Lazarus; alles
die ses müssen Namen von Fähigkeiten der
Seele
146
seyn, wenn man die Schrift
an diesem Orte rich tig erklären will.
Diejenigen, die diesen Weg nicht nehmen, und sich auf die
natürliche Welt weisheit nicht gründen, bringen tausend Unge reimtheiten vor. †) Der Schluß ist aber ganz falsch, daß die
vernünftige Seele deswegen, weil ihre
Natur durch entgegengesetzte Beschaffenhei ten verändert wird, und sie also des Schmerzes und der Traurigkeit fähig ist,
vergänglich und sterblich seyn müsse. Die Asche z. E. bestehet aus den vier Elementen, sowohl actualiter als
formaliter; gleichwohl ist keine wirkende Ursa che in der Welt, welche sie zerstören, oder ihr die
Eigenschaften nehmen könnte, die ihrem We sen
zukommen. Das natürliche Temperament der Asche, wie jeder weiß,
ist kalt und trocken. Wenn man sie auch ins Feuer wirft, so
verlieret sie doch niemals ihre ursprüngliche Kälte: und wenn man sie schon tausend Jahr im Wasser liegen
läßt, so ist es doch unmöglich, daß sie, wenn man sie wieder
herausnimmt, eine eigne und natürliche Feuchtigkeit behalten
sollte. Sie nimmt zwar, welches man nicht läugnen kann, von dem Feuer Wärme und von dem Wasser
147
Feuchtigkeit an; allein
diese zwo Beschaffenhei ten sind nur auf ihrer
Fläche, und dauren sehr kurze Zeit: denn sobald man sie aus dem
Feuer nimmt, sobald wird sie wieder kalt, und sobald man sie aus dem Wasser zieht, sobald wird sie
wieder trocken.
[
↔] Nur eine einzige Schwierigkeit findet sich bey dem
Gespräche des reichen Mannes mit dem Abraham, diese nämlich: wie es möglich gewesen sey, daß
die Seele des Abrahams weit
feinere Gründe hat vorbringen können, als die Seele des Reichen,
da wir doch in dem Vor hergehenden behaupten,
daß die vernünftigen Seelen, wenn sie den Körper verlassen
haben, alle von gleicher Vollkommenheit und von glei cher
Weisheit sind? Diesem Zweifel kann man auf zweyerley Art
begegnen. Erstlich damit, daß die Weisheit und Fähigkeit, wel che die
Seele während ihres Aufenthalts im Körper erlangt hat, nach dem Tode des Men schen nicht verloren geht.
Die Seele des Abra hams kam sehr weise und voller Geheimnisse und Offenbarungen, deren sie GOtt
wegen der Freundschaft, die er gegen sie trug, gewürdiget hatte, aus diesem Leben: die Seele des Reichen
aber mußte nothwendig sehr dumm aus dem Körper gekommen seyn,
sowohl wegen der Sün de, welche die Ursache der Unwissenheit in dem Menschen
ist, als wegen des Reichthums, des sen
Wirkungen gleich das Gegentheil von den Wirkungen der Armuth
sind; diese nämlich macht den Menschen, wie wir oben bewiesen
haben, sinnreich, das gute
Glück aber schwächt die Schärfe
des Verstandes. †) Die
zweyte Antwort kann nach unserer Lehre diese seyn: die Materie, worüber diese zwey Seelen stritten, ge hört in die scholastischeTheologie; sie betraf nämlich die
Fragen, ob in der HölleGnade Statt finden könne? ob es
möglich sey, daß Lazarus aus dem Ort der Seelenreinigung in die Hölle hinübergehen könne? und ob es
zuträglich sey, daß man einen Todten in die Welt zurücksende,
welcher die Lebenden von den Mar tern der
Verdammten belehre? Alle diese Fra gen, sage
ich, gehören in die scholastische Theo logie,
und ihre Entscheidung hänget von dem Verstande ab, wie wir im
Folgenden beweisen wer den. Nichts aber ist dem
Verstande mehr zu wider, als die unmässige Hitze, von welcher die Seele des
Reichen nicht wenig gefoltert ward; dahingegen die Seele des Abrahams in einem sehr
gemässigten Ort war; wo sie Trost und Er quickung genoß. War es also ein Wunder, daß sie weit besser
dachte und schloß? Aus dem al len folgern wir
nunmehr, daß die vernünftige Seele und der Teufel sich der
körperlichen Be schaffenheiten zu ihren
Verrichtungen bedienen; daß sie sich bey einigen von diesen
Beschaffen
148
heiten
wohl befinden, andere aber durchaus nicht leiden können, und also
an einigen Orten, ohne daß sie deswegen vergänglich sind, gern
bleiben, einige aber durchaus fliehen.
Achtes Hauptstück. Wie man einer
jeden Gattung des Genies diejenige Wissenschaft, welche
sich besonders für sie schickt, anweisen, und sie von der, welche
ihr zuwi der ist, abhalten soll.
[
↔] Alle Künste, sagt
Cicero in seiner Rede
für den Archias, sind unter gewissen allgemei nen Grundsätzen begriffen; und wenn man die se durch Mühe und Fleiß begriffen hat, so
hat man die Künste selbst erlernt. Nur die Dicht kunst hat in
diesem Stücke so etwas besonders, daß, wenn GOtt und die Natur einen Men schen nicht zum Dichter bestimmen, es ganz und gar vergebens ist, ihn in den Grundsätzen und Regeln davon zu unterrichten. Caeterarum rerum studia, sagt er, et doctrinae et prae- ceptis et arte constant; poeta natura
ipsa valet et mentis viribus excitatur, et quasi diuino quodam spiritu afflatur. Doch
Ci cero irret: denn in
keiner einzigen Wissenschaft von
allen denen, welche der menschliche Ver
stand jemals erfunden hat, wird es
derjenige, dem das Genie dazu fehlt, zu etwas bringen, wenn er auch schon sein ganzes Leben auf die Erler nung ihrer Grundsätze und Regeln wendet:
dahingegen demjenigen, der sich auf eine Wis senschaft legt, die seiner natürlichen Fähigkeit ge mäß ist, zwey Tage †) genug sind, sich darin nen geschickt zu machen. Eben dieses ereignet sich, ohne den
geringsten Unterschied, in der Dichtkunst; so, daß der, welcher
ein Genie da zu hat, sobald er es sich nur
einkommen läßt, Verse zu machen, gute Verse machen wird, wenn der, bey dem das Genie fehlt, ewig ein schlechter Dichter bleiben muß.
[
↔] Da es also diese Beschaffenheit hat, so scheint es
mir nunmehr Zeit zu seyn, kunstmässig fest zu setzen, welche von
den Wissenschaften für jede Art des Genies sich besonders
schickt, da mit jeder, nachdem er nunmehr seine
Natur ken nen kann, genau wissen möge, zu
welcher Kunst sie ihn bestimme.
[
↔] Die Künste und Wissenschaften, welche
mit dem Gedächtnisse erlangt werden, sind folgen de: die Sprachkunst, die lateinische oder jede andere Sprache,
die theoretische Rechtsgelehr
149
samkeit,
die positive Gottesgelahrheit, die Erd beschreibung, und die Rechenkunst. †)
[
↔] Die Künste und Wissenschaften, welche von dem
Verstande abhängen, sind die scholastische Gottesgelahrheit, die theoretische Arzneygelahr heit, die Dialektik, die natürliche und moralische Weltweisheit, und die ausübende Rechtsgelehr samkeit oder Advocatur.
[
↔] Von der guten Einbildungskraft endlich
ent stehen alle Künste und Wissenschaften,
welche Bilder, Gleichheiten, Harmonie und Verhältnis se zu Gegenständen haben; nämlich die Dicht kunst, die Beredsamkeit, die Baukunst, die
Ho milie, die ausübende Arzneygelahrheit,
die Ma thematik,
††) die Astrologie, die Regierungskunst,
150
151
Kriegswissenschaft, das Mahlen, Zeichnen, Schrei ben und Lesen.
Gleichfalls hängt es von der Einbildungskraft ab, daß der Mensch
artig, höf lich, aufgeräumt, scharfsinnig ist;
daß er Rän ke und Kunststücke erfinden kann;
daß er jene Gabe besitzt, welche der Pöbel so sehr bewun dert, nämlich vier Schreibern auf einmal
vier verschiedene Materien in die
Feder zu sagen, und sich in keiner zu verwirren. Diese
erzählten Stücke werden wir nicht alle, jede für sich ins besondere durchgehen können, weil wir sonst
nim mermehr zu Ende kommen würden. Wir
wer den uns nur auf drey oder viere
derselben be sonders einlassen, und was wir bey
diesen erin nern werden, das wird auch bey den
übrigen Statt finden.
[
↔] Jn das Verzeichniß derjenigen Wissenschaf ten, die wir mit dem Gedächtnisse erlangen müs sen, haben wir die lateinische und überhaupt
alle Sprachen in der ganzen Welt gesetzt. Hierin nen wird uns kein vernünftiger Mann tadeln können; weil die Sprachen eine
Erfindung sind, wodurch sich die Menschen mit einander unter halten, und wodurch einer dem andern seine
Ge danken mittheilet, ohne daß ihre ersten
Erfinder gewisse Geheimnisse oder natürliche Grundsätze gehabt haben, durch die sie alle auf einerley Ge danken hätten fallen können. Sie haben viel
mehr, wie
Aristoteles sagt, *) Wörter nach ei genem Gutdünken
ersonnen, und jedem eine will kührilche
Bedeutung gegeben. Daher ist die entsetzliche Menge der Worte und
Redensarten, von welchen man weder Zahl noch Ursache an geben kann, entstanden: so, daß sie der
Mensch, wenn er kein gutes Gedächtniß hat, unmöglich mit einer andern Vermögenheit seiner Seele fas sen kann. Wie ungeschickt die Einbildungskraft und der Verstand zur Erlernung der Sprachen sey,
kann man gar deutlich an der Kindheit, als an demjenigen Alter sehen, in welchem uns diese beyden
Vermögenheiten am meisten gebre chen:
gleichwohl, sagt
Aristoteles, **) lernen Kinder eine jede Sprache weit leichter, als er wachsene Personen, wenn sie auch noch so ver nünftig sind. †) Doch, was brauchen wir das
152
153
154
Zeugniß des
Aristoteles? Lehrt uns denn nicht die Erfahrung, daß ein Biscajer, wenn er in sei nem dreyßigsten bis vierzigsten Jahre nach Ca stilien kömmt, nimmermehr die Castilische
Mund art lernen wird; kömmt er aber als ein
Kind in diese Provinz, so wird er es in zwey bis drey Jahren so weit bringen, daß man glauben sollte,
er sey in Toledo gebohren. Eben dieses ereignet sich bey der
lateinischen, und bey allen übrigen Sprachen in der ganzen Welt;
denn hierinnen kommen alle Sprachen mit einander überein. Wenn sich also die Sprachen in demjenigen Al ter, in welchem das Gedächtniß am stärksten, der Verstand und die Einbildungskraft aber am
schwächsten sind, weit besser lernen lassen, als in demjenigen,
in welchem das Gedächtniß ab= der Verstand aber zugenommen hat;
so ist es un widersprechlich, daß die Sprachen
durch das
Gedächtniß und
durch keine andere Fähigkeit der Seele erlernt werden müssen.
†)
[
↔] Die Sprachen, sagt
Aristoteles, *) können durch den Verstand nicht begriffen werden, weil man sie aus keinen Grundsätzen durch Schlüsse
herleiten kann. Es ist also durchaus nothwen dig, daß man von andern die Wörter, nebst ih rer Bedeutung hört, und sie in dem Gedächt nisse aufbewahret. Hieraus erklärt er ferner, warum ein
taubgebohrner Mensch unumgäng lich auch stumm
seyn müsse; weil er nämlich weder hören kann, wie die Worte
ausgesprochen werden, noch was für eine Bedeutung ihnen die Erfinder gegeben haben. Da übrigens die Spra
155
156
chen
nichts als eine willkührliche Erfindung der Menschen sind, so
folget deutlich daraus, daß man in einer jeden die Wissenschaften
vortragen, und alles, was man in der einen ausdrücken kann, auch in der andern ausdrücken könne. Daher
hat keiner von den grossen Schriftstellern eine fremde Sprache
gesucht, wenn er seine Ge danken hat wollen
bekannt machen. Die Grie chen schrieben griechisch; die Römer,
lateinisch; die Hebräer hebräisch,
und die Mohren ara bisch. Auch ich schreibe in meiner spanischen Sprache,
weil ich diese Sprache besser, als ir gend eine
andere verstehe. Die Römer, als Her ren der
Welt, sahen, daß eine allgemeine Spra che
nothwendig sey, damit sich alle Völker unter einander verstehen
möchten, wenn einer aus ih nen um Gerechtigkeit
flehte, oder sonst etwas, was das Regiment anbelangte, zu suchen
hätte: sie liessen daher an allen Orten ihres Reichs Schulen anlegen, in welchen die lateinische Spra che gelehrt ward; und dieser Anstalt hat man es zuzuschreiben, daß ihre Sprache noch bis auf den heutigen
Tag dauert.
[
↔] Die scholastische Gottesgelahrheit
gehört un widersprechlich dem Verstande; wenn anders Unterscheiden,
Folgen, Schliessen, Urtheilen und Wählen, Wirkungen dieser
Vermögenheit sind. Was kann aber in dieser Wissenschaft vorfallen, daß man nicht
entweder wegen der Ungereimtheit zweifeln, oder mit
Unterscheidung antworten, oder wider die Gegenantwort einwen
den,
die wahren Folgerungen daraus ziehen, und so lange hin und wieder
reden müßte, bis der Verstand dabey beruhen kann. Den
stärksten Beweis aber, der sich hier anführen läßt, mag man daraus nehmen, daß sich die lateinische Sprache
mit der scholastischen Theologie sehr schwer ver binden lasse, und daß es etwas sehr seltnes sey, wenn ein
grosser lateinischer Styliste zugleich ein grosser Scholastiker ist. Man hat diese An merkung schon oft gemacht, und schon oft hat sich hier und da ein Neugieriger bemüht, den Grund davon zu
entdecken; man ist aber nie mals auf etwas
anders gefallen, als darauf: die scholastische Theologie werde in
den plansten und allergemeinsten Ausdrücken vorgetragen, so,
daß die grossen Stylisten, welche ihre Ohren einmal an den anmuthigen und zierlichen Styl des
Ci cero gewöhnt hätten,
unmöglich einen Gefallen daran finden könnten. Es wäre für unsere
Sty listen gut, wenn dieses die wahre
Ursache wäre; denn so würden sie wenigstens durch die Ge wohnheit, indem sie ihr Gehör dazu zwängen, ihrem Fehler abhelfen können. Doch die Wahr heit zu gestehen, die Ursache liegt mehr an dem Kopfe, als an dem Gehöre. Die grossen Sty listen müssen nothwendig ein starkes Gedächt niß haben; weil sie es sonst in einer fremden Sprache nimmermehr so weit bringen würden. Da
aber ein starkes und glückliches Gedächtniß einem grossen und
geschwinden Verstande in eben demselben Kopfe ganz entgegen ist,
so muß es
ihn nothwendig
so zurück halten, daß er zu dem gehörigen Grade der Vollkommenheit nicht ge langen kann. Hieraus folgt also, daß derjeni ge, welchem ein fähiger und geschwinder Ver stand fehlt, (als welcher Vermögenheit das Un terscheiden, das Folgern, das Schliessen, das Ur theilen und Erwählen zukömmt,) es in der scho lastischen Theologie gewiß nicht weit bringen wird. Wer mit diesem
Grunde nicht zufrieden ist, der darf nur den h.
Thomas, den
Scotus,
Durandus, und
Cajetanus lesen, welches die Hauptschriftsteller in
dieser Wissenschaft sind; und ich bin gewiß, daß er die
vortreflichsten und feinsten Gedanken in ihren Werken
finden wird, die sie in dem allerschlechtesten und nie drigsten Lateine vorgetragen haben. Die Ursa che aber hiervon ist keine andere, als, weil
die se grossen Schriftsteller auch in ihrer
Jugend ein sehr schwaches Gedächtniß hatten, und also in der lateinischen Sprache nicht weit kommen
konnten; da sie aber zur Dialektik, Metaphy sik und scholastischen Theologie schritten, so
konn ten sie wegen ihres grossen Verstandes
gar leicht zu der Höhe gelangen, in welcher wir sie jetzt bewundern.
[
↔] Jch selbst kann von einem scholastischen Theologen erzählen, und alle, die ihn
gekannt oder mit ihm umgegangen sind, werden es wis sen, daß er in seiner Wissenschaft gewiß
einer der größten war, und gleichwohl nicht zierlich, oder nach dem Wohlklange des
Cicero reden konnte, sondern sogar von seinen Schülern sei
nes
schlechten und erbärmlichen Lateins wegen ge tadelt wurde. Es riethen ihm daher einige, die keine Einsicht
von der Sache hatten, daß er im Geheim der scholastischen
Theologie einige Stunden entziehen, und auf die Lesung des
Cice ro
wenden solle. Weil er sah, daß es ein Rath guter Freunde war, so
nahm er sich vor, seinem Fehler nicht allein im Verborgenen,
sondern ganz öffentlich abzuhelfen, indem er nach geen digtem Artickel von der Dreyeinigkeit, (oder der Art, wie das göttliche Wort sey Fleisch ge worden) die lateinischen Stunden besuchte. Es ist aber sehr merkwürdig, daß er in der langen
Zeit, die er so zubrachte, nicht allein nichts Neues lernte,
sondern auch das schlechte Latein, welches er wußte, beynahe ganz
vergaß, und also genö thiget wurde, hernach in
spanischer Sprache zu lesen. Als
Pius der IVte fragte, welcher Got tesgelehrte sich am besten auf der Tridentinischen Kirchenversammlung gehalten habe, so wurde ihm gesagt, daß man besonders einen spanischen
Gottesgelehrten, wegen seiner Gründe, seiner Antworten, seiner
Auflösungen und Unterschei dungen ungemein
bewundert habe. Der Pabst war begierig, einen so besondern Mann
von Per son kennen zu lernen, und gab Befehl,
daß er nach Rom kommen, und ihm selbst von dem,
was auf der Kirchenversammlung vorgegangen sey, Nachricht
ertheilen solle. Als er in Rom ankam, erwieß ihm
Pius ganz besondere Ehre; er
befahl ihm, sich vor ihm zu bedecken, führte
ihn an der Hand bis in die Engelsburg, erzählte ihm unter Wegens in dem schönsten Lateine, was
er für Werke, diese Burg zu befestigen, habe anlegen lassen, und
bat ihn hin und wieder um sein Gutachten. Der Theologe aber war
in sei nen Antworten, weil er kein lateinisch
konnte, so verwirrt und barbarisch, daß der spanische Abgesandte (welches damals
Luys de
Reque sens, oberster Commendator von
Castilien war,) selbst den Pabst, ihm sein schlechtes Latein
zu verzeihen, bitten, und die Rede auf etwas anders zu lenken suchen mußte. Der Pabst sagte so gar zu seinen Kämmerlingen, es schien ihm un möglich, daß dieser Mann in der Theologie so stark, wie man sagte, seyn sollte, da er im La teinischen so sehr schwach wäre. Als er ihn aber in Sachen, die von dem Verstande abhien gen, auf die Probe stellte, so wie er es in der lateinischen
Sprache und in Sachen, die zum Zeichnen und Bauen gehören, gethan
hatte, fand er allerdings, daß er recht göttliche Gedan ken hatte.
[
↔] Jn der Reihe derjenigen Wissenschaften, die der
Einbildungskraft zugehören, haben wir der Dichtkunst den ersten Platz gegeben; nicht et wa von ohngefehr oder ohne Ueberlegung, son dern weil wir ausdrücklich damit wollten zu verstehen geben, wie weit entfernt diejenigen von einem grossen Verstande sind, welche viel Fähig keit zum Versemachen haben. So schwer es
ist, wie wir gesehen haben, die lateinische Spra
che mit der
scholastischen Theologie zu paaren;
eben so schwer und noch weit schwerer ist es, mit dieser
Wissenschaft die Dichtkunst zu ver binden. Sie
ist dem Verstande so zuwider, daß derjenige, der sich besonders
in derselben hervorthut, allen Wissenschaften nothwendig ab sagen muß, die von jener VermögenheitVermögenhiet abhän gen; ja sogar der lateinischen
Sprache weil ei ne allzustarke Einbildungskraft
sich auch mit kei nem starken Gedächtnisse
verträgt.
[
↔] Obgleich
Aristoteles die Ursache
von dem er sten nicht eingesehen hat, so
bestärkt er doch selbst meinen Satz, wenn er sagt: *) Μαρακος
ὁ Συρακουσιος
και
ἀμεινον
ἠν
ποιητης
ὁτ' ἐκ- ϛαη. Was heißt das
anders als: der Syra kusaner
Marakus war ein besserer Dichter, wenn er
nicht bey Verstande war? Die Ursache ist hiervon, weil die
Einbildungskraft, wenn sie zur Poesie geschickt seyn soll, drey Grade der Hitze haben muß; diese grosse Hitze aber, wie wir an
einem andern Orte gesagt haben, macht, daß der Verstand gänzlich verlohren geht.
Aristoteles bemerkt dieses selbst, wenn er
sagt, daß
Mara kus wieder bey Verstande gewesen wäre, sobald sich die
Hitze gemässiget hätte, daß er aber als denn
nicht mehr so gute Verse gemacht habe, weil ihm die Hitze, mit
welcher die Einbildungs kraft in der Poesie
wirken muß, gebrach. Die ser Grad der Hitze
gebrach dem
Cicero, als er die
Heldenthaten seines Consulats, und die glückli
157
che
Wiederherstellung der Freyheit, zu welcher Rom unter seiner Regierung gelangt sey, be singen wollte.
[
↔] O fortunatam natam me consule Romam!
Juvenal, weil er die Ursache nicht begreifen
konn te, wie ein Mensch von einem Genie, als
Cice ro hatte, in der Poesie unglücklich
seyn könnte, zieht ihn sehr beissend durch und spricht: wenn seine philippischen Reden wider den
Marcus An tonius von der Güte dieses
Verses gewesen wä ren, so würden sie ihm gewiß
nicht das Leben gekostet haben.
[
↔]
Plato trift es viel schlechter,
wenn er be hauptet, *) die Dichtkunst sey keine menschliche Wissenschaft, sondern eine göttliche Offenbarung; weil die Dichter, wenn sie
nicht ausser sich und voll von Gott wären, nichts recht besonders
ver fertigen oder sagen könnten. Er beweiset
sei ne Meynung ferner daher, weil ein
Mensch, wenn er den freyen Gebrauch seiner Vernunft hätte, nicht dichten könne. Doch
Aristoteles**) ta delt ihn des erstern wegen, daß er
die Dicht kunst für keine menschliche
Wissenschaft, sondern für göttliche Offenbarungen hält; das
andere aber räumet er ein, daß ein vernünftiger Mann, welcher den freyen Gebrauch seines Verstandes
habe, kein Dichter seyn könne. Die Ursache hiervon ist diese,
weil da, wo viel Verstand ist, sich nothwendig ein Mangel an
Einbildungs
158
159
kraft
äussern muß, welche der Dichtkunst beson ders
zugehört. Einen noch stärkern Beweis kann man daher nehmen, daß
Sokrates, ob er schon die
ganze Dichtkunst mit allen ihren Grund sätzen
und Regeln studirt hatte, dennoch keinen Vers machen konnte; er, der durch den Aus spruch des Apollo für den weisesten Mann in der ganzen Welt erklärt wurde.
[
↔] Jch nehme es also für ganz ausgemacht an, daß
derjenige Knabe, welcher mit einer beson dern
Fähigkeit zur Dichtkunst geboren wird, und dem sich die
Gleichlaute und Reime von selbst ohne Mühe darbieten,
gemeiniglich in Gefahr ist, es in der lateinischen Sprache, der
Dialek tik, der Weltweisheit, der Medicin, der scholasti schen Theologie, und in allen übrigen
Künsten und Wissenschaften, welche von dem Verstande und dem Gedächtnisse abhängen, nicht besonders
weit zu bringen. Die Erfahrung lehrt es, daß Knaben von dieser
Art in Auswendiglernung weniger Wörter wohl zwey bis drey Tage
zu bringen, und hingegen nach dem zweyten
Ueber lesen mehr als einen Bogen im Kopfe
haben, wann es etwas in Versen ist, zum Beyspiel eine Komödie. Sie verbringen ihre Zeit mit Lesung der Ritterbücher, des rasenden Rolands, des
Boscans, der Diana des
Montemayors, und anderer dergleichen Schriften, weil es
nichts als Werke der Einbildungskraft sind. Was soll man ferner von den grossen Sängern und Ka pellmeistern sagen, deren
Genie ganz und gar
zur
lateinischen Sprache und zu allen andern Wis senschaften, welche den Verstand und das Ge dächtniß angehen, ungeschickt ist? Eben dieses trift bey allen
Jnstrumentspielern, kurz, bey allen Musicis ein. †)
[
↔] Aus den angeführten drey Beyspielen, die wir von
der lateinischen Sprache, der scholasti schen
Theologie und der Dichtkunst gegeben haben, wird man nun wohl
einsehen, daß unse re Lehre gegründet ist, und
daß wir die obige Eintheilung mit allem Recht gemacht haben,
ob wir gleich die übrigen Wissenschaften nicht be sonders durchgehen können.
[
↔] Auch das Schreiben verräth die Einbil dungskraft. Man wird wenig Leute von
gros sem Verstande finden, welche eine gute
Hand schreiben, wovon ich sehr viele merkwürdige Bey spiele weiß. Besonders habe ich einen sehr
ge lehrten scholastischen Gottesgelehrten
gekannt, welcher aus Verdruß über seine so gar elende Hand, an keinen Menschen schrieb, und auch auf
keinen einzigen Brief antwortete, bis er endlich einen
Schreibemeister heimlich in sein Haus nahm, welcher ihn nur aufs
höchste erträgliche und leserliche Buchstaben machen lehren
sollte.
160
Er beschäftigte sich auch
verschiedene Tage da mit; allein er verlor die
Zeit, und hatte nicht den geringsten Vortheil davon, daß er also
vol ler Aergerniß seinen Vorsatz aufgeben
mußte, und den Schreibemeister in das größte Erstaunen setzte, welcher es sich nicht vorstellen konnte, wie ein in seiner Wissenschaft so gelehrter Mann so
ungeschickt zum Schreiben seyn könne. †) Jch meines Theils wundere mich gar nicht
darüber, und halte es für etwas ganz natürliches, weil ich weiß, daß eine gute Hand eine Wirkung der
Einbildungskraft ist. Wer sich durch die Er fahrung davon will überzeugen lassen, der darf nur diejenigen
Studenten auf den Universitä ten betrachten,
die mit Abschreiben ihr Brodt
161
dienen. Er wird finden,
daß sie sehr wenig in der Sprachkunst, in der Vernunftlehre und in der Weltweisheit gethan haben, und
eben so wenig in der Medicin und Theologie, wenn sie etwa besonders diese oder jene
studiren. †) Derjenige Knabe also, der mit der Feder ein Pferd oder eine menschliche Gestalt wohl entwerfen, oder die Züge in
der Schreibekunst leicht und gut nach machen
kann, sollte gleich zu gar keiner Wissen schaft angehalten, sondern graden Weges zu
einem guten Maler geschickt werden, welcher durch die Kunst seinem
Genie zu Hülfe kommen kann.
[
↔] Auch die Geschicklichkeit, leicht und wohl zu
lesen, entdeckt eine Art der Einbildungskraft. Und wenn diese
Geschicklichkeit besonders groß ist, so mag der Knabe nur nicht
seine Zeit mit den Wissenschaften
verderben, sondern sein Brodt mit Ablesungen in den
Gerichtsstuben zu ver dienen suchen.
[
↔] Hierbey ist, als etwas besonders, anzumer ken, daß diejenige Art der Einbildungskraft, wel che den Menschen artig, gesprächig und
scherz
162
haft
macht, von derjenigen Art sehr verschieden ist, welche man haben
muß, wenn man leicht und gut will lesen lernen. Der
aufgeräumteste Mensch wird immer im Lesen am furchtsam sten seyn und am meisten stottern.
[
↔] Das Primenspiel wohl zu kennen, zu rech ter Zeit etwas zu wagen, und zu rechter Zeit zu passen, falsch beyzuwerfen, hier und da ein Blendwerk zu
machen, die Stärke seines Gegners zu errathen, sich ihr entziehn
zu können; alles dieses sind Verrichtungen, welche der Einbil dungskraft zugehören. Eben dieses findet bey den Hundertaugen und bey dem Triumphspiele,
obgleich nicht so sehr, als bey dem deutschen Pri menspiele, Statt, welches nicht allein diese Gat tung des
Genies, sondern zugleich auch alle La ster und Tugenden des
Menschen entdecket; denn alle Augenblicke kömmt etwas darinnen vor, wodurch der Spieler zeigt, wie er sich bey
gleichen Umständen in wichtigern Sachen, wenn sie ihm vorstossen
sollten, verhalten würde.
[
↔] Dasjenige Spiel aber, woraus man die Ein bildungskraft am besten schliessen kann, ist das Schachspiel. Derjenige, welcher darinnen die
feinsten Fallen zu erdenken, zuweilen zehn bis eilf glückliche
Züge hintereinander zu thun fähig ist, der läuft ganz gewiß in
allen den Wissen schaften Gefahr, welche von
dem Verstande und dem Gedächtnisse abhängen; er müßte denn zwey oder gar alle drey dieser Vermögenheiten,
wie wir oben angemerkt haben, in seinem Ge
hirne miteinander verbinden. Wenn ein
gewis ser sehr gelehrter scholastischer Gottesgelehrter, den ich
ganz wohl gekannt habe, dieses eingesehen hätte, so würde er sich
gar bald aus dem Zwei fel, der ihn unruhig
machte, gefunden haben. Er spielte nämlich verschiedenemal mit
seinem Famulo, hatte aber allezeit das Unglück, zu ver lieren. „Was soll das heissen? sagte
er ganz zornig. Jhr, der ihr weder die lateinische Sprache, noch die Dialektik, noch die Theolo gie (ob ihr sie gleich studiret habt)
verstehet, ihr gewinnt mir alle Spiele ab, mir, der ich ganz mit dem
Scotus und dem h.
Thomas angefüllt bin! Sollte
ich nicht mehr Witz haben, als ihr?
Wahrhaftig, ich kann mir es nicht an ders
einbilden; der Teufel muß euch diese Zü ge
eingeben.“ Das ganze Geheimniß aber be stand darinnen, daß der Herr einen grossen Ver stand hatte,
wodurch er das Schwerste, was in dem h.
Thomas und
Scotus ist,
begreifen konn te; es fehlte ihm aber an
derjenigen Art der Einbildungskraft, welche nothwendig erfordert wird, wenn man gut im Schache spielen soll: der
Famulus hingegen hatte einen schwachen Ver stand und ein schwaches Gedächtniß, dagegen aber eine desto
feinere Einbildungskraft.
[
↔] Diejenigen Studirenden, deren Bücher al lezeit sehr richtig gestellt sind, in deren Stube es allezeit ordentlich und aufgeräumt aussieht,
so daß jedes seinen besondern Ort, und seinen gewissen Nagel hat,
haben eine gewisse Art der
Einbildungskraft, welche dem Verstande und dem Gedächtnisse ganz
zuwider ist. Ein glei ches
Genie haben alle die, welche sich putzen und schniegeln,
alle Fäserchen sorgfältig von dem Klei de
ablesen, und über jede Falte unwillig werden können: denn auch
dieses entsteht unwidersprech lich aus einer
Art der Einbildungskraft. †) Wenn z. E. ein Mensch, der vorher keine
Ver se machen konnte, und an seinem Anzuge
ganz nachlässig war, sich ungefähr verliebt, so wird er auf einmal (sagt
Plato in
dem Gespräche, die Sophisten,) ein Dichter und ein ordentlicher und
geputzter Mensch; weil die Liebe das Ge hirn
erhitzt und austrocknet, und ihm also die Beschaffenheiten giebt,
welche die Einbildungs kraft erfordert. Eben
dieses, wie
Juvenal an merkt, thut der Unwille, welcher gleichfalls eine
163
Gemüthsbewegung ist, die das Gehirne tro cken macht:
[
↔] Si natura negat facit indignatio versum.
[
↔] Die aufgeräumten, scherzhaften und spöt tischen Köpfe haben gleichfalls eine Art der Ein bildungskraft, welche sowohl dem Verstande
als dem Gedächtnisse zuwider ist. Sie bringen es selten in der Sprachkunst, Vernunftlehre, scho lastischen Theologie, Medicin und Rechtsgelehr samkeit sehr weit. Diejenigen also, welche
in Händeln verschlagen sind, alles, was ihnen un ter die Hände kömmt, bald auszuführen
wissen, und sich geschwind im Reden und Antworten er zeigen, sind vor dem Gerichte sehr wohl zu
brau chen, geben gute Vorsprecher und
Sachwalter ab, und sind in allen Stücken glücklich, die in den Handel und Wandel einschlagen: nur in den
Wissenschaften sind sie es nicht. Dieses pflegt meistentheils den Pöbel zu verführen;
wenn er sieht, daß sie mit allen Händeln und Geschäften so wohl
umzugehen wissen, so schließt er, sie würden sehr grosse Männer
geworden seyn, wenn sie sich auf die Wissenschaften gelegt hät ten, da den Wissenschaften doch kein
Genie ent gegner seyn kann,
als das ihrige.
[
↔] Diejenigen Kinder, welche späte reden
ler nen, haben viel Feuchtigkeit in der
Zunge, und also auch in dem Gehirne. Wenn sich diese überflüssige Feuchtigkeit mit der Zeit verloren
hat, so werden es sehr beredte Leute und grosse Redner, weil
ihnen die nunmehr gemässigte
Feuchtigkeit ein sehr starkes Gedächtniß verschaft hat. Dieser
Fall, wie wir wissen, ereignete sich an dem
Demosthenes, über welchen sich, wie wir
angeführet haben,
Cicero nicht genug wun dern kann, wie er in seiner Kindheit so unge schickt zum Reden, und in seinen ältern
Jahren so beredt habe seyn können.
[
↔] Ferner sind alle Knaben, welche eine schöne Stimme
haben, und aus ihrer Kehle alle Töne erzwingen können, zu allen
Wissenschaften ganz und gar ungeschickt; †) weil sie ein kaltes und feuchtes Temperament haben, als welche zwey Beschaffenheiten,
wann sie beysammen sind, den vernünftigen Theil, wie wir oben
erwiesen ha ben, ganz unfähig machen.
[
↔] Diejenigen Schüler, welche die Vorlesungen ihrer
Lehrer unfehlbar fassen, und sie ohne An stossen wieder hersagen können, zeigen, daß sie ein sehr
glückliches Gedächtniß haben; auf ihren Verstand aber wird man
desto weniger Rech nung machen können.
[
↔] Einige Fragen und Zweifel kommen noch bey dieser
Lehre vor, deren Auflösung vielleicht unserer Materie mehr Licht
geben, und es deut
164
licher
beweisen wird, daß das, was wir vor getragen
haben, wahr sey.
[
↔] Die erste Frage ist diese: woher kömmt es doch
wohl, daß die grossen lateinischen Stylisten weit aufgeblasener, und auf ihr Wissen weit hof färtiger sind, als die allergelehrtesten Leute in denjenigen Wissenschaften, welche von dem Ver stande abhängen? Selbst das Sprichwort,
welches eine Erklärung von einem Sprachge lehrten geben will, sagt: Grammaticus ipsa
arrogantia est. Das ist: ein Sprachgelehrter ist die
Unverschämtheit und der Stolz selbst.
[
↔] Die andere Frage ist folgende: warum ist die
lateinische Sprache dem
Genie der Spa nier so zuwider, hingegen dem
Genie der Fran zosen, Jtaliäner,
Deutschen, Engländer
und al ler Völker, welche mehr gegen Norden
wohnen, so natürlich? Dieses erhellet sogleich aus ih ren Schriften, indem man einen ziemlich si chern Schluß aus dem guten Lateine ziehen kann, daß der Verfasser ein Ausländer sey, aus
dem barbarischen und rauhen Lateine hin gegen,
daß er ein Spanier seyn müsse.
[
↔] Die dritte Frage ist: warum klingt das, was man in
der lateinischen Sprache redet oder schreibet, angenehmer und
nachdrücklicher, und warum hat es weit mehr Zierlichkeit, als in
ir gend einer andern Sprache, sie mag auch so gut seyn, als sie will: da
wir in dem Vorhergehen den gleichwohl gesagt
haben, eine jede Sprache
sey nichts, als eine willkührliche Festsetzung ih rer ersten Erfinder, ohne, daß sie den geringsten Grund in der Natur habe?
[
↔] Die vierte Frage endlich ist diese: wie geht es
zu, da alle Wissenschaften, die von dem Ver stande abhängen, in lateinischer Sprache ge schrieben sind, daß diejenigen, welchen es an Ge dächtniß fehlt, diese Bücher gleichwohl lesen, und darinnen studiren können, ob ihnen schon,
eben wegen ihres wenigen Gedächtnisses, die la teinische Sprache ganz zuwider ist?
[
↔] Die erste Frage beantworte ich folgenderge stalt. Wenn man erkennen will, ob es einem
Menschen an Verstande fehle, so kann man kein sichreres
Kennzeichen haben, als dieses, daß er hochmüthig, aufgeblasen,
vermessen, ehrbegie rig, schwierig und voller
Ceremonien ist: denn alle diese Eigenschaften entstehen aus
derjenigen Art der Einbildungskraft, welche nicht mehr als einen Grad der Wärme erfordert, als der sich
mit der vielen Feuchtigkeit, die zu einem Gedächtnisse nöthig
ist, sehr wohl vertragen kann, weil er bey weiten nicht stark
genug ist, sie zu vertrocknen. Das Gegentheil hingegen, wenn ein Mensch nämlich von Natur demüthig ist, wenn
er nichts besonders aus sich und seinen Sachen macht, wenn er
sich nicht allein nicht selber lobt, sondern sogar die
Lobeserhebungen, die ihm andere ertheilen, übel nimmt, und
durch die Ehrenbezeugungen, die ihm geschehen, belei diget wird; dieses, sag ich, ist ein
unfehlbares
Merkmahl, daß
er einen sehr grossen Verstand, sehr
wenig Einbildungskraft aber, und wenig Gedächtniß haben müsse. Jch habe mit Fleiß gesetzt: wenn er
von Natur demüthig ist; denn aus der gezwungenen Demuth ist
nichts zu schliessen. Und daher kömmt es nun, daß die Sprachgelehrten, als Leute von einem star ken Gedächtnisse, womit sie den ersten Grad der Einbildungskraft verbinden, nothwendig we nig Verstand haben und so seyn müssen, wie sie das Sprichwort
abmahlet.
[
↔] Auf die zweyte Frage antworte ich, daß
Galenus, wenn er *) das
Genie der Menschen nach der Himmelsgegend, unter welcher sie
woh nen, bestimmen will, behauptet, alle
diejenigen, welche näher gegen Norden zu wohnten, hätten weniger Verstand; die hingegen, welche zwi schen dem nördlichen und dem heissen Erdstriche mitten inne wohnten, wären desto weiser. Die ses trift mit unserer
Gegend auf das genaueste ein; weil Spanien weder so kalt, als die
nörd lichen Länder, noch so heiß, als die
Länder unter dem Aequator ist. Eben diese Meynung hat
Aristoteles, wenn er **) die Frage vor legt, warum die Einwohner
in kalten Län dern nicht so verständig wären,
als die Ein wohner in wärmern Gegenden? Jn
seiner Ant wort kommen die Niederländer, die
Deutschen, die Engländer und Franzosen
ziemlich zu kurz, indem er sagt: ihr Verstand wäre immer, wie
165
166
der Verstand der
Betrunkenen, weil ihnen die viele Feuchtigkeit, womit ihr Gehirn
und ihr übriger Körper angefüllet
sind, nicht verstatte, in die Natur der Dinge einzudringen. Ωϛε
λιαν μεθυουσιν
ἐοικασι
και οὐκ εἰσι
jητητι- κοι. Man erkennet es
schon an dem weissen Gesichte und an der gelblichten Farbe der
Haa re; wie denn ein Kahler unter den
Deutschen etwas recht seltnes ist, als welche alle wohl ge wachsen, und von einer ansehnlichen Länge
sind, weil sie sehr viel Feuchtigkeiten haben, welche das Fleisch ausdehnen. Gleich das Gegentheil von
allen diesem bemerkt man an den Spa niern; sie
sind durchgängig ein wenig bräu lich, sie haben
schwarzes Haar, sie sind von mit telmässiger
Statur, und die meisten sind kahl. Diese Beschaffenheit, sagt
Galenus, *) entsteht aus der Wärme und Trockenheit des Gehirns. Die Spanier also müssen nothwendig ein schlech tes Gedächtniß und einen grossen Verstand ha ben; die Deutschen hingegen ein starkes Ge dächtniß und wenig Verstand: jene also kön nen kein Lateinisch lernen, diese hingegen lernen es ungemein leicht.
[
↔] Das, worauf
Aristoteles den
wenigen Ver stand derjenigen, welche sehr weit
gegen Norden wohnen, gründet, ist die viele Feuchtigkeit ihrer Luft, welche die natürliche Wärme, vermöge der
Antiperistasis, inwendig zurück hält, und ihr
167
auszudunsten nicht
erlaubet. Sie verbinden also viel Feuchtigkeit mit der Wärme, und
ha ben daher nicht nur ein starkes
Gedächtniß zu den Sprachen, sondern auch eine grosse
Erfindungs kraft, wodurch sie es in
Uhrwerken, in Wasser künsten, welche noch die
Wasserkünste in Tole do übertreffen, in
mechanischen Kunststücken, und in allen Werken des Witzes so weit brin gen, daß es ihnen nimmermehr ein Spanier gleich thun wird, weil
ihm die Einbildungskraft fehlet. Geht man aber in die Dialektik,
in die Weltweisheit, in die scholastischeTheologie, in die Medicin, in die
Rechtsgelehrsamkeit; so wird man sehen, daß ein spanisches
Genie unter sei nen
barbarischen Kunstwörtern weit feinere und tiefsinnigere Sachen
vorbringt, als irgend ein Ausländer. Denn, wenn man den
Ausländern ihre zierliche und reine Schreibart nimmt, so bleibt ihnen nicht das geringste neuerfundene
und vorzügliche übrig. †)
[
↔] Zum Beweise dieser Lehre sagt
Galenus: *) unter den Scythen ist nicht mehr als ein einziger Weltweiser gebohren worden; Athen hingegen hat
deren unzählige hervorgebracht. So sehr aber den nördlichen
Völkern die Weltweisheit,
168
169
und die übrigen
Wissenschaften, die wir ange führt haben,
entgegen sind, so bequem sind die Mathematik und die Astrologie für sie, weil die se eine gute Einbildungskraft erfordern.
[
↔] Die Auflösung des dritten Puncts hängt von einer
Frage ab, welche zwischen dem
Plato und
Aristoteles sehr streitig ist.
Plato sagt, daß es Wörter gebe,
welche ihrer Natur nach gewisse Sachen bedeuten, und daß man ein
sehr gros ses
Genie haben
müsse, diese Wörter zu fin den. Diese Meynung
kömmt mit der heiligen Schrift überein, welche uns erzählt, Adam ha be
jedem Geschöpfe, welches ihm GOtt vorge stellt,
denjenigen Namen gegeben, welcher ihm seiner Natur nach zukomme.
Aristoteles aber will es
*) durchaus nicht zugeben, daß in irgend einer Sprache
Wörter oder Redensarten wären, welche ihrer Natur nach die Sachen
bedeuteten, weil die Menschen alle Wörter nach ihrer Will kühr und ihrem Gutdünken erdacht hätten. Die ses bestärkt die Erfahrung, weil zum
Beyspiel, der Wein über sechshundert Benennungen und in jeder Sprache eine andere hat; desgleichen
auch das Brodt. Von keiner dieser Benen nungen
aber kann man behaupten, daß es die natürliche und nothwendige
Benennung sey; weil sich sonst alle Völker ohne Unterscheid ihrer
bedie nen würden. Dem allen ungeachtet ist
die Mey nung des
Plato doch richtiger: denn obgleich
170
die ersten Erfinder die
Worte nach ihrer Will kühr und ihrem Gutdünken
erdachten, so war doch diese Willkühr eine gegründete
Willkühr, indem sie das Gehör, die Natur der Sachen, und die Anmuth der Aussprache dabey zu Ra the zogen; indem sie die Wörter weder zu lang, noch zu kurz machten, noch so, daß man sie oh ne eine häßliche Aufsperrung des Mundes nicht aussprechen könnte; indem sie den Ton an sei ne gehörige Stelle brachten, und noch viel an dere Umstände beobachteten, die in einer
Spra che beobachtet werden müssen, wenn sie
zierlich und nicht barbarisch seyn soll. Dieser Mey nung des
Plato war ein gewisser Spanier zu gethan,
dessen ganze Beschäftigung darinnen be stand,
daß er Ritterbücher schrieb, weil er gleich diejenige Art der
Einbildungskraft besaß, welche den
Menschen auf nichts als auf Erdichtungen und Lügen führt. Von
diesem Spanier erzählt man, daß, als er in einem seiner Werke
einen wütenden Riesen habe einführen wollen, er mehr als einen ganzen Tag nachgedacht habe, was für
einen Namen er ihm wohl beylegen solle, der sich völlig zu seiner
Wuth schicke; er habe aber niemals den rechten treffen können,
bis er einmal bey einem seiner Freunde mit Würfeln gespielt, und den Hausherrn habe rufen hören: holla, Junge,
traquitantos (Spielmarken) hier auf
diesen Tisch; Dieses Wort nun, traqui-
tantos, sey in seinen Ohren von solchem Wohl klang gewesen, daß er sogleich aufgestanden sey,
und gesagt habe:
„Länger, mein Herr, spiele ich nicht. Jch habe nun
schon mehr als einen Tag dem Namen nachgesonnen, welcher sich
am besten für einen wütenden Riesen schicke, den ich in eine unter den Händen habende Geschich te bringen will: ich bin aber nicht eher, als eben jetzt darauf gefallen, und zwar in diesem
Hause, wo ich immer ein besonderes Glück zu geniessen
pflege.“ Eben diese Sorgfalt, wel che der spanische Romanenschreiber, seinem Rie sen einen geziemenden Namen zu geben, anwand te, haben auch die Erfinder der lateinischen
Spra che angewandt; und nur hierdurch ist
sie den Ohren so wohlklingend geworden. Kann man
sich also wundern, daß alles, was man im La teinischen redet und schreibt, so wohl klingt; in den übrigen
Sprachen aber so übel, weil ihre Erfinder Barbaren gewesen sind?
[
↔] Die letzte Frage endlich habe ich müssen beyfügen,
weil sie vielen Schwierigkeit gemacht hat, ob sie gleich an sich
selber sehr leicht aufzu lösen ist, und zwar
auf folgende Art. Diejeni gen, welche einen
grossen Verstand haben, sind deswegen nicht ganz und gar des
Gedächtnisses beraubt, weil sie bey dem gänzlichen Mangel desselben unmöglich überlegen und schliessen könn ten, da es eben diejenige Fähigkeit ist, welche die Materie und die Bilder enthalten muß, wor über der Verstand seine Betrachtungen anstellt. Weil aber ihr Gedächtniß sehr schwach ist, so
können sie von den drey Graden der Vollkom
menheit, in welcher man die lateinische
Spra che erlernen kann, (nämlich so, daß man
sie ent weder verstehen, oder schreiben, oder
gar spre chen lernt,) nur den ersten Grad, und
zwar auch diesen noch mit vieler Mühe und Noth erreichen.
Neuntes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß grosse Redner keine Leute von grossem Ver stande seyn
können.
[
↔] Eine von den Gaben, woraus der Pöbel
die Weisheit und Klugheit eines Menschen am liebsten zu schliessen pflegt, ist eine grosse Bered samkeit, wenn er ihn nämlich mit Anmuth ei nen Strom süsser und zierlicher Worte hervor stossen, und viele Gleichnisse und Beyspiele, die sich zu seinem Zwecke schicken, vorbringen hört. *) Allein in der That entsteht diese Fähigkeit aus der Verbindung des Gedächtnisses und der Ein bildungskraft, die aber nur den mittelsten Grad der Wärme haben muß, damit sie die Feuchtig keit des Gehirns nicht zu vertrocknen, wohl aber die Bilder gleichsam zu reizen, und aufsiedend
171
zu machen vermögend sey,
als wodurch viel Be griffe in dem Kopfe
entstehen, und der Redner immer etwas zu sagen findet. Bey dieser
Ver bindung kann unmöglich sich auch ein
grosser Verstand befinden; weil wir schon oben gewiesen haben, daß diese Fähigkeit die Wärme sehr ver abscheuet, die Feuchtigkeit aber durchaus nicht leiden kann. †) Wenn die Athenienser diese Lehre
eingesehen hätten, so würden sie sich nicht so sehr gewundert
haben, daß ein so verständi ger Mann, als
Sokrates war, nicht wohl reden
konnte. Diejenigen, die seine Weisheit einsa hen, sagten von ihm, seine Worte und Sprüche wären gleich einem Behältnisse von schlechtem
Holze, welches von aussen weder behobelt noch angestrichen sey;
mache man aber dieses Be hältniß auf, so fände
man die schönsten Bilder und
wunderbarsten Malereyen darinnen. Jn
eben dieser Unwissenheit sind diejenigen gewesen, welche die
Ursache von der Dunkelheit und schlechten Schreibart des
Aristoteles haben an geben wollen; sie sagten nämlich: dieser Welt weise habe mit Fleiß eine so verworrene Spra che geredet, und
alle Zierlichkeiten in Wort und Ausdruck mit Fleiß vermieden,
damit er seinen Worten ein gewisses Ansehen geben möchte. Wenn man ferner das Verfahren des
Plato,
172
seine harte und kurze
Schreibart, die Dunkel heit seiner Gründe, die
schlechte Zusammenfü gung der Theile der Rede
betrachtet; so wird man finden, daß man unmöglich eine andere Ursache davon angeben könne. *)
[
↔] Zu noch mehrerer Bestärkung darf man nur die Werke
des
Hippokrates lesen, und Achtung geben, wie oft er dem Leser hier ein Nennwort
und dort ein Zeitwort, so zu reden entwendet; wie übel er seine
Gründe vorträgt; wie trocken und arm er ist, wenn er die leeren
Plätze seiner Lehre ausfüllen will. Was weiß er seinem Freunde, dem
Damaget, wenn er
ihm erzählen will: der König in Persien,
Artaxerxes, habe Gesandten an ihn geschickt,
und habe ihm alle Schätze, die er verlangen könnte, sogar eine
Stel le unter den Vornehmsten seines Reichs
verspre chen lassen, wenn er zu ihm kommen
wollte; was weiß er, sage ich, bey einem solchen Falle, wobey nothwendig vieles hin und wieder muß seyn
gesprochen worden, anders zu sagen, als: Βασιλευς
Περσεων
ἡμεας
μεταπεμπεται, οὐκ
εἰδως
ὁτι
λογος
ἐμοι
σοφιης χρυσου
πλεον
δυναται.
„
Der König in Persien hat mich zu sich rufen lassen: er hat aber nicht ge wußt, daß ich die Weisheit
höher schätze, als
173
Gold.“ Wenn
dieser Stof in die Hände eines
Erasmus, oder eines andern Gelehrten von
glei cher Einbildungskraft und gleichem Gedächtnis se gefallen wäre, so würde wenigstens mit seiner Ausführung ein Buch Papier seyn vollgeschrie ben worden.
[
↔] Wer würde sich wohl unterstehen, diese Leh re mit dem natürlichen
Genie des heil.
Pau lus zu bestärken, und zu behaupten, daß er ein Mann von grossem Verstande, aber von
weni gem Gedächtniß gewesen sey, und daß er
mit al ler seiner Mühe keine Sprache habe
zierlich spre chen können; wenn er nicht selbst
sagte:
Jch achte, ich sey nicht weniger, denn die
ho hen Apostel sind. Und ob ich gleich al bern bin mit reden, so bin ich doch nicht albern in der
Erkenntniß. (2. Corinth. {??} 11.) Diese Art des
Genies schickte sich zur Ausbrei tung des
Evangeliums so vortreflich, daß sich unmöglich etwas besseres
erdenken läßt. Be redte Leute, denen es an
keiner Zierlichkeit des Ausdrucks fehlt, durften die ersten
Verkündiger desselben nicht seyn; weil man damals glaub te, daß die Stärke der Beredsamkeit darinnen bestehe, wenn man dem Zuhörer das Falsche für
das Wahre verkaufen, und dasjenige, was das Volk für gut und
nützlich hielt, durch die Regeln der Kunst in das Gegentheil verkehren konnte. Behaupteten zum Beyspiele die dama ligen Redner nicht, es sey besser, arm als reich zu seyn, besser krank als gesund, besser närrisch
als weise; und hundert andere Dinge,
die of fenbar wider alle angenommene Meynungen
lie fen? Die Hebräer nannten sie daher חֲנֵפִּים das ist, Betrüger. Eben dieser Meynung war der
ältere
Cato, der es für sehr gefährlich
hielt, dergleichen Leute in dem römischenStaate zu dulden; weil er wohl
einsah, daß die Stärke des römischen Reichs blos auf den Waffen
be ruhe, und diese Redner das Volk schon zu
über reden suchten, es wäre gut, wenn die
römische Jugend die Waffen bey Seite legte, und sich dieser Art der Weisheit widmete. Er befahl ih nen daher gar bald, daß sie Rom verlassen, und niemals wieder einen Fuß dahin setzen sollten.
[
↔] Wenn also GOtt einen grossen und zier lichen Redner hätte wählen wollen, und die ser Redner wäre nach Athen, oder nach Rom
gekommen, daselbst zu behaupten: in Jerusalem hätten die Juden einen Menschen gekreuziget,
welcher wahrhafter GOtt sey, und eines freywil ligen selbsterwählten Todes gestorben wäre, die Sünder zu erlösen; er sey am dritten Tage wie der auferstanden, und gen Himmel gefahren,
wo er noch wäre: was würden die Zuhörer wohl
gedacht haben? Würden sie nicht gedacht ha ben,
dieser Satz wäre einer von den nichtigen Thorheiten, wovon sie
ein Redner durch die Stärke seiner Kunst überreden wolle?
Daher sagt auch der H.
Paulus: (1 Corinth. I. 17.)
Christus hat mich nicht gesandt
zu tau fen, sondern das Evangelium zu predi=
gen: nicht mit klugen Worten, auf daß nicht das
Kreutz Christi zunichte werde; das ist, damit nicht die
Zuhörer denken sollten, das Kreutz Christi sey einer von den
eiteln Sä tzen, an welchen die Redner ihre
Geschicklichkeit zu überreden wollten sehen lassen. Das
Genie des H.
Paulus war auch hierzu gar nicht ge schickt. Er hatte zwar einen grossen Verstand, womit er sowohl
in den Synagogen, als unter den Heiden behaupten und vertheidigen konnte, daß Christus der in dem Gesetze versprochene Messias sey, und daß sie keinen andern zu er warten hätten; allein es fehlte ihm an demje nigen Gedächtniß, dadurch er mit Anmuth und mit ausgesuchten und süssen Worten hätte reden können; welches
sich zur Ausbreitung des Evan geliums auch gar
nicht geschickt hätte. Hier mit aber will ich
nicht behaupten,
Paulus habe
nicht die Gabe mit Sprachen zu reden gehabt, sondern nur das behaupte ich, daß er in allen
andern Sprachen nicht anders als in seiner ge redt habe. Jch bin auch so unverständig nicht, daß ich sagen
sollte, dem
Paulus wäre zur Ver theidigung des Namens Christi sein natürlich grosser Verstand hinlänglich
gewesen, ohne daß er den besondern Beystand oder die übernatür lichen Gnadengaben,
mit welchen ihn GOtt ausrüstete, hätte nöthig gehabt: dieses nur
sa ge ich, daß die übernatürlichen Gaben
besser wirkten, da sie auf ein gutes Naturell fielen, als sie würden gewirkt haben, wenn der Mensch an
sich selbst dumm und albern gewesen
wäre. *) Auf diese Lehre gründet sich der h.
Hieronymus, wenn er in der Einleitung in die
Propheten Je saias und Jeremias die Frage aufwirft:
war um der H. Geist, ob er gleich eben sowohl durch den Mund des Jeremias, als des Jesaias ge redt habe, sich bey dem
einen mit aller mögli chen Zierlichkeit
ausdrücke, da der andere kaum reden könne? Er antwortet auf
diesen Zwei fel: der H. Geist habe sich nach
eines jeden Na tur
gerichtet, ohne durch die übernatürlichen Gna dengaben ihr
Genie zu verändern, oder sie
die Ausdrücke zu lehren, in welchen sie ihre Pro phezeyhungen kund machen sollten. Man darf nur wissen, daß Jesaias aus einem angesehenen und vornehmen Geschlechte war; daß er in Jerusalem ist auferzogen
worden, und am Hofe gelebt hat; daß er
also gar leicht die Gabe, zierlich und an genehm zu reden, hat haben können. Jere mias hingegen war auf einem Dorfe,
nicht weit von Jerusalem, Namens Anathot, gebohren; er war in seinem Betragen einfältig und rauh, so
wie ein Bauer seyn kann, und also bediente sich auch der Heilige
Geist bey den Prophezey
174
hungen,
die er ihm mittheilte, eines einfältigen und rauhen Ausdrucks.
Eben dieses ist auch von den Briefen des heil.
Paulus zu verstehen, welchen der heilige
Geist zwar in so weit erfüll te und lenkte, daß
er nicht irren konnte, dem er aber völlige Freyheit ließ, so zu reden, wie er natürlicher Weise
redete, und wie es die Lehre, die er vortrug, erforderte; weil
die Wahrheit der scholastischenTheologie die vielen Worte
verabscheuet.
[
↔] Mit der positivischen Gottesgelahrheit läßt sich
die Kenntniß der Sprachen und der zierli che Reichthum im Reden sehr wohl verbinden, weil sie eine Wissenschaft ist, die
von dem Ge dächtnisse abhängt, und in nichts
als in einer Menge katholischer Reden und Aussprüche be steht, welche aus den heiligen Vätern und
der göttlichen Schrift gezogen, und mit dem Ge dächtnisse behalten werden: so wie ein Gram matikus die Blümchen aus den Poeten, aus dem
Virgil,
Horaz,
Terenz und andern klassi schen Schriftstellern sammelt, und bey aller Ge legenheit, wo es sich nur ein wenig schicken will, mit einem Stückchen aus dem
Cicero oder
Quin tilian zum Vorschein kömmt, damit er den Zu hörern seine Belesenheit zeigen kann.
[
↔] Diejenigen also, bey welchen diese Verbin dung der Einbildungskraft und
des Gedächt nisses Statt findet, pflegen die
Körner von allen dem, was in ihrer Wissenschaft ge sagt und geschrieben worden ist, zu sammlen,
und wissen sie zu aller
Zeit mit vielem Wortge pränge wieder
vorzubringen. Da nun in allen Wissenschaften schon so unendlich
vieles ist erfun den worden, so werden sie nur
allzuoft von den Unwissenden für Leute von grosser
Gründlichkeit gehalten, da sie doch in der That nichts als
Esel sind, deren Dummheit sich gar deutlich zeigt, sobald man sie um den Grund von dem, was sie
sagen und behaupten, fragt. Die Ursache aber hiervon ist keine
andere, als diese, weil sich der Verstand mit einer solchen Menge von Wör tern, und mit so vieler Zierlichkeit im Reden nicht verbinden
läßt; weßwegen auch die Schrift
sagt:
wo man mit Worten umgeht, da ist
Mangel; das ist, ein Mensch, welcher viel Worte macht, dem
fehlt es gemeiniglich an Verstande und Klugheit.
[
↔] Eben diejenigen, bey welchen gedachte Ver bindung der Einbildungskraft und des Gedächt nisses ist, wagen sich mit vielem Muthe an die Erklärung der h. Schrift, weil
sie glauben, das viele Hebräische, Griechische und Lateinische
müs se sie nothwendig auf den rechten Weg
weisen, den wahren Sinn des Buchstabens zu erreichen. Allein die guten Leute betrügen sich:
erstlich, weil die Worte und Redensarten des heiligen Textes ganz andere und mehrere Bedeutungen
haben, als in welchen sie etwas
Cicero in
seinen Werken braucht;
zweytens, weil
ihnen der Verstand fehlt, welches diejenige Fähigkeit ist, durch welche es bestätiget werden muß, ob ein
Sinn katholisch ist, oder von der
Wahrheit ab weicht; und welche aus zwey oder
drey ver schiedenen Meynungen, durch Beyhülfe
einer übernatürlichen Gnade,
diejenige erwählen muß, welche die wahrhafteste und
rechtgläubigste von allen ist.
[
↔] Jrrthümer, sagt
Plato, finden
niemals bey ungleichen und sehr verschiedenen Sachen Statt; sondern nur alsdenn, wenn verschiedene Sachen zu sammen kommen, welche eine sehr grosse Aehn lichkeit haben. Wenn man, zum Beyspiel, schar fen Augen Salz, Zucker, Mehl und Kalk, jedes wohl zerstossen und zerrieben, jedes aber beson ders vorlegte; was würde wohl der anfangen
können, welcher keinen Geschmack hätte, und mit blossen Augen jedes dieser Pulver untrüglich
kennen sollte? Würde er wohl sagen können: dieses ist Salz,
dieses ist Zucker, dieses Mehl, und dieses Kalk? Jch glaube
gewiß, er wür de sich irren, weil alle diese
Sachen einander allzuähnlich sind. Wenn aber das eine Häuf chen Korn, das andere Gerste, das dritte
Stop peln, das vierte Erde, und das fünfte
Steine, wäre; so würde er sich ganz gewiß nicht irren, sondern einem jeden seinen besondern Namen ge ben, wenn er auch von noch so blödem Gesichte wäre, weil ein jedes von diesen Stücken der äus serlichen Gestalt nach allzusehr von den andern unterschieden ist. Eben dieses ereignet sich täg lich an den Auslegungen und Erklärungen, wel che die Gottesgelehrten von der heiligen Schrift
geben. Wenn sie zwey oder
drey Meynungen anführen, so scheinen bey dem ersten Anblicke
al le drey katholisch und mit dem Buchstaben
wohl übereinstimmend zu seyn; in der That aber sind sie es nicht, und der Heil. Geist will oft
ganz etwas anders sagen. Von diesen Meynungen aber die beste anzuführen, und die falschen davon zu
verwerfen, ist kein Werk der Einbildungskraft oder des
Gedächtnisses, sondern des Verstandes; daher ich denn behaupte,
daß ein blosser positi vischer Gottesgelehrter
nothwendig einen schola stischen Gottesgelehrten zu Rathe ziehen muß, wenn er
wissen will, welche von verschiedenen Meynungen als die beste zu
erwählen sey, da mit er nicht in die Hände der
Jnquisition falle. Darf man sich nunmehr wundern, daß alle Ke tzer die scholastische Theologie verabscheuen, und sie ganz aus der Welt zu
verbannen suchen; da durch ihre Unterscheidungen, Folgerungen, Schlüsse und Urtheile die Wahrheit an
Tag gebracht, und die Lügen aufgedeckt wird?
Zehntes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß der theoretische Theil der Gottesgelahrheit dem Verstande, das Predigen aber, als der
practische Theil dieser Wis senschaft, der
Einbildungskraft zukomme.
[
↔] Es ist eine sehr gebräuchliche, und
nicht allein von den Gelehrten oft
vorgelegte Frage, sondern auch das gemeine Volk trägt sich damit, und giebt sie fast täglich unter einander
auf: woher es komme, daß ein Gottesgelehr ter,
welcher auf dem Katheder sehr groß ist, viel Scharfsinnigkeit in
Streitunterredungen, viel Fer tigkeit in
Antworten, und eine bewundernswür dige
Gelehrsamkeit in seinen Schriften, wie in seinen Vorlesungen,
zeigt, wenn er auf die Kan zel tritt, nicht
predigen könne; und daß gegen theils ein
beliebter, angenehmer und beredter Prediger, um den sich das Volk
drängt, gemei niglich (oder es würde ein
grosses Wunder seyn) in der scholastischen Theologie nicht weit
gekom men sey? Niemand läßt daher den
Schluß als richtig gelten: dieser oder jener ist ein gros ser scholastischer Gottesgelehrter, er muß
also auch ein grosser Prediger seyn; oder umgekehrt: dieser oder jener ist ein vortreflicher Prediger,
folglich muß er auch ein grosser
scholastischer Gottesgelehrter seyn. Sowohl das eine als
das andere zu widerlegen, fallen einem jeden mehr Beyspiele ein, als er vielleicht Haare auf dem
Kopfe hat.
[
↔] Niemand hat bis jetzt auf diese Frage ge hörig antworten können; alle schreiben es ge wöhnlichermaassen unmittelbar GOtt und der besondern Austheilung seiner Gnadengaben
zu. Und was konnten sie bessres thun, da sie die besondere Ursache davon nicht wußten? Die wahre
Antwort auf diesen Zweifel haben wir ei nigermaassen schon in dem vorhergehenden Haupt stücke ertheilet; wir haben uns aber so besonders nicht
einlassen können, als es nöthig ist. Sie beruhte vornämlich
darauf, daß die scholastische Theologie von dem Verstande abhänge: nun mehr aber
behaupten wir, und wollen es auch beweisen, daß das Predigen, als
ihr ausübender Theil, ein Werk der Einbildungskraft sey. So schwer es nun ist, daß ein
Gehirn einen grossen Verstand mit viel Einbildungskraft
verbinden sollte, eben so selten ist es, daß einer ein
grosser scholastischer Gottesgelehrter und zugleich ein be rühmter Prediger seyn könne. Daß aber die scholastische Theologie von dem Verstande ab hänge, haben wir in dem Vorhergehenden aus
ihrer Feindschaft mit der lateinischen Sprache bewiesen; es wird
also nicht nöthig seyn, diesen Beweis von neuem zu führen. Jch
will nun mehr nur beweisen, daß alle die Anmuth
und
Geschicklichkeit,
durch welche gute Prediger die Zuhörer an sich ziehen, und in
beständiger Zu friedenheit und Erwartung
erhalten, eine Wir kung der Einbildungskraft,
und zum Theil des guten Gedächtnifses sey. Damit ich mich de sto deutlicher erklären, und alles handgreif lich machen kann, werde ich vor allen Dingen dieses voraus setzen müssen, daß der Mensch ein
vernünftiges, gesellschaftliches und politisches Thier sey, und
daß die alten Weltweisen, weil seine Natur durch die Kunst um ein
grosses voll kommener gemacht werden kann, die
Vernunft lehre erfunden haben, damit sie ihn
lehren könn ten, wie und nach was für
Vorschriften und Regeln er denken, die Natur der Dinge
erklären, unterscheiden, eintheilen, folgern, urtheilen und wählen solle, ohne welche Verrichtungen man
unmöglich in irgend einer Kunst Meister wer den
kann. Wenn aber der Mensch gesellschaft lich
und politisch seyn sollte, so mußte er noth wendig reden, und andern die Gedanken seiner Seele verständlich
machen können; damit er dieses aber mit Anstand und Ordnung
thun möge, erfand man eine Kunst, welche die Rhe torik oder Redekunst heißt, und durch
Vorschrif ten und Regeln die Rede, vermittelst angeneh mer Worte, zierlicher Ausdrücke, scheinbarer Farben und
erregter Gemüthsbewegungen, schö ner macht. Wie aber die Vernunftlehre den Menschen nicht nur in einer Kunst, sondern in allen Künsten ohne
Ausnahme denken, und
schliessen lehrt; so lehrt auch die Rhetorik nicht allein, wie
man in der Theologie, sondern auch,
wie man in der Arzneykunde, in der Rechtsge lehrsamkeit, in der Kriegskunst, und in allen an dern Wissenschaften
sowohl, als in dem täglichen Umgange, reden müsse. Wenn wir uns
daher einen vollkommenen Dialektiker, oder einen voll kommenen Redner einbilden wollen, so können wir ihn uns nicht anders einbilden, als einen
Mann, der in allen Wissenschaften erfahren ist, weil sich seine
Gerechtsamkeit über alle Wissen schaften
erstrecket, und er die Regeln seiner Kunst in einer jeden ohne
Unterscheid anwenden kann. Es ist mit der Beredsamkeit nicht, wie
mit der Arzneykunde, welche einen gewissen und bestimm ten Umfang hat, noch wie mit der natürlichen Weltweisheit, der Moral,
der Metaphysik, der Astrologie oder
den übrigen Wissenschaften; sondern
Cicero hat vollkommen Recht, wenn er *) sagt: oratorem, vbicunque constiterit,
consistere in suo; und an einem andern Orte: in oratore perfecto inest omnis philosopho-
rum scientia. Auch darinnen hat er folglich Recht, daß
kein Künstler seltner zu finden sey, als ein vollkommener Redner,
wovon er einen weit stärkern Beweis würde haben anbringen können, wenn er darauf gefallen wäre, daß es
unmöglich sey, alle Wissenschaften in einem Ge hirne zu verbinden.
175
[
↔] Vor Alters hatten sich die Rechtsgelehrten den
Namen und die Verrichtung eines Redners angemaßt; weil die Vollkommenheit eines Ad vocaten die Kenntniß und Erfahrenheit in allen Künsten der Welt erforderte, und sich die Ge setze über alles erstrecken. Wenn man eine je de Kunst so vertheidigen soll, wie sie ihrer
Be schaffenheit nach vertheidiget werden
muß, so muß man nothwendig von jeder eine besondere Kennt niß haben; daher auch
Cicero*) sagt: nemo est in oratorum numero
habendus, qui non sit omnibus artibus perpolitus. Weil
sie aber sahen, daß es theils wegen der Kürze des Lebens, theils wegen des eingeschränkten mensch lichen
Genies, unmöglich sey, alle Wissenschaften zu lernen, so gaben sie
es näher, und begnügten sich im Falle der Nothwendigkeit damit,
daß sie die Erfahrnen in derjenigen Kunst, in wel che ihre Vertheidigung einschlug, zu Rathe
zo gen, und ihnen Glauben zustellten. Auf diese Art die Rechtshändel zu
vertheidigen, folgte die Lehre des Evangeliums, welche weit
besser als ir gend eine andere Wissenschaft von
der Bered samkeit den Menschen hätte können
eingeredet werden, weil sie die allergewisseste und wahrhaf teste war. Allein Christus befahl dem heil.
Paulus ausdrücklich, daß er sie nicht mit
künst lichen Worten
predigen sollte, damit nicht die Heiden etwa glauben möchten, sie sey nichts, als eine schöne ausgeputzte Lügen, dergleichen
176
die Redner dem Pöbel durch
die Stärke ihrer Kunst einzureden pflegten. Nunmehr aber, da man diese Lehre gänzlich angenommen hat, da so
viele Jahre seitdem verflossen sind, ist es ganz wohl erlaubt,
nach den Regeln der Beredsam keit zu predigen,
und sich aller Annehmlichkei ten des Vortrags
zu bedienen; weil die Ungele genheit nicht mehr
damit verbunden ist, welche damit verbunden war, als der heil.
Paulus pre digte. Wir sehen ja auch, daß derjenige Pre diger, welcher die Eigenschaften eines vollkom menen Redners hat, weit mehr Nutzen stiftet, als ein anderer,
und daß sich das Volk mehr um ihn drängt, als um einen andern.
Die Ursache davon ist klar: denn wenn die alten Redner, vermittelst der Vorschriften und Regeln ihrer Kunst,
dem Volke Lügen für Wahrheiten verkaufen konnten; so müssen christliche Zuhö rer
ja weit eher überzeugt werden können, wenn man ihnen durch den
Beystand der Kunst das jenige einschärft, was
sie schon gehört haben, und zum Theil schon glauben. Da übrigens
die heil. Schrift gewissermaassen alles enthält, so
sind zu ihrer Erklärung auch alle Wissenschaften von nöthen, als
worauf der bekannte Spruch zielet:
die Weisheit sandte ihre Dirnen
aus, zu laden oben auf die Palläste der Stadt. (
Sprüche Sal. 9, 3 [
→].)
[
↔] Doch dieses haben wir den geistlichen Red nern unserer Zeit nicht nöthig einzuschärfen, weil sie ausser der Erbauung, die sie durch ihre Lehre
zu stiften suchen, ohnedem schon eine
ganz be sondere Sorgfalt darauf wenden,
allezeit einen solchen Hauptsatz zu erwählen, bey welchem sich artige Sprüche aus der heil.
Schrift, aus den Kirchenvätern, aus den Poeten, Geschichtschrei bern, Arzneygelehrten, und Gesetzgebern anbrin gen lassen. Sie verschonen keine einzige Wis senschaft, und reden allezeit mit vielen,
angeneh man und süssen Worten, so daß sie
gar leicht einen Hauptsatz, wenn es nöthig ist, eine bis zwey Stunden ausdehnen können. Eben dieses, sagt
Cicero, *) ist die vornehmste Eigenschaft eines vollkommenen
Redners, dergleichen zu seiner Zeit waren: Vis
oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac
polliceri vide- tur, vt omni de re, quaecunque sit proposi- ta, ab eo ornate copioseque dicatur. Wenn wir jetzt also beweisen werden, daß die Eigen schaften, die zu einem vollkommenen Redner er fordert werden, alle von der Einbildungskraft und dem
Gedächtnisse abhängen; so haben wir zugleich bewiesen, daß
derjenige Gottesgelehrte, welcher diese beyden Fähigkeiten hat,
ein grosser Redner seyn werde. Jn der Lehre des h.
Tho mas und
Scotus hingegen wird er sehr wenig oder gar nichts gethan haben, weil diese Lehre
dem Verstande eigenthümlich zugehöret, und die Redner an dieser Fähigkeit einen allzugrossen
Mangel leiden.
177
[
↔] Welches diejenigen Sachen sind, die der Ein bildungskraft zugehören, und an
welchen Kenn zeichen man sie erkennen solle,
haben wir schon oben vorgetragen; hier aber wollen wir es noch mals wiederholen, damit es in frischem Anden ken bleibe. Alles das also sind Wirkungen
der Einbildungskraft, was ein gutes Ansehen hat, was sich zur Sache wohl schickt, und sonst
anständig und wohl geordnet ist.
[
↔] Das erste, was ein vollkommener Redner thun muß,
wenn er sich nunmehr den Hauptsatz erwählet *) hat, ist, daß er Gründe und Zeug nisse
aufsucht, welche er zum Beweise und zur Ausdehnung desselben
anwenden kann. Dieses aber muß er nur mit solchen Worten
vortragen, welche einen Wohlklang in den Ohren verursa chen; daher auch
Cicero sagt: oratorem eum esse puto,
qui et verbis ad audiendum iucun- dis, et sententiis
accommodatis ad proban- dum vti possit. Daß diese
Eigenschaft aber von der Einbildungskraft abhänge, ist unwider sprechlich, weil es dabey auf den Wohlklang
an genehmer Worte und auf Gedanken
ankömmt, die sich zu dem Hauptsatze schicken müssen.
[
↔] Das andere, was bey einem vollkommenen Redner
durchaus seyn muß, ist, daß er an Er findung
reich sey, und sehr viel gelesen habe:
178
denn wenn er einen jeden
Hauptsatz, der ihm vorkömmt, mit vielen Gründen und
Aussprüchen, die sich alle darzu schicken, soll erweitern
und beweisen können; so muß er nothwendig eine geschwinde Einbildungskraft haben, die ihm, wie ein Spürhund,
alles aufsuche und zubringe, was er etwa brauchen könne; die
sogar im Falle der Noth, wenn er nichts mehr zu sagen hat,
etwas erfinde, ob es gleich niemals wirklich gewesen ist. Oben aber haben wir gesagt, daß die Wärme das
Werkzeug sey, dessen sich die Einbildungs kraft
bediene; weil die Wärme die Bilder erwe cke und gleichsam aufsiedend mache. Hierdurch nun wird alles deutlich gemacht, was in dem
Gehirne eingedrückt zu sehen ist; und, wenn nichts mehr darinnen
zu sehen ist, so hat die Einbildungskraft Stärke genug, nicht
allein ein mögliches Bild mit dem andern zusammen zu setzen, sondern sogar, nach der Ordnung
der Na tur, unmögliche Bilder zu
verbinden, und auf diese Art güldne Berge und geflügelte
Ochsen hervorzubringen.
[
↔] Den Mangel an eigner Erfindung kann der Redner
durch eine grosse Belesenheit ersetzen, wenn ihm etwa die
Einbildungskraft fehlen soll te. Allein das,
was die Bücher lehren, kann nicht unendlich seyn, sondern es ist
eingeschränkt; die Erfindungskraft hingegen ist wie ein
guter Quell, welcher beständig frisches und neues Was ser hat. Alles das zu behalten, was man ge lesen hat, erfordert ein starkes Gedächtniß,
wel
ches
auch alsdann unumgänglich nöthig ist, wenn man das, was man
gelesen und behalten hat, den Zuhörern ohne Schwierigkeit wieder
soll vortragen können.
Cicero sagt daher: is ora- tor erit, mea
quidem sententia, hoc tam gra- vi dignus nomine, qui
quaecunque res inci- derit, quae sit dictione explicanda,
prudenter, copiose, ornate et memoriter dicat. Das ist: nur derjenige Redner wird dieses wichtigen
Titels würdig seyn, welcher über jeden Haupt satz, der ihm vorkömmt, mit Klugheit, welche darinnen besteht,
daß er sich nach den Umstän den seiner Zuhörer,
des Orts, der Zeit und der Gelegenheit richtet, mit Reichthum in
Wor ten, mit Zierlichkeit, und aus dem
Gedächt nisse reden kann.
[
↔] Die Klugheit, wie wir oben schon gesagt und
erwiesen haben, gehöret der Einbildungs kraft
zu; der Reichthum in Worten und Re densarten
dem Gedächtnisse; die Zierlichkeit und Anmuth abermals der Einbildungskraft; das Hersagen aber ohne
Stocken und Verirrung wird wohl niemand dem guten Gedächtnisse
ab sprechen können,
Cicero verlangt daher mit Recht, daß ein
vollkommener Redner aus dem Gedächtnisse reden, nicht aber
ablesen solle. Man kennt den
Antonius von Lebrixa. Er hat te in
seinem Alter das Gedächtniß so sehr ver lohren,
daß er die rhetorischen Vorlesungen, die er seinen Schülern
hielt; von dem Papiere able sen mußte. Weil er
aber in seiner Wissenschaft
allzu vortreflich war, und das, was er vortrug, allzuwohl
abgefaßt hatte, so wunderte sich nie mand über
diese Ungewöhnlichkeit. Als er vom Schlage gerührt ward, und
unvermuthet starb, trug die Akademie zn Alcala seine
Leichenrede einem berühmten Prediger auf. Dieser hatte auch das, was er reden wollte, nach allen seinen
Kräften auf das beste ersonnen, abgetheilt und ausgearbeitet;
allein die Zeit war viel zu kurz, als daß er es hätte auswendig
lernen können. Er kam also mit dem Papier in der Hand auf die Kanzel und fing an: „Das, was dieser berühmte Mann beständig in seinen Vorlesun gen zu thun gewohnt war, unterstehe auch ich mich zu seiner Nachahmung jetzt zu thun. Sein Tod kam so schnell, und der Befehl ihm die
Leichenrede zu halten, ward mir so unver muthet
gegeben, daß ich keine Zeit gehabt habe, auf das, was ich sagen
soll, viel zu denken, ge schweige es in das
Gedächtniß zu fassen. Was ich die vergangene Nacht zu Stande
gebracht habe, befindet sich auf diesem Papiere. Jch ersuche also, meine hochzuehrenden Zuhörer, mir
ihre Aufmerksamkeit geduldig zu gönnen, und mich wegen meines
schwachen Gedächt nisses entschuldigt zu
halten.“ Diese Art, von dem Zettel zu predigen, schien
den Zuhörern aber so abgeschmackt, daß alle entweder zu
lachen, oder zu murren, anfingen. Jch wiederhole es daher nochmals, daß
Cicero
sehr weislich ver langt, ein Redner müsse aus
dem Gedächtnisse
reden,
und nicht seine Rede ablesen. Dieser Prediger hatte in der That
keine eigne Erfin dung; alles mußte er aus
Büchern zusammenstop peln, worzu freylich viel
Fleiß und viel Gedächt niß gehöret. Diejenigen
hingegen, welche aus ihrem Kopfe Erfindungen ziehen können,
brau chen weder Fleiß, noch Zeit, noch
Gedächtniß; weil sie alles aus sich und also auch in sich
ha ben. Diese können ihren Zuhörern Zeit
ihres Lebens predigen, ohne daß sie wieder auf das kommen dürfen, was sie in vorhergehenden Jah ren gesagt haben; dahingegen diejenigen, wel chen es an eignen Erfindungen fehlt, in zwey Jahrgängen beynahe alle Bücher in der Welt geplündert, und
alle ihre Collectanea und Papie re damit voll
geschrieben haben, so daß sie bey dem dritten Jahrgange andere
Zuhörer suchen müssen, wenn man ihnen nicht vorwerfen soll: das hat er ia schon vor dem Jahre gepredigt.
[
↔] Die dritte Eigenschaft, welche ein guter Redner
haben muß, bestehet darinnen, daß er wisse, wie er das Erfundene
ordnen und abthei len, und einem jeden
Gedanken, und einem je den Ausspruche seinen
gehörigen Ort anweisen soll, so daß jeder Theil gegen den andern
sein Verhältniß habe, und einer sich auf den andern beziehe.
Cicero sagt: *) dispositio est ordo et distributio
rerum, quae demonstrat, quid, quibus in locis collocandum
sit. Das ist: die Abtheilung ist nichts anders, als die
Ord
179
nung und
die Folge, nach welcher die Gedanken und Aussprüche, die man den
Zuhörern vortra gen will, auf einander folgen
müssen, wenn je des seinen Platz haben, und mit
den übrigen Stücken so übereinstimmen soll, daß das Gan ze eine gute Form dadurch erlange. Diese Ar beit, wenn man nicht ein natürliches
Geschicke darzu hat, pflegt den Predigern ungemein viel Mühe zu verursachen: denn wenn sie schon noch so
viel aus den Büchern zusammengesucht ha ben,
was sie sagen wollen, so fällt es ihnen doch sehr schwer, einem
jeden seine gehörige Stelle anzuweisen. Diese Geschicklichkeit
aber zu ord nen und einzutheilen, ist
nothwendig ein Werk der Einbildungskraft, weil es Formen und Ver hältnisse betrift.
[
↔] Die vierte und allerwichtigste Eigenschaft guter
Redner ist die Action, welche allem, was sie sagen, Seyn und
Leben geben muß. Sie ist es, durch welche hauptsächlich die
Zuhörer bewegt werden, das als eine Wahrheit zu glau ben, wovon man sie
überreden will.
Cicero
spricht: *) actio, quae motu corporis, quae gestu,
quae vultu, quae vocis conformatione ac varietate moderanda
est. Die Action, will er sagen, muß so eingerichtet
werden, daß man allezeit diejenigen Stellungen und Bewegungen macht, welche das, was man
sagt, erfordert; daß man die Stimme erhebt und fallen läßt daß man bald hitzig bald gelassen ist; daß man bald
180
schnell und bald langsam
rede, daß man bald einen strengen, bald einen sanften Ausdruck
an nehme; daß man den Körper bald auf
diese, bald auf jene Seite wende, daß man die Hän de bald zusammenschliesse, bald von einander thue, daß man bald lache, bald weine, auch wohl
bey Gelegenheit sich an die Brust schlage. Diese Geschicklichkeit
ist an einem Prediger so wichtig, daß er bloß durch sie allein,
ohne Er findung und Abtheilung, von den
allgemeinsten und nichts auf sich habenden Sachen eine Rede halten kann, worüber die Zuhörer erstaunen, weil
sie Action hat, die man sonst auch Geist oder Aussprache nennet.
[
↔] Hierbey fällt etwas merkwürdiges vor, wel ches ungemein deutlich zeigt, wie viel diese Ge schicklichkeit vermöge, dieses nämlich: daß
die jenigen geistlichen Reden, welche wegen
der vie len Action und des vielen Geistes sehrseht schöne Reden zu seyn scheinen, gar nichts werth
sind, sobald man sie zu Papiere bringt, und sich durch aus nicht lesen lassen. Die Ursache davon
ist leicht einzusehen; weil sich durch die Feder die Stel lungen und Bewegungen nicht ausdrücken las sen,
welche die Rede auf der Kanzel gut machten. Andere Predigten
gegentheils scheinen auf dem Papiere sehr vortreflich; wenn sie
aber gehal ten werden, so sind sie fast nicht
mit anzuhören, weil ihnen die Action nicht gegeben wird, die
ih re Stellen erfordern.
Plato sagt daher: *) die
181
Art zu reden sey von der
guten Art zu schreiben sehr unterschieden. Es ist auch in der
That gegrün det, da uns die Erfahrung nicht wenige kennen lehrt,
welche sehr wohl reden, schriftlich aber ih re
Gedanken sehr schlecht ausdrücken; andere hingegen schreiben sehr
wohl, und drücken sich mündlich sehr schlecht aus. Alles dieses
läuft auf nichts anders hinaus, als auf die Action, welche aber unwidersprechlich ein Werk der Ein bildungskraft ist, weil sich alles, was wir von ihr gesagt haben, auf Figuren, Verhältnisse und
Uebereinstimmungen bezieht.
[
↔] Die fünfte Geschicklichkeit eines guten Red ners bestehet darinnen, daß er geschickt im Ver gleichen sey, und gute Beyspiele anzubringen wisse, als woran die Zuhörer mehr Vergnügen
haben, als an irgend einem andern Stücke; weil durch ein gutes
Beyspiel oft eine ganze Leh re deutlich gemacht
werden kann, welche die Zu hörer ohne dieses
Beyspiel, als allzutiefsinnig würden vorbey gelassen haben.
Aristoteles fragt daher; *) δια
τι τοις
παραδειγμασι χαιρου- σιν οἱ
ἀνθρωποι
ἐν ταις
ῥητορειαις
και
τοις
λογοις
μαλλον
των
ἐνθυμηματων;
das ist: warum die, welche einen Redner hören, sich an dem Beyspiele und Fabeln, die er
zur Be stärkung desjenigen beybringt, wovon er
sie über reden will, mehr ergötzen, als an
seinen Bewei sen und Gründen? Er antwortet
hierauf: weil sich die Menschen eher durch Beyspiele und
182
Fabeln, welches eine Art
der sinnlichen Bewei se wären, bewegen liessen, als durch Gründe, welche allzuviel
Verstand und Nachdenken er fordern. Daher
bediente sich auch unser Erlö ser in seinen Reden so vieler Parabeln und
Gleich nisse, weil er wohl sah, daß sich
vermittelst der selben dem Volke viel göttliche
Geheimnisse bey bringen liessen. Diese
Geschicklichkeit aber, Fa beln und Gleichnisse
zu erfinden, ist ganz gewiß ein Werk der Einbildungskraft, weil es dabey auf Figuren,
Verhältnisse und Aehnlichkeiten ankömmt.
[
↔] Die sechste Eigenschaft eines vollkommenen Redners
bestehet darinnen, daß er eine gute Sprache habe, welche natürlich und nicht ge zwungen sey, und aus den artigsten Worten und aus den zierlichsten, nicht aber unanständi gen Redensarten bestehe. Von dieser Annehm lichkeit haben wir in dem Vorhergehenden schon an mehr als einem Orte geredet und bewiesen, daß
sie theils der Einbildungskraft, theils dem guten Gedächtnisse
zugehöre.
[
↔] Die siebente Eigenschaft eines guten Red ners drückt
Cicero
folgendermaassen aus: er sol le seyn instructus voce, actione et lepore. Die
Stimme muß von einem gehörigen Umfange, helle, den Zuhörern
angenehm, nicht rauh, nicht grob und auch nicht allzufein seyn.
Ob dieses nun gleich von der Beschaffenheit der Brust und der Kehle, und nicht von der Einbildungs kraft abhänget, so ist es doch gewiß, daß eben
das Temperament, welches
die Ursache einer gu ten Einbildungskraft ist,
nämlich die Wärme, auch die Ursache der guten Stimme sey, welches
wir in Betrachtung unserer Absicht nothwendig erinnern müssen. Die scholastischen Theologen
können also keine gute Stimme haben, weil ihr Temperament kalt und feuchte ist; und auch dieser Fehler macht sie zur Kanzel durchaus ungeschickt.
[
↔]
Aristoteles beweiset dieses *) aus dem Bey spiele der Alten und aus
ihrer natürlichen Kälte und Trockenheit. Wenn die Stimme hell
und voll seyn soll, so wird sehr viel Wärme darzu erfordert, welche die Luftröhre ausdehne, und ei ne gemäßigte Feuchtigkeit, welche sie beständig feuchte und geschmeidig erhalte.
Aristoteles fragt daher: **) warum alle, welche eines war men
Temperaments sind, eine starke Stimme haben? Das Gegentheil davon
sehen wir an den Weibern und an den
Verschnittenen, wel che wegen der Kälte ihres
Temperaments, wie
Galenus***) sagt, eine sehr feine Kehle und eine sehr klare Stimme
haben. Wenn wir also ir gendwo eine gute Stimme
hören, so können wir sicherlich glauben, daß die Wärme und
Feuch tigkeit der Brust die Ursache davon
sey. Die se beyden Beschaffenheiten aber, wenn
sie bis in das Gehirn steigen, machen, daß der Ver stand verloren geht, indem sie ein gutes Gedächt niß und eine gute Einbildungskraft verursachen,
183
184
185
welches eben diejenigen
zwey Eigenschaften sind, deren sich die guten Prediger, ihre
Zuhörer zu vergnügen, bedienen.
[
↔] Die achte Eigenschaft eines guten Redners, sagt
Cicero, *) ist, daß er eine gelöste, geschwin de
und wohlgeübte Zunge habe. Diese Eigen schaft
aber kann kein Mensch von grossem Ver stande
besitzen, weil sie, wenn sie geschwinde seyn soll, viel Wärme und
eine gemässigte Trocken heit haben muß, als
welches bey den Melancho licis von beyder Art durchaus nicht Statt fin den kann.
Aristoteles
beweiset es genugsam durch die Frage: **) δια
τι οἱ
ἰσχνοφωνοι
με- λαγχολικοι;
das ist: warum alle diejenigen, welche stottern und stammeln,
eines melancholi schen Temperaments sind? Er
antwortet aber auf diese Frage sehr schlecht: weil die Me lancholici eine starke und geschwinde
Einbildungs kraft haben, und die Zunge so
geschwind nicht nachkommen kann, als sie ihr die Gedanken darreicht, daß sie also nothwendig sich oft über eilen und stottern muß. Dieses ist die Ursache gar nicht, sondern diese ist es: weil die Melan cholici immer allzuviel Wasser und Speichel im Munde haben, wodurch ihre Zunge sehr feuchte und
schlaff gemacht wird, welches man nur allzu dentlich an ihrem öftern Ausspucken erkennen kann.
Aristoteles selbst ***) giebt diese Ursache an,
186
187
188
wenn er die Frage
aufwirft: δια
τι
ἰσχνοφω- νοι
γινονται;
warum einige stottern? Er antwortet nämlich, weil sie eine
allzukalte und feuchte Zunge haben. Diese zwey Beschaffen heiten machen das Glied träge, und wie vom Schlage gerührt, daß es der Einbildungskraft
niemals nachkommen könne. Er giebt daher, wenn man dieser
Beschwerlichkeit abhelfen wol le, den Rath,
etwas Wein zu trinken, oder vor her, ehe man
gegen die Zuhörer redet, ein we nig zu
schreyen, damit die Zunge erwärmt und trocken gemacht werde. Auch
aus der vielen Wärme und Feuchtigkeit der Zunge, sagt
Ari stoteles,
könne das Stottern entstehen. Er führt die Cholerici zum
Beyspiele an, welche, wenn sie zornig geworden sind, nicht reden
können, und gleichwohl ungemein beredt sind, wenn sich ihr Zorn und ihre Gemüthsbewegung
gelegt hat. Die Phlegmatici hingegen können nicht re den, wenn sie ruhig sind; wenn sie aber
aufge bracht werden, so ist in ihren Reden
ungemein viel Beredsamkeit. Die Ursache davon ist klar: denn ob es gleich wahr ist, daß die Wärme so wohl der Einbildungskraft, als der Zunge unge mein wohl zu statten kömmt, so ist es doch
auch ganz wohl möglich, daß sie einen solchen Grad erlangen kann, in welchem sie beyden nachthei lig wird, so, daß weder die Einbildungskraft sinnreiche Gedanken zu haben, noch
die Zunge wegen der allzugrossen Trockenheit die Worte auszusprechen im Stande ist. Selbst die Er
fahrung lehrt es, daß
in diesem Falle der Mensch besser zu reden anfängt, wenn er
ein wenig Wasser getrunken hat.
[
↔] Wenn die Cholerici ruhig sind, so können sie sehr
wohl reden, weil sie alsdenn gleich den rechten Grad der Wärme
haben, welcher der Zunge und der guten Einbildungskraft nöthig ist. Wenn sie aber aufgebracht werden, so wird
die Wärme weit stärker, als sie seyn sollte, und verwirrt
folglich die Einbildungskraft. Wenn die Phlegmatici ruhig sind,
so ist ihr Gehirn sehr kalt und seuchte, daher es ihnen keine
Ge danken, die sie vorbringen könnten,
darbieten kann; auch die Zunge ist ganz schlaff, weil sie allzuviel Feuchtigkeit in sich hat. Wenn sie aber aufgebracht und zornig gemacht werden, so nimmt die Wärme
überhand, und erweckt die Einbil dungskraft,
welche ihnen nunmehr genugsamen Stof zum Reden giebt, weil sich
auch die Zun ge ihnen nicht länger widersetzt,
indem sie eine wärmere und trocknere Beschaffenheit angenom men hat. Leute von dieser Art haben daher ei gentlich keine Fähigkeit zum Dichten, weil ihr Gehirn allzukalt ist;
wenn sie aber aufgebracht werden, so können sie gegen die, welche
sie auf gebracht haben, mit vieler Leichtigkeit
sehr gute Verse machen. Und dieses ist es, worauf ei gentlich
Juvenal zielt:
[
↔] Si natura negat, facit indignatio versum.
[
↔] Dieser Fehler der Zunge ist auch mit die Ursache,
warum Leute von grossem Verstande
keine guten Redner und
Prediger seyn können, da besonders die Action erfordert, daß man
bald stark, bald schwach reden könne. Diejenigen also, welche stottern, können ohne Geschrey und
Quäcken nicht reden, welches ein Fehler ist, der den Zuhörern am
allerverdrüßlichsten fällt. Auch
Aristoteles legt die Frage vor: *) δια
τι οἱ
ἰσχνοφωνοι οὐ
δυανται διαλεγεσϑαι
μικρον; das ist: warum diejenigen, welche stammeln,
beständig schreyen, und nicht sachte reden kön nen? Er antwortet hierauf sehr wohl: weil die Zunge, welche der
vielen Feuchtigkeit wegen, gleichsam an dem Gaumen angeheftet
ist, sich eher mit Gewalt, als mit wenig Anstrengung losreissen kann. Es geht damit, wie mit einer
schweren Lanze, die man bey ihrem äussersten En de aufheben will, welches sich weit leichter durch einen
starken Ruck, als nach und nach, thun läßt.
[
↔] Jch glaube, nunmehr genugsam bewiesen zu haben,
daß die natürlichen guten Eigenschaften, welche ein vollkommener
Redner haben muß, größtentheils von der guten Einbildungskraft,
ei nes Theils aber auch von dem Gedächtnisse
ab hängen. Wenn es daher wahr ist, daß die
gros sen Prediger unserer Zeit ihre Zuhörer
eben durch diese Eigenschaften vergnügen, so kann man die natürliche Folge daraus ziehen, daß ein
grosser Prediger sehr wenig in der scholasti schen Theologie verstehen werde; daß gegentheils ein grosser scholastischer
Gottesgelehrter ein schlech ter Prediger seyn
müsse, weil sich der Verstand
189
mit einer starken
Einbildungskraft und einem star ken
Gedächtnisse durchaus nicht vertragen kann.
[
↔]
Aristoteles erkannte gar wohl
aus der Er fahrung,
daß ein Redner, ob er gleich die sitt liche und
natürliche Weltweisheit, die Arzneykunst, Metaphysik, Rechtsgelehrsamkeit, Mathematik, Astrologie und alle andere Künste und Wissen schaften studire, er doch aus allen nichts,
als einige Blumen und unzweifelhafte Aussprüche wisse, ohne daß er den wahren Grund davon inne habe. Er
glaubte aber, diese gründliche Erkenntniß gebräche ihm nur
deswegen, weil er sich nicht darauf gelegt habe. Wenn er also fragt: *) δια
τι τον
φιλοσοφον του
ῥητορος
οἰονται
διαφερειν;
das ist: worinnen der Redner und Philosoph von einander unterschie den
wären, da doch beyde die Weltweisheit stu dirten? so antwortet er: darinnen wären sie un terschieden, daß der Philosoph allen seinen Fleiß auf die Erkenntniß der Ursachen und Gründe einer
jeden Wirkung richte, der Redner aber mit der blossen Kenntniß
der Wirkungen zufrieden sey. Die wahre Ursache aber ist keine
andere, als die, weil die natürliche Weltweisheit von dem Verstande abhänget, als an welcher Ver mögenheit es den Rednern fehlt, so daß sie in der Philosophie nur ganz obenhin erfahren seyn
können. Eben dieser Unterschied ist zwischen ei nem scholastischen und praktischen Gottesgelehr ten; der eine weiß die Gründe von allen dem,
190
was zu seiner Wissenschaft
gehört, der andere aber weiß nichts mehr, als die unstreitigen
Wahr heiten daraus. Es ist daher sehr
gefährlich, daß ein Prediger Gewalt und Pflicht hat, dem christlichen Volke die Wahrheit zu lehren, und daß dieses Volk verbunden ist,
ihm Glauben beyzumessen. Da ihm die Vermögenheit fehlt, durch welche er die Wahrheiten aus dem Grun de erkennen kann, so kann man mit allem Rech te von ihm sagen, was unser Heiland (Matth. XV, 14.) sagt:
sie sind blind und
blinde Leiter; wenn aber ein Blinder den an dern leitet, so fallen sie beyde in die Gru be. Es ist etwas unerträgliches, wenn
man sieht, mit was für Kühnheit Leute auftreten und predigen, welche doch nicht ein Wort aus der
scholastischen Theologie verstehen, und auch kei ne natürliche Fähigkeit haben, sie zu erlernen. Auch der h.
Paulus beklagt sich sehr über diese Leute, wenn er (1. Timoth.
I, 5.) sagt:
die Hauptsumma des Gebots ist Liebe von reinem Herzen, und von gutem Gewissen, und
von ungefärbtem Glauben. Wel cher haben etliche gefehlet, und sind um gewandt zu unnützem Geschwätz; wol len der Schrift Meister seyn, und verste hen nicht was sie sagen, oder was sie se tzen. Die Waschhaftigkeit unduud das Geschwätz der deutschen, holländischen, englischen und fran zösischen und
aller übrigen nordischen Theologen,
macht christliche Zuhörer nur verwirrt, indem
sie zwar mit grosser Sprachgelehrsamkeit, mit vieler Zierlichkeit und
Anmuth der Worte predi gen, allein keinen
Verstand haben, womit sie die Wahrheit durchdringen könnten. Daß
diese aber wirklich Mangel am Verstande haben, ist oben nicht allein aus der Meynung
des
Aristo teles, sondern auch ausser vielen andern Grün den und Erfahrungen, die wir deswegen beyge bracht haben, erwiesen worden. Wenn den Deutschen und Engländern
dasjenige wäre ein geschärft worden, was St.
Paulus an die Rö mer schrieb, welche gleichfalls von
falschen Pre digern belästiget waren, so würden
sie sich viel leicht nicht so geschwind haben
verführen lassen:
Jch ermahne aber euch, lieben Brüder, daß ihr
aufsehet auf die, die da Zertrennung und Aergerniß anrichten,
neben der Leh re, die ihr gelernet habt, und
weichet von denselbigen; denn solche dienen nicht dem HErrn JEsu Christo,
sondern ihrem Bauch, und durch süsse Worte und präch tige Rede verführen sie die unschuldigen Herzen. Ueberdieses haben wir auch oben be wiesen, daß diejenigen, welche eine starke Einbil dungskraft besitzen, cholerisch, verschmitzt,
bos haft, betrügerisch, und allezeit zum
Bösen ge neigt
sind, welches sie mit vieler Geschicklichkeit und Klugheit
auszuführen wissen.
[
↔] Von den Rednern der damaligen Zeit wirft
Ari stoteles die Frage auf:
*) δια
τι
ῥητορα
μεν και
χρηματιϛην
και
ϛρατηγον
λεγομεν
δεινον!ἀυ-
191
λητην
δε και
ὑποκριτην οὐ
λεγομεν;
das ist: warum nennen wir einen Redner verschmitzt, und warum geben wir nicht einem Tonkünstler oder ei nem Schauspieler dieses
Beywort? Die Schwie rigkeit würde für ihn noch
grösser geworden seyn, wenn er überlegt hätte, daß die Musik und Schauspielkunst Wirkungen der
Einbildungs kraft sind. Er antwortet aber
auf diese Fra ge: weil die Tonkünstler und
Schauspieler kei nen andern Endzweck haben, als
diejenigen zu vergnügen, welche sie hören. Der Redner aber hat immer die Absicht, auch etwas für sich zu er langen; er muß also Klugheit und List anwen den, damit die Zuhörer seinen Endzweck nicht gewahr werden.
[
↔] Dergleichen Eigenschaften, wie diese, hatten jene
falschen Prediger, von welchen der Apostel an die Corinther schreibt:
ich fürchte
aber, daß nicht, wie die Schlange Hevam ver führte mit ihrer Schalkheit, also auch
eure Sinnen verrückt werden von der Einfältigkeit in Christo. Denn solche fal sche Apostel und trügliche Arbeiter ver stellen sich zu Christus = Aposteln. Und
ist auch kein Wunder: denn er selbst, der
Satan, verstellet sich zum Engel des Lichts. Darum ist es nicht ein grosses, ob sich auch
seine Diener verstellen als Prediger der Gerechtigkeit,
welcher Ende seyn wird nach ihren Werken. Alle diese
Eigenschaf ten aber sind offenbare Werke der
Einbildungs
kraft, und
Aristoteles
hatte vollkommen Recht, wenn er sagte, die Redner wären
verschmitzt und listig, weil sie allezeit etwas für sich
dabey zu erlangen suchten.
[
↔] Diejenigen, welche eine starke Einbildungs kraft besitzen, sind, wie wir schon
oft erinnert haben, von einem sehr hitzigen Temperamente. Von dieser Beschaffenheit aber entstehen drey Haupt laster des Menschen, Hochmuth, Unmässigkeit im Essen und Trinken, und Wollust; und des wegen sagt auch der Apostel:
solche dienen
nicht dem HErrn JEsu Christo, sondern ihrem Bauche. Sie
bemühen sich folglich, die heil.
Schrift so auszulegen, wie sie mit ih ren natürlichen Neigungen übereinstimmen könn te, und bereden wohl gar die Einfältigen, es sey den Priestern
erlaubt, sich zu verheyrathen; es sey nicht nöthig, die Fasten zu
halten; es sey nicht nöthig, dem BeichtvaterBeichtoater alle Sünden zu bekennen,
welche wir gegen GOtt begehen. Auf
solche Art geben sie durch falsche Auslegungen der Schrift ihren
sträflichen Handlungen und Lastern den Schein der Tugenden, so daß sie das gemeine Volk für nichts
geringers, als Hei lige hält. Daß aber aus der
Wärme jene drey übeln Neigungen entstehen, aus der Kälte aber die gegenseitigen Tugenden, beweiset
Aristoteles, wenn er sagt: *) δια
δε το
ἠθοποιον
εἰναι (ἠθοποιον
γαρ το
θερμον)
και
ψυχρον
μαλι- ϛα των
ἐν ἡμιν
ἐϛιν!ὡσπερ
ὁ οινος
πλειων
192
και
ἐλαττων
κεραννυμενος
τῳ
σωματι,
ποιει το ἠθος ποιους
τινας
ἡμας. Er will hier mit so viel sagen: aus der Wärme und Kälte entstehen alle Sitten des Menschen,
weil diese beyden Beschaffenheiten mehr Veränderungen in unserer Natur, als irgend eine andere, verur sachen. Daher kömmt es, daß Leute von einer grossen Einbildungskraft gemeiniglich böse und lasterhaft
sind, weil sie ihrer natürlichen Neigung den Zügel schiessen
lassen, und Fähigkeit genug besitzen, Uebels zu thun. Hierauf
bezieht sich die Frage des
Aristoteles: *) δια
τι
ἀνθρω- πος
μαλιϛα
παιδειας
μετεχων,
zωων
ἁπαν- των
ἀδικωτατον
ἐϛιν; das ist: warnm der Mensch, welcher doch so viel Weisheit
besitzt, unter allen Thieren das ungerechteste sey? Er antwortet hierauf: ἠ
ὁτι πλειϛου λογισμου
κεκοινωνηκε;
μαλιϛα οὐν τας
ἡδονας
και
την
ἐυδαιμονιαν
ἐjητακε!ταυτα
δ' ἀνευ
ἀδικιας οὐκ ἐϛι; weil der
Mensch sehr viel Ein bildung und
Erfindungskraft besitzt, welche ihm viel Mittel, Uebels zu thun,
an die Hand geben. Da er ohnedem von Natur einen Trieb nach Er götzlichkeiten hat, und von Natur gern besser und glücklicher
als andere seyn will, so muß er nothwendig ungerecht werden, weil
man, ohne viele zu beleidigen, unmöglich Vergnügen und Glück erlangen kann. Doch die Wahrheit zu gestehen,
Aristoteles hat
weder die Frage recht vorgelegt, noch auf die Frage gehörig
geantwor
193
tet. Er
hätte vielmehr fragen sollen, warum die bösen Menschen
gemeiniglich viel Einbil dungskraft haben, und
warum auch unter den Bösen diejenigen, welche die größte Fähigkeit haben, auch die größten Schelmereyen begehen; da
es doch billig wäre, daß eine starke Einbil dungskraft und viel Geschicklichkeit die Menschen vielmehr zum
Guten und zur Tugend, als zum Laster und zur Sünde geneigt machen
sollten? Und hierauf hätte er antworten sollen: weil die jenigen, welche ein sehr hitziges
Temperament haben, eben deswegen sehr viel Einbildungskraft besitzen; und weil eben dieselbe Beschaffenheit
des Temperaments sie sinnreich, aber auch zu gleich zu bösen Handlungen geneigt mache. Wenn aber der
Verstand die Oberhand hat, so hat der Mensch gemeiniglich mehr
Neigung zur Tugend, weil diese Vermögenheit viel Käl te und Trockenheit voraussetzet, als aus
welchen beyden Beschaffenheiten nicht wenig Tugenden entspringen; zum Beyspiel, die
Enthaltung, die Demuth, die Mäßigkeit, da hingegen aus der Wärme die entgegengesetzten Laster
folgen. Hät te
Aristoteles dieses eingesehen, so würde er bes ser auf die Frage, welche er in folgenden Wor ten *) vorlegt, geantwortet haben: δια τι
οἱ διο- νοσιακοι
τεχνιται,
ὡς
ἐπιτοπολυ
πονηροι
ἐισιν; Warum, fragt
er, sind die, welche ihr Brodt mit Komödienspielen, mit Unterhaltung öffentlicher
Lusthäuser verdienen; warum sind
194
alle Köche, Weinschenken,
kurz, alle diejenigen, die sich bey allen Schmausereyen, bey
allen Fe sten, sie zu besorgen, und anzustellen
einfinden müssen, gemeiniglich böse und lasterhafte Leute? Seine Auflösung dieser Aufgabe ist diese: weil
dergleichen Leute mit solchen bacchanalischen Ver richtungen ohne Unterlaß beschäftiget wären, und also keine Zeit übrig hätten, der Weisheit und
Tugend nachzudenken; weil sie ferner ihr Leben in beständiger
Unmässigkeit zubrächten, und ge meiniglich arm
wären, die Armuth aber viel Bö ses nach sich zu
ziehen pflege. Die wahre Ur sache aber ist
keine andere, als die: weil das Komödienspielen, das Anordnen der
Schmause reyen und Lustbarkeiten eine
gewisse Art der Ein bildungskraft voraussetzt,
welche den Menschen zu einer solchen Lebensart anreitzt. Weil
aber diese Art der Einbildungskraft in der Wärme besteht, so haben sie alle einen sehr guten Ma gen, und grossen Appetit zum Essen und Trin ken; und wenn sie sich auch schon auf die Wis senschaften legen wollten, so würden sie es
doch zu nichts darinnen bringen, Gesetzt auch, daß solche Leute reich sind; dennoch werden sie sich
mit solchen Verrichtungen abgeben, und wenn sie auch noch weit
niederträchtiger wären, weil das
Genie und die Fähigkeit einen jeden zu der jenigen Kunst mit Gewalt ziehen, welche ihnen gemäß ist.
Hierher gehört die Frage des
Ari stoteles: *) δια
τι ἁπερ
ἀν
τινες
προελων-
195
ται, ἐνδιατριβουσι τουτοις
ἐνιοτε
φαυλοις οὐσι
μαλλον,
ἠ ἐν
τοις σπουδαιοτεροις;
οἱον
θαυματοποιος,
ἠ
μιμος, ἠ
συρικτης
μαλ- λον, ἠ
ἀϛρονομος,
ἠ
ῥητωρ
εἰναι
ἀν βου- λοιτο
ὁ ταυτα
ἑλομενος.
Warum giebt es Leute, welche lieber Gaukler, Komödianten und Trompeter seyn wollen, als Redner oder Stern kundige? Auf diese Frage antwortet er voll kommen wohl: weil es der Mensch gleich bey
sich empfindet, zu welcher Kunst oder Wissen schaft er eine
natürliche Fähigkeit hat, und in sich selber denjenigen trägt,
der ihn darinnen un terrichtet. Die Natur wirkt sogar mit so star ken Trieben, daß, wenn auch die Kunst, oder die Verrichtung noch so unanständig, und der Würde desjenigen,
welcher sich damit abgiebt, noch so nachtheilig ist, er sich
dennoch bloß ihr und keiner andern, wenn auch noch so viel Eh re damit verbunden wäre, widmet.
[
↔] Weil wir nun aber bewiesen haben, daß die se Art des
Genies durchaus zu dem Predigt amte ungeschickt
ist, und wir uns verbindlich ge macht haben,
einer jeden verschiednen Art der Fähigkeit denjenigen Theil der
Gelehrsamkeit zu bestimmen, und zuzusprechen, welcher sich
beson ders für sie schickt; so müssen wir
nunmehr zei gen, welche Art des
Genies derjenige eigentlich haben müsse, dem man das
Predigtamt, als das wichtigste Amt in der ganzen Christenheit, anvertrauen könne. Man
wisse also, daß, ob wir gleich umständlich erwiesen haben,
natürli
cher Weise streite ein grosser Verstand mit einer starken
Einbildungskraft und einem starken Ge dächtnisse; dennoch in allen Künsten und Wis senschaften keine Regel so allgemein sey, welche nicht ihre Abfälle und Ausnahmen leide. Jn dem
vierzehnten Hauptstücke werden wir es weitläuftiger darthun, daß
die Natur, wenn sie nach aller ihrer
Stärke wirken kann, und von keiner fremden Ursache verhindert
wird, ei ne Art des
Genies so vollkommen macht, daß sie in einem Kopfe einen sehr
grossen Verstand mit einer sehr
grossen Einbildungskraft, und bey de mit einem starken Gedächtnisse verbindet, gleich als wenn diese Fähigkeiten einander von Na tur gar nicht entgegen wären.
[
↔] Dieses nun wäre das rechte
Genie, wel ches zum Predigtamte erfordert würde, wenn es viele dergleichen Köpfe gäbe. Wir werden aber
am angeführten Orte beweisen, daß ihrer eine so kleine Anzahl
ist, daß ich unter tausend
Genies, die ich alle untersucht, nicht mehr als ein einziges gefunden habe. Man wird also ei ne andere Art des
Genies aufsuchen
müssen, die zwar weniger vollkommen, aber doch nicht so selten, als die vorhergehende ist. Zur Errei chung dieser Absicht muß man wissen, daß die Aerzte und Weltweisen*) über das wahre Tem perament und über
die wahren Eigenschaften des Essigs, der verbrannten Galle, und
der Asche
196
höchst uneinig sind, weil
sie sehen, daß diese Stü cke bald die Wirkung
der Wärme, bald die Wir kung der Kälte haben.
Sie theilen sich daher in ganz verchiedeneverschiedene Meynungen, wovon aber so viel ausgemacht ist, daß alle
verbrennliche Sachen, wel che das Feuer
verdorben und verzehrt hat, von ver schiedenem
Temperamente sind. Jhr größter Theil ist kalt und trocken;
gleichwohl aber sind noch andere Theile damit vermischt,
welche so fein und zart sind, und so viel Wärme und Hitze bey sich haben, daß sie sich, wenn sie auch nicht in
Menge vorhanden sind, dennoch weit wirksamer erzeigen, als alles
das Uebrige. Daher sehen wir auch, daß der Essig und die verbrannte Galle das Jrdische auflösen, und
gleichsam wegen ihrer Wärme gährend, nicht aber hart machen,
obgleich der vornehmste Theil dieser Flüssigkeiten kalt ist.
[
↔] Hieraus also ist der Schluß zu ziehen, daß
diejenigen, bey welchen die schwarze verbrannte Galle herrscht,
einen grossen Verstand mit viel Einbildungskraft verbinden;
hingegen aber ha ben sie alle am Gedächtnisse
Mangel, weil die verbrannte Galle alles in dem Gehirne
austrock net und dürre macht. Diese nun
schicken sich am besten zum Predigen, und sind wenigstens nach den ganz Vollkommenen, die wir
vorhin genannt haben, die besten. Denn ob ihnen gleich das Gedächtniß fehlt, so ist doch die ei gene Erfindungskraft, die sie besitzen, so stark, daß ihnen eben diese Erfindungskraft anstatt des Ge
dächtnisses und der
Erinnerung dienet, in dem sie ihnen Bilder und Gedanken, die sie zum Reden
nöthig haben, an die Hand giebt, so daß sie sonst nicht des
geringsten benöthiget sind. Hierauf können sich diejenigen nicht
verlassen, welche ihre Predigt von Wort zu Wort aus wendig lernen müssen, weil sie sich, wenn sie
ein mal aus dem Gleisse kommen, auf
keinerley Art wieder zurechte helfen können, indem ih nen alle Materie weiter fortzufahren fehlt.
[
↔] Daß aber die verbrannte schwarze Galle diese
verschiedene Beschaffenheit in der That ha be,
und dem Verstande mit Kälte und Trocken heit,
der Einbildungskraft aber mit Wärme auf helfe,
dieses drückt
Aristoteles folgender Ge stalt aus: δια μεν
το
ἀνωμαλον
ἐιναι
την
δυναμιν
της
μελαινης
χολης, ἀνωμαλοι
ἐι- σιν οἱ
μελαγχολικοι!και
γαρ
ψυχρα
σφο- δρα
γινεται,
και
θερμη. Das ist:
die Me lancholici
sind ihrer Complexion nach verschie den und
sich selber ungleich, weil die verbrann te
schwarze Galle sehr ungleich ist, und bald ausserordentlich warm,
bald ausserordentlich kalt werden kann.
[
↔] Die Kennzeichen, woran man es erkennet, welche
Leute dieses Temperament haben, sind sehr deutlich. Die Farbe
ihres Gesichts ist schwärz lichgelb und
aschebleich; *) die Augen sind fun=
197
kelnd, und von ihnen trift
das Sprichwort ein: es ist ein Mensch, der Blut im Auge hat;
ihr Haupthaar ist schwarz, oder sie sind kahl; das wenige, was sie vom Fleische haben, ist spröde
und voller Haare; ihre Adern sind weit; sie selbst sind ungemein
gesprächig und gesellschaft lich, dabey aber
wollüstig, hochmüthig, stolz, ver leugnerisch,
listig, falsch, ungerecht, geneigt Uebels zu thun, und besonders
rachgierig. Dieses aber nur alsdann, wenn sich die schwarze Galle
ent zündet; wenn aber die Kälte darinnen
wieder überhand nimmt, so entstehen auch sogleich die gegenseitigen Tugenden wieder in
ihnen; sie sind keusch, demüthig, haben Furcht und Scheu vor GOtt, erzeigen sich mildthätig und barmherzig, und kommen unter vielen Seufzern und Thrä nen zur Erkenntniß ihrer Sünden. Sie leben daher in beständigem
Kampfe und Streite, oh ne die geringste Ruhe
und Stille zu geniessen, indem in ihnen bald das Laster, und bald die Tugend überwindet.
Dieser Fehler aber un geachtet sind sie dennoch
sehr sinnreich, und zum Predigtamte, überhaupt aber zu allen
Welt händeln, wobey Vorsichtigkeit und
Klugheit er fordert wird, ungemein geschickt,
weil sie sowohl einen grossen Verstand haben, die Wahrheit ein zusehen,
als auch eine starke Einbildungskraft, die sie in den Stand
setzt, die erkannte Wahr heit den Menschen
einzureden. Wenn man hieran noch zweifelt, so darf man nur auf
das Achtung geben, was GOtt that, als er einen
Menschen schon in dem Leibe seiner Mutter tüch tig machen wollte, einmal der Welt die gesche hene Zukunft seines Sohnes zu predigen, und ihr zu beweisen, Christus sey
derjenige Messias, welcher in dem Gesetze und in den Propheten wäre verheissen worden. *) Sehen wir nicht, daß er bey ihm die verbrannte schwarze
Galle, nebst der Cholera, muste herrschen lassen, weil er ihn nach dem ordentlichen Laufe der Natur zu
einem Menschen von grossem Verstande und eben so grosser
Einbildungskraft machen woll te? Daß sich
dieses in der That so verhal te, wird man gar
leicht erkennen können, wenn man überlegt, mit welchem Feuer, und
mit welcher Wuth, er anfangs die Kirche ver folgte, und wie schmerzlich
es den Synago gen fiel, als er sich bekehrte,
und sie einen Mann von solcher Wichtigkeit verloren, welcher den
ge genseitigen Theil durch seinen Beytritt
unglaub lich verstärkte. Gleichfalls erkennt
man es aus den geschwinden und hitzigen Antworten, deren er sich in seinen Reden, besonders aber in seiner Vertheidigung vor den Proconsuls und den übri gen Richtern, die ihn hatten in Verhaft nehmen lassen,
bediente, und wodurch er sowohl seine ei gene
Sache, als die Sache des ganzen christli
198
chen
Namens mit solcher Geschicklichkeit und Klugheit führte, daß er
sie alle überzeugte. Auch fehlte es ihm an der Sprache, und mit dem Reden konnte er
sich nicht allzuwohl be helfen, welches
Aristoteles gleichfalls für ein
Merkmal angiebt, woran man diejenigen erken net, bey welchen die schwarze verbrannte Gal le herrscht.
[
↔] Selbst die Laster, die er, seinem eigenen Ge ständnisse nach, vor seiner Bekehrung an sich gehabt hat, zeigen, daß er von diesem Tempera mente müsse gewesen seyn. Er war ein Läste rer, ein Verläumder, ein Verfolger; welches alles aus der allzugrossen Hitze entstehet. Der
allerunwidersprechlichste Beweis aber, daß er von
cholerischmelancholischer Beschaffenheit müs se
gewesen seyn, ist aus dem beständigen Strei te
und Kampfe herzunehmen, der, wie er selbst bekennet, innerlich
zwischen dem bessern und schlechtern Theile seiner selbst
unaufhörlich dauer te.
Jch sehe
aber ein ander Gesetz, spricht er Röm. VII, 23,
in
meinen Gliedern, das da widerstrebet dem Gesetze in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Dieser innerliche Streit aber, wie wir nach der Meynung des
Aristoteles bewiesen haben, ist bey denen etwas sehr
gewöhnliches, in deren Temperamente die verbrannte schwarze Galle die Oberhand hat. Es ist zwar wahr, man
kann diese Stelle sehr wohl anders erklären,
und sie wird auch in der That anders erklärt, nämlich so, daß dieser Streit aus der Unord nung entstanden sey, welche die Erbsünde zwi schen dem Geiste und dem
Fleische verursachet hat. Da er aber so gar groß und anhaltend
gewesen ist, so glaube ich, daß er auch aus der schwar zen Galle habe entstehen können, als an
welcher
Paulus in der Einrichtung seiner Natur einen Ueberfluß hatte. Der König und Prophet
Da vid hatte gleichfalls an
der Erbsünde Antheil, und gleichwohl beklagt er sich nicht so
heftig dar über, als der heil.
Paulus: er sagt vielmehr, daß
der geringere Theil seiner selbst sehr wohl mit seiner Vernunft übereinstimme, wenn er sich in
seinem GOtt erfreuen wolle.
Mein Leib und Seele, sagt er im vier und
achtzigsten sei ner Lieder,
freuen sich in dem lebendigen GOtt. Wie wir
aber in dem vierzehnten Hauptstücke erweisen werden, so hatte
David das beste Temperament von
allen, welches die Natur den Menschen
nur immer geben kann: und von diesem werden wir mit dem einmüthigsten Beyfalle aller Weltweisen dar thun, daß es den
Menschen gemeiniglich geneigt zur Tugend mache, ohne daß ihm das
Fleisch sehr widerstreitet.
[
↔] Diejenigen
Genies also, welche man zu Predigern erwählen muß, sind vornämlich
sol che, welche einen grossen Verstand mit einer star ken Einbildungskraft und einem starken Gedächt nisse verbinden, und von deren Merkmalen wir
in dem vierzehnten
Hauptstücke handeln wer den. Wo aber diese
fehlen, muß man sich an denen begnügen lassen, bey welchen die
ver brannte schwarze Galle herrscht. Diese
haben einen grossen Verstand und eine grosse Einbil dungskraft, allein sehr wenig Gedächtniß, daß
sie folglich nicht viel Worte machen, und sich durch eine grosse Beredsamkeit bey ihren Zuhörern in
Ansehen setzen können. Die dritte Stelle bekom men diejenigen
Genies, welche einen grossen Verstand, aber wenig Einbildungskraft
und eben so wenig Gedächtniß besitzen. Diese werden unangenehme Prediger, aber doch Prediger der Wahrheit seyn. Die letzten endlich (denen aber ich wenigstens kein Predigtamt anvertrauen
würde,) sind diejenigen, welche viel Einbildungs kraft mit einem starken Gedächtnisse verbinden, allein am
Verstande Mangel leiden. Um diese ist allezeit ein grosses
Gedränge, und ihre Zuhö rer bleiben allezeit in
einer süssen Erwartung: ehe man es sich aber versieht, so sind
sie in die Jnquisition verfallen, weil sie (Rom. XVI.)
durch süsse Worte und prächtige Reden die
unschuldigen Herzen verführen.
Eilftes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß der theoretische Theil der Rechtsgelehrsam keit dem Gedächtnisse, der praktische Theil aber, nämlich die Verrichtung der
Advocaten und Richter, dem Ver stande, und die
Regierung des Staats der Einbildungskraft
zugehöre.
[
↔] Es muß nothwendig etwas darunter
verborgen liegen, daß, da in der spanischen Sprache der Name eines
Litteratus die allgemeine
Be nennung ist, welche einem jeden Gelehrten, er mag ein Theolog oder ein Rechtsgelehrter, oder
ein Arzt, oder ein Dialektiker, oder ein Philo soph, oder ein Redner, oder ein Meßkünstler, oder ein Astrolog seyn, zukömmt: gleichwohl,
wenn man sagt: der und der ist ein
Littera tus, alle und jede einmüthig einen Rechtsge lehrten darunter verstehen, gleich als hätte
nur dieser und kein andrer das Recht, diesen Namen zu führen. Ob nun gleich dieser Zweifel mit sehr
wenig Mühe aufzulösen wäre, so wird es doch nöthig seyn, wenn wir
die rechte Auflösung ertheilen sollen, vorher zu wissen, was das
Ge setze sey, und was diejenigen zu thun
verbunden sind, welche sich dieser Wissenschaft
befleißigen, wenn sie dieselbe einmal als Richter oder Advo
caten
ausüben wollen? Das Gesetz, wenn man es wohl überlegt, ist nichts
anders, als der ver nünftige Wille des
Gesetzgebers, wodurch er er klärt und bestimmt,
auf was für Art er dasje nige, was gemeiniglich
in einem Staate vorzu fallen pflegt, wolle entschieden haben, damit sei ne Unterthanen im Frieden leben, und wissen können, was sie thun und was sie lassen sollen.
Jch sage, ein vernünftiger Wille; weil es nicht genug ist, daß ein König oder ein Kayser (wel che die wirkenden Ursachen des Gesetzes sind) seinen Willen auf irgend eine Art erkläre, wenn
er ein Gesetz seyn soll. Denn, wenn dieser Wille nicht auch
billig und gerecht ist, so kann er unmöglich weder den Namen noch
die Ver bindlichkeit eines Gesetzes haben, eben
so wenig, als man den einen Menschen nennen kann, wel chem die vernünftige Seele fehlt. Es ist da her ausgemacht,
daß die Könige ihre Gesetze mit Zuziehung weiser und verständiger
Männer ma chen müssen, damit sie nichts, als
was recht, bil lig und gut ist, zur Absicht
haben, damit sie die Unterthanen desto williger aufnehmen, und
de sto eher verbunden sind, sie zu halten,
und zu erfüllen. Die Causa materialis der Gesetze muß darinnen bestehen, daß sie über Fälle gemacht
werden, welche sich nach dem Laufe der Natur in einem Staate
zuzutragen pflegen, nicht aber über unmögliche oder über sehr
seltene Fälle.
[
↔] Die Endursache der Gesetze ist, das mensch liche Leben zu ordnen, und
einem jeden zu zei
gen, was er thun und was er lassen soll, damit der Staat dadurch, daß alle Mitglieder dessel ben ihre Pflicht beobachten, in Ruhe und Frie de erhalten werde. Diese Absicht zu
erreichen, wird unumgänglich erfordert, daß die Gesetze in klaren, nicht in ungewissen, zweydeutigen und
dunkeln Worten, ohne verborgene Zeichen und Verkürzungen müssen abgefaßt werden, damit sie
einem jeden, der sie lieset, so verständlich seyn können, daß er
sie eben so leicht im Gedächtnis se behalten,
als begreifen kann. Und wenn end lich niemand
seine Unwissenheit soll vorschützen können, so müssen sie
öffentlich seyn kund gemacht worden, damit derjenige, welcher sie
übertritt, mit Recht bestraft werden kann.
[
↔] Jn Ansehung nun der genauen Sorgfalt, welche gute
Gesetzgeber darauf gewandt haben, daß ihre Gesetze gerecht und
deutlich seyn möch ten, haben alle Advocaten
und Richter diese Vorschrift: nemo in
actionibus vel iudiciis suo sensu vtatur, sed legum
auctoritate duca- tur. *) Das ist: kein Richter und Advocat soll seinem eigenen
Sinne folgen; keiner soll sich da mit abgeben,
daß er untersuchen wolle, ob das Gesetz gerecht oder ungerecht
sey; keiner soll ihm
199
einen andern Sinn geben,
als den, welchen die Buchstaben und Worte nothwendig
erfordern. Hieraus folgt also, daß die Rechtsgelehrten den Text des Gesetzes grammatikalisch zergliedern,
und keine andere Bedeutung daraus ziehen sol len, als die, welche die angestellte Zergliederung mit sich
bringt.
[
↔] Diese Lehre vorausgesetzt, wird ein jeder die
Ursache leicht einsehen können, warum ein Rechts verständiger insbesondere ein Litteratus (letrado) genannt werde. Weil er nämlich a letra
dado, das ist, dem Buchstaben ergeben seyn muß; weil es ihm nicht frey steht, eine Auslegung des
Gesetzes nach seinem eigenen Gutdünken anzu nehmen, sondern weil er in allen Stücken dem ausdrücklichen
Buchstaben folgen muß.
[
↔] Auch die größten Rechtsgelehrten, weil sie dieses
wohl eingesehen haben, unterstehen sich nicht, etwas zu behaupten
oder zu leugnen, was zur Entscheidung eines vorhabenden Falles
die nen könne, wenn sie nicht ein Gesetz vor
sich ha ben, welches mit ausdrücklichen Worten
eben das sagt, was sie sagen. Wenn sie ja einmal nach ihrem Kopfe reden, und ihre Vernunft und Einsicht vorwenden, die sie aber durch
keinen Ausspruch des Gesetzes unterstützen können; so thun sie es doch nicht anders, als voller Furcht und Schaam, so daß sie kein Sprichwort
öfterer im Munde führen, als dieses: erubescimus dum sine lege loquimur. Wir schämen uns,
wol len sie sagen, unsere Entscheidung oder
unsern
Rath ohne Anführung
eines Gesetzes zu geben, welches das, was wir entscheiden oder
rathen, ausdrücklich bestimmt.
[
↔] Dieser Bedeutung nach können die Gottes gelehrten keine Litterati heissen, weil in der heil. Schrift (1. Cor. III.)
der
Buchstabe tödtet, der Geist aber
lebendig macht. Jhr Buch stabe ist
geheimnißvoll, voller Figuren und Bil der, dunkel und nicht einem jeden
verständlich. Jhre Worte und Redensarten haben ganz an dere Bedeutungen, als die gemeinen dreyer
Spra chen Kundige damit zu verknüpfen
pflegen. Derjenige also, welcher eine grammatikalische Zer gliederung darinnen vornehmen, und nur den Sinn daraus ziehen wollte, welchen diese Zer gliederung mit sich bringt, würde in nicht we nig Jrrthümer verfallen.
[
↔] Auch die Aerzte haben keinen Buchstaben, dem sie
sich unterwerfen müßten. Denn wenn
Hippokrates, oder
Galenus, oder ein anderer von den Hauptgelehrten in
dieser Wissenschaft etwas sagen und behaupten, die Vernunft
aber und Erfahrung beweisen das
Gegentheil davon, so ist niemand verbunden, ihnen zu folgen;
weil in der Arzneykunst Vernunft und Erfahrung von weit grösserm Gewichte sind, als das Anse hen. Bey den Gesetzen hingegen ist ihr Anse hen, und das, was sie ausdrücklich sagen, von weit grösserer
Stärke und grösserem Nachdru cke, als alle
Gründe, die man für das Gegen theil vorbringen
könnte.
[
↔] Bey so gestalten Sachen also ist uns der Weg
eröfnet, auf welchem wir gehen müssen, wenn wir zeigen wollen,
was für
Genies ei gentlich die Gesetze erfordern. Denn
wenn der Rechtsgelehrte seinen Verstand und seine Einbil dungskraft genau an das halten soll, was das Gesetz sagt; wenn er nichts davon übergehen,
und, wenn er nichts hinzusetzen soll: so ist es offenbar, daß
diese Wissenschaft von dem Gedächt nisse
abhänget, und es bey seinem Studiren dar auf
ankömmt, daß er die Anzahl der Gesetze, welche das Recht enthält,
wisse, daß er sich auf jedes leicht besinnen, und seinen Jnhalt
gleich aus dem Gedächtnisse anführen könne, damit er bey jedem Falle, der ihm vorkommen könnte, sa gen kann, ob ein Gesetz da sey, welches ihn ent scheide, und auf was für Art es ihn entscheide.
[
↔] Zu einem Rechtsgelehrten wäre also, nach meiner
Meynung, diese Art des
Genies, wel che ein grosses Gedächtniß aber wenig Verstand hat, weit geschickter, als die, welche mit einem
grossem Verstande ein schwaches Gedächtniß ver bindet. Denn wenn er seinen Verstand und seine Fähigkeit nicht
brauchen soll; wenn er hingegen von allen Gesetzen, die doch so
unzäh lig und von einander so verschieden
sind, von allen Ausflüchten, Einschränkungen und Erwei terungen Bescheid zu geben wissen muß; so
ist es besser, daß er es auswendig weiß, was von allen Fällen in den Gesetzen wirklich bestimmt
wird, als daß er mit seinem Verstande unter
sucht, was davon hätte können bestimmt
wer den. Das erstere ist nothwendig, das
andere ist schädlich; weil in den Gerichten auf keines Meynung, sondern einzig und allein auf die Ent scheidung des Gesetzes gesehen wird. Da also die Gesetze so ausdrücklich sind, und die Rechts gelehrten ihren Verstand so genau an den Wil len des Gesetzgebers binden müssen, daß sie ih ren Ausspruch nicht thun dürfen, wenn sie
nicht die Entscheidung des Gesetzes ganz gewiß wissen; so vergönnt es ihnen der Pöbel, daß sie, wenn
ein Kläger zu ihnen kömmt, sagen dürfen: ich will erst meine
Bücher dieserwegen zu Ra the ziehen. Wenn
dieses hingegen ein Arzt sagte, wenn man ihn um seinen Rath und
um seine Hülfe in einer Krankheit ersuchte; oder, wenn es ein Gottesgelehrter sagt, wenn ihm eine
Gewissensfrage vorgelegt wird, so würde man sie gewiß für sehr
unerfahrne Männer in ihrer Wissenschaft halten, und zwar aus
diesem Grunde, weil diese zwo Wissenschaften auf all gemeinen
Grundsätzen und Erklärungen beru hen, welche
alle besondere Stücke in sich enthal ten. Jn
der Rechtsgelehrsamkeit aber hat je der
besonderer Fall ein besonderes Gesez, ohne daß es mit dem
folgenden eine Verwandschaft habe, wenn sie auch schon beyde
unter einem Ti tel stehen. Derjenige also, der
sich darauf legt, muß nothwendig ein jedes Gesetz insbesondere studiren, und es genau im Gedächtnisse behalten,
wo er es mit keinem andern vermengen muß.
[
↔] Hierwider aber erinnert
Plato*) etwas, wel ches gewiß eine sehr grosse
Aufmerksamkeit ver dienet. Er sagt nämlich, zu
seiner Zeit habe man denjenigen Rechtsgelehrten für verdächtig gehalten, welcher aus dem Gedächtnisse viel Ge setze habe anführen können, weil man aus der Erfahrung gesehen, daß ein solcher nicht eben ein so guter Richter oder Advocat wäre, als es sei ne Prahlerey wohl zu versprechen scheine.
Plato mag die Ursache hiervon wohl nicht
eingesehen haben, weil er sie an einem Orte, wo sie sich
voll kommen hinschickt, nicht angiebt: er
wußte es bloß aus der Erfahrung, daß diejenigen Rechts gelehrten, deren Kopf am meisten mit den Ge setzen angefüllt sey, wenn sie eine Sache
verthei digen oder entscheiden sollten,
diese Gesetze sehr selten genau anzuwenden wüßten.
[
↔] Die wahre Ursache von dieser besondern Er fahrung anzugeben, ist nach meiner Lehre nicht schwer; vorausgesetzt nämlich, daß das Gedächt niß dem Verstande zuwider ist, und daß man
zur wahren Erklärung der Gesetze, zu ihrer ge hörigen Einschränkung oder Erweiterung, zu ih rer Vergleichung mit allen Einwendungen und Schwierigkeiten,
nicht anders als durch Folgern, durch Schliessen, durch Urtheilen
und Wählen gelangen könne. Diese Verrichtungen aber sind Verrichtungen des Verstandes; und
derjenige Gelehrte, welcher ein starkes Gedächtniß hat, kann unmöglich so wohl darzu aufgelegt seyn, als
ein anderer.
200
[
↔] Das Gedächtniß, wie wir schon in dem Vor hergehenden bewiesen haben, hat in dem Kopfe kei ne andere Verrichtung, als die Abdrücke und
Bil der der Dinge wohl zu bewahren: der
Verstand aber und die Einbildungskraft sind diejenigen Seelen kräfte, welche mit diesen Bildern und Abdrücken wirken. Wenn also ein Rechtsgelehrter seine ganze Wissenschaft in dem Gedächtnisse hat, es fehlt ihm aber an dem
Verstande und an der Einbildungs kraft; so hat
er zu dem Amte eines Richters oder eines Advocaten nicht mehr
Geschicklichkeit, als der Codex selbst oder die Digesta darzu
haben, wel che zwar auch alle Gesetze und
Vorschriften des Gesetzes in sich fassen, gleichwohl aber keine
Kla geschrift oder ein Urtheil abfassen
können.
[
↔] Uebrigens aber, ob es gleich wahr ist, daß je des Gesetz so seyn soll, wie es die gegebene Erklä rung erfordert; so ist es doch ein sehr grosses
Wun der, wenn
man die Sachen so vollkommen findet, als man sie sich in dem
Verstande vorzustellen pflegt. Daß das Gesetz gerecht und billig
sey; daß es sich über alle Fälle, welche sich zutragen können, erstrecke; daß es in den deutlichsten Wor ten abgefast sey; daß es keine Einwendung oder Zweifel leide; daß man es nicht mehr als auf eine Art erklären könne: alles dieses kann nicht alle zeit Statt finden, weil das Gesetz ein Werk des menschlichen Verstandes ist, welcher die Macht
nicht hat, allem und jedem, was etwa noch vor fallen möchte, vorzubeugen. Die tägliche Er fahrung lehret es, daß gar oft ein Gesetz, wenn
es auch mit noch so
viel Vorsicht und Klugheit ist
gemacht worden, in kurzer Zeit wieder muß aufgehoben werden; weil
sich, nachdem man es kund gemacht hat, tausend Schwierigkeiten
und Unbequemlichkeiten darbey ereignen, welche nie mand in dem Rathe vorher sehen konnte. *) Die Gerechtigkeit erinnert also Könige und Kayser, daß sie sich nicht schämen sollen, Gesetze zu ändern, oder zu bessern, weil sie Menschen sind so gut
als andere, weil es folglich kein Wunder ist, daß sie irren;
besonders da kein Gesetz in der Welt möglich ist, das mit
ausdrücklichen Worten alle Umstände benennen könnte, die bey dem
Falle, welchen es entscheidet, etwa vorkommen können; indem die Arglist der Boshaften in Erfindung
übler Handlungen weit sinnreicher ist, als die Klugheit der Gerechten seyn kann, diese üblen
Handlungen vorher zu sehen, und ihre Entschei dung zu bestimmen. Daher heißt es auch: (l
nec leges ff. de leg.) neque leges, neque senatusconsulta ita
scribi possunt, vt omnes casus, qui quandoque inciderint,
comprehen- dantur: sed sufficit ea, quae plerumque ac- cidunt, contineri. Das heist: es ist unmöglich, die Gesetze so abzufassen, daß sie sich auf alle
Fälle, welche etwa vorfallen könnten, erstrecken sollten: es ist
genug, wenn sie diejenigen be stimmen, die sich
gemeiniglich zu ereignen pfle
201
gen.
Wenn sich aber ja andere ereignen, wo von das
Gesetz mit ausdrücklichen Worten nichts sagt; so ist das Recht
nicht so gar ohne alle Re geln und Grundsätze,
daß der Richter oder Advo cat, wenn er einen
guten Verstand hat, womit er eines aus dem andern folgern kann,
nicht einen Ort finden sollte, woraus er die wahre Entschei dung oder Vertheidigung herleiten könnte.
[
↔] Da also mehr Fälle als Gesetze sind, so ist es
nothwendig, daß der Richter oder Advocat einen grossen Verstand
habe, wodurch er neue Gesetze zu machen geschickt sey. Und er
kann diese nicht machen, wie er will, sondern er muß sie so machen, daß sie mit den übrigen Gesetzen
übereinstimmen, und ohne Widerspruch in das Recht können
aufgenommen werden. Hierzu aber ist kein Rechtsgelehrter, welcher
ein starkes Gedächtniß besitzt, aufgelegt; weil diesem alles wohl geschnitten und gekauet in den Mund ge geben werden muß, wenn er in seiner Wissen schaft einige Geschicklichkeit haben soll. So viel er auch Gesetze in seinem Kopfe hat, so geht es
ihm doch wie einem Trödler, welcher in seiner Bude eine grosse
Menge Kleider zum Verkau fe aushängen hat:
kömmt jemand, der eins kau fen will, so läßt er
ihn eins nach dem andern anversuchen; wenn er sie ihm endlich
alle hat anversuchen lassen, und es paßt keins, so läßt er den Käufer wieder so gehen, wie er gekom men war. Ein Rechtsgelehrter hingegen, wel chem es an Verstande nicht fehlt, ist wie ein
geschickter Schneider,
welcher die Scheere in der Hand und das Tuch zu Hause hat; er
nimmt einem jeden das Maaß und schafft einem jeden ein Kleid, wie er es verlanget. Die Scheere
eines guten Advocaten ist ein scharfer Verstand, womit er jedem Falle das Maaß nimmt, und ihm
dasjenige Gesetz anpaßt, welches ihn ent scheidet; wenn er aber kein ganzes Gesetz fin det, welches ihn mit ausdrücklichen Worten ent scheidet, so macht er ihm aus hier und da zu sammengenommenen Stücken des Rechts ein Kleid, welches zu
seiner Vertheidigung die nen muß.
[
↔] Rechtsgelehrte von einem solchen
Genie, und von solcher Fähigkeit sollten eigentlich nicht Litterati heissen, weil sie keine buchstäbliche Zer gliederung anstellen, und sich nicht an die
aus drücklichen Worte des Gesetzes binden.
Sie scheinen Gesetzgeber und Ausleger des Rechts zu seyn, deren Hülfe die Gesetze selbst nöthig ha ben. Denn wenn sie Macht und Gewalt ha ben, sie zu erklären, sie einzuschränken, sie zu er weitern, ihre Ausnahmen und Einwendungen fest zu setzen, sie zu verbessern und zu ändern;
so können, wir sie allerdings, wie wir schon ge sagt haben, Gesetzgeber nennen.
[
↔] Von einer solchen Wissenschaft ist der Aus spruch (ff. de legibus et sen. consult.
et lon- ga consuet.) zu verstehen: scire leges non hoc est, verba earum tenere, sed vim ac
pote- statem habere. Das ist: man glaube nicht,
daß die Gesetze verstehen,
so viel heisse, als, die Worte, in welchen sie abgefaßt sind, im
Ge dächtnisse haben; sondern nur der
versteht die Gesetze, welcher weiß, wie weit sich ihre Ver bindlichkeit erstreckt, und wie weit ihre
Entschei dung gehet, weil sie verschiedenen
Veränderun gen unterworfen sind, welche sich
aus den Um ständen der Zeit, der Person, des
Orts, der Art und Weise, des Gegenstandes und der Ursache ergeben. Alle diese Umstände verändern die
Bestimmung des Gesetzes, so daß derjenige Richter oder Advocat,
welchem es an Verstan de fehlt, dasjenige
entweder durch Erweiterun gen oder
Einschränkungen geschickt heraus zu zie hen,
was mit ausdrücklichen Worten in dem Ge setze
nicht gesagt wird, nicht wenig Fehler bege hen
muß, weil er sich nach nichts als nach dem Buchstaben richtet. Es
heißt daher: (Gloss. in l. damni §.
si is ver. aliquas. de damno infecto) verba legis non sunt
capienda iudaice. Das ist: die Worte des Gesetzes müssen
nicht auf jüdische Art erklärt werden. Diese jüdische Art aber bestehet darinnen, daß man eine gramma tikalische Zergliederung damit anstellt, und den buchstäblischen Sinn herauszieht.
[
↔] Aus dem also, was wir bisher gesagt ha ben, ist zu schliessen, daß die Advocatur ein Werk des Verstandes seyn müsse, und daß derje nige Rechtsgelehrte, welcher ein starkes Gedächtniß besitzt, zum Entscheiden und Vertheidigen wegen
der Unverträglichkeit dieser zwo Fähigkeiten nichts
taugen könne; als welches eben die
Ursache ist, warum, wie
Plato anmerkt, diejenigen Rechts gelehrten, welche viel Gesetze im Kopfe haben, die Verklagten
weder wohl zu vertheidigen, noch das Recht gehörig anzuwenden
wissen. Nur eine Schwierigkeit ereignet sich noch bey dieser
Leh re, welche nicht geringe zu seyn
scheinet. Wenn der Verstand es seyn
soll, welcher einem jeden Falle dasjenige Gesetz anweiset,
welches ihn eigentlich entscheidet, und zwar vermittelst des
Unterschei dens, des Einschränkens, des
Ausdehnens, des Schliessens und des Beantwortens der
gegenseiti gen Einwendungen; wie ist es
möglich, daß der Verstand dieses thun kann, wenn ihm das Ge dächtniß nicht das ganze Recht vorlegt, da
es doch, wie wir oben gesagt haben, ein ausdrückli cher Befehl ist: nemo in
actionibus vel iu- diciis suo sensu vtatur, sed legum
auctorita- te ducatur? Er muß folglich alle Gesetze
des Rechts vorher im Kopfe haben, ehe er dasjeni ge herausziehen kann, welches sich für den
vor habenden Fall schicket. Denn ob wir
gleich ge sagt haben, daß ein Advocat, dem es
an einem durchdringenden Verstande nicht fehle, vielmehr der Herr der Gesetze sey; so müssen doch alle
seine Reden und alle seine Beweise auf die Grund sätze dieser Wissenschaft gegründet seyn, oder sie werden weder
Ansehen noch Nachdruck ha ben. Dieses aber zu
thun, muß er nothwendig ein starkes Gedächtniß besitzen, welches
eine so grosse Anzahl von Gesetzen, als in den Büchern
aufgezeichnet sind, in sich
fassen und behal ten könne.
[
↔] Dieser Einwurf beweiset so viel, daß ein Advocat,
wenn er vollkommen seyn soll, mit ei nem grossen Verstande auch ein starkes Gedächt niß verbinden müsse: und dieses gestehe ich
zu. Was ich aber eigentlich sagen will, ist dieses, daß, da ein grosser Verstand sich bey einem star ken Gedächtnisse, ihrer natürlichen Unverträglich keit wegen, nicht befinden kann, es besser sey,
wenn der Advocat viel Verstand und wenig Gedächt niß hat, als wenn er ein starkes Gedächtniß
und einen schwachen Verstand besitzet. Dem Man gel des Gedächtnisses kann man durch vielerley Hülfsmittel abhelfen, durch Bücher, durch Ta bellen, durch Register und andere dergleichen bequeme Erfindungen: wenn aber der Verstand
fehlt, so kann dieser Fehler unmöglich auf irgend eine Weise gut
gemacht werden.
[
↔] Uebrigens sagt
Aristoteles, *) daß Leute von grossem Verstande, ob sie gleich am Ge dächtnisse Mangel haben, eine sehr starke
Erin nerungskraft besitzen, wodurch sie von
einer je den Sache, die sie nur einmal gesehen,
gehört oder gelesen haben, einen gewissen verwirrten Be grif behalten, über den sie so lange
nachdenken, bis sie ihn wieder in das Gedächtniß zurück bringen. Gesetzt aber, daß man nicht so viel
Hülfsmittel hätte, wodurch man dem Verstan
202
de das
gesammte Recht vorlegen kann; so grün den sich
doch alle Gesetze so sehr auf die Ver nunft,
daß sie von den Alten deswegen, wie
Plato sagt, die Klugheit und die Vernunft selbst sind genannt worden. Ein
Richter oder Advo cat also, wenn er einen
grossen Verstand hat, wird im Entscheiden und im Vertheidigen,
ob er das Gesetz gleich nicht im Gedächtnisse vor sich sieht, dennoch wenigmal fehlen, weil er das jenige Werkzeug besitzt, womit Kayser und Kö nige die Gesetze gemacht haben. Geschieht es denn nicht auch sehr oft, daß ein Richter, dem es an
Genie nicht fehlt, den Ausspruch thut, ohne daß er die
Entscheidung des Gesetzes weiß, und hernach diesen Ausspruch in
den Büchern wirklich findet? Eben dieses bemerkt man nicht selten an guten Advocaten, wenn sie dann und
wann einen Rath auf gutes Glück ertheilen.
[
↔] Die Gesetze und Vorschriften des Rechts, wenn man
sie wohl betrachtet, sind der Ursprung und die Quelle, aus
welchem die Advocaten die Beweise hernehmen müssen, um dasjenige,
was sie behaupten, gültig zu machen. Diese Verrich tung aber ist unwidersprechlich eine Wirkung des Verstandes, so daß der Advocat, wenn ihm diese Fähigkeit
fehlt, oder wenn er sie nur in ei nem schwachen
Grade besitzt, nimmermehr ein Argument zu machen im Stande seyn
wird, wenn er auch das ganze Recht im Kopfe hät te. Um sich hiervon zu überzeugen, darf man nur auf diejenigen Achtung geben, welche sich auf
die Beredsamkeit legen, ohne das
Genie darzu zu haben. Wenn sie auch die Topika des
Ci cero (welches die Quellen sind,
woraus man die Geschicklichkeit, die Beweise für jeden Satz,
er mag bejahet oder verneinet werden, gehörig ein zurichten, ziehen muß,) von Wort zu Wort auswendig lernen; so werden sie doch nimmer mehr einen Schluß zu machen im Stande seyn. Andere hingegen, wenn sie viel
Genie und Fä higkeit haben, machen, ohne ein Buch angese hen, oder die Topika jemals studirt zu haben, hundert Schlüsse hinter
einander weg, welche sich alle vollkommen wohl zur Sache
schicken.
[
↔] Eben so geht es mit den Juristen, welche ein
starkes Gedächtniß haben, und ohne Mühe das ganze Recht hersagen
können. Aus der un zähligen Menge von Gesetzen
werden sie nicht ein Argument herauszuziehen wissen, welches
zu ihrem Vorhaben dienlich seyn könnte. Hinge gen giebt es andere, welche nichtsweniger als in Salamanca fleissig gewesen sind, und weder ei nen Gradum noch Bücher haben; gleichwohl
aber als Advocaten Wunder thun.
[
↔] Hieraus wird man begreifen, wie viel dem Staate an dieser Wahl und Prüfung der
Ge nies zu den Wissenschaften gelegen sey; indem einige ohne alle
Regeln der Kunst von sich sel ber einsehen und wissen, was ihnen zu thun zu komme; andere hingegen, trotz aller
Vorschrif ten und Grundsätze, womit sie
angefüllt sind, weil sie die Fähigkeit, welche die Praxis erfor
dert,
nicht haben, tausend Fehler begehen. Da nun also das Richten und
Vertheidigen ohne Unter scheiden, ohne Folgern,
ohne Schliessen und Wäh len nicht geschehen
kann, so ist es nothwendig, daß derjenige, welcher sich auf die
Rechtsgelehrsamkeit legt, einen guten Verstand habe, weil alle
diese Ver richtungen von dem Verstande, nicht
aber von dem Gedächtnisse oder der Einbildungskraft abhängen.
[
↔] Nunmehr wäre nöthig, auch zu sagen, wie man es
erkennen solle, ob der Knabe diese Art des
Genies besitze oder nicht: wenn wir nicht vorher noch ausmachen
müßten, was für Eigen schaften der Verstand
habe, und was für Ver schiedenheiten bey ihm
Statt finden, damit wir es recht genau bestimmen können, welcher
von diesen Verschiedenheiten die Gesetze eigentlich zukommen.
[
↔] Was das erste anbelangt, muß man wissen, daß,
obgleich der Verstand die edelste und wür digste Fähigkeit des Menschen ist, gleichwohl
kei ne einzige andere Fähigkeit sich so
leicht mit der Wahrheit irrt, als eben er. Dieses fieng schon
Aristoteles*) an zu beweisen, wenn er sagte: die Sinne irrten niemals, der Verstand hinge gen pflegte größtentheils falsch zu schliessen. Dieses sieht man deutlich aus der Erfahrung:
denn würden wohl sonst unter den größten Welt weisen, Aerzten, Gottesgelehrten und Rechtsver ständigen, so viel Widersprüche, so viel unglei
203
che
Meynungen, so viel verschiedene Erklärun gen
und Urtheile über eben dieselbe Sache an zutreffen seyn, da die Wahrheit nicht mehr als eine einzige
ist?
[
↔] Woher es aber komme, daß die Sinne von ihren
Gegenständen so gewiß seyn können, und der Verstand hingegen mit
den seinigen sich so leicht irre, wird man ohne Mühe begreifen,
wenn man überlegt, daß die Gegenstände der fünf Sinne und die Bilder,
wodurch sie empfunden werden, ihrer
Natur nach, ein gewisses, festes und beständiges Wesen, ehe man
sie noch em pfindet, haben. Die Wahrheit aber, womit der Verstand
umgehet, ist an und für sich selber nichts gewisses, wenn sie der
Verstand nicht zu etwas gewissen macht. Sie ist ganz und gar
zer streuet, und ihre Materialien liegen
nicht anders untereinander, als die Steine, die Erde, das Holz und die Ziegel eines niedergerissenen Hauses,
womit in dem Baue selbst so viel verschiedene Jrrthümer können
begangen werden, als ver schiedene Menschen
sich mit ihrer Einbildungs kraft daran machen. Eben dieses ereignet sich an dem
Baue, welchen der Verstand durch die Verbindung der Wahrheiten
aufführt; wenn sich nicht ein gutes
Genie
damit beschäftiget, so werden alle andere tausend Fehler
begehen, ob sie gleich alle einerley Grundsätze haben. Da her kömmt es, daß unter den Menschen von
eben derselben Sache so viel verschiedene Meynungen sind. Jeder ordnet und verbindet die Wahrhei
ten auf diejenige
Art, die ihm sein Verstand an die Hand giebt.
[
↔] Vor diesen Meynungen und Jrrthümern sind die fünf
Sinne bewahrt; weil weder die Augen die Farbe, noch die Zunge den
Geschmack, noch das Gefühl die fühlbaren Beschaffenhei ten macht. Alles dieses hatte von der Natur schon sein bestimmtes Wesen
bekommen, ehe es von den Sinnen empfunden ward.
[
↔] Weil die Menschen von diesem mühseligen Zustande
des Verstandes nicht unterrichtet sind, so pflegen sie alle ihre Meynungen ganz zuver sichtlich zu entdecken; ohne daß einer genau weiß, wie sein
Genie beschaffen, und ob es in der
Zusammenfügung der Wahrheiten glücklich oder unglücklich sey. Man
darf nur den und jenen Gelehrten, welcher anfangs etwas vorge geben, und mit unzähligen Gründen erwiesen, hernach aber seine Meynung geändert und wider rufen hat, fragen: wenn und wie er es wohl
erfahren könne, daß er die Wahrheit unfehlbar getroffen habe? Das
erstemal gesteht er es selbst, daß er geirret hat, weil er, was
er damals gesagt hat, zurückzieht. Das anderemal behau pte ich, muß er schon weniger Vertrauen auf seinen Verstand setzen, weil diejenige Fähigkeit, welche einmal in der Zusammensetzung der Wahr heit geirrt hat, ob ihre Gründe gleich noch so sicher und
zuverlässig schienen, auch zum zwey tenmal
irren kann, ob sie gleich noch so starke Gründe zu haben glaubt:
besonders da man
aus der
Erfahrung weiß, daß ein Gelehrter oft
anfangs die rechte Wahrheit gehabt, und sie gleichwohl hernach
mit einer schlimmern und viel unwahrscheinlichern verwechselt
hat.
[
↔] Sie halten es für ein hinlängliches Merk mal, ob der Verstand in Verbindung der Wahr heit glücklich gewesen sey, wenn sie empfinden, daß er mit dieser Art der Verbindung zufrieden
ist, und wenn sie Gründe anführen können, wel che ihn bewegt und genöthigt haben, die Wahr heit so und nicht anders zu verbinden. Allein sie irren
gewaltig, weil sich der Verstand gegen die falschen Meynungen
verhält, wie sich die übrigen niedrigern Fähigkeiten jede gegen
die Verschiedenheiten ihrer Gegenstände verhalten. Fragt man, zum Beyspiel, die Aerzte, welche von
allen Speisen, deren sich der Mensch be dient,
*) die beste und schmackhafteste sey? Jch glaube, sie werden
antworten, für einen schlech ten und verderbten
Magen ist eigentlich keine Speise weder gut noch schlimm, sondern
sie wird so wie der Magen ist, in welchen sie fällt. Es giebt Magen, sagt
Galenus,
**) welche sich bey Rindfleisch besser als bey Hühnerfleisch
und Fo rellen befinden. Einige können keine
Eyer und keine Milch vertragen; andere hingegen haben nichts lieber als Eyer und Milch. Einige, wenn
wir die Speisen nach ihrer Zubereitung betrach ten, wollen lieber gebratnes als gekochtes Fleisch;
204
205
und auch unter dem
gebratnen Fleische machen sie einen Unterschied, indem einige die
Braten gern haben, wenn sie noch bluten, andere aber, wenn sie ganz trocken gebraten, und beynahe zu
Kohlen gebrannt sind. Und was hierbey noch merkwürdiger ist, ist
dieses, daß diejenige Speise, welche man heute mit vieler Begierde und Leckerheit genossen hat,
morgen von dem Magen verab scheuet, und einer
weit schlechtern nachgesetzt wird. Alles dieses versteht sich,
wenn der Magen noch unverdorben und gesund ist; fällt er aber
in diejenige Schwachheit, welche die Aerzte pica oder malacia nennen, so
bekömmt er wohl zu Sachen Appetit, welche die menschliche Natur verabscheuet, und findet einen
grössern Geschmack an Talk, an Steinen und Kohlen, als an Hüh nern und Forellen.
[
↔] Kommen wir zur Erzeugungsvermögenheit, so treffen
wir eben so viele verschiedene Gelü stungen bey
ihr an. Einige Mannspersonen sind auf eine häßliche Weibsperson erpicht, und verachten eine
schöne; einige wollen lieber ei ne dumme als
eine kluge; einige verabscheuen eine dicke und lieben eine dürre;
einigen eckelt vor Schmuck und Seide, und nur in Lumpen und Hadern können sie sich verlieben. Dieses
versteht sich, wenn die Geburtsglieder in gesun dem Stande sind: befällt sie aber diejenige Krankheit, die wir
bey dem Magen malacia ge nannt haben, so sind sie nach den viehischesten Ausschweifungen
lüstern.
[
↔] Eben dieses ereignet sich in der sinnlichen Ver mögenheit; weil von
allen fühlbaren Beschaffen heiten keins, weder
das Harte noch das Weiche, weder das Rauhe noch das Glatte, weder
das Warme noch das Kalte, weder das Feuchte noch das Trockene, allen Gefühlen gleich angenehm
ist. Es giebt Leute, welche in einem harten Bet te besser schlafen, als in einem weichen, und ande re, welche in einem weichen besser schlafen, als in einem harten.
[
↔] Alle diese Verschiedenheiten des Geschmacks und der ausserordentlichen Lüsternheit
finden auch bey dem Verstande in
seinen Verbindungen Statt. Wenn man hundert Gelehrte nimmt, und ihnen eine Frage vorlegt, so werden alle
hundert verschiedentlich darauf antworten, und jeder wird seine
besondern Gedanken darüber haben. Was diesem ein sophistisches
Argument scheinet, das kömmt einem andern wahrscheinlich vor, und einem dritten kömmt es so überzeugend
vor, als wenn es eine Demonstration wäre. Dieses trift nicht
allein an verschiedener Ver stande ein, sondern
wir sehen sogar aus der Er fahrung, daß ein
Beweis eben denselben Ver stand zu einer Zeit
überführt, und zu einer an dern nicht. Alle
Tage, wie wir gewahr werden, verändern die Menschen ihre
Meynungen; ei nige, welche mit der Zeit einen
feinen Verstand erlangt haben, erkennen das Mangelhafte eines Grundes, der sie vorher überzeugte; andere hin gegen, welche das gute Temperament ihres Ge
hirns verlieren,
verabscheuen die Wahrheit und billigen die Lügen.
[
↔] Wenn aber das Gehirn diejenige Schwach heit befällt, welche wir malacia
genannt haben, alsdenn entstehen erst recht ausschweifende und närrische Gedanken und Urtheile. Die schwa chen und nichtigen Gründe bekommen bey sol chen Geistern mehr Gewalt, als die stärksten und sichersten; auf ein tüchtiges Argument wissen sie zu
antworten, und von einem schlechten lassen sie sich überzeugen.
Aus Vordersätzen, aus welchen ein wahrer Schluß zu ziehen ist, ziehen sie einen falschen, und mit den allerson derlichsten und wunderbarsten Beweisen unter stützen sie ihre närrischen Einfälle.
[
↔] Grosse und gelehrte Männer pflegen hier auf sehr wohl Achtung zu geben, und ihre Mey nungen gemeiniglich so vorzutragen, daß sie die Gründe, auf welche sie sich stützen, verschwei gen; weil die Menschen überzeugt sind, daß
das menschliche Ansehen nicht stärker seyn kön ne, als der Grund ist, auf welchen es sich stützt, und weil
jeder nach Maaßgebung seines
Ge nies davon urtheilet, die Argumente selbst aber, wegen der
Verschiedenheit der Einsichten, in ih rer Kraft
zu schliessen, sich sehr gleichgültig ver halten. Sie halten es also für weit nachdrück licher schlechthin zu sagen: dieses ist gewisser Ursachen
wegen, die mich davon überzeugen, meine Meynung, als die
Ursachen, worauf sie sich gründen, selbst vorzutragen. Zwingt man
sie aber darzu, die
Gründe ihrer Meynung an zugeben, so lassen sie
auch keinen einzigen weg, er mag noch so geringe scheinen; weil
sie wissen, daß oft derjenige, dem sie am wenigsten zutrauen, mehr wirkt, als derjenige, welchen sie für den
stärksten halten.
[
↔] Hieraus kann man das Elend unsers Ver standes einigermaassen begreifen. Er verbindet und trennet; er überlegt und schließt; und wenn
er geschlossen hat, so fehlt ihm das Licht, durch welches er
erkennen könnte, ob seine Meynung wahr sey oder nicht. Dieser
Ungewißheit sind die Gottesgelehrten in allen denjenigen
Stücken unterworfen, welche nicht die Glaubensartickel betreffen. Wenn sie noch so wohl geschlossen
haben, so fehlt ihnen doch die untrügliche Pro be oder der deutliche Ausgang, aus welchem sie ungezweifelt
erkennen könnten, welche Schlüsse die besten wirklich sind. Jeder
Gottesgelehrte nimmt also dieienigen Meynungen an, die ihm die gegründesten zu seyn scheinen; und wenn er
auf die Einwürfe des Gegentheils antwor ten
soll, so ist es genug, daß er sich mit Ehren herauszieht; ein mehreres darf man nicht er warten. Ein armer Arzt hingegen und ein Ge neral müssen es nothwendig auf den Ausgang
ankommen lassen, wenn sie vorher ihre Ueberle gungen auch noch sowohl gemacht, und die Gründe des Gegentheils
noch so glücklich vernichtet haben. Jst dieser Ausgang nun gut,
so hält man sie für weise; ist er er aber übel, so glaubt ein
jeder,
sowohl der Arzt,
als der General müßten sich auf schlechte Gründe gestützt haben.
[
↔] Bey den Glaubensartickeln, welche die
Kir che vorlegt,
kann kein Fehler Statt finden. Denn da GOtt sahe, daß die Vernunft des Men schen so ungewiß sey, und sich so leicht hinter gehen lasse, so konnte er es nicht zugeben, daß so hohe und wichtige Sachen ihrer eignen Bestim mung überlassen blieben. So oft sich also zwey oder drey auf eine feyerliche Art der Kirche ge mäß versammeln, so ist er mitten unter ihnen, und billiget, als ihr Vorsitzer, das, was sie Gu tes vorbringen, verwirft die Jrrthümer, und offenbaret, was sich mit dem menschlichen Ver stande nicht erreichen läßt. Die Probe also
al les desienigen, was in Glaubenssachen
vorge bracht wird, ist *) diese, daß man untersucht, ob es mit dem übereinkömmt,
was die katholi sche Kirche davon sagt und
festsetzt: denn wenn es diesem zuwider ist, so sind alle Gründe
ohne Ausnahme unrichtig. Jn den übrigen Fragen aber, wo dem menschlichen Verstande seine Frey heit, zu
urtheilen, gelassen wird, hat man die Art und Weise nicht
ausfindig gemacht, wie man es versuchen könne, welche Beweise
wirk lich schliessen, und welche Wahrheiten
der Ver stand richtig verbunden habe. †) Alles kömmt
206
207
dabey auf die gute
Uebereinstimmung an; die se Uebereinstimmung
aber ist ein sehr betrügli ches Merkmal, weil
nicht wenig Jrrthümer mehr Wahrscheinlichkeit haben, und mit mehr Beweisen
unterstützt werden können, als die größten Wahrheiten.
[
↔] Der Arzt und dieienigen, welche im Kriege anführen, haben den Ausgang und die Erfah rung zur Probe
ihrer Schlüsse. Wenn zehen Generale, zum Beyspiel, aus vielen
Gründen behaupten, man müsse es zur Schlacht kommen lassen, die übrigen aber behaupten, man müsse
die Schlacht ausschlagen; so wird der Ausgang nothwendig die eine
Meynung bestärken, die an dere aber verwerfen.
Und wenn zwey Aerzte uneinig sind, ob ein Kranker sterben oder
davon kommen werde, so wird man es alsdenn, wenn der Kranke stirbt oder davon kömmt, erkennen,
welcher von beyden die stärksten Gründe für sich gehabt habe.
Gleichwohl aber ist der Ausgang kein zureichender Beweis; weil
eine Wirkung verschiedene Ursachen haben, und gar wohl aus einer entstehen kann, wenn sich die Gründe auf
eine ganz andere gestützt haben.
[
↔]
Aristoteles behauptet, *) daß man der ge meinsten Meynung folgen
müsse, wenn man wis=
208
sen wolle, welche Gründe
richtig schliessen: denn wenn viel gelehrte Männer einerley
sagten, und behaupteten, und auch einerley Gründe dafür anführten, so sey es ein Beweis, (obgleich ein
topischer,) daß diese Gründe richtig schliessen, und die
Wahrheiten gehörig verbinden. Doch auch dieser Beweis, wenn wir
es wohl überle gen, ist betrüglich, weil es bey
der Stärke des Verstandes auf seine Anstrengung und nicht auf die Zahl ankömmt. Es ist nicht damit, wie
mit der körperlichen Stärke, daß viele, wenn sie zusammentreten,
einer Last mehr anhaben kön nen, als wenige;
sondern bey Erreichung der Wahr heit kömmt es
mehr auf einen einzigen feinen Ver stand an,
als auf tausend andere, welche nicht fein sind. Die Ursache
hiervon ist die: weil sich der Verstand des einen Menschen nicht mit dem Verstande eines
andern verbinden läßt, so daß aus vielen nur einer werde, wie es
sich bey der körperlichen Gewalt ereignet. Der Weise sag te daher: multi pacifici
sint tibi, et consilia- rius vnus de mille; als wollte er
sagen: ha be viel Freunde, die dich
vertheidigen können, wenn du ihres Beystandes nöthig hast, aus
tausen den aber wähle dir nur einen zum
Rathgeber. Eben dieses will der Ausspruch des
Heraklitus sagen:
einer ist mir Statt tausend.
[
↔] Bey Klagen und Vertheidigungen nimmt jeder
Rechtsgelehte diejenige Meynung an, von welcher er glaubt, daß
sie den meisten Grund im
Rechte habe. Wenn er aber seine Ueberlegun gen
noch so wohl angestellt hat, so giebt ihm doch seine ganze
Wissenschaft kein Mittel an die Hand, durch welches er mit
Gewißheit erkennen könnte, ob sein Verstand die Wahrheiten so
ver bunden habe, wie es die strengste
Gerechtigkeit erfordere. Denn wenn der eine Advocat aus den Gesetzen beweiset, daß derjenige, welchen er ver theidiget, Recht habe; der andere Advocat aber behauptet, daß er es nicht habe: woran soll man
es erkennen, welcher von diesen beyden Advoca ten die richtigsten Schlüsse gemacht habe? Der Ausspruch des
Richters kann kein Beweis des untrüglichen Rechts seyn, und kann
kein Aus gang genannt werden, weil er selbst
einer Meynung ist, und der Richter nichts thut, als daß er auf die Seite des einen oder des andern Advoca ten tritt. Auch die Menge der Rechtsgelehrten, welche einer Meynung beyfällt, ist kein Beweis,
daß dasjenige, was sie durch die Mehrheit der Stimmen für recht
erkannt haben, die gewisse Wahrheit sey; weil wir schon gesagt und bewie sen haben, daß mehr, als ein grober Verstand,
wenn sie sich gleich eine verborgene Wahrheit aus zumachen mit einander verbinden, doch nimmer mehr die Stärke und die Einsicht eines
einzigen erlangen, welcher fein und durchdringend ist.
[
↔] Daß aber der Ausspruch des Richters die Probe oder
den Beweis nicht abgeben könne, sieht man ganz deutlich daraus,
daß oft die obern Gerichte die Urtheile der untern Gerichte
widerrufen und ganz andere
Entscheidungen ge ben. Das Uebelste, was
hierbey vorfallen könn te, ist dieses, daß der
Unterrichter wohl einen grössern Verstand haben kann, und daß
seine Aussprüche der Wahrheit und Gerechtigkeit weit gemässer können gewesen seyn. Daß aber auch der Ausspruch
des obersten Richters kein Beweis für die Gerechtigkeit sey, ist
sonnenklar; weil man täglich sieht, daß ebendieselben
Gerichte, und ebendieselben Richter, ohne daß unter ihnen die geringste Veränderung vorgegangen ist, ganz
widersprechende Urtheile zu fällen pflegen. Wer sich einmal
geirret hat, so viel Vertrauen er auch auf seine Gründe setzte,
von dem steht zu vermuthen, daß er sich auch ein andermahl irren
könne; daher er auf seine Meynung desto weniger zu bauen ver bunden ist. Qui semel est
malus u. s. w.
[
↔] Da nun die Advocaten sehen, daß unter den
Einsichten der Richter eine so grosse Verschieden heit anzutreffen ist, daß jeder denjenigen Gründen wohl will, welche seinem
Genie am gemässesten sind, und daß heute dieser Beweisgrund,
morgen aber der gegenseitige für gültig angenommen wird; so tragen sie kein Bedenken, alle Rechts händel für und wider anzunehmen, besonders
da sie aus der Erfahrung wissen, daß sie auf der einen Seite
sowohl als auf der andern, den Aus spruch für
sich erhalten können. Wie wohl trift also der Ausspruch der Weißheit ein:
der sterb lichen Menschen Gedanken sind mißlich und unsre Anschläge sind fährlich!
[
↔] Das Mittel aber, dem Unheile, welches dar aus entstehet, daß die Beweise in der Rechtsgelehr samkeit keine Probe haben, noch durch die Erfah rung bestärkt
werden können, vorzukommen, ist dieses, daß man Leute von sehr
grossem Verstan de zu Richtern und Advocaten
erwählet, weil die ser ihre Beweise und Gründe,
wie
Aristoteles sagt, *) so gewiß und unstreitig sind, als selber die Erfahrungen
seyn können. Wenn diese Wahl beobachtet wird, so sollte allem
Ansehen nach die Republick wohl gesichert genug seyn können,
daß ihre Amtleute die Gerechtigkeit beobachten wür den. Wenn man es aber länger erlaubt, daß jeder aus dem Haufen, ohne vorher abgelegte
Probe seines
Genies, wie bisher geschehen ist, sich mit gerichtlichen Aemtern
abgeben darf, so wird nothwendig alle der Schaden daraus ent stehen, den wir angemerkt haben.
[
↔] An welchen Merkmalen man es erkennen kön ne, ob der, welcher sich den Gesetzen widmen will, diejenige Beschaffenheit des Verstandes habe,
welche diese Facultät nothwendig erfordert; die ses haben wir gewisser Maassen schon in dem Vorhergehenden
gesagt. Damit es aber in desto frischerm Gedächtnisse bleibe, und
wir uns in den Beweis desto umständlicher einlassen können, so muß man auf folgendes Achtung haben. Derjenige
Knabe, welcher, wenn er zum Lesen angehalten wird, die Buchstaben
leicht kennen lernt, und ohne
209
Mühe einen jeden auch
ausser der Ordnung des Alphabets bald zu nennen weiß, zeigt von
einem starken Gedächtnisse; weil dieses unwidersprech lich weder eine Wirkung des Verstandes, noch der Einbildungskraft seyn kann; es ist vielmehr die Verrichtung des Gedächtnisses, daß es die Bil der der Sachen behalte, und
den Namen eines jeden, wenn es erfordert wird, ohne Anstand angeben kann. †) Wenn aber der Knabe ein starkes
Gedächtniß hat, so ist dieses starke Ge dachtniß, wie wir schon bewiesen haben, ein Zei chen, daß er am Verstande Mangel
leide.
[
↔] Gleichfalls haben wir gesagt, daß das bald
erlernte Schreiben und die Geschicklichkeit in Zügen und
Nachmahlung der Buchstaben, die Einbildungskraft verrathe.
Derjenige Knabe folglich, welcher in wenig Tagen seine Hand
210
zum Schreiben gewöhnt, die
gleichen Linien beob achtet, und die
Buchstaben, so zieht, wie es das Ebenmaaß und die Zierlichkeit
erfordern, ver räth einen schlechten Verstand,
weil diese Ver richtung vermöge der
Einbildungskraft geschieht; die Einbildungskraft aber und der
Verstand, wie wir gleichfalls schon angemerkt haben, sich nicht wohl mit einander vertragen.
[
↔] Wenn der Knabe ferner zur Sprachlehre schreitet, und auch diese mit wenig
Mühe begreift, in kurzer Zeit, ziemliches Latein schreiben, und einen zierlichen Brief abfassen
lernt; wenn er an den schönen Schlußwör tern
des
Cicero einen Gefallen findet, und sie anzubringen sucht, so wird er nimmer mehr ein guter Richter, oder ein guter Advocat werden, †) weil er ein allzustarkes Gedächtniß verräth,
und es ohne ein Wunder nicht gesche hen kann, daß ein Mensch dieses ohne Mangel des Verstandes haben könne. Wenn so ein Knabe also darauf
besteht, sich den Gesetzen zu widmen, so kann er leicht, wenn er
lange genug auf Akademien bleibt, ein berühmter Lehrer, der unzählige Zuhörer an sich zieht, werden; weil
die lateinische Sprache auf dem Katheder sehr angenehm ist, und
derjenige, welcher mit vielem Beyfall lehren will, viel
Anführungen braucht, so, daß er bey jedem Gesetze alles
beyzubringen
211
wissen muß, was man jemals
darüber geschrie ben hat. Hierzu aber ist ein
grosses Gedächt niß nöthiger, als ein grosser
Verstand. Zwar ist es wahr, daß man auf dem Katheder unter scheiden, folgern, schliessen, urtheilen und
wählen muß, wenn man den wahren Sinn des Gese tzes erreichen will. Gemeiniglich aber pflegt der Professor jeden Fall so zu setzen, wie er für ihn am bequemsten ist; er führet nur diejeni gen Gegensätze und Zweifel an, die nach seinem Geschmacke sind,
und fällt endlich den Ausspruch nach seinem Gutdünken, ohne, daß
er sich eines Widerspruchs befürchten darf: und hierzu ist ein mittelmässiger Verstand hinlänglich. Wenn
ein Advocat hingegen einem Kläger beysteht, ein anderer Advocat
den Beklagten vertheidi get, und ein dritter
Rechtsgelehrter Richter ist; alsdenn wird der Proceß lebendig,
und alsdenn läßt es sich nicht so leicht reden, als wenn man ohne einen Widerspruch zu befürchten, reden kann.
[
↔] Wenn der Knabe in der Sprachlehre nicht wohl
fortkommen kann, so ist schon eine ziemli che
†)Wahrscheinlichkeit da, daß er einen gros=
212
sen Verstand besitze. Jch
sage eine ziemliche Wahrscheinlichkeit oder Vermuthung, weil
es nicht nothwendig folgt, daß derjenige einen gros sen Verstand haben müsse, welcher es im
Latei nischen zu nichts bringen kann; indem
wir schon im Vorhergehenden bewiesen haben, daß auch diejenigen Knaben, welche eine starke Ein bildungskraft besitzen, es niemals in
der lateini schen Sprache zu etwas bringen. Was
uns aber in diesem Stücke gewiß machen kann, ist die Dialektik; weil diese Wissenschaft sich ge gen den Verstand nicht anders, als der Probier stein gegen das Gold verhält. Wenn daher
derjenige Knabe, welcher die Vernunftlehre hört, in zwey bis drey Monaten nicht schliessen und
Zweifel zu machen lernt, wenn ihm keine Be weise und Antworten in derjenigen Materie, wel che vorgetragen wird, beyfallen; so ist es ein gewisses
Merkmal, daß er keinen Verstand hat. †) Wenn er hingegen in dieser Wissenschaft
ge schwind zunimmt, so ist es ein offenbarer
Be weis, daß es ihm an dem Verstande nicht
fehlt, welchen die Gesetze erfordern; und hierauf kann er sich dann alsbald, ohne länger zu warten, le gen, ob ich es gleich in der That für besser hal te, daß er vorher den ganzen Umkreis der
Kün=
213
ste durchlaufe, weil die
Vernunftlehre dem Ver stande nichts mehr ist,
als was die Stricke ei nem wilden Maulesel
sind, die man ihm an die hintern und vordern Füsse legt, und
durch die er, wenn er sie einige Tage gelitten hat, einen gesetztern und anständigern Gang annimmt. Ei nen gleichen Gang nimmt auch der Ver stand in den Streituntersuchungen an, wenn ihn vorher die Regeln und Grundsätze der
Dialek tik darzu gewöhnt haben.
[
↔] Wenn aber dieser Knabe, den wir ietzt vor uns
haben, mit dem Lateinischen nicht wohl zu rechte kömmt, und auch in der Dialektik nicht so, wie er wohl
sollte, zunimmt; so ist es nöthig, daß man untersucht, ob er eine
gute Einbildungs kraft habe, ehe man ihn von
der Rechtsgelehr samkeit zurückweiset: denn es
fällt hierbey et was ganz besonders vor,
welches der Republik, wenn sie es weiß, sehr nützlich seyn kann.
Es besteht nämlich hierinnen, daß es Rechtsgelehrte giebt, welche theils auf dem Katheder in Erklä rung der Gesetze, theils als Advocaten, rechte Wunder thun, die aber, wenn man ihnen das Ruder
in die Hand giebt, zum Regieren eben so viel Geschicklichkeit
haben, als wenn die Ge setze zu dieser Absicht
gar nicht wären gemacht worden. Hingegen giebt es andere, die
mit zwey bis drey Gesetzen, welche sie nun so und so in Salamanca begriffen haben, eine Regie rung, welcher sie vorgesetzt werden, so wohl ver walten, daß man es in der Welt nicht besser
verlangen kann. Hierüber
haben sich neugieri rige Leute oft nicht wenig
verwundert, weil sie die Ursache davon nicht einsehen konnten;
die se aber liegt darinnen, daß die
Regierungskunst ein Werk der Einbildungskraft, nicht aber
des Verstandes oder des Gedächtnisses ist. Und daß sich dieses wirklich so befinde, ist sehr leicht zu
beweisen, wenn man nur bedenkt, daß die Republik nach einer
gewissen Ordnung einge richtet seyn, und jedes darinnen seinen besondern Platz haben muß, damit das Ganze eine gute
Gestalt und Uebereinstimmung erhalte. Dieses aber, wie wir mehr
als einmal schon bewiesen haben, ist ein Werk der Einbildungskraft. Ei nen grossen Rechtsgelehrten also zu einem Regen ten zu machen, würde eben so unklug seyn, als wenn man einen Tauben zum Richter einer Mu sik machen wollte. †) Gleichwohl aber muß man dieses nicht als
eine allgemeine Regel, son dern als eine blosse
Beobachtung ansehen, wel che nur
gewöhnlichermaassen einzutreffen pflegt. Denn da wir bewiesen
haben, daß es eine gewisse Art gebe, durch welche die Natur einen grossen Verstand mit einer
starken Einbildungskraft verbinden könne; so ist es gar nichts
widerspre chendes, daß ein Mensch zugleich
ein grosser Ad vocat und ein guter Regent seyn
könne. Wir
214
werden sogar in dem
Folgenden erwelsen, daß die Natur, wenn sie alle ihre Kräfte
zusammen nimmt, und eine wohl durchwirkte Materie fin det, einen Menschen
machen kann, welcher ein starkes Gedächtniß, einen grossen
Verstand, und ei ne grosse Einbildungskraft,
alle dreye beysammen besitzet. Ein solcher, wenn er sich auf die
Gesetze legt, wird ein berühmter Professor, ein grosser Ad vocat und ein eben so grosser Regent. Die
Natur aber macht solcher Geister
so wenige, daß unsre obige Regel ganz wohl als allgemein kann
an genommen werden.
Zwölftes Hauptstück. Worinnen
erwiesen wird, daß die Theorie der Arzneygelahrheit theils dem Gedächtnisse, theils dem Verstande; ihre Praxis
aber der Einbildungs kraft zukomme.
[
↔] Zu der Zeit, als die Arzneywissenschaft
der Araber noch im Flor war, befand sich ein sehr berühmter Arzt unter ihnen, welcher in sei nen Vorlesungen und in seinen Schriften, im Folgern, im Unterscheiden, im Widerlegen und Schliessen die
größte Bewunderung verdiente. Man
glaubte also, daß er wegen seiner grossen Geschicklichkeit
wenigstens Todte erwecken, und
allen Krankheiten ohne Unterscheid, müßte ab helfen können. Diese Vermuthung aber traf
so wenig ein, daß ihm kein einziger Kranke un ter die Hände kam, welchem es nicht das Leben gekostet hätte.
Er selbst wurde hierüber so ver drüßlich und
zornig, daß er den Mönchsstand ergriff, und sich unaufhörlich
über seinen Un stern beklagte, und die wahre
Ursache einsehen lernte, die ihn in der Anwendung seiner
Wissen schaft so unglücklich machte.
[
↔] Weil die neuen Beyspiele nachdrücklicher und den
Sinnen überzeugender zu seyn scheinen, so will ich den
Johann Argenterius anführen.
Dieser neuere Arzneygelehrter, welcher zu unsern Zeiten gelebt
hat, soll nach der Meynung der größ ten
Arzneygelehrten den
Galenus weit übertroffen haben, indem er die Kunst zu kuriren in eine bes sere Lehrart gebracht hat. Gleichwahl aber erzäh let man von ihm, er sey in der Praxis so
unglück lich gewesen, daß kein einziger
Kranke in seiner Gegend sich ihm, aus Furcht aufgeopfert zu werden, habe anvertrauen wollen.
Der Pöbel scheint also Recht zu haben, darüber zu erftaunenerstaunen, was ihn die Erfahrungen
nicht allein an den jetzt angeführten Beyspielen, sondern auch an
hundert andern, die er täglich vor Augen hat, lehret, daß nämlich ein grosser gelehrter Arzt eben deswegen
zu allen Kuren ungeschickt sey.
Aristoteles
wollte von dieser Beobachtung die Ursache angeben; allein er erreichte sie nicht. Er meynt, wenn die theoretischen Arzneygelehrten seiner Zeit in ihren
Kuren unglücklich wären, so käme es
daher, weil sie zwar von dem Menschen überhaupt Kenntniß hätten, die Natur aber eines jeden
insbesondere nicht erforschten; und also gleich das
Gegentheil von den empirischen Aerzten thäten, welche ihre ganze Sorgfalt darauf richteten, daß sie die beson dern und eigentlichen Beschaffenheiten eines jeden Menschen kennen lernten, um das Allgemeine aber
sich wenig bekümmerten. Allein diese Ursache ist die wahre nicht,
weil beyde sich mit besondern Kuren abgeben, und beyde die Natur
eines jeden insbesondere zu erforschen bemüht sind.
[
↔] Die ganze Schwierigkeit besteht bloß darin nen: warum die gelehrtesten Aerzte, wenn sie sich auch Zeit ihres ganzen Lebens im Kuriren üben,
es in ihrer Praxis dennoch zu nichts besondern bringen; †) und warum hingegen
Leute, die nichts wissen, mit drey bis vier medicinischen Regeln, die sie auf den hohen Schulen erschnappt
haben, in kurzer Zeit weit glücklichere Kuren ver richten lernen.
[
↔] Die wahre Antwort auf diesen Zweifel hat wenig
Schwierigkeit, da selbst
Aristoteles nicht darauf fallen konnte, und sie nur zum Theil traf. Wir dürfen uns aber nur auf die Grundsätze unserer Lehre
einschränken, wenn wir sie so vollstän=
215
dig geben wollen, als man
sie nur verlangen kann. Man muß wissen, daß die Vollkommenheit eines Arztes in zwey
Stücken besteht, welche beyde eben so nothwendig sind, wenn er
den Endzweck seiner Kunst erreichen will, als unentbehrlich
beyde Beine sind, wenn man ohne Hinken gehen soll. *) Das erste besteht darinnen, daß man alle Regeln und Vorschriften, den Menschen
überhaupt zu kuriren, methodisch kennen muß, ohne daß man sich in das Besondere einläßt. Das zweyte ist dieses,
daß man sich lange Zeit im Kuriren geübt habe, und eine grosse
Anzahl Kranker mit eignen Augen habe kennen lernen, indem die
Menschen so gar sehr von einander nicht unterschieden sind,
daß sie nicht in vielen Stücken mit einander überein kommen sollten, aber auch einander nicht so gleich sind, daß nicht unzähliche Verschiedenhei ten unter ihnen bemerkt würden, wovon man
weder schriftlichen noch mündlichen Unterricht geben kann, und
die sich nicht so zusammen fassen lassen, daß man sie unter
gewisse Regeln der Kunst bringen könnte. Sie können von nieman den erkannt werden, als von denen, welche
sie unzähligmal mit Augen gesehen und unter Hän den gehabt haben. Dieses läßt sich auch schon daher leicht begreifen, daß das Gesicht, ob es gleich nur aus sehr wenig Theilen zusammengesetzt ist,
aus den Augen, der Nase, den Backen, dem Munde und der Stirne,
dennoch seiner Natur
216
nach so vieler
unterschiednen Zusammensetzungen fähig ist, daß unter tausend
Menschen jeder sein besonderes Gesicht hat, und es ein rechtes
Wunder ist wenn man zwey darunter
findet, die einan der völlig gleich sind. †)
[
↔] Ein gleiches ereignet sich an den vier Elemen ten und den vier Hauptbeschaffenheiten der Wärme und Kälte, der Trockenheit und Feuchtigkeit, in
deren Harmonie die Gesundheit und das Leben der Menschen
bestehet. Aus diesen so wenigen Stücken macht die Natur so viel verschiedene Mischungen,
daß unter hundert tausend Men schen, welche
gebohren werden, ein jeder eine beson dere und
ihm so eigenthümliche Gesundheit hat, daß, wenn GOtt auf einmal durch ein Wunder die Verhältnisse dieser
Hauptbeschaffenheiten untereinander änderte, alle
hundertausend krank werden würden, ohne daß zwey bis drey
darunter von ohngefehr einerley Mischung und Verhältniß der Hauptbeschaffenheiten erhalten hätten. Hier aus ziehen wir unumgänglich zwo Folgerungen. Die erste ist diese, daß jeder Mensch, welcher krank wird,
nach seiner besondern und ihm eigenthümli chen
Beschaffenheit kurirt werden muß, so daß er nimmermehr gesund
werden wird, wenn der Arzt die Harmonie der Säfte und
Hauptbeschaffen heiten nicht wieder
herstellt, die vor seiner Krank heit in ihm
gewesen ist. Die andere Folgerung
217
ist diese, daß ein Arzt,
wenn er dieses, wie es sich gehört, thun will, nothwendig den
Kranken in sei nen gesunden Umständen oft
gesehen und gekannt habe, daß er ihn an den Puls oft gefühlt, daß
er seinen Urin und seine Gesichtsfarbe oft betrachtet habe, damit er sein Temperament daraus ersehen,
und wenn er krank wird, wissen und urtheilen könne, um wie viel
er jetzt von seiner Gesundheit entfernet sey, und wie weit er ihn
in seiner Kur wieder bringen müsse.
[
↔] Zu dem ersten Stücke, die Theorie nämlich und den
ganzen Umfang der Arzneygelahrheit einzusehen, wird, wie
Galenus sagt, ein grosser
Verstand und viel Gedächtniß erfordert; weil die Arzneykunst
theils auf Gründe, theils aber auch auf Erfahrungen und einzelnen Fällen beruht. Zu jenem ist
der Verstand unentbehrlich, und zu diesem das Gedächtniß. Da es
aber etwas ungemein seltnes ist, daß diese beyden Fähigkeiten in einem starken Grade beysammen seyn sollten;
so muß der Arzt nothwendig in der Theorie un vollkommen bleiben. Und giebt es nicht in der That unzählige
Aerzte, welche grosse Lateiner, gros se Griechen, grosse Zergliederer, grosse Kräuter kenner sind, (als wobey es durchgängig auf
das Gedächtniß ankömmt) und nicht das geringste wissen, sobald sie streiten, Gründe angeben, und die Ursache
von einer jeden Wirkung (welches alles von dem Verstande
abhänget) bestimmen sollen? Hingegen giebt es wiederum andere,
welche in der Dialektik und in dem betrachtenden Theile
ihrer Wissenschaft ein
grosses
Genie und viel Fähigkeit zeigen, in dem Lateinischen und
Griechi schen aber, und in der Kenntniß der
Kräuter, in der Anatomie es niemals zu etwas bringen, weil
ihnen das Gedächtniß fehlet.
Galenus sagt: *) διοτι πολυ
πληθος
ἀνθρωπων ἀσκουντων
ἰατρικην τε και
φιλοσοφιαν,
ἐν οὐδετερᾳ κατορθουσιν, ἠ γαρ οὐκ
ἐφυσαν
καλως, ἠ{??} οὐκ
επαιδευθησαν ὡς
προσηκεν,
ἠ οὐ
κατεμειναν
ἐν ταις
ασκη- σεσιν, ἀλλ' ὐθι τας
πωλιτικας
πραjεις
ἀπε- τραποντο.
Das ist: ich wundere mich nicht, daß unter der grossen Anzahl
derjenigen, welche sich auf die Arzneykunst und Weltweisheit legen, so wenige etwas
rechtes darinnen thun. Zur Ursache führt er folgendes an: theils
ist das
Genie, welches diese Wissenschaften erfordern, sehr selten, theils fehlt es an Lehrern, von welchen sie
gehörig unterrichtet werden könnten, theils wenden sie selbst
nicht genugsamen Fleiß dabey an. Doch mit allen diesen Gründen
trift
Galenus nur die Sache
obenhin, weil er den eigentlichen Grund, warum es so wenige in
der Arzney kunst weit bringen, nicht weiß.
[
↔] Daß das
Genie, welches die Arzneywissen schaft erfordert, unter den Menschen sehr
selten sey, darinnen hat
Galenus Recht, ob er die Ursache davon gleich nicht so
eigentlich bestimmen kann, als wir es gethan haben. Diese nämlich
besteht darinnen, weil es etwas sehr schweres ist, einen grossen Verstand mit einem starken Gedächtnisse
218
zu verbinden, beyde
Fähigkeiten aber nothwendig erfordert werden, wenn man in der
Theorie der Arzneykunst vollkommen werden will. Weil ferner eine eben so grosse Unverträglichkeit zwi schen dem Verstande und der
Einbildungskraft ist, als welcher,
wie wir gleich beweisen werden, die Praxis zugehört; so ist es
ein Wunder, wenn man einen Arzt findet, welcher ein gros ser Theoreticus und zugleich ein grosser
Practicus sey, oder umgekehrt, welcher eine glückliche
Praxis mit einer gründlichen Theorie verbinde.
[
↔] Daß aber die Einbildungskraft diejenige Fähigkeit
sey, welche dem Arzte unentbehrlich ist, wenn er eines jeden
Krankheit erkennen und derselben abhelfen will, ist sehr leicht
zu erweisen, wenn man die Lehre des
Aristoteles voraussetzt. Dieser sagt nämlich, daß der
Verstand weder das Besondere erkennen, noch eines von dem
andern unterscheiden, noch wißen könne, was die Zeit, der Ort und andre Besonderheiten sind, nach welchen
ein Mensch von dem andern unterschieden ist, und also auch auf
verschiedene Art kurirt werden muß. Die Ursache hiervon, wie sie
die gemeinen Welt weisen anführen, soll diese
seyn, weil der Verstand eine geistige Vermögenheit ist, und von
den Be sonderheiten, welche in die Materie versenkt sind, keine
Veränderungen leiden kann.
Aristoteles sagt: die Sinne erkennen das
Besondere; der Ver stand aber das Allgemeine.
Da nun aber die Ku ren an jedem Menschen
insbesondre, nicht aber an den Menschen überhaupt, geschehen, als
welche
überhaupt
betrachtet, unveränderlich und keiner Verderbung unterworfen
sind, so ist es offenbar, daß der Verstand eine Fähigkeit ist,
welche bey dem Kuriren gar nicht angewandt werden kann. †)
[
↔] Die Schwierigkeit bestehet also nunmehr darinnen:
warum Leute von grossem Verstande keine guten äusserlichen Sinne,
das Besondere zu empfinden, haben können, da der Verstand und die äusserlichen Sinne gleichwohl von einander so sehr verschiedene Fähigkeiten sind? Die Ursache davon ist
klar: weil die äusserlichen Sinne nicht wohl wirken können, wenn
sie nicht von einer guten Einbildungskraft unterstützt werden.
Die ses müssen wir aus der Meynung des
Aristoteles beweisen, welcher,
wenn er *) erklären will, was die Einbildungskraft sey, sagt, sie
sey eine von einem äusserlichen Sinne verursachte Bewe gung, **) so daß, zum Beyspiel, die Farbe, welche sich von der
gefärbten Sache trennt, das Auge verändert; und daß hernach diese
Farbe, welche in der krystallischen Feuchtigkeit ist,
weiter bis zu der Einbildungskraft hinein dringt, und in ihr eben dasjenige Bild hervorbringt,
welches im Auge war. Fragt man nun, durch welches von diesen zwey Bildern man das Besondere
219
220
221
erkenne, so sagen alle
Weltweisen und zwar mit Grund, daß das zweyte Bild dasjenige
sey, welches auf die Einbildungskraft wirke, und die Erkenntniß also aus allen beyden entstehe; nach dem bekannten Ausspruche der Weltweisen: ab obiectis et potentia paritur notitia. Aus dem ersten Bilde aber, welches in der krystalli schen Feuchtigkeit ist, und aus der blossen Ver mögenheit zu sehen, kann noch keine Erkennt niß entstehen, wenn nicht die
Einbildungskraft dabey aufmerksam ist. Dieses beweisen die Aerzte unwidersprechlich, wenn sie es als einen
Lehrsatz angeben, daß es ein Zeichen einer zer streueten, und in tiefe Betrachtungen
vergrabe nen Einbildungskraft sey, wenn der
Kranke bey Ausschneidung oder Verbrennung des Fleisches keine Empfindung habe. Οκοσοι
πονεοντες τι του
σωματος
τα
πολλα
των
πονων οὐκ ἀισϑα- νονται,
τουτεοισιν
ἡ γνωμη
νοσεει.
*) Sogar an gesunden Personen zeigt uns oft die Erfah rung, daß, wenn sie sich mit ihrer
Einbildungs kraft allzusehr vertieft haben,
sie auch das nicht sehen, was vor ihren Augen ist; sie hören
nicht, wenn einer sie schon ruft; sie schmecken das Allerschärfste und Schmackhafteste nicht, wenn
sie es schon essen. Es ist also unwidersprechlich, daß die
Einbildungskraft dasjenige sey, welches das Besondere an den
Dingen erkenne, und da von urtheile; und daß
dieses nicht durch den Verstand oder durch die äusserlichen Sinne
ge
222
schehe.
Und hieraus nun folget ganz deutlich, daß derjenige Arzt, welcher
ein grosser Theoreti cus ist, es sey nun wegen
seines grossen Verstan des oder wegen seines
grossen Gedächtnisses, nothwendig ein schlechter Practicus seyn
müsse, weil es ihm an der Einbildungskraft fehlt. Hin gegen muß derjenige, welcher ein geschickter Practicus ist, nothwendig ein ungeschickter Theo reticus seyn, †) weil er wegen der starken Ein bildungskraft, die er besitzt, nicht zugleich auch einen grossen Verstand und ein starkes Gedächt niß besitzen kann. Dieses ist also die Ursache, warum niemand in der Arzneykunst vollkommen
werden, oder es in seinen Kuren dahin bringen kann, daß er
niemals irre. Um niemals irren zu können, müßte man nicht nur die
ganze Wis senschaft
nach ihrem Umfange einsehen, sondern auch eine starke
Einbildungskraft besitzen, die er kannte
Wissenschaft allezeit gehörig anzuwen den;
beyde Stücke aber, wie wir bewiesen ha ben,
können unmöglich beysammen stehn.
223
[
↔] Nimmermehr wird ein Arzt diese oder jene Krankheit
einsehen und kuriren können, wenn er nicht bey sich einen Schluß
in Darii macht, ob er gleich ein blosser Empiricus ist. Der
erste von den Vordersätzen darinnen hängt seinem Beweise nach von dem Verstande ab;
der zweyte aber von der Einbildungskraft. Grosse Theoretici irren daher
gemeiniglich in Minori; grosse Practici hingegen in Maiori. Zum
Bey spiele mag folgender Schluß dienen:
jedes Fie ber, welches seinen Grund in den
kalten und feuchten Säften hat, muß mit hitzigen und tro ckenen Arzneymitteln vertrieben werden; das Fieber nun, welches diesen Kranken befallen hat,
ist nach allen Merkmalen ein solches, welches aus den kalten und
feuchten Säften entstehet; folglich muß es mit hitzigen und
trockenen Arzney mitteln kurirt werden. Die
Wahrheit des er sten Vordersatzes muß durch den
Verstand be wiesen werden, weil er allgemein
ist, nämlich da her, weil, wenn die Kälte und
Feuchtigkeit ge mässiget werden soll, dieses
durch nichts anders, als durch Wärme und Trockenheit geschehen kann, indem jede Beschaffenheit sich nur durch
die gegenseitige Beschaffenheit schwächen läßt. Kömmt man aber
auf den Beweis des andern Vordersatzes, so kann der Verstand
nichts dabey thun, weil er nicht allgemein ist, und also einer andern Fähigkeit zugehört. Diese ist die Einbil dungskraft, welche durch die fünf äusserlichen Sinne die eigentlichen und besondern Merkma
le der
Krankheit muß erkannt haben. Wenn nun diese Merkmale von der
Wärme oder ihrer Ursache hergenommen werden müssen, so kann sie der Verstand unmöglich erkennen: denn dieser
lehrt bloß, daß man die Merkmale daher nehmen müsse, woraus die
meiste Gefahr zu be sorgen sey. Welches Merkmal
aber das größ te sey, dieses kann bloß die
Einbildungskraft errei chen, indem sie den
Schaden des Fiebers mit dem Schaden der Symptomen und der
Ursache, nach ihrer Stärke und Schwäche, vergleicht. Zu dieser Erkenntniß zu gelangen, besitzt die
Eiinbildungskraft gewisse Eigenschaften, die sich nicht
beschreiben lassen, und vermittelst welcher sie Sachen erreicht,
die sich weder ausdrücken, noch begreifen, noch durch irgend eine
Kunst er lernen lassen. Sehen wir nicht
unzäligmal, daß ein Arzt einen Kranken zu besuchen kömmt, und durch das Gesicht, durch das Gehör, durch den
Geruch und das Gefühl Sachen erräth, welche ganz unmöglich zum errathen schienen, so daß er
selbst, wenn man ihn fragen sollte, auf was Wei se er zu einer so verborgenen und geheimen Kenntniß gelange,
die Ursache davon nicht ange ben könnte; weil
es eine Geschicklichkeit ist, die aus der Fruchtbarkeit der
Einbildungskraft ent steht. Jn der lateinischen
Sprache wird sie solertia genannt, und ihre Stärke besteht darin nen, daß sie aus gemeinen, ungewissen, verän derlichen und muthmaßlichen Kennzeichen in
ei nem Augenblicke tausend Verschiedenheiten
an
Dingen wahrnehmen kann,
als worinnen das Hauptwerk des Kurirens und der gewissen Vor herverkündigungen besteht.
[
↔] Diese Art der Scharfsichtigkeit fehlt Leuten von
grossem Verstande, weil sie ein Theil der Einbildungskraft ist.
Wenn sie also schon die Zeichen vor den Augen haben, woraus sie den Zustand der Krankheit schliessen könnten, so ha ben sie doch keine Wirkung auf ihre Sinne,
weil mit ihren Sinnen die Einbildung nicht stark genug wirkt. Es
fragte mich einsmals ein Arzt ganz im Vertrauen, woher es doch
kom men müsse, daß niemals eine einzige von
seinen Vorhersagungen eintreffen wolle, ob er gleich mit aller möglichen Neugierde die Grundsätze und
Regeln der medicinischen Prophezeyhungs kunst studirt habe, und darinnen nicht wenig gethan zu haben glaube? So viel ich mich
erinnere, antwortete ich ihm: es käme daher, weil eine andere
Fähigkeit erfordert würde, die Arzneykunst zu fassen, und eine
andere, sie aus zuüben. Er hatte einen grossen
Verstand, aber wenig Einbildungskraft.
[
↔] Bey dieser Lehre aber kömmt eine sehr gros se Schwierigkeit vor, diese nämlich: wie es möglich ist, daß Leute von grosser Einbildungs kraft die Arzneykunst erlernen können, da ihnen gleichwohl der Verstand fehlt? Und was es ihnen
hilft, daß sie dieselbe in den Schulen müh sam
erlernen, wenn es wahr ist, daß sie in ihren Kuren glücklicher
sind, als die allergelehrtesten
Aerzte? Hierauf antworte ich, daß es ein sehr
wichtiger Punkt sey, vorher die Arzneykunst zu lernen, weil ein
Mensch in zwey bis drey Jah ren alles dadurch
lernt, worauf die Alten kaum in
zweytausend Jahren kommen konnten. Wenn ein Mensch dieses bloß
durch die Erfahrung ler nen sollte, so müßte er wenigstens dreytausend Jahr leben, und durch Versuchung der Arzney mittel, ehe er ihre Eigenschaften kennen lernte, eine unendliche Anzahl Menschen ins Grab schi cken. Dieses aber hat er nicht nöthig, wenn er die Schriften der vernünftigsten und erfahren sten Aerzte, die vor ihm gelebt haben, lieset, weil diese darinnen alles aufgezeichnet, was sie Zeit
ihres Lebens erfunden und bemerkt haben, damit angehende Aerzte
gewisse Sachen sicher brau chen, andere aber
als schädlich sorgfältig vermei den können.
Ueberdieses muß man auch wis sen, daß die
allgemeinen und ganz bekannten Sachen, worauf es bey dem Werke
selbst am meisten ankömmt, in allen Künsten sehr deutlich und leicht zu begreifen sind: daß
hingegen die allerfeinsten, verborgensten und schwersten Sa chen gleich diejenigen sind, die man bey dem
Ku riren am allerersten entbehren kann. Da
nun also Leute von grosser Einbildungskraft doch nicht ganz und gar ohne Verstand und ohne Gedächt niß sind, so können sie schon durch den gerin gern Grad dieser zwo Fähigkeiten das allernö thigste in der Arzneykunst begreifen, weil es
das allerleichteste ist. Mit ihrer starken Einbildungs
kraft
hingegen können sie nicht nur die Krank heit
und ihre Ursache weit besser einsehen, als die allergelehrtesten
Aerzte, sondern sie fallen auch weit leichter auf das
Hülfsmittel, welches dabey nothwendig angewendet werden muß: und
auf diesen beyden Stücken beruht die ganze Praxis.
Galenus*) sagt daher: das eigenthümliche Bey wort
eines Arztes sey:
ein Erfinder der Ge legenheit. Die Zeit aber, den Ort und die Gelegenheit zu erkennen, dieses sind unwider sprechlich Wirkungen der Einbildungskraft, weil es auf Verhältnisse und
Uebereinstimmungen dabey ankömmt.
[
↔] Da aber die Einbildungskraft so viel ver schiedene Arten unter sich begreift, so kömmt es nunmehr darauf an, daß wir genau bestimmen,
welcher von diesen Arten die Ausübung der Arzney wissenschaft eigentlich zugehöre, indem nicht alle in allen
Stücken mit einander übereinkommen. Diese Untersuchung hat mir
mehr Arbeit und Ermüdung des Geistes verursacht, als alle
übrige Untersuchungen: dem ohngeachtet aber habe ich ihr den Namen, der ihr zugehört, noch nicht
geben können. So viel glaube ich ergründet zu haben, daß sie eine
Hitze erfordert, welche einen Grad geringer, als diejenige Hitze
ist, mit welcher die Einbildungskraft Verse und Reime macht. Doch auch hiervon bin ich noch nicht ganz über zeugt, weil ich angemerkt habe, daß fast alle gute
224
Practici sich mit der
Poesie ein wenig abgeben, doch so,
daß ihre Verse eben nicht allzutiefsinnig und allzu
bewundernswürdig sind. Dieses kann daher kommen, weil die Hitze
bey ihnen den Grad, wel chen die Poesie
erfordert, übersteigt. Und wenn dieses die Ursache ist, so muß
die Hitze so groß seyn, daß sie die Substanz des Gehirns ein
wenig verbrenne, die natürliche Wärme aber nicht allzu sehr auflöse. Wenn sie auch schon ein wenig
weiter geht, so verursacht sie doch noch kein übles
Genie zur Arzneykunst, weil sie alsdann durch die Ver brennung den Verstand mit der
Einbildungskraft verbindet. Keine Einbildungskraft aber
kann zum Kuriren so vortreflich seyn, als die, welche ich eben jetzt aufsuche, und welche den Menschen
zu einem Zauberer, zu einem Hexenmeister, zu einem Beschwörer, zu
einem Chiromanten, zu ei nem Nativitätsteller,
zu einem Wahrsager macht; weil die menschlichen Krankheiten oft
so verborgen sind, und ihre schädlichen Wirkungen so heimlich verrichten, daß man beständig dabey rathen und
prophezeyhen muß.
[
↔] Diese Art der Einbildungskraft ist in Spa nien sehr schwer zu finden; weil die Einwohner dieses Reichs, wie wir bewiesen haben, ein schwa ches Gedächtniß und eine schwache Einbildungs kraft, hingegen aber einen grossen Verstand
haben. Auch die Einbildungskraft derjenigen, welche wei ter gegen Norden wohnen, taugt zur Arzney wissenschaft nichts, weil sie allzulangsam und
träge ist, und zu weiter nichts dient, als zum Uhrmachen,
zum Mahlen und zu andern Künsteleyen, die den Menschen
wenig Nutzen schaffen.
[
↔] Das einzige Egypten ist dasjenige Reich, welches
seine Einwohner mit dieser Art Einbil dungskraft läßt gebohren werden. Daher können uns auch die
Geschichtschreiber nicht genug be schreiben, was für Hexenmeister die Zigeuner sind, mit was für Geschicklichkeit sie eine jede Sache
errathen, und mit was für Fertigkeit sie allen ihren Bedürfnissen
abhelfen können. Wenn Josephus die Weißheit des
Salomo recht hoch erheben will,
so spricht er:
die Weißheit und Klugheit, welche
Salomo von GOtt bekommen hatte, war so groß, daß er alle, die vor ihm gelebt und sogar die Egypter,
welche für das allerweiseste Volk gehalten werden, weit
übertraf.
Plato sagt, die Egypter wären unter allen Menschen auf der Welt
die geschicktesten, ihr Brod zu verdienen. Diese Geschicklichkeit
aber gehört der Einbildungs kraft zu. Die
Wahrheit hiervon erhellet noch deutlicher, wenn man überlegt, daß
alle Wissen schaften, welche von der Einbildungskraft abhän gen, in Egypten sind erfunden worden; als die Mathematik, die Astrologie, die Rechenkunst, die Perspektiv, die Wissenschaft künftige Dinge vor her zu verkündigen und viele andre.
[
↔] Was mich aber hierinnen am meisten bestärkt, ist
folgendes Beyspiel. Der König von Frankreich,
Franciscus von Valois, stand eine sehr
langwierige Krankheit aus. Als er nun sah, daß alle Aerzte
an seinem Hofe und in
seinem ganzen Lande ihm nicht zu helfen im Stande wären, so sagte
er allezeit, so oft die Hitze des Fiebers überhand nahm, es
wäre nicht möglich, daß ihm ein christlicher Arzt kuriren könnte, und er habe sich
aller Hofnung auf sie auch schon begeben. Einsmals als er ganz
ver zweifeln wollte, daß er sich Zeit Lebens
von dem Fieber sollte martern lassen, befahl er, man sollte ei nen Curier nach Spanien schicken, den Kayser
Carl den fünften zu bitten,
daß er ihm den geschicktesten jüdischen Arzt, den er an seinem Hofe habe, zu schicken solle, weil
er gewiß glaube, daß ihn dieser gesund machen werde, wenn ihn
anders menschli che Kunst gesund machen könne.
Man lachte in Spanien nicht wenig über diese Bitte, und man sah gar wohl, daß es ein Einfall eines fieberhaften Kranken sey. Unterdessen befahl der Kaiser
gleichwohl, einen solchen Arzt aufsuchen zu lassen, wenn es auch
ausser seinem Königreiche geschehen müsse. Zum Unglücke aber
konnte man keinen auftreiben, und mußte also an seiner Statt
einen angehenden christlichen Arzt schicken. Als dieser nach Frankreich kam, und dem Könige vorge stellt ward, so fiel zwischen beyden ein sehr artiges Gespräch vor. Jn diesem Gespräche entdeckte der
König, daß der Arzt ein Christ sey, und wollte sich also von ihm
durchaus nicht kuriren lassen. Er entdeckte es aber folgender
Gestalt, indem er den Arzt, in Meynung er sey ein Jude, beyläufig einmal fragte: ob er es
nicht einmal satt sey, auf den im Gesetze versprochenen Meßias zu hoffen?
Der Arzt. Jch, Sire? Jch hoffe auf kei nen Meßias, der in dem jüdischen Gesetze ver sprochen wird.
Der König. Und darinnen verfahrt ihr sehr
klug, indem die in der heiligen Schrift
angegebe nen Zeichen, woraus man seine
Ankunft schliessen soll, schon vor langer Zeit erfüllt sind.
Der Arzt. Und diese Zeit wissen wir Christen
ganz genau. Jetzt sind es tausend, fünf hundert und zwey und
vierzig Jahr, daß der Meßias in die Welt kam. Drey und dreyßig
Jahr blieb er in der Welt und ward mit Ausgange des drey und dreyßigsten Jahres gekreutziget. Am dritten
Tage aber stand er wieder auf, und fuhr hernach gen Himmel, wo er
noch ist.
Der König. Jhr seyd also ein Christ?
Der Arzt. Sire, GOtt sey Dank, das bin ich!
Der König. So? Kehret nur also, sobald wie
möglich, in euer Vaterland wieder zurück. Jch habe in meinem
Lande und an meinem Hofe christliche Aerzte genug. Jch habe euch
für einen Juden gehalten; denn nur die Juden, nach meiner Meynung, sind diejenigen, welche eine natürliche
Fähigkeit zum Kuriren haben. — — Auf solche Art schickte der König den Arzt wieder fort, ohne daß er sich von ihm auch nur den Puls berühren, oder den Urin
besehen ließ, ohne daß er ein einziges Wort von seiner Krankheit
mit ihm redete. Er schickte hierauf sogleich nach Constantinopel
und ließ einen Juden kommen; welcher ihm auch gar bald
durch Eselsmilch wieder zu
seiner Gesundheit verhalf.
[
↔] Diese Einbildung des
Königs Franciscus hat, so viel ich einsehe,
ihren guten Grund; und was mich am meisten davon überzeugt, ist
dieses, weil die Einbildungskraft, wie wir oben bewiesen haben, durch übermäßige Erhitzungen des Gehirns
Sachen einzusehen im Stande ist, die sie nim mermehr bey dem gesunden Zustande des Men schen erreichen konnte. Damit es aber nicht scheine, als sagte
ich dieses bloß zum Scherz, ohne einen Grund davon in der Natur angeben zu können; so soll man
wissen, daß überhaupt die Verschiedenheit der Menschen, sowohl in
Anse hung der Gestalt ihres Körpers, als in Ansehung ihres
Genies und der übrigen Eigenschaften der Seele, daher entsteht, weil sie Gegenden von ver schiedener Temperatur bewohnen, weil sie
verschie denes Wasser trinken, und nicht
alle einerley Nah rungen brauchen.
Plato*) spricht: οἱ
μεν που γε
δια
πνευματα
παντοια
και
εἱλησεις,
ἀλ- λοκοτοιτε
εἰσι, και
ἀνειδεοι
ἑαυτων!οἱ
μεν
δἰ
ὑδατα, οἱ δε
δια την
ἐκ της
γης
τροφην ἀναδιδουσαν, οὐ μονον
τοις
σωμασιν
ἀμεινον και
χειρον,
ταις
ψυχαις
δε οὐχ
ἡττον
δυ- ναμενην
παντα
τα
τοιαυτα
ἐμποιειν.
Das ist: die Menschen sind von einander ver schieden, weil sie verschiedenen Winden und Lüften ausgesetzt sind, weil sie verschiedenes Wasser trinken,
und weil sie nicht alle ei nerley Nahrung zu
sich nehmen: diese Ver
225
schiedenheit aber befindet sich nicht allein in den Gesichtern
und in der Gestalt der Körper, son dern auch in
den
Genies der Seelen. Wenn wir also
beweisen werden, daß das Jsraelitische Volk lange Zeit in
Aegypten gewesen, und daß es, als es wieder herausgezogen, nichts
als sol ches Wasser und solche Speisen
genossen, wel che durchaus geschickt sind,
diese Verschiedenheit der Einbildungskraft hervorzubringen, so
werden wir zugleich gedachte Meynung des
Königs von Frankreich bewiesen haben. Bey
Gelegenheit werden wir zugleich erkennen lernen, was man für
Genies, und was man für Leute in Spa nien, die Arzneykunst zu treiben, wählen müsse.
[
↔] Was das erstere anbelangt, so muß man wis sen, daß, als AbrahamGOtt um ein Zeichen
bat, woran er es merken könnte, daß er oder seine Nachkommen das versprochene Land besitzen wür den, er in einen tiefen Schlaf verfiel, worinnen ihm, wie die Schrift sagt, GOtt folgendermaassen
anwortete:
das sollt du wissen, daß dein Saame
wird fremde seyn in einem Lande, das nicht sein ist; und da
wird man sie zu dienen zwingen, und plagen vier hundert Jahr. Aber ich will richten das Volk, dem sie
dienen müssen. Darnach sollen sie ausziehen mit grossem
Gut. (1 Mos. XV.) Diese Prophezeyhung ward auch genau erfüllt,
ob gleich GOtt gewissermaassen noch dreyssig
Jahre hinzufügte, wie die Schrift (2. Mos. XII.) sagt:
die Zeit aber, die die Kinder Jsrael in
Aegypten gewohnt haben, ist vier hundert und
dreyßig Jahr. Da dieselben um waren, ging das ganze Heer des
HErrn auf einen Tag aus Aegyptenland. Diese Stelle
sagt zwar offenbar, daß das Volk Jsrael vier hundert und dreyssig Jahr in Aegypten gewesen sey, eine
Glosse aber merkt an, daß diese Jahre von der gan zen Zeit zu verstehen wären, welche das Volk her umgeirret sey, ehe es zu dem Besitze des
versproche nen Landes habe gelangen können;
in Aegypten selbst aber sey es nicht länger, als zwey hundert und zehn Jahre gewesen. Diese Erklärung stimmt
mit dem nicht allzuwohl überein, was der Proto martyr, der h.
Stephanus, in seiner an die
Jüden gerichteten Rede sagt, daß
nämlich das Volk Jsrael vier hundert und dreyssig Jahr in der
Knecht schaft Aegyptens gewesen wäre.
[
↔] Ob nun schon der Aufenthalt von zwey hundert und
zehn Jahren genug war, dem Volke Jsrael alle Eigenschaften
Aegyptens eigen zu machen, so war doch auch die übrige Zeit nicht
verlohren, son dern wurde zur völligen
Ausbildung des jüdischen
Genies erfordert; weil diejenigen, welche in der Knechtschaft, in Betrübniß und Elend, und in
fremden Landen leben müssen, viel verbrannte Cholera in sich
erzeugen, indem sie keine Freyheit zu
reden, noch sich wegen des erlittenen Unrechts zu rächen, haben.
Diese Feuchtigkeit aber, wenn sie verbrannt ist, ist das Werkzeug
der Bosheit, List und Tücke. Man
sieht auch daher aus der Erfahrung, daß niemand schlimmere
Eigenschaf
ten und Sitten hat, als ein
Sclave, dessen Einbil dung sich mit nichts
anders beschäftigt, als wie er seinem Herrn Schaden zufügen, und
sich in die Freyheit versetzen wolle.
[
↔] Das Land übrigens, durch welches das Jsrae litische Volk zog, war von den Beschaffenheiten Aegyptens nicht viel verschieden noch entfernt; da her auch GOtt dem Abraham, in Ansehung sei nes schlechten
Zustandes und seiner Unfruchtbar keit,
versprach, daß er ihm ein reicheres und frucht bareres Land geben wolle. Es ist aber sowohl in der gesunden
Philosophie, als in der Erfahrung eine höchst gegründete
Anmerkung, daß die schlechten und unfruchtbaren Gegenden, welche
weder fett noch an hervorgebrachten Früchten reich sind, Menschen von einem sehr scharfsinnigen
Genie erzeugen. Die fetten und fruchtbaren Gegen den hingegen erzeugen Leute, die zwar
ansehnlich von Person, muthig und von vieler körperlichen Stärke, ihrem
Genie aber nach ungemein trä ge sind.
[
↔] Von Griechenland können die Geschicht schreiber nicht genug erzählen, wie ausnehmend geschickt diese Gegend sey, Leute von grossen Fähig keiten hervorzubringen: besonders sagt
Galenus, *) daß es ein Wunder sey, wenn in Athen ein dum mer Mensch gebohren würde, ob es schon die allerelendeste und unfruchtbarste Gegend in ganz
Griechenland sey. Hieraus also ist zu schliessen, daß das
Jsraelitische Volk sowohl durch die Be
226
schaffenheiten Aegyptens als der übrigen Länder, durch welche
es zog, ein sehr scharfsinniges
Genie
bekommen habe. Man muß aber auch wissen, woher es komme, daß die
Temperatur in Aegypten diese Art der Einbildungskraft hervorbrin gen
könne. Die Ursache ist ungemein deut lich,
sobald man weiß, daß in dieser Gegend die Sonne sehr heiß brennt;
daß also die Einwohner ein verbranntes Gehirn und viel verbrannte
Cho lera haben müssen, welche das Werkzeug
der List und Verschlagenheit ist.
Aristoteles*) fragt daher: δια τι
οἱ
Αιθιοπες
και οι
Αιγυπτιοι
βλαισοι
εἰσιν; das ist:
warum die Aethioper und die Einwohner Aegyptens krumbeinicht,
dicklippicht und plattnäsicht sind? Er antwortet auf diese
Frage: weil die allzugrosse Hitze der Gegend die Sub stanz dieser Glieder austrockne, und sie also
krumm mache; so wie das Leder krumm läuft, wenn es zum Feuer gebracht wird; aus eben diesem Grunde
liefen auch ihre Haare krumm, die, wie man weiß, ganz kraus und
unrein sind. Daß ferner die jenigen, welche in
warmen Ländern gebohren wer den, weit klüger
sind, als die Einwohner kalter Länder, dieses haben wir schon
nach der Mey nung des
Aristoteles bewiesen, welcher die Frage
aufwirft: **) δια
το οἱ ἐν
τοις
θερμοις
το- ποις, σοφωτεροι
εἰσιν, ἠ οἱ ἐν
τοις
ψυχροις; warum die Bewohner warmer Gegenden klüger sind,
als die Bewohner kalter Länder? Al
227
228
lein er
weiß auf diese Frage nicht gehörig zu antworten, weil er keinen
Unterschied zwischen der Weisheit
macht, deren man nothwendig, wie wir im Vorhergehenden bewiesen
haben, zwey Arten annehmen muß. Die eine ist diejenige, von welcher
Plato sagt: die
Wissenschaft, die sich von der
Gerechtigkeit entfernt, ist eher Ver schlagenheit als Weisheit zu nennen. Die an dere ist diejenige, welche schlecht und recht, oh ne Falschheit und Trug ist. Diese allein ver dienet den Namen der Weisheit, weil sie be ständig von der Wahrheit und
Gerechtigkeit be gleitet wird. Die Bewohner
warmer Länder sind weise nach der ersten Art der Weisheit; und von dieser Gattung sind die Aegypter.
[
↔] Laßt uns nunmehr betrachten, was das jüdi sche Volk, nachdem es aus Aegypten
gezogen, für Speise gegessen und für Wasser getrunken habe, und von was für Temperatur die Luft, durch
welche sie reisen mußten, gewesen sey. Aus dieser Betrachtung
werden wir erkennen lernen, ob es durch angeführte Stücke das
Genie, wel ches es mit aus der Gefangenschaft
nahm, ver änderte oder mehr und mehr stärkte.
Ganzer vierzig Jahre, wie die Schrift sagt, (2. B. Mos. XVII.) speisete GOtt
dieses Volk mit Manna, mit der zartesten und schmackhaftesten
Speise, die jemals ein Mensch auf der Welt genossen hat. Ja sein Geschmack war so vortreflich, daß Moses
(2. B. Mos. XVI.)
seinem Bruder Aaron be fahl, ein Gefässe damit zu füllen, und es in der
Bundeslade aufzubewahren,
damit die Nachkom men dieses Volks, wenn sie in
dem verheissenen Lande seyn würden, sehen könnten, mit was für köstlichem Brodte ihre Väter in der Wüsten wären
gespeiset worden, und wie schlecht sie ihm für solche herrliche
Mahlzeiten gedankt hätten. Damit aber auch wir, die wir diese
Speise nicht gesehen haben, uns von ihrer Güte einen Begrif
machen können, so wird es dienlich seyn, daß wir das Manna,
wel ches die Natur hervorbringt, genau beschreiben. Wenn wir alsdenn
noch eine Annehmlichkeit mehr hinzuthun, so werden wir uns ihre
Vortreflichkeit vollkommen vorstellen können.
[
↔] Die Causa materalismaterialis, welche das Manna er zeugt, ist eine
sehr zarte Dunst, welche die Sonne aus der Erde durch die Gewalt
ihrer Hitze herauszieht. Diese Dunst steigt in die höhere Luft,
wo sie voll kommen zubereitet wird; wenn aber
die Kälte der Nacht dazu kömmt, so zieht sie sich zusammen und wird fest, und fällt vermöge ihrer Schwere
wieder auf die Bäume und Steine herab, wo man sie auflesen und
hernach in Töpfen zum Ge brauch aufheben muß.
Man nennt sie mel ro- scidum er
aëreum, weil sie mit dem Thaue eine grosse
Gleichheit hat, und aus der Luft erzeugt wird. Ihre Farbe ist
weiß; ihr Geschmack ist süß, wie Honig, und ihrer Figur nach
gleicht sie dem Ko riander. Eben diese
Beschreibung macht die heil.
Schrift von dem Manna, welches das Jsraeli tische Volk aß; ich vermuthe also, daß beyde von einerley
Beschaffenheit gewesen sind. Wenn aber das Manna, welches GOtt erschuf, von
einer noch weit feinern Substanz gewesen ist, so werde ich hierdurch nur noch mehr in meiner Meynung beftärktbestärkt, weil ich allezeit geglaubt ha be,
daß sich GOtt so lange natürlicher Mittel bedienet, so lange er
mit natürlichen Mitteln das, was er will, verrichten kann; und
daß er nur da, wo es der Natur an etwas fehlt, sei ne Allmacht anwendet. Jch sage dieses deswegen,
weil es schon in der natürlichen Beschaffenheit des Landes gegründet zu seyn scheinet, daß GOtt
den Jsraeliten in der Wüste Manna zur Spei se
gab, indem dieses Land noch bis jetzt das vor treflichste Manna von der Welt hervorbringt; ich läugne aber
hiermit nicht, daß GOtt durch das Manna etwas besonders habe
anzeigen wol len.
Galenus sagt: *) auf dem Berge Liba non, welcher nicht
weit von dieser Gegend ist, würde es in solcher Menge und von
solcher Gü te hervorgebracht, daß die Landleute
in ihren Liedern zu singen pflegten: Jupiter liesse in die sem Lande Milch regnen. Οιδαδε
ποτε
θε- ρους ὡρα
πλειϛον
ὁσον
ἐπι
τοις
των
δενδρων,
και
θαμνων
και
τινων
βοτανων
φυλλοις
ἑυ- ρεθεν, ὡς ὑπο
των
γεωργων
λεγεϛθαι
παι- zοντων, ὁ zευς
ἐβρεjε
μελι!
προηγειτο
γαρ
νυj μεν
ἐυψυχης,
ὡς ἐν
θερει!θερους γαρ
ἠν ὡρα
τυνικαυτα,
θερμη
δε και
jηρα
κρασις
ἀε- ρος
ἐπι της
προτεραιας!ἐδοκει
τοινυν
τοις
δει- νοις
περι
φυσιν, ἐ κ τ η ς
γ η ς δ ε κ
α ι τ ω ν ὑ
δ α τ ω ν ἀ τ μ ο ν
ἀ κ ρ ι β ω
ς λ ε π τ υ
ν θ ε ν τ α
κ α ι π ε φ
θ ε ν τ α
229
προς
της
ἡλιακης
θερμοτητος,
ὑπο
της
ἐπι- γενομενης
ἐπι της
νυκτος
ψυjεως
ἀθροισ- θηναι
πιληθεντα!παρ' ἡμιν
μεν οὐν
σπανιως
φαινεται τουτω
γινομενον,
ἐ ν δ ε
τ ῳ ὀ ρ ε ι
τ ῳ Λ ι
β α ν ῳ κ α
τ ' ἑκαϛον
ἐτος οὐκ
ὀλιγον! ὡ ϛ ε
ἐ κ π ε τ α
ν υ ν τ ε ς
ἐ π ι γ η ς
δ ε ρ μ α τ
α κ α ι σ ε
ι ο ν - τες τα
δενδρα,
δεχονται
το
ἀπορρεον
ἀπ' ἀυτων, και
χυτρας
και
κεραμια πληρουσι του
μελιτος!ὀνομαzουσι δ'
ἁυτο
δροσομελι
τε
και
ἀερομελι.
[
↔] Ob es nun gleich wahr ist, daß G O T T das Manna
auf eine wunderbare Weise erschuf,
weil es nur an den bestimmten Tagen und nur zu den gesetzten
Stunden in so grosser Menge da war; so kann es dennoch von eben
der Be schaffenheit gewesen seyn, als das Manna
ist, welches wir kennen: so wie das Wasser, wel ches Moses aus dem Felsen schlug, und das
Feuer, welches Elias vom Himmel fallen ließ, natürliches Wasser
und natürliches Feuer war, obgleich beydes durch ein Wunder
herbey kam. Das Manna, welches die Schrift (B. Mos. XVI.) beschreibt, war wie der Thau:
es war wie Koriandersaamen und weiß; und hatte einen Geschmack wie Semmel mit
Honig. Eben diese Eigenschaften hat auch das Manna, welches
die Natur hervorbringt. †)
230
[
↔] Das Temperament dieser Nahrung, sagen, die Aerzte,
ist warm, und ihre Substanz beste het aus
zarten und sehr feinen Theilchen. Eben
diese Zusammensetzung mußte auch das Manna
haben, welches die Hebräer in der Wüsten as sen: denn wie hätten sie sich sonst über
seine allzugrosse Feinheit beklagen und sagen können?
unserer Seele ekelt über dieser losen Spei se. Was wollten sie damit anders sagen, als dieses: unser Magen kann eine so leichte Nah rung nicht vertragen. Die Ursache davon war, weil sie starke Magen hatten, welche zu Kohl, Knoblauch und
Zwiebeln gewöhnt waren, und eine Speise von so wenig Widerstande,
womit sie sich sollten begnügen lassen, in lauter Chole
ra
verwandelten.
Galenus*) besiehltbefiehlt daher, daß diejenigen, welche viel natürliche Wär me hätten, kein Honig oder andere derglei chen leichte Speisen essen sollten, weil sie dieselben, anstatt zu verdauen, so verderbten, daß sie wie Rus verbrennten. Eben dieses widerfuhr den Hebräern
mit dem Manna, welches sich in nichts als eine verbrannte Cholera
verwan delte, so daß sie ganz trocken und
mager wurden, weil diese Speise nicht Festigkeit genug hatte, sie satt zu machen.
Unsere Seele, klagten
sie daher,
ist matt: denn unsere Augen se hen nichts, denn das Manna.
[
↔] Das Wasser, welches sie bey dieser Spei se tranken, war so beschaffen, als sie es verlang ten. Wenn sie es aber nicht so antrafen, so hatte GOtt dem Moses (2. B. Mos. XV.) ein Holz von so göttlicher Kraft gezeigt, daß, wenn er es in
schweres und bitteres Wasser warf, das Wasser sogleich leicht und
von dem angenehm sten Geschmacke ward. Wenn sie
ferner gar kein Wasser antrafen, so nahm Moses (2. B. Mos. XVI.)
die Ruthe, mit welcher er durch das rothe Meer zwölf Wege eröfnet
hatte, und schlug damit gegen die Felsen; sogleich sprang klares und süsses Wasser heraus, so gut als es
nur der Geschmack des Volks verlangen konnte. Der heil.
Paulus sagt daher:
von
231
dem Fels, der mit folgte; womit er so viel
sagen will: das Wasser, welches der Fels her gab, folgte allezeit ihrem Verlangen nach, in dem es so, wie sie es wünschten, klar, süsse und schmackhaft
war. Jhr Magen aber war ge wohnt, schweres und
bitteres Wasser zu trinken, weil in Aegypten, wie
Galenus*) erzählt, das Wasser so schlecht und verderbt ist, daß man
es erst abkochen muß, ehe man es trinken kann. Da sie also lauter reines und leichtes Was ser bekamen, so mußte es sich in ihrem Magen nothwendig in
Cholera verwandeln, weil es all zuwenig
Widerstand thun konnte. Das Was ser, sagt
Galenus, **) wenn es von dem Magen gehörig verdauet werden, und nicht
darinnen verderben soll, muß mit den derben Speisen, die man genießt, von einerley Beschaffenheit
seyn. Wenn der Magen stark ist, so muß man ihm auch
verhältnißweise starke Speisen geben; ist er aber schwach und
zärtlich, so müssen auch die
Speisen darnach eingerichtet seyn. Ein glei ches muß man mit dem Wasser beobachten. Wir sehen daher aus der
Erfahrung, daß ein Mensch, welcher
schweres Wasser zu trinken gewohnt ist, niemals seinen Durst mit
leichtem Wasser wird stillen können. Der Magen wird es nicht einmal empfinden, und seine Trocken heit wird zunehmen, weil die allzuunmässige Hi tze desselben leichtes Wasser verbrennt, und
es,
232
233
sobald es hinein kömmt, in
Ansehung des we nigen Widerstandes, den es thun
kann, auflöset.
[
↔] Von der Luft, welche die Jsraeliten in der Wüsten
schöpften, können wir gleichfalls sagen, daß sie sehr rein und
fein war. Denn da sie über Berge und durch unbewohnte Gegenden zogen, so fanden sie alle Augenblicke eine frische, reine und unangesteckte Luft, besonders, da sie
sich an keinem Orte lange aufhielten. Die Luft war übrigens (2. Mos. XIII.)
beständig ge mässigt, indem sich des Tags eine
Wolke vor die Sonne stellte, welche die Gewalt ihrer Strah len schwächte, des Nachts aber eine
Feuersäule vor ihnen herzog, welche die Luft gleichfalls in
ei ner beständigen Gleichheit erhielt. Durch
den Genuß einer solchen Luft aber, sagt
Aristoteles*) wird das
Genie ungemein belebt. Η
ἀριϛη κρασις
και τῃ
διανοιᾳ
συμφερει.
[
↔] Wenn wir nunmehr überlegen, was sich bey den
Mannspersonen dieses Volks für ein feiner und verbrannter Saame
müsse abgesondert ha ben, da sie nichts als
Manna assen, nichts als solches Wasser, wie wir es beschrieben
haben, tranken, und beständig eine so lautere und reine Luft athmeten; was ferner die Weibspersonen für ein zartes und reines monatliches
Blut müs sen gehabt haben: wenn man, sage ich,
dieses überlegt, und sich zugleich auf das besinnt, was
Aristoteles*) sagt, daß nämlich, wenn das mo
234
235
natliche
Blut zart und rein wäre, das Kind,
welches daraus erzeugt würde, ein Mensch von einem sehr
scharfsinnigen Geiste werde. Wie viel daran gelegen sey, daß die
Väter, wenn sie fähige Söhne erzeugen wollen, sich zarter Spei sen bedienen, werden wir in dem letzten
Haupt stücke dieses Werks weitläuftig
beweisen. Da nun alle Hebräer
einerley Speise genossen, wel che so fein und
geistig war, da sie einerley Was ser tranken;
so mußten auch alle ihre Kinder und Nachkommen scharfsinnig und
Leute von grossen Fähigkeiten in allen Welthändeln werden.
[
↔] Als aber das Jsraelitische Volk in den Be sitz des ihm verheissenen Landes nunmehr gesetzt war; so mußten sie bey ihrem, wie wir gesagt, so
scharfsinnigen
Genie so viel Mühseligkeiten,
Theurungen, feindliche Einfälle, Unterwerfun gen, Knechtschaften und Verfolgungen ausste hen, daß sie durch dieses elende Leben jenes war me, trockene und verbrannte Temperament, von welchem wir geredt haben, erhielten, ob sie es gleich weder
mit aus Aegypten, noch aus der Wüsten gebracht hatten. Eine
beständige Trau rigkeit, und ein beständiges
Elend macht, daß sich die Lebensgeister und das Pulsadernblut
so wohl in dem Gehirn, als in der Leber und
in dem Herzen häufen, und sich endlich, weil im mer mehr und mehr darzu kommen, unterein ander verbrennen und verzehren. Sie erregen daher sehr oft hitzige Fieber; und das Gewöhn lichste ist, daß sie viel schwarze und verbrannte
Galle erzeugen. Von dieser schwarzen
Galle haben fast alle Juden noch
bis jetzt sehr vieles, indem nach dem Ausspruche des
Hippokrates: *) φοβος
ἠ δυσϑυμιη πουλον
χρονον
διατελεη,
με- λαγχολικον
το τοιουτον. Diese verbrannte Cholera ist, wie wir in dem Vorhergehenden
bewiesen haben, das Werkzeug der Verschla genheit, der List und der Bosheit. Sie ist al so auch zu den medicinischen Vermuthungen
sehr geschickt; und mit ihr läßt sich die Krankheit, ihre Ursache, und das MitttelMittel, ihr abzuhelfen, ausfindig machen. Der
König Franciscus traf also die
Sache vortreflich, und sein Einfall war weder eine Raserey, noch
eine Eingebung des Teu fels. Durch das
anhaltende starke Fieber aber, durch die Traurigkeit sich krank
und hülflos zu sehen, wurde das Gehirn verbrannt, und seine Einbildungskraft auf einen höhern Grad getrie ben, so daß sie dasjenige Temperament
erhielt, mit welchem, wie wir oben bewiesen haben, ein Mensch sogleich auf Sachen fallen kann, die er
niemals gelernt hat.
[
↔] Gegen alles das aber, was wir bisher ge sagt haben, kann uns eine sehr grosse Schwie rigkeit gemacht werden, diese nämlich: wenn die Kinder und Nachkommen der Jsraeliten, wel che in Aegypten gewesen sind, Manna gegessen und das reinste Wasser, so wie die feinste Luft genossen
haben, sich mit Wahl auf die Arzneykunst
236
gelegt hätten, so könnte
die Meynung des
Königs
Franciscus aus angeführten Gründen einige Wahr scheinlichkeit haben; daß aber diese Nachkommen, die von dem Manna, von dem reinen und leichten
Wasser, von der lautern Luft, von den in der babylonischen
Gefangenschaft erlittenen Trüb salen
verursachten Beschaffenheiten bis auf den heutigen Tag sollten
beybehalten haben, ist eine ganz unbegreifliche Sache. Denn da in
vier hun dert und dreyßig Jahren, welche das
Jsraelitische Volk in Aegypten diente, da in vierzig Jahren,
die es in der Wüsten herumirrte, ihr Saame jene Eigenschaften, welche ein fähiges
Genie hervor bringen, annehmen konnte; so hat er sie in
zwey tausend Jahren, seit dem sie aus der Wüsten heraus sind, eben so leicht und noch leichter wie der verlieren können; besonders da sie nach Spa nien kamen, in ein Land, welches mit
Aegypten ganz widrige Beschaffenheiten hat, wo sie ganz andere Speisen essen, und weit schlechter Wasser
trinken müssen. Die Natur des Menschen ist einmal so, wie denn die Natur eines jeden
Thiers und einer jeden Pflanze gleichfalls nicht anders ist, daß sie sogleich die Eigenschaften des Landes, worinnen sie ist, annimmt, und diejenigen ablegt, welche sie aus einer andern Gegend mitgebracht hat. Man mag
sie in Umstände setzen, in was für welche man will, so wird sie
derselben in kurzen ohne Widerstand gewohnt werden.
[
↔]
Hippocrates*) erzählt, daß es ein gewisses Geschlecht Menschen gegeben
habe, welches sich
237
durchaus von dem gemeinen
Pöbel unterscheiden wollen, und deßwegen zum Zeichen seines Adels einen zugespitzten Kopf erwählt
habe. Damit sie nun diese Figur durch die Kunst zuwege brin gen möchten, so mußten die Kindermütter, so bald ein Kind auf
die Welt kam, den Kopf dessel ben mit Bändern
so stark und so lange umwinden, bis er diese Form angenommen
hatte. Dieser Kunstgrif vermochte so viel, daß er endlich zur Natur ward, indem mit der Zeit alle diese adlichen Kinder gleich mit einem spitzigen Kopf gebohren wurden, und
die Kindermütter ihre Mühe und Kunst dabey anzuwenden nicht
länger nöthig hat ten. Weil man aber nunmehr
die Natur frey ließ, und nicht länger durch die Kunst zwang; so kehrte sie auch nach und nach wieder zu ihrer
alten Art zurück, und machte die Köpfe wieder so, wie sie
dieselben vorher gemacht hatte.
[
↔] Eben dieses hat sich bey dem Jsraelitischen Volke
ereignen können, gesetzt auch, daß die Aegyptische Himmelsgegend,
daß das Manna, das reine Wasser, und die erlittnen Trübsalen
ihrem Saamen jene Beschaffenheiten, die ein fähiges
Genie hervorbringen, wirklich beygebracht ha ben. Da aber diese wirkenden Ursachen aufhörten, und andre ganz
widrige Ursachen dazu kamen, so mußten nothwendig die durch das
Manna ver ursachten Beschaffenheiten wieder
nach und nach verlohrengehen, und der Saame mußte andere Be schaffenheiten, welche der Gegend, die sie
nunmehr bewohnen, der Speisen, die sie geniessen, dem
Wasser, das sie trinken,
und der Luft, die sie athmen, gemäß sind, annehmen.
[
↔] Doch dieser Zweifel ist für einen Philosophen von wenig Wichtigkeit; weil es zufällige
Beschaf fenheiten giebt, die in einem
Augenblick hervor gebracht werden, und
Zeitlebens in ihrem Subjecte bleiben, ohne sich im geringsten zu
verändern. Andere hingegen verlieren sich in eben der Zeit wieder, die zu ihrer Hervorbringung erfordert
wurde; und auch hiervon einige geschwinder, andere langsamer,
nach Beschaffenheit der wirken den Ursache und
des leidenden Subjects. Von dem erstern kann man dieses zum
Beyspiele anführen, daß von einem grossen Schrecken ein gewisser Mann so entstaltet und blaß
wurde, daß er einer Leiche vollkommen ähnlich sah. Diese Gestalt und Farbe behielt er nicht allein Zeit sei nes Lebens; sondern beyde pflanzten sich auch auf seine Kinder fort, ohne daß man ein Mittel, ihnen davon zu helfen, erfinden konnte.
[
↔] Wenn dieses möglich war, so ist es auch ganz wohl
möglich, daß bey dem Jsraelitischen Volke, nachdem es vier
hundert und dreyssig Jahr in Aegypten, vierzig Jahr in der
Wüsten, und sieben zig Jahr in der
Babylonischen Knechtschaft gewesen war, mehr als drey tausend
Jahr erfordert wurden, wenn der Saame Abrahams die von dem Manna gewirkten
Beschaffenheiten, die zu einem fähigen
Genie nothwendig sind, gänzlich verlieren soll te; indem ja bloß eine Todtenfarbe, die das Schrecken in einem Augenblicke hervorgebracht
hatte, zu verlieren, mehr als hundert
Jahr nöthig waren. Damit man aber die Wahrheit dieser Lehre von Grund aus verstehen möge, so werden
wir vorher auf zween Zweifel antworten müssen, die unsern
Gegenstand betreffen, und die man noch niemals recht aufgelöset
hat.
[
↔] Der erste ist dieser: je schmackhafter und zärtlicher die Speisen sind, wie zum Beyspiel das Fleisch der jungen Hüner und Rebhüner ist,
desto geschwinder bekömmt der Magen einen Abscheu und Ekel
dagegen: woher kömmt das? Hingegen sehen wir, daß ein Mensch, der
das ganze Jahr hindurch nichts als Rindfleisch ißt, nicht die geringste Beschwerlichkeit davon empfin det; wenn er aber drey oder vier Tage hinter einander nichts als junge Hüner essen sollte, so würde er sie gewiß den fünften Tag nicht einmal
ohne Ekel mehr riechen können.
[
↔] Der andere Zweifel hierinnen: das Brodt, welches
von Korn gebacken wird, und das Schö psenfleisch ist bey weiten von so guter Beschaf fenheit und von so feinem Geschmacke nicht, als Hüner und Rebhüner sind; gleichwohl
aber be kömmt der Magen niemals einen Ekel, ob
er es gleich Zeitlebens ißt; woher kömmt dieses, und warum schmecken uns alle übrige Nahrungsmittel,
derer wir uns bedienen könnten, nicht, wenn uns das Brodt fehlt?
†)
238
[
↔] Wer auf diese beyden Zweifel zu antworten weiß,
der wird auch leicht die Ursache einsehen können, warum die Nach
kommen des Jsraelitischen Volks die Beschaffenheiten, welche das
Manna ihrem Saamen gegeben, noch nicht verlohren ha ben, und warum sie auch so bald ihr
scharfsinniges
Genie, welches aus diesen Beschaffenheiten ent stand, nicht verlieren möchten. Es sind in der natürlichen Weltweisheit zween gewisse und un widersprechliche Grundsätze, von welchen die Be antwortung und die Auflösung dieser Zweifel
ab hänget. Der erste ist dieser: daß alle
Vermögen heiten insgesammt, welche den
Menschen regieren, von den Umständen und Beschaffenheiten
ihrer Gegenstände entblößt sind, damit sie alle ihre Ver schiedenheiten erkennen und beurtheilen können.
[
↔] Bey den Augen, zum Beyspiele, welche alle Figuren
und Farben an sich nehmen müssen, war es unumgänglich nothwendig,
sie von allen Figuren und Farben zu entblössen: denn wären sie
gelb, so würden alle Sachen, die ihnen vorkämen, diese Farbe zu haben scheinen, so wie es denen geht,
die von der Gelbsucht befallen sind. Gleichfalls muß auch die
Zunge, welche das Werkzeug des Ge
schmacks
ist, für sich keinen Geschmack haben: denn wenn sie süsse oder
bitter ist, so wissen wir schon aus der Erfahrung, daß alles, was
wir essen und trinken, eben diesen Geschmack hat. Eben dieses ereignet sich an dem Geruch und an dem Gefühle.
[
↔] Der zweyte Grundsatz ist dieser: alles Er schaffene strebt natürlicher Weise nach seiner Er haltung, und bemüht sich immer zu dauern,
und in dem Wesen, welches ihm GOtt
und die Natur gab, zu verbleiben,
wenn es auch schon hernach ein besseres Wesen bekommen sollte.
Diesem Grundsatze gemäß, verabscheuet jedes Erschaffene, dem es an Gefühl und Sinnen nicht
fehlt, alles, was seine Natur verändern oder verderben könne, und flieht es aus äussersten Kräften.
[
↔] Der Magen ist von dem Wesen und den
Beschaffenheiten aller Speisen, die in der Welt sind, gänzlich
entblößt, so wie das Auge von allen Figuren und Farben entblößt
ist. Wenn wir also etwas essen, gesetzt, daß es der Magen überwindet, so wirkt diese Speise dennoch wieder
gegen diesen Magen zurück, und verändert und ver dirbt sein Temperament und sein Wesen, weil ihr Wesen von ganz
anderer Beschaffenheit ist, und kei ne wirkende
Ursache so stark seyn kann, daß sie nicht eine Gegenwirkung
empfinden sollte. Die zarten und schmackhaften Speisen ändern den
Magen sehr stark; *) theils weil er sie mit vielem Appe
239
tit und
mit grosser Hitze verdauet und durchwirkt; theils, weil sie so
fein sind und so wenig grobe Thei le haben, daß
sie in die Substanz des Magens selbst eindringen, und schwer
wieder heraus zu bringen sind. Wenn nun der Magen empfindet, daß diese Nahrung seine Natur verändert und sein
Verhältniß, welches er gegen die übrigen Nahrungen hat, aufhebt,
so ekelt ihm davor; und wenn er sie ja geniessen muß, so kann man
ihn nicht anders, als durch viele Zuthat und durch vieles Gewürze hintergehen. Sogar das Manna war
hiervon nicht ausgenommen, ob es gleich die allerzarteste und
schmackhafteste Speise war; denn endlich wurden die Jsraeliten
dieser Speise über drüssig, daß sie sogar
schrieen:
unsrer Seele ekelt über dieser losen Speise. Diese Klage eines
Volks, welchem GOtt so besonders wohl wollte, war höchst unbillig, weil sie das sicherste Mittel darwider hatten, indem sie dem Manna
allen Geschmack geben konnten, den sie nur, seiner nicht
überdrüßig zu werden, verlangten. Die meisten von ihnen assen es
auch sehr gern, weil sie Knochen, Nerven und Fleisch in dem
Manna fanden, welches alles mit seinem Wesen so ver bunden war, daß sie der grossen Gleichheit
wegen nichts anders verlangten. Eben dieses ereignet sich an dem Brodte, welches wir noch essen, und
an dem Schöpsenfleische. *) Die groben Speisen,
240
welche von keiner guten
Substanz sind, als das Rindfleisch, haben viel Unverdauliches,
daher sie auch der Magen nicht mit so grosser Begierde iuin sich nimmt, als die zarten und schmackhaften Speisen,
und folglich von ihnen sobald nicht kann verändert werden.
Hieraus folgt, daß die Ver änderung, welche das
Manna nur in einem ein zigen Tage verursachte,
wieder aufzuheben, der Magen wenigstens einen ganzen Monat hinter
ein ander nichts, als ganz entgegengesetzte
Speisen hätte zu sich nehmen müssen. Wenn man diese Rechnung nun weiter fortführt, so werden wenig stens vier tausend und noch mehr Jahre †) er fordert, ehe sich die Beschaffenheiten gänzlich ver lieren, die der Saame in ganzen vierzig Jahren durch das Manna erhielt. Wem dieses unwahr scheinlich vorkömmt, der setze den Fall: GOtt habe, so wie er die zwölf Stämme Jsraels aus
Aegypten führte, auch zwölf Mohren und Mohrin nen aus Aethiopien geführt und sie in unsere Gegend versetzt.
Wie viel Jahre würden wohl erfordert, ehe diese Mohren und ihre
Nachkommen die schwar ze Farbe verlören, wenn
sie sich nicht mit weissen Menschen vermischten? Jch sollte
denken, es wür den sehr viel Jahre darzu
erfordert, da es doch nun schon länger als zwey hundert Jahr
sind, daß die ersten Ziegeuner aus Aegypten nach Spanien
241
kamen, und gleichwohl ihre
Nachkommen we der die verbrannte Farbe noch das
scharf sinnige
Genie, welches ihre Väter mit aus Aegy pten
brachten, verlohren haben. So groß ist die Stärke des
menschlichen Saamens, wenn er einmal eine gewisse Beschaffenheit
fest an sich genommen hat. Wie also die Mohren aus Spanien die schwarze Farbe auf ihre Nachkommen bringen würden,
durch den Saamen nämlich, ob sie gleich nicht in Aethiopien sind:
so hat auch das jüdische Volk,
nachdem es in unsere Gegend gekommen, auf seine Nachkommen das
scharf sinnige
Genie
gebracht, ob sie gleich weder in Aegy pten
gewesen sind, noch Manna gegessen haben; denn weise oder klug zu
seyn, ist eine eben so zu fällige Eigenschaft
des Menschen, als weiß oder schwarz zu seyn. Es ist auch in der
That wahr, daß die Juden jetzt nicht mehr so verschlagen und scharfsinnig sind, als sie etwa vor tausend Jahren waren; †) denn seit
dem sie aufgehöret haben Man na zu essen, hat
das
Genie von Geschlecht zu Ge schlecht um etwas abgenommen; theils, weil sie sich anderer Speisen bedient, in Gegenden gewohnt, die von der Aegyptischen ganz verschieden sind und
242
Wasser getrunken haben,
das bey weiten nicht so rein ist als das Wasser in der Wüsten
war; theils weil sie sich mit den Nachkommen der heidnischen Völker vermischt haben, die
diese Art des
Genies nicht hatten, wovon sie, welches man nicht leugnen kann, noch bis jetzt nicht wenig besitzen.
Dreyzehntes Hauptstück. Wie man es erkennen solle,
welcher Art des Genies die Kriegskunst zuge höre, und aus welchen Merkmalen man
schliessen könne, ob ein Mensch dieses Genie besitze.
[
↔] Woher kömmt es, fragt
Aristoteles, *) daß, obgleich die Tapferkeit nicht die allervor nehmste Tugend ist,
und die Gerechtigkeit und Klugheit ihr weit vorzuziehen sind,
gleichwohl der Staat, und beynahe
alle Menschen einmüthig einen Tapfern höher schätzen, und ihm
innerlich mehr Ehre erzeigen, als
dem Gerechten und Klugen, wenn sie auch in den größten Aemtern
und Würden stehen? Er antwortet auf diese Aufgabe, weil kein König in der Welt sey, welcher nicht entweder anfallende oder vertheidigende Kriege führe. Da nun die Tapfern ihm Ruhm und Länder erwer
243
ben, ihn
gegen seine Feinde beschützen und seine Reiche erhalten; so wird
nicht sowohl der größten Tugend, als welches keine andere als die
Gerechtig keit ist, sondern der
zuträglichsten und nützlichsten Tugend die meiste Ehre erwiesen.
Wenn man den Tapfern anders begegnen wollte, so würden die Könige schwerlich Generale und Soldaten
finden, welche ihr Leben freywillig aufopferten, um ihre Länder
und Schätze zu vertheidigen.
[
↔] Unter den asiatischen Völkern, erzählet man, *) sey ein gewisses Volk gewesen, welches von seiner Tapferkeit sehr viel Rühmens gemacht habe. Wenn
man sie nun gefragt, warum sie weder Könige noch Gesetze hätten,
so wäre ihre Antwort gewesen, weil sie die Gesetze feigherzig
machten, und weil es ihnen keine geringe Thorheit zu seyn schiene, sich den Gefährlichkeiten des Krieges aus zusetzen, um eines andern Staaten zu erweitern; wenn sie ja streiten müßten, so wollten sie lieber für sich streiten, und die Siege zu ihrem eigenen Nutzen anwenden. Doch so kann nur ein barbarisches, aber kein gesittetes Volk antworten, welches gewiß über zeugt ist, daß die Menschen ohne Könige, ohne Re publiken, und ohne Gesetze unmöglich in
Frieden leben können.
[
↔] Das, was
Aristoteles sagt, hat
seine gute Richtigkeit, ob sich gleich noch eine weit bessere Antwort ertheilen liesse, welche auf folgendes
hinauslaufen würde. So lange Rom seine Ge nerale in Ehren hielt, so wurde durch die Triumphe
244
und öffentlichen
Feyerungen nicht allein die Tapfer keit des
Triumphators belohnt, sondern zugleich auch seine Gerechtigkeit,
durch die seine Armee in Friede und Eintracht erhalten wurde;
seine Klugheit, womit er seine Heldenthaten ausführ te, und seine Mässigkeit bey dem Essen, bey dem Weine und bey dem Frauenzimmer, ohne welche
er in seinen Anschlägen irrig und in seiner Beurtheilung verwirrt
geworden wäre. Jn der That ist auch bey einem obersten Feld herrn weit mehr auf die Klugheit zu sehen,
als auf Muth und Tapferkeit; denn, wie
Vegetius sagt, so sind wenig tapfere und
beherzte Feldher ren geschickt, grosse Thaten
auszuführen, indem die Klugheit im Kriege weit nöthiger ist, als
der Muth, den Feind anzugreifen. Was aber eigent lich dieses für eine Klugheit sey, hat
Vegetius nicht einsehen können;
er hat auch nicht zu be stimmen gewußt, welche
Art des
Genies der jenige haben müsse, der einen
Anführer im Krie ge abgeben wolle. Jch wundere
mich auch hierüber gar nicht, weil damals die Art zu phi losophiren, durch
die man es allein erkennen kann, noch nicht bekannt war.
[
↔] Es ist zwar wahr, indem wir uns mit die ser Untersuchung abgeben, so thun wir etwas, welches eigentlich zu unserm Vorhaben, die
Ge nies, welche jeder Theil der Gelehrsamkeit
erfordert, zu bestimmen, nicht gehört. Da aber der Krieg eine so gefährliche Sache ist, und
so viel Berath schlagung erfordert; da es für
einen König von
der
äussersten Nothwendigkeit ist, daß er wisse, wem er seine Gewalt
und seine Staaten anver trauen solle; so werden
wir hoffentlich dem Staate keinen geringern Dienst leisten, wenn
wir auch die se Art des
Genies und ihre Merkmahle bestimmen, als wir ihm durch die
Bestimmung der übrigen
Genies geleistet haben. Man soll daher wissen, daß die Malitz und Militz, so wie sie beynahe einerley
Benennung haben, also auch beynahe einerley Sache sind; denn wenn
man das a in ein i verwandelt, so wird gar leicht aus malitia mili- tia und wieder aus militia
malitia zu machen seyn. Welches die Eigenschaften der
Bosheit (ma- litiae) sind, dieses sagt
uns
Cicero: *) malitia est versuta et fallax nocendi
ratio. Das ist: die Bosheit ist nichts anders, als eine
geschickte, listige und verschlagene Art Böses zu thun. Und kömmt es wohl im Kriege auf etwas
anders, als darauf an, daß man seinen Feinden zu schaden, und sich vor seiner Hinterlist zu hüten weiß? Die beste Eigenschaft also, die ein oberster Feldherr haben kann,
ist diese, daß er boshaft gegen sei nen Feind
ist, und keine einzige Bewegung zu
seinem Nutzen, vielmehr zu seinem äussersten Verderben, jedoch
mit Behutsamkeit mache. Daher sagt auch der Prediger: traue
deinem Feinde nicht, ob er gleich süsse und glatte Wor te auf den Lippen hat; denn in seinem Herzen liegt ein Hinterhalt, der dich tödten wird: mit
den Augen weint er, wenn aber die Zeit kömmt, so wird ihn auch
dein Blut nicht sättigen.
245
[
↔] Ein offenbares Beyspiel haben wir hiervon selbst
in der Schrift. *) Als das Jsraelitische Volk in Bethulien eingeschlossen,
und von Durst und Hunger geplagt war, gieng jenes berühm te Weib, die Judith, in der Absicht den Holo fernes zu tödten, heraus. Als sie an das
Lager der Assyrer kam, ward sie von den Wachen an gehalten, welche sie fragten, von wannen sie
kä me, und wohin sie wollte. Hierauf
antworte te sie ganz listig:
ich bin ein ebräisches Weib, und
bin von ihnen geflohen: denn ich weiß, daß sie euch in die
Hände kom men werden, darum, daß sie euch
ver achtet haben, und nicht wollen Gnade su chen, und
sich willig ergeben. Darum habe ich mir vorgenommen, zu dem
Für sten Holofernes zu kommen, daß ich
ihre Heimlichkeit offenbare und sage ihm, wie er sie leichtlich gewinnen möge, daß er nicht
einen Mann verlieren dürfe. Als sie nun vor den
Holofernes gebracht ward, so fiel sie auf die Erde nieder, schlug
die Hände zu sammen, betete ihn an, und brachte
die aller glattesten und süssesten Reden von
der Welt vor, so, daß Holofernes und seine ganze Raths versammlung glaubte, sie rede die Wahrheit. Unterdessen vergaß sie doch den Vorsatz nicht,
den sie fest in ihrem Herzen trug, sondern hieb ihm bey der
ersten bequemen Gelegenheit den Kopf ab.
246
[
↔] Gleich das Gegentheil von diesem thut ein Freund, welcher folglich allezeit Glauben ver dient. Und weit besser wäre es auch gewesen, wenn Holofernes dem Achior geglaubt hätte, welcher
sein Freund war, und aus blossem Ei fer für
seine Ehre, daß er nicht mit Schanden
die Belagerung aufheben dürfe, zu ihm sagte:
mein Herr, laß forschen, ob sich das Volk
versündiget hat an seinem GOtt: so wol len wir hinauf ziehen; und ihr GOtt wird sie dir gewißlich in die Hände geben,
daß du sie bezwingest. Haben sie sich aber nicht versündiget
an ihrem GOtt, so schaf fen wir nichts wider
sie: denn ihr GOtt wird sie beschirmen, und wir werden zu Spott werden dem ganzen Lande.
[
↔] Doch über diesen Rath ward Holofernes erbittert, weil er ein kühner Mann und dem Frauenzimmer und dem Weine sehr ergeben war, als welche drey Stücke alle Anschläge, die bey der
Kriegskunst nöthig sind, verwirren.
Plato*) sagt daher: daß ihm das Gesetz der Car thaginenser ungemein wohl gefallen habe, ver möge dessen kein oberster Feldherr, so lange er bey der Armee
sey, Wein trinken dürfen; weil dieser Saft, wie
Aristoteles**) sagt, die Menschen auffahrend und übermüthig macht, wie
es an dem Holofernes und aus
seiner wütenden Rede gegen den Achior zu ersehen ist. Das
Genie
247
248
übrigens, welches man
gegen die Feinde nöthig hat, wenn man ihnen theils Fallen
stellen, theils den von ihnen gestellten Fallen entgehen will, hat
Cicero sehr wohl
eingesehen, wenn er von dem Ursprunge des Worts versutia redet, und es von dem Worte versari ableitet, weil alle listige, ver schlagen, und tückische Leute in einem Augenblicke auf eine Hinterlist fallen, und ihren Geist mit
leichter Mühe hier und dahin wenden können, wie es
Cicero selbst durch ein Beyspiel deutlicher
macht, wenn er *) sagt: Chrysippus homo sine dubio
versutus et callidus. Versutos appello, quo- rum celeriter
mens versatur. Diese Fähigkeit, bald auf ein Mittel zu
fallen, ist die Scharfsinnig keit, und gehört
der Einbildungskraft zu; weil alle
Vermögenheiten, wobey es auf die Wärme an kömmt, ihre Wirkungen sehr geschwind verrichten. Leute von
grossem Verstande also taugen zum Krie ge nichts, weil diese
Vermögenheit in ihren Wir kungen sehr langsam
verfährt, und eine Freundin des Rechts, der Wahrheit, der Einfalt und Barm herzigkeit ist, welche alle im Kriege nicht
wenig Schaden zu verursachen pflegen. Sie verstehen sich übrigens auf keine Ränke und Kriegslisten;
sie wissen weder selbst dergleichen anzugeben, noch denen, die
man ihnen gelegt hat, auszuweichen. Sie werden unzähligmal
betrogen, weil sie einem jeden glauben; sie sind zu nichts gut,
als mit Freunden Unterhandlungen zu haben, wo sie weder
249
Klugheit noch
Einbildungskraft, und bloß einen gesunden und richtigen Verstand
brauchen, welcher keiner Arglist fähig ist, und keinem Uebels zu
thun sucht. Gegen den Feind hingegen sind sie gar nicht zu brauchen; weil dieser auf nichts denkt, als wie er seinen Gegner durch Arglist ins Verderben
ziehen möge, und man also eine gleiche Arglist anwenden muß, wenn
man sich der seinigen ent ziehen will. Unser
Heiland ermahnte daher seine
Jünger:
siehe, ich sende euch wie Schafe mitten
unter die Wölfe: darum seyd klug wie die Schlangen, und ohne
Falsch wie die Tauben. (Matth. X.) Klug sollen wir seyn
gegen unsern Feind, ohne Falsch aber gegen unsern Freund.
[
↔] Wenn also ein Feldherr seinem Feinde nicht glauben
soll, wenn er beständig vermuthen muß, er wolle ihn betrügen, so
muß er nothwendig eine Art der Einbildungskraft haben, welche
wachsam und wahrsagend sey, daß er durch sie jede Arglist, sie mag verborgen seyn, wie sie will, entdecke; weil eben dieselbe Fähigkeit, die sie entdeckt, auch die Mittel dagegen erfindet. Eine andre Art der Ein bildungskraft gehört zur Ausdenkung derjenigen Maschinen, womit man sonst unüberwindliche Festungen einnehmen kann; eine andre zur Ab steckung des Lagers und zur Ordnung der Regi menter; eine andre zur
Beobachtung der Gelegen heit bald anzufallen,
sich bald zurück zu ziehen; eine andre zur Verabredung und
Schliessung der Capitulationen, der Bündnisse und Friedensarti
ckel
mit dem Feinde. Zu diesem allen aber ist der Verstand eben so
ungeschickt, als die Ohren zum Sehen sind. Jch zweifele daher
nicht länger daran, daß die Kriegskunst der Einbildungskraft zugehöre; weil alles, was ein guter
Feldherr zu thun hat, auf Figuren, auf Verhältnisse und
Ueberein stimmungen hinausläuft.
[
↔] Die Schwierigkeit bestehet nunmehr nur darinnen,
daß wir auch die Art der Einbildungs kraft
bestimmen, mit welcher der Krieg eigentlich geführet wird.
Hierüber aber werde ich mich nicht mit allzugrosser Gewißheit
auslassen können, weil eine allzufeine Erkenntniß darzu erfordert wird. Was ich aber vermuthe
ist dieses, daß noch ein Grad mehr Wärme dazu erfordert werde,
als zur Ausübung der Arzneywissenschaft, und daß sich die Cholera ganz und gar verbrennen müsse.
Dieses erhellet gar deutlich, weil die allerverschla gensten und listigsten Feldherren eben nicht die aller tapfersten und kühnsten zum Anfalle und
bereit willigsten zur Schlacht sind; sondern
vorher auf unzählige Ränke und Hinterhalte bedacht sind, damit sie ihre That desto sichrer ausführen können. Diese Eigenschaft lobt
Vegetius mehr, als irgend eine andere: boni enim duces non aperto prae- lio, in quo est commune
periculum, sed ex oc- culto semper attentant, vt integris
suis, quan- tum possunt, hostes interimant certe aut ter- reant. Das ist: die besten Feldherren sind nicht diejenigen, welche in freyem Felde streiten, es zur offenbaren Schlacht kommen lassen, und auf ihre
Feinde ohne Hinterlist losgehen,
sondern diejenigen sind es, welche sie mit Ränken und durch
Hinter halte ohne Verlust ihrer eignen
Mannschaft schwä chen. Den Nutzen, den diese
Art des
Genies bringt, sah der römische Rath
nur allzuwohl ein: denn wenn auch verschiedene berühmte
Feldherren, die er hielt, viel Schlachten gewonnen hatten,
und in Rom deßwegen die gewöhnlichen Ehrenbezei gungen und den Triumph erhielten; so war doch das Klagen und Weinen der Väter um ihre Söhne,
der Söhne um ihre Väter, der Weiber um ihre Männer, der Brüder um ihre Brüder so groß, daß
man alle die öffentlichen Lustbarkeiten vor Beweinung der in der
Schlacht gebliebenen nicht geniessen konnte. Der Senat beschloß
also, keine so tapfre Feldherren, die es sogleich zur Schlacht kommen liessen, mehr zu wählen, sondern behutsame und listige Anführer aufzusuchen, wie
Quintus Fabius war, von welchem die Geschichtschreiber melden, daß er selten
oder gar nicht die römische Armee einer offenen Feldschlacht
ausgesetzt habe, besonders, wenn er weit von Rom entfernet
gewe sen wäre, daß er also nicht so bald
wieder frisches Volk hätte bekommen können, wenn er sollte unglücklich gewesen seyn. Seine ganze Kunst
bestand darinnen, daß er dem Feinde auswich, und sich auf nichts,
als auf Ränke und Hinterhalte legte; wodurch er sehr grosse
Thaten verrichtete, und sehr viel Siege ohne einen Mann zu
verlieren er langte. Er wurde daher in Rom mit
allgemeinen Freuden empfangen: denn wenn er mit fünftau
send
Soldaten ausgezogen war, so kam er mit eben so vielen wieder
zurück, diejenigen ausgenommen, welche eine Krankheit hingerissen
hatte. Die Zurufungen des Volks waren, wie sie
Ennius aus drückt: *) unus homo nobis cunctando resti- tuit
rem. Einer macht uns dadurch, daß er dem Feinde
ausweicht, zu Herren der Welt und erhält uns unsere Soldaten.
[
↔] Diesen haben hernach verschiedene Feldherren nachzuahmen gesucht; weil sie aber sein
Genie und seine Verschlagenheit nicht hatten,
so liessen sie oft die besten Gelegenheiten zur Schlacht aus
den Händen, und verursachten dadurch weit mehr Schaden und Unheil, als wenn sie noch so ge schwind zum Anfalle gewesen wären.
[
↔] Zum Beyspiele können wir gleichfalls jenen
berühmten Carthaginensischen Feldherrn, den
Hannibal anführen, von welchem
Plutarchus fol gendes erzählt. Als er ieneneinen grossen Sieg erfoch ten hatte, so
befahl er, eine grosse Menge römischer Gefangenen ohne Lösegeld
großmüthig loszulassen, damit der Ruf von seiner Güte und
Menschenliebe in ihren Gegenden ausgebreitet würde. Seinem
Genie nach war er weit von diesen Tugenden ent fernt, indem er seiner
Natur nach wild und unm menschlich war, und von
Kindheit an eine solche Auferziehung gehabt hatte, daß ihm sein Vater weder Gesetze noch Sitten, sondern
nichts als Krie ge, Mord und feindseliges
Verfahren erlernen ließ. Er war daher der grausamste und
verschlagenste
250
Feldherr, und alle seine
Gedanken waren beständig auf nichts gerichtet, als darauf, wie er
seinen Feind ins Verderben ziehen möchte. Sobald er merkte, daß er ihm im offenen Felde nichts anhaben könnte, so stellte er ihm Fallen, wie man schon einigermas sen aus angeführtem Treffen, besonders aber aus dem Treffen, welches er dem
Sempronius bey dem Flusse Trebia lieferte, sehen kann.
[
↔] Die Merkmale, aus welchen man es schlies sen kann, ob der Mensch diese Art des
Ge nies habe, sind sehr besonders, und
verdienen genau beobachtet zu werden.
Plato sagt, *) daß derjenige, welcher in dieser Art der Fähigkeit,
die wir jetzt vor uns haben, die größte Stärke zeige, weder tapfer noch sonftsonst von guten Eigenschaften seyn könne, weil die Klugheit,
wie
Aristoteles**) sagt, in der Kälte; Muth und Tapferkeit aber in der Hitze bestehe. So zuwider nun diese beyden
Eigenschaften sind, so unmöglich ist es auch, daß ein Mann
zugleich tapfer und klug seyn könne. Wenn er das letztere seyn
soll, so muß sich die Cholera nothwendig verbrennen und zur
schwarzen Galle werden; aus der schwarzen Galle aber, weil sie kalt ist, entstehet sogleich Furcht und Feigherzig keit. ***) Die List und Verschlagenheit erfordert
251
252
253
Wärme, weil sie ein Werk
der Einbildungskraft ist, doch nicht in dem Grade, in welchem sie
zur Tapferkeit nothwendig ist; beyde müssen sich also in den Graden zuwider seyn.
[
↔] Hierbey fällt etwas sehr Merkwürdiges vor, dieses
nämlich: daß von den vier moralischen
Tugenden, der Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigkeit,
die ersten zwo ein
Genie und eine gute Temperatur erfordern, wenn sie zur
Ausübung sollen gebracht werden können. Wenn ein Richter keinen Verstand, den rechten Punct der Gerechtig keit zu treffen, besitzt, so nützt sein guter Wille, einem jeden Recht wiederfahren zu lassen, wenig.
Bey aller seiner guten Absicht kann er irren und dem wahren
Eigenthumsherrn das, worüber ge stritten wird,
absprechen.
[
↔] Ein gleiches versteht sich von der Klugheit. Wenn
der Wille genug wäre, ein Vorhaben wohl anzuordnen, so würden die
Menschen niemals we der in einer bösen, noch in
einer guten That irren. Jeder Dieb wünscht so zu stehlen, daß er
weder er griffen noch gesehen werde; jeder
Feldherr möchte gern klug genug seyn, seinem Feinde einen Rank abzurennen. Allein wenn der Dieb nicht mit Ge schicklichkeit zu stehlen weiß, so wird er entdeckt; und wenn es dem Feldherrn an Einbildungskraft fehlt, so ist er schon so gut als
überwunden.
[
↔] Die Tapferkeit und Mäßigkeit hingegen sind zwo
Tugenden, welche der Mensch in seiner Gewalt hat, ob ihm gleich eine natürliche Fähigkeit dazu fehlt. Wenn jemand sein Leben wenig achten und
tapfer seyn will, so ist er es auch;
wenn er aber tapfer, vermöge seiner Natur ist, so behaupten
Plato und
Aristoteles mit Recht, daß er nicht zu gleich klug seyn könne, ob er es gleich seyn wolle. Es ist
folglich nichts unmögliches, die Klugheit mit Muth und Tapferkeit
zu verbinden: denn der Kluge weiß, daß man für die Seele die Ehre, für die Ehre das Leben, und für das Le ben alles Vermögen aufopfern müsse; und er opfert es auch auf, wenn es die Noth erfordert.
Daher kömmt es, daß der Adel, weil er so geeh ret wird, auch so tapfer ist; und daß niemand im Kriege mehr
aussteht und Ungemach über sich nimmt, als ein Adelicher, ob er
gleich noch so zärtlich erzogen ist, nur damit man ihm den Namen eines Feigherzigen nicht beylegen kön ne. Das Sprichwort hat also seinen guten
Grund:
GOtt bewahre einen jeden des Tags vor
einem Adelichen, und des Nachts vor einem Mönche: denn
beyde streiten als dann mit doppeltem Muthe;
der eine weil er gesehen wird, der andere, weil er nicht ge sehen wird.
[
↔] Auf eben diesem Grunde beruht der Orden der
Maltheser = Ritter. Man wußte nämlich, daß der Adel sehr vieles
dazu beytrage, wenn ein Mensch tapfer seyn soll; man befahl
also, daß niemand in diesen Orden treten dürfte, wel cher nicht sowohl von väterlicher als
mütterli cher Seite her von Adel sey; weil
alsdann je der Ritter gleichsam für zwey
Geschlechter strei
ten müsse. Wenn man aber dem ersten dem
besten von diesen Rittern befehlen wollte, ein La ger abzustecken, eine Schlacht zu ordnen, und die Art und Weise anzugeben, wie man den Feind
anfallen sollte, so würde er gewiß, wenn er kein
Genie dazu hätte, tausend Ungereimtheiten sa gen und begehen, weil die Klugheit nicht in der Gewalt eines
jeden Menschen steht. Wenn man ihm hingegen befiehlt, ein Thor zu
verthei digen, so wird er gewiß dem Befehle
auf das Beste nachkommen, ob er gleich von Natur feig herzig ist. Der Ausspruch des
Plato hat nur alsdenn seine Richtigkeit, wenn
der Kluge sei ner natürlichen Neigung folgt,
und sie nicht durch die Vernunft
bessert. Denn das ist ge wiß, vermöge seiner
Natur kann ein weiser Mann nicht
tapfer seyn, weil, wie
Hippokra tes*) sagt, die verbrannte Cholera, welche ihn klug macht, ihn
auch zugleich furchtsam und feigherzig machen muß.
[
↔] Die zweyte Eigenschaft, welche derjenige, der
dieses
Genie zur Kriegskunst hat,
nicht be sitzen kann, ist die Artigkeit und
Höflichkeit. Denn seine Einbildungskraft beschäftiget sich mit nichts als mit Ränken; er weiß nichts, als
was für Fehler und Nachlässigkeiten einer Armee schädlich sind,
und wie er sich derselben, wenn sie vorfallen, gehörig bedienen
muß. Der unwissende Pöbel nennt daher seine Vorsicht ei nen unruhigen Geist; seine Kriegszucht Grau
254
samkeit;
seine Nachsicht Barmherzigkeit; seine
Verstellung und Ertragung übler Handlungen ein gutes Gemüth. Diese falschen Benennun gen aber rühren aus der Dummheit der Men schen her, welche sie den wahren Werth eines jeden Dinges, und die eigentliche Art, wie man damit umgehen
müsse, einzusehen verhindert. Die Klugen und Weisen hingegen
haben keine Geduld, und können es nicht mit ansehen, wenn eine Sache übel geführt wird, ob sie ihnen gleich nichts angeht; sie leben daher kurze Zeit, und bringen ihr
Leben mit lauter Aergerniß zu. Hier auf zielt
das, was
Salomo*) sagt:
ich gab mein Herz darauf, daß ich
lernte Weis heit und Thorheit und Klugheit.
Jch ward aber gewahr, daß solches auch Mü he ist. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel
lehren muß, der muß viel leiden. Mit diesen Wor ten scheint
Salomo zu verstehen zu geben, daß er bey der Thorheit
vergnügter gelebt habe, als bey der Weisheit. Und so ist es auch
in der That; die Thoren leben weit ruhiger, weil
ihnen nichts Sorge und Verdruß verursa chen
kann, und weil sie nicht glauben, daß sie ein anderer an Wissenschaft und Klugheit über treffe. Solche Leute nennt der gemeine Pöbel
Engel des Himmels, weil er sieht,
daß sie durch nichts beleidiget werden, daß sie sich über nichts bekümmern, daß sie sich über nichts
255
Böses ärgern, und über
alles gelassen weggehen. Wenn man aber die Weisheit und die
Eigen schaften der Engel genauer
betrachtete, so wür de man finden, daß dieses
Sprichwort sehr un anständig und sogar der
Ahndung der Jnquisi tion würdig wäre. Sobald
als wir unsere Ver nunft zu brauchen anfangen, bis an den Augen blick unseres Todes, thun die
Engel nichts an deres, als daß sie uns unsere
übeln Handlungen vorhalten, und uns
auf unsere Schuldigkeit wei sen. Wenn sie, so
wie sie ihre geistige Spra che mit uns reden, indem sie unsere Einbildungs kraft regieren, mit
körperlichen Worten uns ih re Gedanken
entdecken sollten, so würden sie uns gewiß sehr beschwerlich und
eigensinnig vorkom men. Man darf nur überlegen,
wie beschwer lich jener Engel, wie er bey dem
Matthäus (XI. 10.) genannt wird, *) dem
Herodes und der
Frau seines Bruders Philippus fiel: weil sie seine Verweise nicht
hören wollten, so liessen sie ihm den Kopf abschlagen.
[
↔] Mit grösserm Rechte könnte man diejenigen
Menschen, welche der dumme Pöbel
Engel des
Himmels nennt, Esel der Erden nennen: denn unter den
unvernünftigen Thieren, sagt
Galenus, ist keines unvernünftiger und von
we niger Fähigkeit, als eben der Esel, ob er
sie gleich alle an Gedächtniß **) übertrift, ob er sich gleich
256
257
keiner Last entziehet, ob
er gleich aller Orten mitgehet, wo man ihn hintreibet, ob er
gleich weder ausschlägt noch beißt, ob er gleich weder hämisch noch untreu ist, ob er sich gleich auch
nicht über die Schläge erzürnet, und in allen Stücken so ist, wie
ihn sein Herr nur verlangen und brauchen kann. Eben diese
Eigenschaften haben diejenigen Leute, welche der Pöbel
Engel des Himmels nennt, deren Stille und
Bieg samkeit bloß aus ihrer Dummheit, aus
dem Mangel an Einbildungskraft und ihrer Lang samkeit sich zu erzürnen, herrührt, welches alles sehr grosse Fehler bey einem Menschen sind, und
von einem schlechten Temperamente zeigen.
[
↔] Weder ein Engel noch ein Mensch hat je mals eine bessere natürliche Beschaffenheit ge habt, als unser Heiland Christus; gleichwohl trieb er, als er einmal
in den Tempel kam, die jenigen mit ziemlich
tüchtigen Schlägen heraus, die darinnen kauften und verkauften.
Der Zorn ist die Ruthe oder das Schwerd des Ver standes; und derjenige Mensch, welcher sich über keine üble Handlung ärgert, ist entweder ein
Dummkopf, oder es fehlt ihm das Erzürnliche. Es ist daher ein
Wunder, wenn ein weiser
Mann sanft und gelinde und so ist, wie ihn die Bösen gern haben wollen. Alle Geschichtschreiber, die das Leben des
Julius Cäsar anfgezeichnet haben, erstaunen darüber, daß die Soldaten einen so
strengen und rauhen Mann hätten dulden kön nen,
welche Eigenschaften man seinem
Genie,
das völlig zum
Kriege eingerichtet war, zu schreiben muß.
[
↔] Die dritte Eigenschaft derjenigen, welche die ses
Genie bekommen haben, ist, daß sie
um den Putz ihrer Person wenig bekümmert sind. Sie sind fast alle unordentlich und schmuzig; sie gehen mit herunterhängenden und runzlichten Strümpfen; sie schleppen
ihren Mantel; sie sind Liebhaber von alten Kleidern und wechseln
ungern damit. *) Die se Eigenschaft hatte, wie
Lucius Florus erzählt, jener
berühmte Feldherr, der
Viriatus, von Ge burt ein Portugiese. Der Geschichtschreiber
er zählt zum Lobe seiner grossen Demuth, er
sey in dem Anzuge seiner Person so nachlässig gewesen, daß kein einziger gemeiner Soldat in seiner ganzen
Armee gewesen sey, welcher nicht besser gekleidet ge wesen wäre als er. Doch in der That war dieses an dem
Viriatus weder eine
Tugend, noch ein Kunst grif, sondern es war
eine natürliche Wirkung der jenigen Art der
Einbildungskraft, mit deren Unter suchung wir
uns jetzt beschäftigen. Der unordent liche
Anzug des
Julius Cäsar hatte sogar den
Cice ro
betrogen. Denn als er nach der Schlacht gefraget wurde, was ihn
bewogen habe, der Parthey des
Pompejus beyzutreten, so antwortete er, wie
Ma crobius erzählt: praecinctura me fefellit. Das ist: der unordentliche Anzug des
Cäsars verführte mich.
Cäsar gieng beständig ohne Gürtel, so daß
258
ihm die Soldaten sogar zum
Spott einen Zu namen von dem offenen Ueberrocke
beygelegt hatten. Doch eben dieses hätte den
Cicero von dem Gegentheile überzeugen sollen,
daß nämlich
Cäsar gleich das rechte
Genie habe, welches zum Kriege erfordert werde.
Sylla, wie uns
Sueto nius meldet, hatte es weit
besser getroffen; denn eben die unordentliche Tracht des
Cäsars bewog ihn, den Römern den Rath zu geben: cauete puerum male praecinctum. Hütet euch ihr
Römer, wollte er sagen, vor diesem unordentlich gekleideten
Knaben. Auch von dem
Hannibal
können uns die Geschichtschreiber nicht genug er zählen, wie nachlässig er in seinem Anzuge gewesen sey, und wie
wenig er sich der Artigkeit und Höflich keit
beflissen habe. *) Ueber jedes Fäserchen auf dem Kleide empfindlich werden, ängstliche Sorg falt anwenden, daß die Strümpfe so glatt als mög lich anliegen, und daß der Mantel keine unrechte Falte mache, das ist die Wirkung einer Einbildungs kraft von geringerem Werthe, welche sowohl dem Verstande, als derjenigen Art der Einbildungs kraft, welche der Krieg erfordert, zuwider ist.
[
↔] Das vierte Merkmal ist ein kahler Kopf. Die
Ursache hiervon ist sehr deutlich, weil diese Art der
Einbildungskraft, sowohl als alle andere, in
259
dem Vordertheile des
Haupts ihren Sitz hat. Die übermäßige Hitze verbrennt die Haut
des Kopfs, und verschließt die kleinen Gänge, durch welche die Haare hervorkommen sollten. Die Materie, woraus, nach der Meynung der Aerzte, die
Haare erzeugt werden, ist dasjenige, was das Gehirn von seiner Nahrung wieder von sich stößt. Da aber
die grosse Hitze, welche darinnen ist, alle diese un brauchbare Ueberreste verderbet und verzehret, so können unmöglich Haare erzeuget werden; weil die
Materie fehlt, woraus sie erzeugt werden sollen.
[
↔] Wenn
Julius Cäsar in der
Naturforschung so weit gekommen wäre, so würde er sich nicht
so sehr über seinen kahlen Kopf geärgert haben. Da mit er durch Kunst diesen vermeinten Fehler
ver bergen möchte, so kämmte er die hintern
Haare, wel che in den Nacken herunter fallen
sollten, gegen die Stirne; und nichts war ihm, wie uns
Suetonius erzählt, angenehmer,
als da ihm der Senat bestän dig eine
Lorberkrone zu tragen erlaubte, worunter er seinen kahlen Kopf
desto besser verbergen konnte.
[
↔] Ein kahler Kopf kann auch daher entstehen, wenn
das Gehirn hart und von einer allzufesten Zusammensetzung ist,
welche aus allzuirdischen Theilen besteht. Alsdenn aber ist es
ein siche res Zeichen, daß es dem Menschen an allen drey Fähigkeiten,
an dem Verstande, an der Ein bildungskraft und an dem Gedächtnisse
fehlt.
[
↔] Daß fünfte Kennzeichen, woraus man schliessen
kann, ob ein Mensch diese Art der
Einbildungskraft besitze, ist dieses: daß er we nig Worte mache, und gleichwohl viel Denk würdiges sage. Die Ursache hiervon ist, weil sein Gehirn trocken ist, und er also nothwendig Mangel am
Gedächtnisse haben muß, von wel chem der
Reichthum an Worten abhänget. Ein Mensch, der immer etwas zu
reden haben soll, muß Gedächtniß mit der Einbildungskraft in dem
er sten Grade der Wärme verbinden; und
diejenigen, bey welchen diese Verbindung Statt findet, sind gemeiniglich grosse Lügner, und haben immer etwas zu schwatzen und zu erzählen, wenn man ihnen nur immer zuhören
wollte.
[
↔] Die sechste Eigenschaft derjenigen, welche die se Verschiedenheit der Einbildungskraft besitzen, ist, daß sie sehr schamhaft und bescheiden sind, und sich über unanständige und unzüchtige Worte un gemein ärgern.
Cicero
sagt daher, *) daß die ver nünftigsten Menschen der
Natur in ihrer Ehrbar keit nachahmen, welche die unehrbaren und scham haften Theile an die verborgensten Oerter gebracht habe, weil sie zu den Nothwendigkeiten, nicht aber zur Zierde des Menschen gehörten. Wie sie also nicht wolle,
daß sie den Augen sollten ausgesetzt seyn, so wolle sie auch
nicht, daß man mit ihren Be nennungen die Ohren
beleidigen solle. Dieses kann man gar wohl der Einbildungskraft
zuschreiben, welche vielleicht durch die übele Gestalt dieser
Thei
260
le
beleidiget wird. †) Doch
die wahre Ursache wer den wir in dem letzten
Hauptstücke angeben, und sie dem Verstande beylegen, so daß wir
einen Mangel an dieser Vermögenheit bey denen daraus schlies sen, welche durch unzüchtige Reden nicht
belei digt werden. Da nun mit der Art der
Ein bildungskraft, welche zum Kriege
erfordert wird, auch der Verstand
verbunden werden muß, so ist die Ursache offenbar, warum grosse
Feldherren schamhaft in ihren Reden sind. ††) Einen Be weis der Schamhaftigkeit, der vielleicht der
stärkste ist, den jemals ein Mensch auf der Welt gegeben hat, findet man in der Geschichte des
Julius Cä sars, diesen
nämlich. Als er in dem Senate mit Dolchstichen ermordet wurde und
nunmehr sah, daß er dem Tode nicht
entfliehen könnte, so bemühte er sich so auf den Boden zu fallen,
und sich so mit seinem Kleide zu bedecken, daß er nach seinem
Tode auf eine anständige Art gestreckt liegen möchte, oh=
261
262
ne daß man die Beine oder
andere Theile bloß sehen könnte, welche schamhafte Blicke zu
beleidigen vermögend wären.
[
↔] Die siebente Eigenschaft und die wichtigste unter
allen ist diese, daß er glücklich sey. Diese Eigenschaft ist
diejenige, woraus man am sicher sten schliessen
kann, daß ein Mensch das
Genie und die Fähigkeiten habe, welche die Krieges kunst erfordert. Denn die Wahrheit zu gestehen, so ist die gemeinste Ursache, daß die Menschen un glücklich sind, daß ihre Unternehmungen keinen er wünschten Ausgang haben, diese, weil es
ihnen an Klugheit fehlt, und sie nicht die eigentlichen Mittel, welche ihr Endzweck erfordert, anzuwen den wissen. Weil
Julius
Cäsar in allen seinen Unternehmungen so viel Klugheit
anwandte, so mußte er auch nothwendig einer von den aller glücklichsten Feldherren seyn, die jemals in
der Welt gewesen sind. Er selbst pflegte seine Sol daten bey grosser Gefahr mit diesen Worten
zu ermuntern: fürchtet euch nicht;
Cäsar und sein Glück sind bey euch.
[
↔] Die stoischen Weltweisen glaubten: so
wie es eine erste allgemeine, ewige, allmächtige und unendlich weise Grundursache gäbe, welche sich
aus der Ordnung und Harmonie ihrer vortrefli chen Werke erkennen liesse; eben so gäbe es
auch eine andere
unverständige und veränderli che, in deren
Werken weder Ordnung noch Weis heit zu spüren sey. Diese nun ertheile und rau be dem Menschen, nach einem blinden Triebe,
Reich thum, Würden und Ehre. Sie gaben ihr den Namen Fortuna, weil sie sahen, daß sie eine Freundin
derjenigen sey, welche in allen ihren Handlungen forte, das ist, auf gut Glück, ohne
Ueberlegung, ohne Vernunft und Vorsicht ver fahren. Damit sie ihre
Eigenschaften und Tü cke noch deutlicher machen
möchten, so mahlten sie sie in der Gestalt eines Frauenzimmers, mit einem königlichen
Scepter in der Hand, mit ver bundenen Augen,
und auf einer runden Kugel stehend; und gaben ihr eine Menge
dummer Leute zum Gefolge, die weder Verstand noch Le bensart hatten. Durch die weibliche Gestalt zeigten sie ihre Flatterhaftigkeit und Unwissen heit an. Durch den Scepter gaben sie zu ver stehen, daß sie eine Königinn des Reichthums und der Ehre sey. Die verbundenen Augen zielten auf die
schlechte Wahl, die sie in Aus theilung ihrer
Geschenke beobachte. Die runde Kugel, worauf sie stand, bemerkte
die Unbestän digkeit ihrer Gunstbezeugungen,
die sie den Men schen eben so unvermuthet
erweiset, als unvermu thet sie ihnen selbige
wieder entzieht, daß sie al so bey keinem
beständig bleibt. Das Uebelste aber an ihr ist dieses, daß sie
den Bösen wohl will, und die Guten
verfolgt; daß sie die Dum men liebet und die
Klugen verabscheuet; daß
sie die Edeln unterdrückt, und die Niedrigen er hebt; daß ihr das Garstige gefällt, und das Schöne zuwider ist. Auf diese Eigenschaft ver lassen sich nicht wenige Menschen, welche
ein mal ihr gutes Glück kennen. Sie
unternehmen die verwegensten und unsinnigsten Dinge, und führen sie glücklich aus. Andere sehr geschick te und kluge Leute hingegen wagen sich nicht, auch mit den allerwohlüberlegtesten Unterneh mungen zum Werke zu schreiten; weil sie schon aus der Erfahrung wissen, daß der Ausgang selten
so ist, wie er seyn sollte.
[
↔] Was das Glück für eine grosse Freundin des dummen
Pöbels sey, beweiset schon
Aristo stoteles*) durch die Frage: δια
τι ὁ πλου- τος ὡς
ἐπι το
πολυ
παρα
τοις
φαυλοις
μαλ- λον ἠ
τοις
ἐπιεικεσιν
ἐϛιν; Warum
meisten theils die Reichthümer den Bösen
zufallen, und warum die Armuth größtentheils die Redlichen trift? Er antwortet hierauf: ἠ
διοτι
τυφ- λος ὠν
την
διανοιαν οὐ
δυναται
κρινειν οὐδε αἱρεισϑαι το
βελτιϛον.
Das ist: weil das Glück blind sey, und das Beste weder zu erken nen noch zu wählen wisse. Doch, wahrhaftig, diese Antwort ist einem grossen Weltweisen sehr
unanständig; weil in der That kein Glück ist, von welchem die
Menschen den Reichthum er hielten. Und gesetzt
auch, es wäre ein Glück, so ist die Frage dennoch nicht
aufgelöset, war um dieses Glück den Bösen
allezeit wohl wolle, und die Redlichen allezeit verfolge?
263
[
↔] Die wahre Auflösung dieses Problems ist diese:
weil die Bösen sinnreich sind, und eine grosse Einbildungskraft besitzen, †) welche ihnen tausend Wege zeigt, im Handel und Wandel zu
betriegen; weil sie wissen, wie man Reich thum
erwerben, und den erworbenen Reichthum schonen müsse. Redlichen
Leuten hingegen fehlt es an der Einbildungskraft, so, daß wenn
einer von ihnen die Bösen nachahmen und Wucher treiben will, er im kurzen Jnteressen und Ka pital verlieret. Eben dieses merkte unser Hei land an, wenn er (Luc. XVI.) von der Geschick lichkeit jenes Haushalters redet, welchem
seine Rechnung abgefordert wurde. Ob er gleich das Vermögen seines Herrn durchgebracht hatte, so
konnte er doch seine Verwaltung mit Handschrif ten und Quittungen belegen. GOtt lobte diese Klugheit, ob sie gleich übel angewendet war, und
fügte hinzu:
denn die Kinder dieser Welt sind
klüger, denn die Kinder des Lichts
264
in ihrem Geschlechte. Das ist, jene, die
Kinder dieser Welt, haben mehr Erfindungen und Kunstgriffe, als
die Kinder GOttes; weil diese nichts als einen guten Verstand
haben, mit welchem sie sich nach den Gesetzen GOttes rich ten, mit der Einbildungskraft aber schlecht
ver sehen sind, als von welcher Vermögenheit
die Geschicklichkeit, sich in der Welt fortzubringen, abhängt. Viele sind daher moralisch
gut, weil sie keine Fähigkeit haben, böse zu seyn. Diese Antwort, sollte ich meynen, wäre sehr deutlich
und handgreiflich; weil aber die Philosophen in die Naturlehre nicht soweit
hineingiengen, so er fanden sie jene unsinnige
und unbeständige Ur sache, das Glück, welcher
sie jeden guten und schlimmen Ausgang zuschreiben, da sie ihn
viel mehr der Unvorsichtigkeit und der
Ungeschicklich keit der Menschen zuschreiben
sollten.
[
↔] Wenn jemand die Menschen genau betrachten will, so
wird er finden, daß es deren vier Klassen in jeder Republik
giebt. Einige sind klug, und scheinen es nicht zu seyn, andere
scheinen es, und sind es nicht; andere sind es nicht und scheinen
es auch nicht; andere sind es, und scheinen es auch. Es giebt Leute, welche verschwiegen, langsam im
Reden, träge im Antworten, ohne Höflich keit,
ohne Zierlichkeit in ihren Reden sind: in sich aber besitzen sie
eine verborgene und na türliche Fähigkeit,
welche von der Einbil dungskraft abhänget, und
durch welche sie Zeit und Gelegenheit bey allen ihren Ver
richtungen, Mittel und Wege ihren Endzweck zu erreichen,
richtig erkennen, ohne sich darüber gegen irgend einen
auszulassen, und ihm ihre Einsicht zu entdecken. Diese nun nennt
der ge meine Pöbel glückliche Leute, weil es
scheint, als ob sie nur sehr wenig Klugheit und Geschicklich keit bey ihren Verrichtungen, die ihnen alle
glück lich von Statten gehen, anwendeten.
[
↔] Hingegen giebt es andere Leute, welche mit dem
Munde sehr fertig sind, immer grosse Ein fälle
und Projecte haben, die ganze Welt sich zu regieren getrauen, und
sichere Mittel wissen wol len, wie man mit
wenigem ein grosses Vermö gen erlangen könne.
Diese scheinen dem Pöbel in die innersten Geheimnisse der Weisheit einge drungen
zu seyn; greifen sie aber das Werk selbst an, so sieht man, daß
ihnen nicht das geringste von Statten geht. Dergleichen Leute
sind es, welche sich über das Glück beklagen; die es blind, närrisch und unsinnig nennen, weil sie wahrneh men, daß auch das, was sie mit noch so grosser Klugheit ausgesonnen zu haben glauben, dennoch
keinen guten Ausgang habe. Wenn wirklich ein Glück wäre, welches für sich antworten könn te, was würde es wohl sagen? Jhr selbst, wür de es sagen, seyd unbeständig, närrisch und unver nünftig; ihr haltet eure Thorheit für
Weisheit; ihr wendet üble Mittel an, und diese übeln Mittel sollen gleichwohl einen guten Endzweck hervor bringen. — — — Diese Art
von Leuten besitzt diejenige Art der Einbildungskraft, welche den
Worten Zierlichkeit und
den Reden blendenden Schimmer giebt; sie scheinen also etwas zu
seyn, was sie in der That nicht sind.
[
↔] Aus allem diesen schliesse ich also, daß derje nige Feldherr, welcher ein
Genie hat, wie es die Kriegskunst erfordert, und vorher alles wohl überlegt, ehe er es unternimmt, nothwendig sehr
glücklich seyn muß. Findet aber das Gegen theil
bey ihm Statt, so wird er gewiß nicht ei nen
einzigen Sieg davon tragen; GOtt müß te denn für ihn streiten, so wie er für die Hee re des Jsraelitischen Volks ehemals
gestritten hat. Bey dem allen aber muß man doch alle zeit die klügsten und weisesten Feldherren
erwäh len, die nur zu finden sind. Denn weil
man nicht alles der göttlichen Hülfe überlassen muß, und der Mensch nicht einzig und allein auf sei ne Fähigkeit und auf sein
Genie trauen
soll, so ist es am besten, wenn man beydes verbindet, indem das Glück nichts anders, als GOtt, und die eigene kluge Vorsicht des Menschen ist.
[
↔] Derjenige, welcher das Schachspiel erfand, erfand
eine Vorstellung der ganzen Kriegskunst, indem er alle
Betrachtungen, die man in dem Kriege machen muß, alle Vorfälle,
die sich dar innen ereignen, keinen einzigen
ausgenommen, anbrachte. Und gleichwie in diesem Spiele kein Glück Statt findet; wie man denjenigen Spie ler, welcher seinen Gegner überwindet, nicht glück lich und den Ueberwundenen nicht unglücklich
nen nen kann: eben so muß man denjenigen
Feld
herrn, welcher überwindet, weise, den Ueberwun denen aber dumm und unvorsichtig, nicht aber jenen glücklich
und diesen unglücklich nennen. †) Der Hauptpunkt, den der Erfinder des
Schach spiels darinnen festsetzte, ist, daß
derjenige Theil überwunden seyn sollte, dessen König matt ge macht sey. Hierdurch wollte er zu verstehen
ge ben, daß alle Stärke einer Armee in dem
Hau pte desjenigen ist, welcher sie regiert
und an führt. Damit er dieses unwidersprechlich
zei gen möge, so gab er dem einen Theile so
viel Stücken, als dem andern, damit derjenige, wel cher verlöre, deutlich sehen möchte, die
Schuld habe an seiner Ungeschicklichkeit, und nicht an dem Glücke gelegen. Dieses fällt noch mehr in die
265
Augen, wenn man siehet,
daß ein grosser Spie ler demjenigen Gegner, dem
er an Geschicklich keit überlegen ist, die
Hälfte seiner Bauern und Anführer schenkt, und das Spiel
gleichwohl ge winnet. Dieses hat schon
Vegetius angemerkt, wenn er lib. III. tit.
9. sagt: pauciores nume- ro et
inferioribus viribus superuenientes et insidias facientes, sub
bonis ducibus repor- tarunt saepe victoriam. Das ist: es
trägt sich oft zu, daß wenige und schwache Soldaten ein grosses und starkes Heer überwinden, wenn sie
von einem Feldherrn angeführt werden, welcher viele Fallen und
Hinterhalte zu legen weiß.
[
↔] Er setzte ferner fest, daß kein Bauer zurück gehen könne; und wollte damit einen Anfüh rer erinnern, daß er ja vorher alle Schlingen wohl überlegen sollte, die man ihm etwa stellen
könnte, ehe er seine Soldaten zum Anfalle an führte: denn wenn er sie einmal übel angeführt hat, so müssen
sie sich eher auf ihrem Platze er morden
lassen, als dem Feinde den Rücken keh ren. Der
gemeine Soldat braucht es im Krie ge nicht zu
wissen, wenn er anfallen, oder wenn er sich zurück ziehen soll;
zu beyden muß er den Befehl von seinem Anführer erwarten. Alles, was ihm zukömmt, ist dieses, daß er
seinen Platz bis auf den letzten Blutstropfen ver theidige, wenn er nicht seiner Pflicht und Ehre zuwider handeln will.
[
↔] Ferner gab der Erfinder des Schachspiels die Regel, daß derjenige Bauer, welcher sieben
Fächer, ohne daß man ihn
weggenommen hat, vor sich gegangen sey, eine höhere Stelle
erlan ge, daß er nunmehr hingehen könne,
wohin er wolle, und sich zu dem Könige, als ein Freyer und Adelicher, gesellen dürfe. Hiermit hat er wol len zu verstehen geben, wie viel in dem Kriege daran gelegen sey, wenn man
muthige und tapfe re Soldaten haben wolle, daß
man diejenigen, welche sich durch grosse Thaten hervorgethan
ha ben, belohne, und sie zu grössern
Ehrenstellen befördere. Wenn besonders der Vortheil und die Ehre auch bis auf ihre Nachkommen fortge pflanzet wird, so kann man gewiß glauben, daß sie sich um so viel tapferer erweisen werden.
Aristoteles sagt daher, *) daß ein Mensch die allgemeine Ehre seines Geschlechts weit höher schätze, als sein
Leben insbesondere. Auch
Saul
sah dieses wohl ein, indem er durch einen He rold bey seiner Armee ausrufen ließ:
wer den
Mann schlägt, den will der König sehr reich machen, und ihm
seine Tochter ge ben, und will seines Vaters
Haus frey machen in Jsrael. **) Auch in Spanien war ehedem ein Gesetz, welches diesem
Ausrufe sehr ähnlich war, und welches demienigen, der durch seine Tapferkeit im Kriege einen Sold von fünf hundert Sueldos (der höchste, den ein Soldat im Kriege bekommen konnte,) erworben hatte,
266
267
mit allen seinen
Nachkommen auf ewig von allen Abgaben und Diensten frey sprach.
[
↔] Die Mohren, welche sehr grosse Schachspie ler sind, haben zur Nachahmung
der sieben Fä cher, welche ein Bauer durchgehen
muß, ehe er ein Officier werden kann, auch sieben Staffeln in ihrem Solde. Wenn sich ein Soldat unter ihnen
wohl hält, so steigt er nach Maaßgabe sei ner
Thaten von dem einfachen Solde zu dem doppelten, von dem
doppelten zu dem dreyfachen, und so fort, Jst seine Tapferkeit
aber in der That so groß, daß er den höchsten verdient, so bekömmt er den siebenfachen Sold und wird ein septenarius oder mata - siete
genannt. Ein solcher hat eben so grosse Vorzüge und Freyhei ten, als der, welcher in Spanien ein hidal- go heißt.
[
↔] Dieses Verfahren hat seinen guten Grund in der
Natur, weil keine von allen den Vermö genheiten, welche den Menschen regieren,
frey willig zu wirken pflegt, wenn sie
keinen Vortheil, der sie antreiben könnte, vor sich siehet.
Aristote les*) beweiset es insbesondere von der Erzeigungs vermögenheit, und was er von dieser sagt, das gilt auch von den übrigen. Der Gegenstand der
zur Kriegskunst erforderlichen Fähigkeit, wie wir schon im
Vorhergehenden erinnert haben, ist die Ehre und der Vortheil; und
wenn die se wegfallen, so fällt auch aller Muth
und alle Tapferkeit weg. Hieraus nun wird man es er=
268
sehen, was für eine
wichtige Bedeutung darun ter liegt, wenn in dem
Schachspiele ein Bauer, der sieben Fächer ohne Hinderung
durchgeschrit ten ist, die Würde eines
Officiers erhält. Je der Adel, der in in der
Welt jemals gewesen ist, oder noch seyn wird, hat seinen Ursprung
von Bauern oder andern gemeinen Leuten, welche durch ihre persönliche Tapferkeit solche Thaten verrichteten,
daß sie sowohl für sich als für ihre Nachkommen den Titel
Hidalgo, Ritter, Edler, Graf, Marquis, Herzog und König
verdienten. Zwar ist es wahr, daß es unverständige Leute genug giebt, welche so wenig Ueberlegung haben,
daß sie nichts weniger, als einen Anfang ihres Adels zugeben
wollen, sondern behaupten, er sey ewig, liege in ihrem Blute, so
daß sie ihn durch ein übernatürliches göttliches Geschenk, und nicht durch eine besondere Gnade
des Kö nigs erlangt hätten.
[
↔] Bey dieser Gelegenheit, ob es gleich eigent lich zu meinem Zwecke nicht gehört, kann ich nicht umhin, ein sehr artiges Gespräch anzufüh ren, welches zwischen
Carolo, unserm gnädigsten Könige, und dem
Doctor Suarez von Toledo, sei nem Oberhofmeister zu Alcala de Henares, (Com plut,) wo damals der königliche Hof war,
vorfiel.
Der König
. Was haltet ihr
von diesem Orte, Herr Doctor?
Suarez
. Sire, alles Gute. Er hat die schönste Luft und den
schönsten Boden, den nur irgend ein Ort in Spanien hat.
Der König
= Recht; und
deswegen ha ben mich die Aerzte versichert, daß
er meiner Gesundheit am zuträglichsten seyn werde. Habt ihr die Universität gesehen?
Suarez
. Nein, Sire.
Der König
. Die müßt ihr
sehen. Es ist eine der vornehmsten, und man versichert mich, daß alle Wissenschaften hier
sehr gut ge lesen würden.
Suarez
. Jch zweifle hieran im geringsten nicht; weil es eine
Hoheschule ist, die man durch gängig sehr lobt.
Der König
. Aber, wo habt
ihr studirt?
Suarez
. Sire, in Salamanca.
Der König
. Und also seyd
ihr auch in Sa lamanca Doctor geworden?
Suarez
. Nein, Sire.
Der König
. Allein das
scheint mir nicht allzuwohl gethan zu seyn, wenn man auf einer Universität studirt, und auf der andern den Gra dum annimmt.
Suarez
. Ewr. Majestät werden verzei hen. Jn
Salamanca sind die Unkosten allzu groß, wenn
man einen Gradum annehmen will. Die Armen also, und Leute meines
gleichen, wen den sich dahin, wo sie es am
wohlfeilsten haben können, da wir ohnedem wissen, daß man
Wissen schaften und Geschicklichkeit nicht
durch die akade mische Würde, sondern nur durch
seinen eigenen Fleiß erhalten könne. Meine Aeltern waren zwar
so arm nicht, daß ich nicht auch in Salamanca den
Gradum hätte annehmen
können, wenn sie es ge wollt hätten. Doch Ew.
Majestät wissen wohl, daß die Doctores dieser Universität gleiche
Vor rechte mit den hijos
dalgo des spanischen Reichs haben; und also uns, die wir
es schon von Natur sind, wenigsten
unsern Nachkommen, würde es zu keinem geringen Nachtheile
gereichen.
Der König
. Welcher König
von meinen Vorfahren hat euer Geschlecht zu der Würde der Hijos dalgo erhoben?
Suarez
. Keiner; denn Ew. Majestät wer den
überlegen, daß es zwo Arten von Hijos dalgo in Spanien giebt. Die
einen sind es dem Blute nach, die andern aber sind es durch ein
königliches Privilegium geworden. Die ersten, von welchen auch ich einer bin, haben ihren Adel niemals von
den Händen eines Königes bekommen; wohl aber die andern.
Der König
. Das ist mir
schwer zu begrei fen; und ich wünschte, daß ihr
mir davon mehrern und deutlichern Bescheid geben wolltet.
Wenig stens mein königliches Geblüte, wenn
ich von mir auf meinen Vater, von meinem Vater auf mei nen Großvater, und von diesem auf die übrigen
zu rücke gehe, läßt sich nicht weiter
fortsetzen, als bis auf den
Pelagus, welcher nach dem Tode des Kö niges
Rodrigo zum Könige erwählt wurde, vorher aber es nicht gewesen war. Wenn ihr al so auch in eurem Geschlechte zurückgehen wolltet, solltet ihr nicht endlich auf einen kommen, welcher kein Hidalgo gewesen wäre?
Suarez
. Dieses ist nicht zu leugnen: denn jede Sache muß ihren
Anfang gehabt haben.
Der König
. Jch frage euch
also nun, von wem derjenige die Würde eines Hidalgo bekom men hat, von welchem sie auf euer ganzes
Geschlecht gekommen ist? Er selbst hat sich nicht von allen den Diensten und Abgaben frey machen können, mit
welchen seine Vorfahren dem Könige ver bunden
waren. Dieses wäre ein Diebstahl und eine gewaltsame
widerrechtliche Verringe rung des Königlichen
Eigenthums gewesen; und es wäre sehr schlecht, wenn diejenigen,
die sich für gebohrne Hidalgos ausgeben, einen so schimpf lichen Ursprung haben sollten. Folglich ist
es klar, daß der König den ersten frey gesprochen und ihm die Würde eines Hidalgo muß ertheilet ha ben; wo nicht, so nennte mir einen andern, von dem er diesen Vorzug haben könne.
Suarez
. Ew. Majestät schliessen vollkom men
richtig, und es ist unwidersprechlich, daß der wahre Adel ein
Werk des Königs sey. *) Man nennt aber diejenigen gebohrne Hidalgos, von deren Ursprunge man nichts weiß, und von
welchen man nicht angeben kann, zu welcher Zeit
269
oder von welchem König
seinem Geschlechte die se Würde sey ertheilt
worden. Diese Dunkel heit wird in dem Staate
für rühmlicher gehalten, als wenn man das Gegentheil genau
anzugeben weiß, u. s. w.
[
↔] Auch der Staat kann Hidalgos machen Denn wenn ein Mensch sich durch Tapferkeit,
Tu gend und
Reichthum ganz besonders hervor thut, so wagt er es nicht, ihn
einzurolliren; weil er es für etwas unanständiges hält und
glaubt, daß er es gar wohl verdiene, für seine Person frey zu
le ben, und nicht mit dem gemeinen Pöbel
vermengt zu werden. Wenn diese Achtung sich nun auf die Kinder und Nachkommen
fortpflanzet, so entstehet ein Adel daraus, und sie bekommen dieses Vorrecht auch wider Wissen und Willen des
Königes. Diese nun sind nicht deßwegen Hidalgos, weil sie den
höchsten Sold jemals erwor ben haben; sondern
man hält sie für Hidalgos, weil man das Gegentheil von ihnen
nicht bewei sen kann.
[
↔] Derjenige Spanier, welcher den Namen hijo dalgo erfand, scheinet uns in der Lehre, welche wir bisher abgehandelt haben, nicht wenig zu
bestärken: denn nach seiner Meynung finden bey dem Menschen zwey Geburten Statt. Die eine
Geburt ist die natürliche, in Ansehung de ren
alle Menschen unter einander gleich sind; die andere ist die
geistige, wenn nämlich ein Mensch eine besondere Heldenthat
verrichtet, oder sonst eine ungemeine Tugend ausübt. Alsdenn
wird er von neuem gebohren, alsdenn erhält er
bessere Aeltern, und ist das nicht mehr, was er vor her war. Gestern hieß er ein Sohn Peters und ein Enkel des Sancho, nunmehr aber ist er ein Sohn seiner
eigenen Werke; und hierinnen hat das spanische Sprichwort, cada uno es hijo de sus obras, ein jeder
ist der Sohn seiner Werke, sei nen Grund. Selbst die heilige
Schrift*) nen net gute und tugendhafte Thaten
etwas, Laster und
böse Handlungen aber
nichts;
worauf ohne Zweifel derjenige sah, welcher den Namen, hijo dalgo erfand: denn dieses Wort heißt
eigentlich der Sohn jemands, und bedeutet heut zu Tage den Nachkommen eines Mannes, welcher eine
besondere grosse Tugend ausgeübet hat, deswe gen er von dem Könige oder von dem Staate mit gewissen Vorrechten, die bis auf seine Nach kommen fortgehen, beehret wurde.
[
↔] Das Landrecht sagt, **) ein Hijodalgo bedeu te einen Sohn der
Güter. Wenn dieses von den zeitlichen Gütern zu verstehen seyn
soll, so ist es eine Unwahrheit, weil es unzählige arme Hi josdalgo und eben so viel Reiche giebt,
welche keine Hijosdalgo sind. Wenn aber unter dem Worte Güter die Tugenden zu verstehen sind, so
legt das Landrecht diesen Theil eben so aus, wie wir ihn
ausgelegt haben.
[
↔] Ein offenbares Beyspiel von derjenigen Ge burt, die der Mensch ausser seiner natürlichen Ge=
270
271
burt haben kann, kömmt
selbst in der heil. Schrift vor,
da unser Heiland*) dem Nicodemus vor wirft und spricht: bist du ein Meister in Jsrael und weißt das nicht, daß ein Mensch von neuem
müsse gebohren werden, daß er ein besseres Wesen und andre weit
geehrtere Aeltern bekommen müs se, als die
natürlichen sind? So lange also ein Mensch noch keine
heldenmäßige Handlung ver richtet hat, so lange heißt er in dieser Bedeutung niemands Sohn, (hijo de nada) obgleich
sein Titel jemands Sohn (hijo dalgo)
ist.
[
↔] Bey dieser Gelegenheit kann ich mich nicht
enthalten, ein gewisses Gespräch zu erzählen, wel ches zwischen einem berühmten Hauptmanne
und einem Ritter vorfiel, welcher von seinem Ge schlechte viel Rühmens machte. Man wird dar aus nicht undeutlich sehen können, worinnen die wahre Ehre bestehet, und daß es schon damals
etwas ganz bekanntes gewesen sey, was man mit dieser zwoten
Geburt sagen wolle. Gedachter Hauptmann war einstmals in einer
Gesellschaft von Rittern und andern adelichen Personen, wo von der uneingeschränkten Freyheit
der Soldaten in Jtalien geredet
wurde. Einer aus der Ge sellschaft, der eine
gewisse Frage an ihn that, nannte ihn, in Betrachtung seines
geringen Her kommens, seiner armen Aeltern und
des kleinen schlechten Fleckens, welcher sein Geburtsort war,
ihr. Der Hauptmann bemerkte dieses Wort und
ward darüber empfindlich, sagte aber weiter nichts als: Ewr. Herrlichkeit sollen wissen, daß
272
diejenigen Soldaten,
welche einmal der italiäni schen Freyheit
gewohnt sind, sich unmöglich in Spa nien wohl
befinden können, weil daselbst alzuviel Gesetze wider diejenigen
sind, welche den Degen ziehen. Als die übrigen, welche zugegen
waren, höreten, daß der Hauptmann den Ritter Ewr. Herrlichkeit nannte; so konnten sie sich des La chens nicht enthalten. Der Ritter aber, als er sie lachen sah, wurde ganz zornig
darüber, und sagte: meine Herren, sie müssen wissen, daß Ewr. Herrlichkeit hier nichts weiter heissen soll, als das spanische v. merced. (Ewr. Gnaden.) Der Herr Hauptmann weiß noch nicht, was hier Sitte ist; er nennt also alle diejenigen, welche er v. merced. nennen sollte, v. sennoria (Ewr. Herrlichkeit.) Nein, nein, fiel ihm
der Haupt mann in das Wort; Ewr. Herrlichkeit
dürfen mich nicht für so dumm ansehen, daß ich mich nicht sollte nach der italiänischen Sprache zu be quemen wissen, wenn ich in Jtalien bin, und nach der spanischen, wenn ich mich in Spanien aufhalte.
Derjenige aber, der mich
ihr zu nen nen Recht hat, der muß wenigstens in Spanien eine Herrlichkeit seyn; und auch alsdann würde er mir noch
sehr unhöflich begegnet haben. Was? sagte der Ritter halb
erzürnt; seyd ihr nicht, Herr Hauptmann, da und da her gebürtig?
Sind eu re Aeltern nicht die und die? Und wißt
ihr nicht, wer ich bin? wer meine Vorfahren gewesen sind? Mein Herr, sagte der Hauptmann, ob Ewr.
Herrlichkeit gleich von sehr gutem Adel
ist, und ob es gleich auch ihre Vorfahren gewe sen sind; so sind doch ich und mein rechter Arm, welchen ich jetzt allein für meinen Vater erken ne, weit besser, als ihr und euer ganzes Geschlecht.
[
↔] Auf was zielte dieser Hauptmann anders, als auf
die zwote Geburt, welche bey einem Men schen
Statt finden kann? Auf was könnten die Worte: ich und mein
rechter Arm, den ich jetzt allein für meinen Vater erkenne,
anders ge hen, als hierauf? Und er konnte auch
in der That durch seine Geschicklichkeit und seinen De gen Thaten verrichtet haben, welche seine
Per son mit dem Adel des Ritters in
gleichen Werth setzten.
[
↔] Gemeiniglich, sagt
Plato, *) sind das Ge setz und die Natur einander zuwider: denn wenn ein
Mensch mit noch so vieler Weisheit und Großmuth, mit einem noch so freyen und durch dringenden Geiste aus ihren Händen kömmt, zu gleich aber in der Hütte eines Amicla,
(dieses war der Name eines gewissen geringen und elen den Bauers,) gebohren wird, so bleibt er
nach dem Gesetz aller Ehre und
Freyheit, in die ihn die Natur
setzen wollte, verlustig. Gegentheils sieht man andere, die nach
ihrem
Genie und ihren Sitten zu nichts als
zu Sclaven bestimmt waren, gleichwohl aber, weil sie in
berühmten Häusern auf die Welt kamen, von dem Gesetze für Herren erkannt wurden.
273
[
↔] Etwas sehr besonderes aber, das man so lange, als
die Welt steht, noch nicht angemerkt hat, ist dieses, daß selten,
oder vielmehr niemals grosse Helden, †) oder andere, die sich mit einem besondern
Genie in den Waffen und in den Wissenschaften hervorgethan haben, anderswo als in Dörfern und kleinen Flecken, niemals aber
in weitläuftigen und volkreichen Städten auf die Welt gekommen
sind. Der Pöbel aber ist so unwissend und unverständig, daß es
ihm gleich ein Beweis für das Gegentheil ist, wenn jemand einen kleinen Ort zu seinem Geburtsorte hat. Wir
haben hiervon ein offenbares Beyspiel in der heil. Schrift, da das Jsraelitische Volk, vol ler Erstaunen über die grossen Thaten unseres Heylandes, ausrief:
was kann aus
Naza reth Gutes kommen!
274
[
↔] Auf das
Genie des vorhin gedachten Haupt manns wieder zurückzukommen, so mußte er
noth wendig mit derjenigen Art der Einbildungskraft, welche die Kriegskunst
erfordert, sehr viel Ver stand verbinden. Er zeigte daher in seiner Re de keine geringe Einsicht; und wir werden mit leichter Mühe alle die Punkte herausziehen kön nen, welche den wahren Werth eines Menschen ausmachen, wenn er in der Republik hochgeach tet zu werden verdienen soll.
[
↔] Sechs Stücke, soviel ich einsehe, müssen bey einem
Menschen anzutreffen seyn, wenn er den Namen eines Geehrten mit
Recht verdienen soll. Wenn ein einziges daran fehlt, so ist er
noch im mer in einer gewissen Verachtung. Doch
sind sie nicht alle von einerley Grade, noch von einerley Wichtigkeit.
[
↔] Das erste Stück ist dasjenige, worauf das meiste
ankömmt. Es besteht in dem persönli chen Werthe
eines jeden, in seiner Klugheit, Ge rechtigkeit
und Tapferkeit. Dieser persönliche Werth ist es, durch welchen
man Reichthum und Vorzüge erlangt, und welcher allen denen, die man groß und berühmt nennen soll, das We sen geben muß. Aus ihm muß der Ursprung
aller adelichen Geschlechter in der ganzen Welt hergeleitet
werden; und wer dieses nicht zuge ben will, der
betrachte einmal die vornehmsten Häuser in Spanien. Ein jedes,
wie er in den Geschichten finden wird, hat seinen Anfang von Privatleuten, welche durch den eigenthümlichen
Werth ihrer Person dasjenige erworben
haben, was ihre Nachkommen noch jetzt besitzen.
[
↔] Das zweyte Stück, welches, nach dem per sönlichen Werthe, den Menschen geehrt macht, ist das Vermögen, ohne welches, wie wir sehen, niemand in dem
Staate sehr geachtet wird.
[
↔] Das dritte ist der alte Adel seines Geschlechts.
Aus einem berühmten Hause entsprungen zu seyn, ist ein sehr
kostbarer Vorzug; ein Vor zug aber, der diesen
grossen Fehler hat, daß er an und für sich selbst ohne Nutzen
ist. Der blosse Adel kann weder dem Adelichen selbst, noch den Nothdürftigen etwas helfen. Er schafft we der zu essen noch zu trinken, weder Kleider noch Schuh; man kann niemanden ein Geschenk davon
machen; niemand kann auf ihn trotzen. Er raubet vielmehr einem
Armen alle Mittel, seinen Bedürfnissen abzuhelfen, und macht
wohl, daß er bey gesundem Leibe vor Hunger sterben muß. Jst aber der Adel mit Reichthum ver bunden, alsdann ist nichts in der Welt, was ei nen Menschen geehrter machen könne, als er. Man pflegt den Adel mit einer arithmetischen
Null zu vergleichen, welche in den Rechnungen durchaus nichts
gilt, wenn sie nicht bey andern Zahlen steht: und so, wie diese
sind, so ist ihr Werth groß oder klein.
[
↔] Das vierte Stück, was einen Menschen geehrt macht,
ist, daß er irgend eine Würde oder ein Ehrenamt habe. Nichts
hingegen drückt den Menschen so sehr nieder, als wenn er sein
Brodt durch eine
mechanische Handthierung verdienen muß.
[
↔] Das fünfte Stück bestehet darinnen, daß der Mensch
einen schönen und wohlklingenden Namen habe, nicht aber einen
rauhen und wi drigen, wie ich weiß, daß
verschiedene haben. Man lieset in der Spanischen Geschichte folgendes Beyspiel. Es
langten bey dem
Könige Alphon sus, dem neunten(richtig ist
König Alfons VIII. von Kastilien) ,
zwey französische Gesandten an, welche für ihren Herrn, den
König Philipp, eine
von seinen Prinzessinnen zur Ehe verlangen soll ten. Die eine von diesen Prinzessinnen war sehr schön, und hieß
Urraca;
die andere war so schön und reizend nicht, aber ihr Name war
Blanca. Als nun beyde den Gesandten vorge stellt wurden, so meynte jedermann, die Wahl werde auf keine andere, als auf die
Urraca, fal len, weil sie die älteste
und zugleich auch die schönste sey. Doch, da die Gesandten nach
bey der Namen fragten, so wurden ihre Ohren
durch den Namen
Urraca so
sehr beleidiget, daß sie sogleich die Donna
Blanca wählten, und dieses zur Ursache
angaben, der Name
Blanca würde in Frankreich angenehmer seyn, als der andere.
[
↔] Das sechste endlich, was den Menschen geehrt
macht, ist, daß er wohl gekleidet, geputzt und mit vielen
Bedienten umgeben sey.
[
↔] Der wahre Adel der Spanischen Hijosdalgo schreibt
sich von denen her, welche durch ihre Verdienste und durch viele
verrichtete grosse Tha ten in dem Kriege den
Sold von fünfhundert
Sueldos erworben hatten. Diesen Ursprung haben die neuern Geschichtschreiber nicht darthun können;
denn was sie nicht geschrieben und auf gezeichnet finden, wozu eine eigene Erfindungs kraft gehört, das wissen sie nicht. Der Unter schied, welchen
Aristoteles*) zwischen dem Ge dächtnisse und dem
Erinnern angiebt, ist dieser, daß das Gedächtniß, wenn es etwas
verloren hat, was es vorher wußte, unmöglich wieder dar auf kommen kann, es müste es denn von neuem
ler nen. Das Erinnern hingegen hat diese
beson dere Eigenschaft, daß es dasjenige,
was es ver gessen hat, wieder findet, wenn nur
noch die ge ringste Spur vorhanden ist, über
die es seine Betrachtungen anstellen kann. Dasjenige Ge setz, welches man zum Vortheile tapferer
Solda ten gegeben hat, ist sowohl in den
Büchern, als in dem Gedächtnisse der Menschen verloren ge gangen, und nichts ist davon übrig
geblieben, als die Worte: hijo dalgo de
devengar qui- nientos sueldos, segun fuero de Espanna, y de solar conocido. Wenn man über diese Worte seine Betrachtungen und Schlüsse an stellt, so wird man leicht auf das übrige, was damit verbunden gewesen ist, fallen.
[
↔] Wenn
Antonius von Lebrixa die
Bedeutung des Worts vendico, angiebt,
so sagt er, es hiesse so viel als devengar
para si, das ist, sich das jenige
zueignen, was einem vermöge des Solds und des Rechts gehört; so
wie wir uns heut zu
275
Tage der neuern Redensart
tirar gajes del Rey o ventajas (Gehalt
oder andere Vortheile von dem Könige ziehen,) bedienen. Sogar in
Alt Castilien ist noch die Redensart, fulano bien ha devengado su trabajo (dem
oder jenem ist seine Arbeit wohl bezahlt worden,) so gebräuch lich, daß auch Leute von Stande sie öfterer,
als irgend eine andere, gebrauchen. Von dieser Be deutung muß auch das Wort vengar hergelei tet werden, wenn sich
nämlich jemand wegen der erlittenen Beschimpfung an einem bezahlt
macht: denn jede Beschimpfung kann man im verblüm ten Verstande eine Schuld nennen. Wenn ich folglich von jemanden sage, er ist hijo dalgo
de devengar quinientos sueldos, so soll dieses so viel heissen: er ist ein Nachkomme eines Sol daten, welcher sich so tapfer gehalten hat, daß er durch seine Thaten den höchsten Sold, wel cher in fünfhundert Sueldos bestand, verdiente. Ein solcher nun war segun fuero de
Espana, (nach den Gesetzen des spanischen Reichs,) mit allen seinen Nachkommen, von allen Abgaben und
Diensten, womit er dem Könige verbunden war, befreyet. Auch
hinter dem Worte, solar conocido, steckt
kein anderes Geheimniß, als die ses, daß ein
Soldat, welcher in die Zahl derje nigen kam,
die sich den Sold von fünfhundert Sueldos erworben hatten, in die
königlichen Re gister namentlich, nebst seinem
Geburtsorte, sei nen Aeltern und Anverwandten
aufgeschrieben wurde, damit das Gedächtniß desjenigen, wel
chem der
König eine so grosse Gnade erwiesen
hatte, mit allen Umständen aufbehalten würde. Dieses kann man
noch jetzt aus dem pergamen tenen Codex ersehen, welcher in Simancas auf bewahret wird, und worinnen die vornehmsten Häuser des ganzen spanischen Adels aufgezeich net sind. Gleiche Sorgfalt wendete
Saul an, als
David den Goliath umgebracht hatte,
indem er sogleich dem Abner
befahl, sich zu erkundigen,
weß Sohn der Jüngling sey? (1. Sam. XVI.) Vor Alters hieß solar sowohl das Haus eines Bauern, als eines Adelichen.
[
↔] Nach dieser ziemlich langen Ausschweifung müssen
wir wieder auf unsern Vorsatz zurückkeh ren,
und untersuchen, woher es komme, daß sich in dem Schachspiele,
welches wir für ein Bild des Krieges ausgegeben haben, derjenige, wel cher verliert, leichter erzürnt, als in irgend einem andern, obgleich um nichts gespielt wird:
und also der Eigennutz im geringsten nicht dar unter walten kann. Ferner, woher es komme, daß diejenigen, die
bey diesem Spiele zusehen, auf mehr Fallstricke fallen, als die
Spieler, ob sie schon bey weitem nicht so gut spielen können? Endlich, welches ohne Zweifel der schwerste Punkt seyn wird, wie es zugehe, daß einige Spieler, wenn sie
nüchtern sind, auf mehr Ränke fallen, als wenn sie gegessen
haben; andere hingegen besser spielen, wenn sie satt sind?
[
↔] Bey dem ersten ist wenig Schwierigkeit: denn, wie
wir schon gesagt haben, so findet we
der in dem Kriege noch in dem Schachspiele
das Glück Statt, so daß man niemals sagen kann: wer hätte das gedacht? Alles beruht, sowohl bey
dem einen als bey dem andern, auf der Un wissenheit und Ungeschicklichkeit desjenigen, wel cher verliert, und auf der Klugheit und Geschick lichkeit desjenigen, welcher gewinnt. Wenn sich ein Mensch in Sachen, die einzig von dem
Genie und der Fähigkeit abhängen, überwun den
sieht, ohne daß er die Schuldauf etwas an ders,
als auf seine Unwissenheit schieben kann; so muß er sich
nothwendig erzürnen: denn ein jeder vernünftiger Mensch ist ehrbegierig, und kann es nicht leiden, daß ihn ein anderer in Wer ken, die von dem Verstande
abhängen, übertref fe.
Aristoteles*) wirft daher die Frage auf: διατι
ἐj ἀρχης
της μεν
κατα το
σωμα
ἀγω- νιας
ἀθλοντι
προὐταjαν„{??}
σοφιας
δε οὐδεν
ἠθηκαν;
das ist: warum die Alten für den jenigen keinen Preiß bestimmt haben, welcher andere an Weisheit und Wissenschaft übertrift, da sie doch den Tänzern, den
Läufern und den Ringern keine geringe Belohnung ausgesetzt hät ten? Er antwortet auf diese Frage: weil in dem Ringen und in allen körperlichen
Uebungen Richter gesetzt werden könnten, welche eines je den vorzügliche Geschicklichkeit darinnen
bestimm ten, indem es hier bey Ertheilung
des Preises bloß auf die Entscheidung des Auges ankomme,
276
welcher am besten tanze,
oder am schnellsten ren ne. Jn den
Wissenschaften hingegen sey es et was sehr
schweres, wenn man mit dem Ver stande ausmachen
sollte, welcher dem andern dar innen
vorzuziehen sey, weil die Wissenschaften etwas geistiges sind.
Wenn daher der Richter bey Austheilung des Preise ungerecht
verfahren wollte, so würden es sehr wenige merken, indem sein Ausspruch auf eine sehr feine Entschei dung, die nicht in die Sinne
fallen kann, an komme. Ausser dieser Antwort
ertheilt
Aristoteles auch noch
eine bessere, diese nämlich: weil die Menschen sich nicht viel
daraus machten, wenn sie von andern im Ringen, im Tanzen, und
im Laufen übertroffen würden, indem alles dieses Ge schicklichkeiten wären, worinnen auch die
Fertig sten nicht einmal gewissen
unvernünftigen Thieren gleichkommen könnten. Was aber kein
Mensch mit Geduld ertragen könnte, wäre dieses, wenn ein anderer für weiser und klüger erklärt würde,
als er; er fasse sogleich einen heftigen Haß gegen die Richter,
und suche sich an ihnen zu rächen, weil er gewiß glaube, sie
hätten ihn aus Bosheit beschimpfen
wollen. Diese Verdrüßlichkeiten nun zu vermeiden, haben die Alten niemals den jenigen Verrichtungen, welche von dem vernünf tigen Theile des Menschen abhängen, weder Rich ter noch Preise setzen wollen. Hieraus folgt, daß diejenigen
Universitäten sehr übel thun, die durch gewisse Richter bestimmen
lassen, welcher von den Licentiaten der erste, zweyte oder
dritte, nach
Maaßgebung
der Geschicklichkeit, die ein jeder in der öffentlichen Prüfung
gezeigt hat, seyn solle. Zu geschweigen, daß täglich alle die
Verdrüßlich keiten daraus folgen, welche
schon
Aristoteles an gemerkt hat, so ist es sogar wider die Lehre des Evangeliums, welche durchaus keinen Rangstreit
unter den Menschen duldet. Die Wahrheit hier von erhellet aus folgendem unwidersprechlich. Als eines Tags
die Jünger unseres Heilandes auf dem Wege mit einander stritten, welcher unter ihnen
der Größte sey; so fragte sie ihr Meister, nach dem sie in der Herberge eingekehret waren, was die Ursache
ihres Streits unter Wegens gewesen wäre? So einfältig als sonst
die Jünger waren, so begriffen sie doch wohl, daß sie eine
unerlaubte Frage unter sich abgehandelt hätten. Die Schrift sagt, daß sie sich nicht unterstanden
hätten, es ihm zu sagen. Jesus aber, dem als GOtt nichts
verborgen war, sagte zu ihnen:
so jemand will der
erste seyn, der soll der letzte seyn vor allen und aller
Knecht (Marc. IX.
35.) Daher waren auch die Pharisäer unserm Hei lande so
verhaßt, weil sie, wie er (Matth. XXIII.) sagt, gern in den Schulen
und über Tische oben an sassen.
[
↔] Der vornehmste Grund, worauf sich diejeni gen stützen, welche diese Staffeln auf den Univer sitäten vertheidigen, ist dieser: damit die
Studiren den, wenn sie sehen, daß ein jeder
nach der Geschick lichkeit, die er zeigt,
belohnt werde, so zu reden Es sen und Trinken
bey ihrem Fleisse vergessen möch
ten. Dieses würden sie ohne Zweifel
unterlassen, wenn man den Fleissigen nicht belohnte, und
den Faulen und Nachlässigen nicht bestrafte. Doch dieser Grund ist sehr seichte, und hat kaum den
Schein der Wahrheit, indem er eine offen bare Unwahrheit voraussetzt, diese nämlich,
daß man nicht anders gelehrt
werden könne, als wenn man unablässig über den Büchern liege,
und immer gute Lehrmeister höre, von deren Vorle sungen man auch nicht das geringste
verlieren dürfe. Sie bedenken nicht, daß, wenn dem Studierenden das
Genie und die Fähigkeit fehlt, welche die Wissenschaft, auf die
er sich legt, erfordert, es ganz vergebens ist, wenn er sich
auch Tag und Nacht den Kopf über den Büchern
zerbricht. Jhr Jrrthum ist auch schon hieraus klar, da sie
Genies, welche himmelweit von ein ander
unterschieden sind, unter sich streiten lassen. Das eine, weil es
fein und durchdringend ist, macht sich in einem Augenblicke mit
der Wis senschaft bekannt, ohne ein Buch
angesehen zu haben; ein anderes hingegen ist zeitlebens un ermüdet fleissig, und lernet doch nichts, weil
es von Natur roh und träge ist. Die Richter
nun, als Menschen, ertheilen demjenigen den er sten Preis, welchen die Natur und nicht der Fleiß geschickt gemacht hat; den letzten aber demje nigen, welcher ohne
Genie gebohren
wurde, an seinem Fleisse aber es niemals ermangeln ließ: gleich als wenn jener seine Wissenschaft durch
beständiges Lesen der Bücher erhalten, dieser aber
seine Zeit mit Müssiggehen und Schlafen
zuge bracht hätte. Es ist eben so, als wenn
sie zween Läufern einen Preiß aussetzten, wovon der eine gesunde und schnelle Füsse hätte, der andere aber auf einem Beine hinkte. Ja, wenn die Uni versitäten niemanden zu den Wissenschaften lies sen, als diejenigen, welche das erforderliche
Ge nie darzu haben, und
wenn dieses
Genie bey allen gleich wäre; so
wäre es sehr wohl gethan, daß man Strafen und Belohnungen
aussetzte. Denn alsdenn wäre es offenbar, daß derjenige, welcher das meiste wüßte, auch der Fleissigste
gewesen wäre; derjenige hingegen, welcher weni ger könnte, seine Zeit mit Müssiggehen zuge bracht habe.
[
↔] Auf den zweyten Zweifel antworte ich folgen des. Eben so, wie die Augen Licht und Klarheit nöthig haben, wenn sie die Farben und Gestalten
erkennen sollen; eben so unentbehrlich ist auch der Einbildungskraft das Licht in dem Gehirne, wenn sie die Bilder, die in dem
Gedächtnisse sind, soll sehen können. Diese Klarheit aber
entsteht we der von der Sonne, noch von einem
andern körperlichen Lichte, sondern von den Lebensgeistern, welche in dem Herzen
erzeugt werden, und sich hernach in dem ganzen Körper zertheilen. Ue brigens aber muß man wissen, daß die Furcht alle Lebensgeister in dem Herzen zusammenzieht,
und also das Gehirn dunkel, und die übrigen Theile des Körpers
kalt läßt.
Aristoteles*) fragt
277
daher: διατι
οἱ φοβουμενοι
μαλιϛα τρεμουσι
την
φωνην
και
χειρας,
και
το κατω
χειλος; das ist: warum diejenigen, welche sich fürchten,
mit der Stimme, an den Händen, und an der untersten Lippe
zittern? Er antwortet hierauf, was wir eben jetzt gesagt haben,
daß sich nämlich die natürliche Wärme durch die Furcht in dem Herzen zusammenziehe, und also alle Theile des
Körpers kalt zurücklasse. Von der Kälte aber haben wir in dem
Vorhergehenden nach der Meynung des
Galenus*) behauptet, daß sie alle Kräfte und Vermögenheiten der
Seele träge macht, und in ihren Wirkungen verhindert. Die Antwort auf den zweyten Zweifel wird also un widersprechlich diese seyn: daß sich diejenigen, welche Schach spielen, deswegen zu verlieren
fürchten, weil es ein Spiel ist, wo es auf Ehre oder Beschämung hinausläuft, indem, wie wir
schon gesagt haben, das Glück daran keinen An theil nehmen kann. Da sich nun durch diese Furcht die
Lebensgeister in dem Herzen zusammen ziehen; da
die Einbildungskraft folglich träge und kalt bleibt, und die
Bilder in dem Gedächtnisse ohne Licht sind, so ist die Ursache
offenbar, warum derjenige, welcher spielt, nicht wohl
nachdenken kann. Diejenigen aber, welche bey diesem Spie le zusehen, welche keinen Vortheil dabey haben,
und sich nicht zu verlieren fürchten dürfen, fallen auf weit mehr künstliche Züge, weil ihre Einbildungs kraft die erforderliche Wärme hat, und die Bil
278
der in
ihrem Gehirne von den Lebensgeistern er leuchtet sind. Zwar ist es auch wahr, daß die ses allzuviele Licht der Einbildungskraft
schädlich seyn kann, welches sich besonders alsdenn
zuträgt, wenn der Spieler entweder erzürnt oder beschämt über seinen Verlust wird: denn durch den Zorn
wächst die natürliche Wärme und erleuchtet die Einbildungskraft
mehr als nöthig ist. Von allen diesen Zufällen ist ein blosser
Zuschauer befreyt.
[
↔] Eben hieraus entstehet auch dieses, was man nicht
selten sich zutragen sieht, daß nämlich eben alsdenn, wenn ein
Mensch seine Wissen schaft und Fähigkeit am
meisten will sehen lassen, er sich am allerschlechtesten zeigt.
Andere hinge gen, wenn sie ihre
Geschicklichkeit zu zeigen gezwun gen werden,
scheinen sich anzustrengen und mehr als sonst zu wissen. Bey
beyden ist die Ursache klar: bey demjenigen nämlich, welcher sehr
viel na türliche Wärme in seinem Kopfe hat,
zieht sich ein Theil davon in dem Herzen zusammen, wenn ihm zum Beyspiel angekündigt wird, in vier und zwan zig Stunden wider eine verwirrte Materie zu oppo niren; das Gehirn
bleibt also in einer gemässig ten Wärme, und
von dieser werden wir im folgen den Hauptstücke
beweisen, daß sie einen Menschen niemals an Einfällen und
Gedanken arm läßt. Bey demjenigen hingegen, welcher in der
That sehr geschickt und von grossem Verstande ist, bleibt, wenn man seine Geschicklichkeit
auf die Probe stellen will, aus Furcht gar keine natürliche Wärme in dem Kopfe, daß ihm
also, aus Mangel des Lichts
in dem Gehirne, nichts beyfällt, was er sagen oder antworten
könne. Wenn dieses diejenigen be dächten,
welche sich mit ihrem Tadel über gros se
Feldherren machen, welche ihre Kriegslisten, ihre
Schlachtordnungen und Angriffe beurthei len, so
würden sie leicht einsehen, was für ein grosser Unterschied
dazwischen sey, dem Kriege aus seiner
Stube zuzusehen, oder Krieg zu spie len, und
ihn wirklich zu führen, voller Furcht
das anvertraute Kriegsheer einzubüssen.
[
↔] Auch dem Arzte kann die Furcht bey seinen Kuren
nicht wenig Schaden thun; denn seine Praxis, wie wir oben
dargethan haben, hängt von der Einbildungskraft ab, welcher weit
mehr, als irgend einer andern Fähigkeit, die Kälte zu wider ist, indem sie ihre Wirkung mit der
Wär me verrichten muß. Die Erfahrung zeigt
es daher, und schon
Galenus*) hat es angemerkt, daß die Armen weit leichter kurirt
werden, als Reiche und Vornehme.
[
↔] Ein Rechtsgelehrter, welcher wußte, daß ich diese
Materie unter Händen hatte, fragte mich ei nes
Tages, woher es wohl komme, daß ihm bey Rechtshändeln, von
welchen er wüßte, daß sie wohl bezahlt würden, eine Menge Gesetze
und unzählige rechtliche Anführungen, worauf er sich gründen könnte, beyfielen; wo er aber wüßte, daß
ihm seine Arbeit nicht bezahlt würde, da schien es ihm, als wenn
er auf einmal alle seine Wissenschaft vergessen hätte. Jch
antwortete
279
hierauf: der Vortheil
gehöret der erzürnlichen Vermögenheit zu, welche in dem Herzen
ihren Sitz hat; wenn dieser nun kein Genüge gethan wird, so giebt sie niemals gutwillig Lebensgeister her, durch deren Licht die Bilder in dem Gehir ne müssen erkannt werden; wenn man sie hin gegen zufrieden stellt, so giebt sie mit Lust
genug same natürliche Wärme, wodurch die
vernünfti ge Seele zureichende Klarheit bekömmt, die Ab drücke in dem Gehirne zu sehen. †) Diesen Fehler haben
alle Leute von grossem Verstande; sie sind eigennützig und sehr
geizig; und eben die ses waren die vornehmsten
Eigenschaften des ge dachten Rechtsgelehrten.
Doch wenn wir die Sache recht überlegen, so ist es ein Theil
der Gerechtigkeit, daß derjenige bezahlt werde, wel cher in einem fremden Weinberge arbeitet.
[
↔] Eben dieses gilt auch von den Aerzten, wel chen, wenn sie gut bezahlt werden, unzählige Hülfsmittel beyfallen; und welche eben, wie jener
Rechtsgelehrter, auf einmal alle ihre Kunst und Wissenschaft vergessen, wenn sie
keine Be lohnung anreitzt. Hierbey fällt etwas
sehr merk würdiges vor, dieses nämlich: die
gute Einbil dung
des Arztes fällt in einem Augenblicke auf
280
das, was bey jedem Falle
zu thun ist; wenn er sich aber lange Bedenkzeit darüber nimmt,
so scheint er unzählige Unbequemlichkeiten dabey zu entdecken, welche ihn unentschlüssig machen; und
unterdessen entgeht ihm die Gelegenheit, das Mittel, welches ihm
zuerst einfiel, anzuwenden. Es ist daher schädlich, wenn man
einen guten Arzt viel ermahnt, daß er ja wohl bedenken sol le, was er thue; man sollte ihn vielmehr er mahnen, dasjenige zu bewerkstelligen, was
ihm sogleich das Beste zu seyn scheinte. Die Ursa che hiervon ist das, was wir in dem Vorherge henden von der Ueberlegung erwiesen haben. Die Ueberlegung nämlich vermehrt die natürli che Wärme, und kann sie zu einem solchen Gra de treiben, daß die Einbildungskraft dadurch ganz irre gemacht wird. Nur demjenigen Arz te, welcher eine nicht allzugute Einbildungskraft hat, kann
eine lange Ueberlegung nicht schädlich seyn: denn durch die
Ueberlegung erhält sein Gehirn nach und nach gleich denjenigen
Grad der Wärme, welchen diese Fähigkeit der See le nöthig hat.
[
↔] Aus dem, was wir jetzt gesagt haben, er hellet auch die Antwort auf den dritten Zweifel ganz deutlich. Diejenige Art der Einbildungs kraft, welche zu einem guten Schachspiele erfor dert wird, braucht einen gewissen Grad der
Wär me, wenn sie auf kunstreiche und listige
Züge fallen soll. Derjenige nun, welcher mit nüchter nem Magen spielt, hat gleich alsdenn diesen nö
thigen Grad; durch die hinzukommende Wär me
der Speisen aber wird er höher getrieben, als es dienlich ist, so
daß der Spieler folglich schlechter spielen muß. Das Gegentheil
hiervon ereignet sich bey denen, welche nach dem Essen gut spielen; ihre natürliche Wärme hat durch die
Speisen und den Wein denjenigen Grad erlangt, welchen sie bey
nüchternem Magen nicht hatte.
[
↔] Jene Stelle bey dem
Plato muß
folglich ver bessert werden, wenn er *) sagt, daß die Natur sehr
weislich die Leber so weit von dem Gehirne entfernt habe, damit
die Speisen durch ihre Aus dünstungen die
vernünftige Seele in ihren Be trachtungen nicht stören könnten. Wenn er die ses von den Wirkungen verstehet, die von dem Verstande abhängen, so hat er vollkommen recht; ein gleiches aber kann von keiner einzigen Art
der Einbildungskraft behauptet werden. Den Beweis hiervon kann
man alle Tage bey den Gesellschaften und Schmausereyen sehen. Wenn die Schmauserey über die Hälfte ist, alsdann
fangen die Gäste erst an, recht aufgeweckt zu werden, und
unzählige artige Einfälle und lustige Erzählungen vorzubringen;
wenn auch schon im Anfange keiner ein Wort vorzubringen wußte. Zum Ende der Schmauserey aber ist kein
einziger mehr zu reden im Stande, weil der Grad der Wärme weit
höher getrieben ist,
281
als ihn die Einbildungskraft braucht. †) Die, welche vorher ein
wenig essen und trinken müs sen, ehe ihre
Einbildungskraft recht rege wird, sind diejenigen, bey welchen
die schwarze ver brannte Galle die Oberhand
hat; denn dieser ihr Gehirn ist wie ungelöschter Kalk,
welcher, wenn man ihn anfühlt, kalt und trocken ist, eine unerträgliche Hitze aber von sich giebt, wenn man ihn mit etwas Wasser befeuchtet.
[
↔] Gleichfalls muß jenes Gesetz der Karthagi nenser, welches
Plato*) anführt, verbessert wer den, vermöge
dessen nämlich keinem Feldherrn, so lange er im Kriege war, und keiner Raths person, so lange sie das Regiment führte, Wein zu trinken erlaubt war. Ob es
Plato gleich für sehr gerecht hält, und es nicht genugsam
loben kann, so ist doch dabey ein Unterschied zu ma chen nöthig. Das Richten und Entscheiden, wie wir in dem Vorhergehenden gesagt haben, ist
ein Werk des Verstandes; der Verstand
aber verabscheuet die Wärme, ††) und folglich
282
283
284
ist ihm der Wein sehr
schädlich. Eine Repu blik aber zu regieren, ist
etwas ganz anders, als einen Proceß zu übernehmen und zu
entscheiden, und ist eine Wirkung der Einbildungskraft, wel che nothwendig Wärme erfordert. Wenn sie nun den nöthigen Grad von Natur nicht hat, so
ist es einem Regenten gar wohl erlaubt, ein wenig Wein zu
trinken, damit er sie auf diesen Grad erhöhe. Ein gleiches
versteht sich von ei nem obersten Anführer,
dessen Anschläge gleich falls ein Werk der
Einbildungskraft sind. Wenn er daher mit etwas Hitzigem seine
natürliche Wärme vermehren muß, so ist nichts darzu bes ser, als der Wein: er muß ihn aber mässig
trin ken, weil keine andere Nahrung dem
Genie der Menschen schädlicher und nützlicher seyn kann, als der Wein. Der Feldherr muß folg lich den Grad seiner Einbildungskraft wohl ken nen, damit er wisse, ob er seine natürliche Wär me durch Speise und Wein vermehren oder nüch tern bleiben solle: denn hierauf allein kömmt es an, daß ihm eine Kriegslist wohl oder übel
ausfalle.
Vierzehntes Hauptstück. Worinnen gezeigt wird, welche
Art des Genies ein König haben müsse, und
welches die Merkmale sind, wor an man dieses
Genie erkennet.
[
↔] Als
Salomo zum Könige und zum Haupte eines so grossen und
zahlreichen Volks, als Jsrael war, erwählet wurde, so bat er, wie
die heil. Schrift*) sagt, um nichts, als Weisheit vom Him mel, damit er wohl regieren könne. Diese
Bitte war GOtt so angenehm, daß er
ihn zur Belohnung zu dem weisesten Könige, der jemals in der
Welt gewesen ist, machte. Doch auch hierbey ließ er es nicht bewenden; er gab ihm, ausser der Weis heit, grossen Reichthum und viel Ehre; und ge währte ihm also mehr, als
er selbst in seinem gros sen Gebete verlangt
hatte. Hieraus folgt deut lich, daß die
allergrößte Klugheit und Weisheit, deren ein Mensch fähig seyn
kann, diejenige ist, wel che der Grund der
Regierung eines guten Königs seyn muß. Diese Folge ist so klar
und unwider sprechlich, daß wir uns bey ihrem
Beweise nicht aufhalten dürfen. Alles, was wir zu thun haben, ist dieses, daß wir zeigen, welcher Art des
Genies die Kunst, ein König, und zwar ein solcher König zu seyn, wie ihn der Staat braucht,
zukomme;
285
und daß wir hernach die
Merkmale aufsuchen, woraus man es erkennen kann, ob ein Mensch dieses
Genie habe oder nicht. So unwider sprechlich es ist, daß die Kunst zu regieren,
alle andere Künste in der Welt
übertrift, so gewiß muß auch die vollkommenste Art des
Genies, welche die Natur einem Menschen nur zu geben im Stande ist, darzu
nöthig seyn.
[
↔] Was dieses für eine Art des
Genies sey, haben wir bis hieher noch nicht sagen können, in dem wir uns nur bemüht haben, den übrigen Kün sten ihre erforderlichen
Genies zu bestimmen. Weil wir aber nunmehr darauf kommen,
so ist zu wissen, daß unter den neun Temperamenten, welche bey dem menschlichen Geschlechte zu finden sind,
nicht mehr als ein einziges ist, welches, wie
Galenus sagt, einem Menschen die allergrößte Weisheit,
de ren er nur natürlicher Weise fähig seyn
kann, ver schafft. *) Dieses Temperament ist dasjenige, wo alle vier
Hauptbeschaffenheiten gemässiget sind, und einander die Waage
halten, so daß weder die Wärme die Kälte, noch die Feuchtigkeit
die Trocken heit übertrift, sondern, daß alle
unter einander so harmoniren, als wenn sie einander ihrer Natur nach gar nicht zuwider wären. Aus die ser
Harmonie enstehet ein Werkzeug, welches der vernünftigen Sele zu
ihren Wirkungen so bequem ist, daß der Mensch ein vollkommenes
Gedächt=
286
niß, das Vergangene zu
behalten, mit einer gros sen Einbildungskraft,
das Zukünftige vorauszu sehen, und diese mit
einem starken Verstande rich tig zu
unterscheiden, zu folgern, zu schliessen, zu urtheilen und zu
wählen, verbindet. Die übrigen Arten des
Genies, welche wir bis hieher ange führt
haben, sind alle unvollkommen gewesen. Denn wenn der Mensch wegen
der vielen Trocken heit des Gehirns einen
grossen Verstand hat; so kann er keine von den Wissenschaften erlernen, welche der
Einbildungskraft und dem Gedächtnis se
zukommen. Hat er ferner wegen der grossen Wärme des Gehirns eine
starke Einbildungskraft; so bleibt er zu allen Wissenschaften
unfähig, wel che von dem Verstande und dem
Gedächtnisse ab hängen. Hat er endlich ein
glückliches Gedächt niß, weil sein Gehirn sehr
feucht ist; so ist er, wie wir oben erwiesen haben, zu allen
andern Wissen schaften, welche Trockenheit und
Wärme erfor dern, untüchtig. Diese einzige Art
des
Genies, die wir jetzt vor uns haben, ist
diejenige, welche zu allen Künsten nach einer jeden besondern
Be schaffenheit gebraucht werden kann.
[
↔] Wie schädlich einer Wissenschaft es sey, wenn man
die übrigen nicht damit verbinden kann, die ses
hat schon
Plato angemerkt, wenn er
behauptet, die Vollkommenheit in
einer jeden Wissenschaft insbesondere, hänge von der allgemeinen
Erkennt niß
aller Wissenschaften ab: denn kein Theil der Gelehrsamkeit ist von dem andern so sehr entfernt, daß die Kenntniß des einen nicht zur Vollkommen
heit in dem andern
vieles beytragen könne. Was soll man aber denken, daß ich, so
sorgfältig ich auch diese Art des
Genies
aufgesucht habe, nicht mehr als ein einziges Beyspiel davon in
Spanien habe finden können? Sollte nicht daraus deutlich folgen, daß
Galenus mit Recht
behaupte, die Natur habe es sich nicht einmal im Traume ein kommen lassen, ausser Griechenland einen Men schen von
einem gemässigten Temperamente, und einem
Genie, daß sich zu allen Wissenschaften zu gleich schicke, zu machen? Die Ursache davon giebt
Galenus*) selbst an, wenn er versichert, daß Griechenland die
allergemäßigste Gegend in der ganzen Welt sey, wo weder die Wärme
der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übertreffe. Diese Temperatur bringt die aller klügsten und zu allen Wissenschaften geschicktesten Leute hervor, wie es deutlich aus der grossen An zahl der berühmten Männer, welche in Griechen land sind gebohren worden, erhellt.
Sokrates,
Plato,
Aristoteles,
Hippokrates,
Galenus,
Theo phrastus,
Demosthenes,
Homerus,
Thales,
Dio genes,
Solon und unzählige andre Weise, deren die Geschichte gedenkt, zeigen in ihren Werken eine allgemeine Kenntniß des ganzen Umfanges der
Gelehrsamkeit. Schriftsteller aus andern Ländern hingegen, wenn
sie etwas schreiben, das in die Medicin oder in eine andere
Wissenschaft schlägt, rufen selten oder gar nicht die
übrigen Wissenschaften, woraus sie Erläuterungen für ih
287
re
Materie nehmen könnten, zu Hülfe. Alle sind arm und bald
erschöpflich, weil sie kein
Ge nie haben, das zu allen Wissenschaften bequem ist.
[
↔] Was aber noch wunderbarer von Griechen land ist, ist dieses, daß obgleich das
Genie der Weibspersonen, wie wir in dem folgenden bewei sen werden, zu den Wissenschaften ganz und
gar ungeschickt ist, gleichwohl so viele Griechinnen sich finden, die sich in der Gelehrsamkeit so sehr hervorgethan haben, daß sie mit den
allergröß ten Mannspersonen um den Rang
streiten kön nen. †) Man betrachte nur die einzige
Leon tium,
jenes gelehrte Frauenzimmer, welches wi der den
Theophrast, ob
er gleich einer von den größten Weltweisen seiner Zeit war,
schrieb, und ihm nicht wenige Jrrthümer in der Weltweis heit zeigte.
Wenn wir die übrigen Gegenden der Welt betrachten, so haben sie
kaum ein
Ge nie
hervorgebracht, welches Aufmerksamkeit ver diente. Die Ursache hiervon ist ihre schlechte natürliche
Beschaffenheit, wodurch die Menschen dumm, von trägem
Genie, und von übeln Sit ten werden.
Aristoteles fragt daher: *) δια
τι
θηριωδεις
τα ἐθη
και τας
ὀψεις, οἱ ἐν
ταις
ὑπερβολαις
ὀντες, ἠ
ψυχοις
ἠ
καυματος; das ist, warum die Menschen, welche in allzu
288
289
heissen
oder allzukalten Gegenden wohnen, so wohl von
Gesicht, als von Sitten, wild sind. Er antwortet auf diese Frage
sehr wohl, wenn er sagt, daß die gute Temperatur nicht allein dem Körper ein gutes Ansehen gebe,
sondern auch dem
Genie und der Fähigkeit
sehr zuträg lich sey. *) Wie also eine unmässige Wärme die Natur an der schönen Ausbildung des Men schen verhindert, eben so stört sie die Harmonie der Seele, und macht ihr
Genie faul und träge.
[
↔] Dieses sahen die Griechen sehr wohl ein, weswegen
sie auch alle Völker in der Welt, in Betrachtung ihrer
Ungeschicklichkeit und weni gen Wissenschaft,
Barbaren nannten. Man sieht daher auch, daß sich, so viele auch
ausser Grie chenland auf die Gelehrsamkeit
gelegt haben, wenn sie Philosophen
gewesen sind, doch weder dem
Plato, noch dem
Aristoteles gleich
gekommen sind. Sind sie Aerzte gewesen, so sind sie weit unter einem
Hippokrates und
Galenus geblie ben; sind sie Redner gewesen, so haben sie es keinem
Demosthenes gleich
gethan; und sind sie Dichter gewesen,
so hat
Homer immer noch einen
unendlichen Vorzug vor ihnen behalten. Auch in allen den übrigen
Wissenschaften haben die Griechen ohne Widerspruch allezeit den er sten Rang eingenommen. **) Wenigstens hat
290
291
also die Meynung des
Aristoteles bey den Grie chen ihre Richtigkeit, weil sie in der That sowohl die schönsten, als klügsten Leute von der Welt
sind: nur daß sie durch die Ueberschwemmung der Türken, welche
sie mit Gewalt der Waffen un terwürfig machten,
sehr vieles erlitten haben. Eben diese Ueberschwemmung war es,
wodurch die Gelehrsamkeit aus Griechenland vertrieben, und die Atheniensische Hoheschule nach Paris in Frankreich, wo sie auch noch jetzt ist, verlegt wurde. Die fähigen
Genies, welche auch noch jetzt in diesem Lande erzeugt werden,
müssen al so nothwendig verlohren gehen, weil
sie keine Cultur haben können, da sie wohl sonst den oben erzählten nichts nachgeben würden. Jn den
übri gen Gegenden, ausser Griechenland, ob
sie gleich Schulen und Uebungen in Wissenschaften gehabt haben, hat es doch niemals ein Mensch höher ge bracht, als der Grieche. Der Arzt denkt, alles gethan zu haben, was man von ihm fordern kann, wenn er
es dahin bringt, daß er das, was
Hippokra tes und
Galenus sagen, versteht; und der na türliche Weltweise glaubt den höchsten Gipfel in seiner
Wissenschaft erreicht zu haben, wenn er das, was
Aristoteles vorgebracht hat, einsiehet.
[
↔] Gleichwohl ist es keine allgemeine Regel, daß
alle, welche in Griechenland gebohren wer den,
nothwendig von einem guten Temperamen te, und
folglich weise seyn müssen; oder daß alle übrigen nicht anders,
als von einer schlech ten Natur, und dumm seyn
könnten.
Galenus
selbst erzählt von dem
Anacharsis, welcher von Geburt
ein Scythe war, daß er ein
Genie gehabt habe, welches auch von den Griechen, ob er gleich ein Barbar gewesen wäre, sey be wundert worden. Als ein Atheniensischer Welt weise einmal über ihn spotten wollte, und zu ihm sagte: kehre
in die Barbarey zurück, so antwortete ihm
Anacharsis: ἐμοι
μεν ἡ
πατρις
ὀνειδος,
συδε
τῃ
πατριδι;
das ist: mir gereicht zwar mein Vaterland, du aber gereichst
deinem Vaterlande zum Schimpfe. So ein schlechter Erd strich Scythien auch ist, und so dumm die
Leute daselbst gebohren werden, so bin ich doch klug ge worden; du aber bist ein Esel, ob dich
gleich Athen, das Vaterland der Weisheit und des
Genies, hervorgebracht hat. Man darf folglich wegen der Temperatur eines Landes nicht verzwei feln, oder glauben, daß ausser Griechenland kein grosses
Genie könne gefunden werden; denn
am leichtesten würde man es noch in Spanien finden, als welches Land noch gemäßigt genug ist. So gut
ich ein grosses
Genie
darinnen habe finden können, eben so gut kann es noch mehrere
der gleichen geben, ob sie mir gleich nicht
bekannt ge worden sind, weil ich die
Gelegenheit sie zu prü fen nicht gehabt habe.
Es wird daher nunmehr nöthig seyn, daß ich die Merkmale angebe,
wor aus man einen Menschen von dem
gemäßigsten Temperamente erkennen kann, damit er, wenn er sich etwa irgend wo finden sollte, nicht länger im Verborgenen bleiben dürfe.
[
↔] Die Aerzte geben sehr viele Kennzeichen an,
wodurch diese Art des
Genies zu entdecken ist. Die Vornehmsten aber und diejenigen, woraus sich das meiste
schliessen läßt, sind folgende. Das erste, wie
Galenus*) sagt, ist dieses, daß das Haupthaar röthlich sey; eine
Farbe, welche aus dem Weissen und aus dem Rothen zusammenge setzt ist, und von Jahr zu Jahr immer
gelblich ter werden muß. Die Ursache hiervon
liegt am Tage; weil die Causa materialis, woraus die Haa re erzeugt
werden, nach der Meynung der Aerzte, eine grobe Dunst ist, welche
aus dem Ge hirne aufsteigt, wenn diese seine
Nahrung ver daut. Von welcher Farbe also das
Glied ist, von eben der Farbe müssen auch seine Excremente seyn. **) Wenn das Gehirn in seiner Zusammen setzung viel Phlegma hat, so wird das Haupt haar weißlich; ist viel Cholera darinnen, so wird es
safrangelb; sind aber diese zwo Feuchtigkeiten mit einander
gleich vermischt, so wird das Ge hirn an Wärme,
an Feuchtigkeit, und an Trocken heit
wohlgemäßigt seyn, und die Haupthaare wer den
eine röthliche Farbe haben, welche aus Ver mischung jener beyden besteht. Es ist zwar wahr, daß
Hippokrates***) sagt, diese Farbe ent stehe bey
denjenigen Menschen, welche weit gegen Norden wohnen, als den
Engländern, Hollän dern und Deutschen, aus der,
durch die viele Käl te verbrannten Weisse;
nicht aber aus der Ur
292
293
294
sache,
die wir angeführt haben. Dieses Kenn zeichen muß man also wohl untersuchen, weil es in gewissen Fällen betrüglich seyn kann.
[
↔] Das zweyte Kennzeichen, woraus man ei nen Menschen erkennen kann, welcher diese Art des
Genies erlangt hat, ist, wie
Galenus*) sagt, dieses, daß er schön
und wohl gewachsen sey, daß er eine freundliche und angenehme
Ge sichtsbildung habe, so daß ihn jedermann
mit eben so grossem Vergnügen ansieht, als er etwan ein vollkommenes Bild betrachtet. Die
Ursa che hiervon ist klar. Denn wenn die
Natur ge nugsame
Stärke und einen wohldurchwirkten Saamen hat, so macht sie von
allem möglichen das beste und vollkommenste in seiner Art; wenn sie aber merkt, daß sie
nicht Kräfte genug hat, so wendet sie meistentheils allen ihren
Fleiß auf den Bau des Gehirns, weil es unter allen Theilen des Körpers der vornehmste
Sitz der vernünftigen Seele ist. Und
daher findet man viel ungestaltete und häßliche Leute, die aber
ein sehr feines
Genie haben.
[
↔] Die Grösse des Körpers, von welcher derje nige seyn muß, der das gemässigste Tempera ment hat, ist wie
Galenus**) sagt, von der Na tur nicht bestimmt. Er
kann von grosser, klei ner und mittler Statur
seyn, nach der Menge des gemässigten Saamens, der zu seiner Zeu=
295
296
gung angewendet wurde. Jn
Ansehung des
Genies aber ist bey wohltemperirten Men schen die mittlere Statur besser, als die gros se, oder die kleine; wenn sie aber auf eins
von diesen Aeussersten ausfallen muß, so ist es besser, daß sie klein als groß werde, weil, wie wir nach
der Meynung des
Plato und
Aristoteles erwie sen
haben, die vielen Knochen und das viele Fleisch dem
Genie sehr schädlich sind. Diesem zu Folge
pflegen die natürlichen Weltweisen die Fra ge vorzulegen: *) Cur homines, qui breui sunt corpore,
prudentiores magna ex parte sunt, quam qui longo? Zum
Beweise dieses Sa tzes führen sie den
Homer an, welcher dem klu gen Ulysses eine kleine Statur, dem dummen
Ajax aber eine grosse gegeben habe. Auf diese Frage antwortet
Alexander von Aphrodisien sehr
schlecht, wenn er spricht: die vernünftige Seele könne mehr
Stärke in ihren Wirkungen anwen den, wenn sie
in einen kleinen Raum zusammen geschränket sey,
nach dem bekannten Ausspru che: Virtus vnita fortior est seipsa dispersa;
wenn sie aber in einem grossen und weitläuftigen Körper wäre, so
besässe sie nicht Gewalt genug, ihn gehörig zu regieren und zu
beleben. Doch dieses ist die Ursache nicht, sondern es ist
viel mehr diese: weil grosse Leute in ihrer
Zusam mensetzung allzuviel Feuchtigkeit
haben, welche das Fleisch ausdehnen, und zu der Vergrösse rung, wornach die natürliche Wärme allezeit
297
strebt, geschmeidig macht.
Das Gegentheil hier von ereignet sich bey
denen, welche einen kleinen Körper haben, wo wegen der
allzugrossen Trocken heit das Fleisch nicht
zunehmen, noch von der na türlichen Wärme
ausgedehnt werden kann, welches nothwendig eine kleine Statur
verursachen muß. Jn dem Vorhergehenden aber haben wir bewie sen, daß unter allen Hauptbeschaffenheiten
keine den Wirkungen der vernünftigen Seele so hin derlich sey, als die viele Feuchtigkeit; und
kei ne, welche dem Verstande so zuträglich wäre, als die Trockenheit.
[
↔] Das dritte Kennzeichen, welches
Galenus*) von einem wohltemperirten Menschen angiebt, ist dieses, daß er tugendhaft und von
guten Sit ten sey;
denn lasterhaft und böse seyn, entste het, wie
Plato**) sagt, daher, weil der Mensch eine gewisse
Hauptbeschaffenheit in einem unmäs sigen Grade
besitzt, und dadurch zu sündigen an gereitzt
wird. Wenn er also der Tugend ge mäß handeln
soll, so muß er vorher seiner na türlichen
Neigung entsagen. Derjenige aber, welcher vollkommen wohl
temperirt ist, hat die se Mühe nicht nöthig,
weil ihn die untern Fä higkeiten niemals zu
etwas antreiben, was wider die Vernunft ist.
Galenus sagt daher, ***) es sey unnöthig einem Menschen von solchem Temperamente gewisse Regeln im Essen und Trin
298
299
300
ken
vorzuschreiben, weil er schon von Natur die Menge und Mässigkeit,
welche die Arzneykunst angiebt, niemals überschreite. Er nennt
solche Leute daher nicht allein die allermässigsten, son dern behauptet auch von ihren übrigen Leiden schaften der
Seele, daß man sich niemals einer Ausschweifung von ihnen
beforgen dürfe, weil ihr Zorn, ihre Traurigkeit und ihre Freude
al lezeit das Mittel hielten, und niemals
der Ver nunft widerstritten. Sie sind daher
allezeit ge sund, und kränkeln niemals,
worinnen das vierte Kennzeichen besteht.
[
↔] Doch hierinnen hat
Galenus nicht
recht, weil es unmöglich ist, daß ein Mensch sich so vollkommen in allen seinen Vermögenheiten er zeigen könne, als vollkommen gemässigt sein
Kör per ist. Der Zorn und die Begierden werden noch dann und wann die
Oberhand über seine Vernunft davon tragen, und ihn zur Sünde an reitzen. Man
muß daher niemals einen Men schen, von so
gemässigtem Temperamente er auch immer sey, seinen natürlichen
Neigungen folgen lassen, sondern ihn immer bey der Hand
leiten, damit er der strengsten Vernunft gemäß hande le. Dieses wird
man deutlich einsehen, wenn wir nicht allein das Temperament,
welches das Gehirn haben muß, wenn es für die vernünfti ge Seele ein
bequemes Werkzeug seyn soll, son dern auch das
Temperament des Herzens betrach ten, damit die
erzürnliche Vermögenheit nach Ehre, Sieg, Beherrschung und Vorzügen begie
rig sey;
das Temperament ferner der Leber, da mit es die
Speisen gehörig verdaue, und das Tem perament
der Testikeln, damit sie zur Fortpflan zung des
menschlichen Geschlechts geschickt seyn können.
[
↔] Von dem Gehirne haben wir schon mehr als einmal
erinnert, †) daß es
Feuchtigkeit für das Gedächtniß, Trockenheit für den Verstand, und Wärme für die Einbildungskraft haben müsse. Gleichwohl
ist es seiner natürlichen Beschaf fenheit nach
kalt und feucht; nach den verschie denen Graden
dieser zwo Beschaffenheiten aber nennen wir es bald warm, bald
kalt, bald feucht, bald trocken; allein niemals verliert die
Feuch tigkeit und die Kälte darinnen die
Oberhand.
[
↔] Die Leber, in welcher die Begierden
ihren Sitz haben, ††) ist ihrem
natürlichen Tempera mente nach warm und feucht,
welche Beschaf fenheit sie auch niemals
verliert, so lange auch der Mensch lebt. Wenn wir sie aber ja
einmal kalt nennen, so geschieht es nur in so fern, als sie nicht alle Grade der Wärme hat, welche ihre
Verrichtungen erfordern.
301
302
[
↔] Von dem Herzen, welches das Werkzeug der
erzürnlichen Vermögenheit ist, sagt
Galenus*), daß es seiner Natur nach so heiß sey, daß, wenn man einem lebendigen Thiere den Finger in die
Höhlungen desselben stecken könnte, man es un möglich länger als einen Augenblick, ohne sich zu verbrennen,
aushalten würde. Wenn wir es daher manchmal kalt nennen, so ist
es nicht so zu verstehen, als wenn die Kälte darinnen die Oberhand hätte, welches ein durchaus unmögli cher Fall ist; man will bloß damit sagen, daß die Wärme desselben nicht denjenigen Grad ha be, welchen seine Verrichtungen erfordern.
[
↔] Eben dieses versteht sich auch von den Testi keln, worinnen der andere Theil der Begierden seinen Sitz hat. Jhr natürliches Temperament ist
Wärme und Trockenheit. Wenn wir also manchmal sagen: dieser oder
jener Mensch hat kalte Testikeln; so ist dieses von keiner die
Ober hand habenden Kälte, sondern nur von
einem schwächern Grade der Wärme, als zur Erzeu gungsvermögenheit nöthig ist, zu verstehen.
[
↔] Hieraus ist offenbar zu schliessen, daß der
Mensch, wenn er wohl gebaut und zusammen gesetzt seyn soll, nothwendig in dem Herzen eine
ausserordentliche Hitze haben muß; weil sonst die erzürnliche
Vermögenheit bey ihm sehr schwach seyn würde. **) Jst ferner auch die Leber nicht
303
304
ausserordentlich heiß, so
wird er weder die Spei se genugsam verdauen;
noch das zur Erhaltung nothwendige Blut zubereiten können; eben
so wenig, als er zur Fortpflanzung seines Geschlechts geschickt seyn wird, wenn seine Testikeln mehr
Kälte als Wärme haben.
[
↔] Da also, wie wir gesagt haben, diese Glie der so vermögend sind, so muß nothwendig durch die allzugrosse Hitze eine Veränderung des Ge hirns daraus folgen, als welche Beschaffenheit die Vernunft am meisten verwirret, so
daß der Wille hernach, ob er gleich frey ist, aufgebracht wird, und Neigung bekömmt, den Lüsten der
niedern Vermögenheiten nachzugeben. *) Aus diesen Betrachtungen nun folgt, daß die Natur nicht vermögend sey, einen
Menschen nach allen seinen Kräften vollkommen, und zur Tugend durchaus geneigt hervorzubringen.
[
↔] Wie entgegen es vielmehr der menschlichen Natur
sey, daß ein Mensch zur Tugend geneigt gebohren werde, sieht man
gar deutlich, wenn man den ersten Menschen und seine
natürliche Beschaffenheit betrachtet. Diese war, wenn man das einzige Temperament unseres Hei landes ausnimmt, gewiß die
vollkommenste, die jemals ein Mensch in der Welt gehabt
305
hat, weil sie unmittelbar
aus den Händen des größten Künstlers kam. Wenn ihm GOtt keine übernatürliche Eigenschaft
hätte beygelegt gehabt, welche die niedern Vermögenheiten im Zaume zu halten fähig gewesen wäre, so hätte er
seiner Natur nach unmöglich zu etwas andern, als zum Bösen geneigt seyn können. Daß aber GOtt
wirklich den Adam mit Zorn und Begier den erschaffen
habe, dieses läßt sich leicht aus dem Befehle, den er an ihn
that, sehen:
seyd frucht bar
und mehret euch und füllet die Erde. Er mußte ihm also
nothwendig eine starke Erzeu gungsvermögenheit,
welche bey einem kalten Kör per nicht statt
findet, beygelegt haben: denn er sollte die Erde mit Menschen
füllen, welches ohne viele Hitze nicht geschehen kann.
[
↔] Gleiche Hitze gab er der Nahrungsvermögen heit, wodurch der Mensch die verlornen Kräfte er setzen und sich neue verschaffen könnte.
Dieses erhellt nicht weniger deutlich aus dem, was er fer ner zu ihm sagte:
sehet da, ich
habe euch ge geben allerley Kraut, das sich
besamet, auf der ganzen Erde, und allerley fruchtbare Bäume, und Bäume, die sich besamen zu eurer
Speise. Wenn GOtt also dem ersten Menschen einen kalten
Magen und eine kalte Le ber hätte geben wollen,
so hätte er unmöglich weder die Speisen verdauen, noch sich bis
in das neunhundert und dreyßigste Jahr erhalten können.
[
↔] Auch das Herz rüstete er ihm aus, und gab ihm die
erzürnliche Vermögenheit, wodurch er zur Be
herrschung und zur Regierung der ganzen
Welt geschickt gemacht wurde.
Machet die Erde euch unterthan, sagte er,
und herrschet über Fische im Meer, und über Vögel
unter dem Himmel, und über alles Thier, das auf Erden kreucht. Wenn er dem Adam also nicht genugsame Wärme gegeben hätte, so wür de er weder Muth, noch Ansehen bey seiner Re gierung gehabt haben; er würde weder nach Eh re, noch nach Ruhm,
noch nach Majestät begie rig gewesen seyn. Wie
schädlich es einem Fürsten sey, wenn die erzürnliche Vermögenheit
bey ihm schwach ist, läßt sich nicht genug beschreiben: denn eben daher kömmt es, daß ihn die Unterthanen
weder fürchten, noch ehren, noch seine Gesetze beobachten.
[
↔] Nachdem Gott also dem Adam die
erzürnliche Vermögenheit und die Begierden, durch die
Hitze, welche er gedachten Gliedern gab, beygebracht hatte, so gieng er weiter zu der vernünftigen Vermögen heit, und gab ihm ein Gehirn, welches so kalt und feucht, und von einer so feinen Substanz
war, daß die Seele damit schliessen und überle gen, und also ihre eingeblasene Weisheit nutzen konnte. Denn, wie wir
schon an einem andern Orte gesagt und bewiesen haben, so macht
GOtt bey demjenigen Menschen, dem er eine natürli che Weisheit beybringen will, erst das
Genie darzu bequem, und giebt ihm solche natürliche Fähigkeiten, die er anzunehmen geschickt ist.
[
↔] Da nun die erzürnliche Vermögenheit und die
Begierden wegen der vielen Wärme so mäch tig,
die Vernunft aber so schwach, und zum Wi derstehen so ohnmächtig war; so versah GOtt den Menschen mit einer übernatürlichen Eigen schaft, welche die Theologen
die anerschaffene Gerechtigkeit nennen, und womit er die Rei zungen seines geringern Theils unterdrücken
konn te, damit der vernünftige Theil die
Oberhand behalten, und der Mensch zu allem Guten ge neigt seyn möge. Diese Eigenschaft aber ver loren unsere ersten Aeltern durch den Fall;
das Erzürnliche und die Begierden behielten nachher ihre Natur, und sind seitdem allezeit durch die
Gewalt der drey gedachten Glieder der Vernunft überlegen gewesen,
so, daß es von dem Men schen heißt:
das Dichten seines Herzens ist böse von Jugend auf.
[
↔] Adam wurde in dem Alter seiner
Jugend er schaffen, welches nach der Meynung
der Aerzte, besonders des
Galenus, *) das allergemässigste ist. Gleich von diesem Alter also
an, die wenige Zeit ausgenommen, die er in dem Stande der Un schuld blieb, war er mehr zum Bösen als zum
Gu ten geneigt.
[
↔] Aus dieser Lehre folgt, nach den richtigsten
Grundsätzen der natürlichen Weltweisheit, daß, wenn der Mensch eine tugendhafteHandlung, welche seinem Fleische
entgegen ist, verrichten soll, er sie unmöglich ohne eine
mitwirkende überna
306
türliche
Gnade vollziehen kann, weil die Beschaf fenheiten, womit seine untern Vermögenheiten wirken, die mächtigsten sind.
Jch sage: eine tugendhafte Handlung, welche seinem
Fleische entgegen ist; denn es giebt nicht wenig mensch liche Tugenden, welche bloß aus der Schwä che der erzürnlichen Vermögenheit und der Be gierden entstehen, wie zum Beyspiele die
Keusch heit eines Menschen von kaltem
Temperamente ist, welche eher eine Unvermögenheit, als eine Tugend genannt zu werden verdienet.
[
↔] Wenn uns also auch die katholische Kirche nicht lehrte, daß niemand ohne besondern
Beystand GOttes seine Natur überwinden könnte, so könn te uns doch schon die natürliche
Weltweisheit lehren, daß eine übernatürliche Gnade unsern
Wil len stärken müsse. Alles, was
Galenus hat sagen wollen, ist
dieses, daß ein Mensch von dem gemäs sigsten
Temperamente alle andre, die dieses Tem perament nicht haben, an Tugend übertreffe, weil er von seinem
geringern Theile minder Reizungen auszuhalten habe.
[
↔] Die fünfte Eigenschaft, welche Leute von diesem
Temperamente haben, ist ein sehr langes Leben; weil sie genugsame
Kräfte haben, den meisten Anfällen zu widerstehen, wodurch die
Menschen krank werden. Dieses ist es, was der Prophet
David in seinem neunzigsten Liede sagen will:
unser Leben währet siebenzig Jahr; und wenns hoch
kömmt, so sinds achtzig Jahr;
und wenns köstlich gewesen ist, so ists Mühe und
Arbeit gewesen.
[
↔] Zum letzten Kennzeichen endlich giebt
Gale nus*) dieses an, daß sie von sehr grossem Geiste
sind, daß sie ein starkes Gedächtniß, das Vergangene zu behalten, eine starke Einbildungskraft, das Zukünf tige
voraus zu sehen, und einen grossen Verstand besitzen, wodurch sie die Wahrheit
bey allen Sa chen erreichen. Sie sind weder
listig, noch tü ckisch, noch boshaft; weil
diese Fehler von einem übeln Temperamente entstehen.
[
↔] Ein
Genie, wie dieses ist, bestimmte die Na tur offenbar weder zur Erlernung der Sprachen noch der Vernunftlehre, weder der Weltweisheit noch der Arzneykunst, weder der Gottesgelahrheit
noch der Gesetze. Denn wenn es auch alle diese Wissenschaften mit
leichter Mühe erlernen könnte, so würde doch keine davon seine
ganze Fähigkeit beschäftigen können. Das einzige Amt eines Kö niges ist das, welches seinem Umfange gemäß
ist; und bloß zur Regierungskunst muß es angewen det werden.
[
↔] Dieses wird vollkommen deutlich erhellen, wenn wir
alle Eigenschaften und Kennzeichen, die wir bey einem
wohltemperirten Menschen an gemerkt und
durchgegangen haben, nochmals durchgehen und untersuchen, wie
ungemein wohl sich eine jede zum königlichen Scepter schicke, und wie unbrauchbar sie zu allen andern Wis senschaften sey.
307
[
↔] Daß ein König schön und wohlgebildet sey, ist
eines von denjenigen Stücken, welches die Unter thanen am meisten ihn zu lieben und zu verehren anreitzt: denn
der Gegenstand der Liebe, wie
Pla to*) sagt, ist die Schönheit und die gute
Ueberein stimmung. Wenn nun der König
häßlich und ungestaltet ist, so können unmöglich die Seinigen einige Neigung gegen ihn empfinden;
sie müssen sich vielmehr darüber entsetzen, daß sie von einem unvollkommenen und aller Vorzüge der Natur
beraubten Menschen sollen regiert werden.
[
↔] Wie viel ferner auf ein tugendhaftes Leben und auf
gute Sitten ankomme, dieses, hoffe
ich, werde ich nicht weitläuftig beweisen dürfen. Der jenige, welcher das Leben der Unterthanen regieren, und ihnen Regeln und Gesetze, die der
Vernunft gemäß sind, vorschreiben soll, der muß selbst sein Leben regieren und nach den Vorschriften der Ver nunft handeln. Denn wie der König ist, so sind die Grossen, so sind die Mittlern und Kleinen.
Auf diese Art kann er seinen Befehlen einen weit stärkern
Nachdruck geben; und diejenigen mit grösserm Rechte züchtigen,
welche dawider handeln.
[
↔] An allen denjenigen Vermögenheiten vollkom men seyn, welche den Menschen
regieren, und in den erwähnten drey Gliedern ihren Sitz haben, ist einem Könige anständiger, als irgend einem
andern Künstler oder Gelehrten. Denn, wie
Pla to**) sagt, so müssen in einer wohlgeordne
308
309
ten
Republik Brautwerber und Ehestifter seyn, welche die
Eigenschaften derjenigen, die sich verbinden wollen, durch Kunst
zu erkennen wissen, damit eine jede Mannsperson dasje nige Frauenzimmer
bekomme, welches ihm am gemäßesten ist; und jedes Frauenzimmer diejenige Mannsperson, die sich am besten für
sie schickt. Auf diese Weise würde niemand des Endzwecks der
Ehe verfehlen; da wir ietzt aus der
Erfahrung sehen, daß oft eine Weibsper son mit
ihrem ersten Manne keine Kinder bekömmt, mit dem zweyten aber fruchtbar genug ist; daß
auf eben diese Art eine Mannsperson mit der er sten Frau keine Nachkommen erzielt, in der zwey ten Ehe aber ohne Anstand welche erhält. Diese Kunst, sagt
Plato, sollte
vornehmlich bey Ver heyrathungen der Könige
angewendet werden. Denn da zur Erhaltung des Friedens und der
Ru he des Reichs nicht wenig darauf ankömmt,
daß der Regent eheliche Kinder, die ihm in seinen Staaten folgen können, habe; so kann es ja wohl geschehen, daß ein König, wenn er sich nur auf
gutes Glück verheyrathet, eine unfruchtbare Ge mahlin findet, mit der er zeitlebens, ohne Hof nung, Erben zu erhalten, beschäftiget seyn muß. Stirbt er nun
ohne Erben, so entstehen alsobald wegen Erwählung eines
Nachfolgers bürger liche Kriege.
[
↔] Doch diese Kunst, sagt
Hippokrates, *) ist nur bey Leuten, die ein schlechtes Temperament
310
haben, nöthig; aber nicht
bey denen, die ein so vollkommenes Temperament haben, als es
in dem Vorhergehenden von uns ist beschrieben
worden. Diese haben es nicht nöthig, sich die Weiber auszusuchen,
und diejenige zu erwählen, die sich für sie am meisten schickt.
Sie mögen sich verheyrathen, mit welcher sie wollen, so wer den sie, wie
Galenus*) sagt, unfehlbar Kinder bekommen. Dieses aber versteht
sich, wenn die Frau gesund und in demjenigen Alter ist, in wel chem eine Weibsperson, nach dem Laufe der Na tur, empfangen und gebähren kann. Die Frucht barkeit ist also aus angeführten Ursachen bey
dem Könige ein weit wichtigerer Punkt, als bey irgend einem andern Menschen.
[
↔] Die Nahrungsvermögenheit, wenn sie zu ei ner Gefrässigkeit und Unmässigkeit im Essen und Trinken ausschlägt, entstehet, wie
Galenus sagt, daher, daß der Magen und die Leber nicht
die jenige Temperatur haben, die zu ihren
Verrich tungen erfordert wird. Die Menschen
werden daher schwelgerisch, kränklich, und leben sehr kur ze Zeit. Wenn aber diese Glieder eine gemäs sigte Mischung und gleich die erforderliche
Be schaffenheit haben, so verlangen sie, wie
Galenus sagt, nicht mehr
Speise und Trank, als zur Er haltung des Lebens nöthig ist. Diese Eigen schaft ist bey einem Könige etwas so wichtiges, daß GOtt dasjenige Land besonders
beglückt hat,
311
dessen Regent sie besitzt.
Wohl dir, Land, des König edel ist: und des
Fürsten zu rechter Zeit essen, zur Stärke und nicht zur Lust*).
[
↔] Von der erzürnlichen Vermögenheit, nach dem sie zu stark oder zu schwach ist, sagt
Gale nus,
**) daß sie ein Herz von einer üblen Beschaf fenheit verrathe, welches dasjenige Temperament nicht habe, das
zu seinen Verrichtungen erfor dert wird. Das
eine äusserste, sowohl als das andere, muß bey einem Könige weit
weniger, als bey irgend einem andern Menschen, anzu treffen seyn. Die Rachsucht bey einer unum schränkten Gewalt ist für die Unterthanen
eben so schädlich, als schädlich es für den König ist, wenn ihn nichts aufbringen kann. Wenn er alles
leicht übersieht, was in seinem Reiche übels gethan wird, so wird
er weder von den Unter thanen gefürchtet, noch
verehret; woraus für den Staat so
viel Unheil und so viele Uebel flies sen, daß
ihnen sehr schwer abzuhelfen ist. Wenn aber ein Mensch ein
gemässigtes Temperament besitzt, so erzürnt er sich, so oft er
Ursache darzu hat, und ist friedfertig, so lange er es seyn
kann. Diese Eigenschaft ist bey einem Könige wenig stens eben so nöthig, als alle die übrigen,
die wir angeführet haben.
[
↔] Wie viel daran gelegen sey, daß auch ferner die
vernünftige Vermögenheit, das Gedächtniß,
312
313
die Einbildungskraft, der Verstand bey einem Könige vollkommen sey, ist eine Sache, die sich
selber beweiset. Alle übrige Wissenschaften und Künste können, wie es scheint, durch die blosse Stärke des menschlichen
Genies begriffen, und zur Ausübung gebracht werden; ein Reich
aber zu regieren, es in Frieden und Eintracht zu er halten, darzu wird nicht allein erfordert,
daß der König eine grosse natürliche Klugheit besitze, sondern GOtt selbst muß ihm mit
seiner Weis heit
beystehen und regieren helfen. Die heil. Schrift, bemerkt dieses, wenn sie *) sagt:
des Kö nigs Herz
ist in der Hand des Herrn.
[
↔] Auch lange Zeit zu leben, und beständig ge sund zu seyn, ist eine Eigenschaft, die bey einem guten Könige weit mehr zu sagen hat, als bey
irgend einem andern Künstler und Gelehrten. Seine Sorgfalt und
sein Fleiß muß allgemein seyn, und sich über alles erstrecken;
wenn er nun nicht gesund ist, und folglich diese Arbeit nicht aushalten kann, so muß nothwendig die
Republik zu Grunde gehn.
[
↔] Die ganze Lehre, die wir bisher abgehandelt haben,
würde ungemein deutlich erläutert wer den, wenn
wir ein wahres Beyspiel auftreiben könnten, daß irgend einmal ein
berühmter Mann, der alle die erzählten Tugenden und Kennzeichen
gehabt, zum Könige sey erwählt worden. So viel ist gewiß, es
würde ihm niemals an Gele genheit oder Stof
gefehlt haben, seine Eigenschaf ten an den Tag
zu legen.
314
[
↔] Die heilige Schrift erzählt, *) daß, als GOtt über den
Saul zornig geworden, weil er dem Amaleck das Leben geschenkt hatte, er dem
Samuel befohlen habe, zu dem Bethlehemiter Jsai zu gehen, und einen von
seinen acht Söhnen zum Könige zu salben. Der heilige Mann
glaub te, GOtt würde vielleicht an dem Eliab seinen Gefallen haben,
weil er von einer grossen und ansehnlichen Gestalt war; er fragte
ihn also:
ob er vor dem HErrn sein Gesalbter sey? GOtt
aber antwortete auf diese Frage:
siehe nicht an seine Gestalt, noch seine grosse
Person; ich habe ihn verworfen. Denn ein Mensch siehet, was
vor Augen ist, der HErr aber siehet das Herz an.
Samuel ward bestürzt, daß er so
unfähig im Wählen sey; er gieng also weiter, und that, was ihm
befohlen war, indem er bey einem jeden GOtt fragte, ob er diesen zum Könige salben solle? Weil aber keiner
GOtt angenehm war, so sagte er endlich zu dem Jsai, du hast vielleicht noch mehr Söh ne, als die, welche vor uns stehen? Jsai ant wortete hierauf:
es ist noch übrig der Klein ste, und siehe, er hütet der Schafe. Und eben wegen der
kleinen Gestalt schien er dem Vater zum königlichen Scepter
ungeschickt zu seyn.
Samuel
aber, weil ihn schon GOtt ein mal erinnert
hatte, daß die grosse Gestalt eben kein gutes Zeichen sey, sagte,
er solle ihn holen las sen. Hier nun ist es in
der That etwas sehr
315
merkwürdiges, daß die heilige Schrift, noch ehe sie
seine Salbung zum Könige erzählt, dieses voransetzt:
und er war bräunlich, mit schö nen Augen und guter Gestalt. Und der Herr sprach: auf und
salbe ihn, denn er ists. David hatte also die zwey ersten Kenn zeichen, die wir angefühet haben; er war bräunlich, er war
wohlgebildet und von mittler Statur.
[
↔] Auch das dritte Kennzeichen, ein tugendhaftes
Leben und gute Sitten, fehlte an ihm nicht, welches man aus dem,
was GOtt selbst von ihm sagte, sie het:
ich habe funden einen Mann nach mei nem Herzen. *) Gesetzt auch, daß er oft sündigte, so verlohr er doch
deswegen nicht den Namen und die Fähigkeit eines Tugendhaften; eben so we nig als einer, welcher seiner Neigung nach laster haft ist, ob er gleich manchmal einige moralisch gute Handlungen verrichtet, den Namen eines Bösen und Lasterhaften verliert.
[
↔] Daß er Zeit seines Lebens beständig gesund gewesen
sey, scheint man beweisen zu können; denn in seiner ganzen
Geschichte wird **) nicht mehr als einer einzigen Schwachheit gedacht. Und auch diese war nichts, als ein natürlicher Zufall, dem alle Menschen unterworfen sind, welche viele Jahre leben; weil sich nämlich die
natürliche Wärme bey ihm verlohren hatte, und er in den Betten
nicht mehr warm werden konn te, so legten sie
ein schönes Mädchen zu ihm, die ihn erwärmen sollte. Uebrigens
lebte er so lan
316
317
ge, daß
die Schrift sagt *):
und er starb in gutem Alter, voll Lebens, Reichthum und Ehre; ob er gleich in seinem Leben
unzählige Mühseligkeiten, besonders im Kriege ausgestan den, und seine
Sünden sehr gebüsset hatte. Die
Ursache hiervon war sein gutes gemässigtes Temperament, wodurch
er den meisten Zufällen, die den Menschen kränklich machen und
seine Lebenszeit verkürzen, widerstand.
[
↔] Von seiner grossen Klugheit und Weisheit redet jener Bediente des
Sauls, wenn er **) sagt:
siehe, ich habe gesehen einen Sohn Jsai des Bethlehemiten, der kann wohl auf Saiten spielen: ein rüstiger Mann, und
streitbar, und verständig in Sachen, und schön; und der HErr
ist mit ihm. Aus diesen angeführten Kennzeichen ist es
also offenbar, daß David das
gemässigste Tempera ment gehabt habe; und daß
Leuten seines glei chen der königliche Scepter
zukomme, weil ei gentlich ihr
Genie das beste ist, welches die Natur hervorbringen kann.
[
↔] Eine sehr grosse Schwierigkeit ereignet sich noch
bey dieser Lehre, diese nämlich: warum GOtt, ob er schon alle
Genies und Fähigkei ten in
ganz Jsrael kannte und wußte, daß nur diejenigen, welche das gemäfsigstegemässigste Temperament besitzen, die Klugheit und Weisheit haben,
wel che zu dem Amte eines Königs erfordert
wird,
318
319
gleichwohl bey der ersten
Wahl eines Jsraeliti schen Königs keinen
solchen Menschen ausgesucht habe? Die Schrift sagt vielmehr, *) daß
Saul eines Haupts länger, denn alles Volk ge wesen wäre. Dieses Kennzeichen verräth nicht allein nach der natürlichen Weltweisheit ein schlechtes
Genie,
sondern GOtt selbst, wie wir erwiesen
haben, tadelte den
Samuel, daß ihm die grosse Gestalt des Eliabs
so wichtig geschie nen, daß er ihn deswegen zum
Könige habe salben wollen.
[
↔] Doch diese Schwierigkeit bekräftiget das, was
Galenus**) sagt: daß man es sich nicht einmal im Traume dürfe
einkommen lassen, ei nen wohl temperirten
Menschen ausser Griechen land zu finden; weil in einem so grossen Vol ke, als Jsrael war, GOtt nicht einen einzigen fand, den er zum Könige hätte wählen können, son dern warten mußte, bis David gebohren wurde und heranwuchs. Unterdessen aber
erwählte er den
Saul, weil
dieser, wie die Schrift sagt, der beste in ganz Jsrael war; und auch in der That mehr
Redlichkeit, als Weisheit besitzen mochte. Die Redlichkeit aber
allein ist zum Herrschen und Regieren nicht genug: bonitatem et disci- plinam et scientiam doce
me, sagte der Kö nig und Prophet David; weil er wohl einsah, daß
ein König nicht bloß tugendhaft, sondern auch zugleich klug und
weise seyn müsse.
320
321
[
↔] Durch dieses Beyspiel des Königs David sollte ich meynen, hätten wir unsere Meynung hinlänglich bestärkt. Doch es wurde noch ein
anderer König in Jsrael gebohren, von welchem es hieß *):
wo ist der neugebohrne König der Jüden? Wenn wir nun beweisen, daß auch dieser bräunlich, von einer angenehmen Bil dung, von mittler Statur, tugendhaft, gesund, und von grosser Klugheit und Weisheit gewesen
sey, so werden wir wohl nichts thun, als was sich zu unserm
Vorhaben sehr wohl schickt.
[
↔] Die Evangelisten geben sich zwar nicht da mit ab, die körperliche
Beschaffenheit unseres Heilandes zu beschreiben, weil sie nicht zu
dem Zwecke, den sie sich vorgesetzt hatten, gehöret; allein man kann sie mit leichter Mühe schliessen, vorausgesetzt, daß in dem allergemässigsten Tem peramente alle Vollkommenheit besteht, die ein Mensch natürlicher Weise haben kann. Da ihn nun
der heilige Geist selbst bauete und organi sirte, so ist es unwidersprechlich, daß weder
der Stof, aus dem er ihn bildete, noch die üble Be schaffenheit der Nazarethischen Gegend ihm
wi derstehen, oder ihn, wie andere natürlich
wirkende Ursachen, in seinen Wirkungen irre machen konn ten. Er that vielmehr alles, was er wollte, weil ihm weder die Macht, noch die Weisheit,
noch der Wille fehlte, den vollkommensten Men schen, der auch nicht den geringsten Fehler ha be, zu bilden: besonders da Christus bloß
des
322
wegen in
die Welt gekommen war, daß er, wie er selbst *) von sich sagt, für die Menschen leiden, und sie die Wahrheit lehren sollte. Zu beyden Stü cken ist diese Temperatur, wie wir bewiesen haben, das allerbequemste Werkzeug. Jch halte auch
daher diejenige Nachricht, welche der Proconsul Publius
Lentulus an den römischen Senat aus Je rusalem schickte, für wahrhaft und
unverfälscht. Sie ist folgende: „Es ist zu unsern Zeiten ein Mann von
grosser Tugend, mit Namen Jesus Christus, aufgetreten, welcher noch
lebt. Von dem Vol ke wird er ein Prophet der
Wahrheit und von seinen Schülern ein Sohn GOttes
ge nannt. Er erweckt Todte und heilt alle Krankheiten. Er ist von einer mittlern und geraden Statur, und von angenehmer Bil dung. Jn seinem Gesichte hat er etwas, welches Hochachtung erweckt, so, daß ihn al le, die ihn sehen, lieben und fürchten müs sen. Die Haupthaare sind nußgelb, und bis an die Ohren sind sie einerley: von den Ohren aber bis an die Schultern sind sie so gelb als Wachs, und schimmern recht. Mitten auf dem Kopfe hat er eine Abscheidung von Haaren, so wie sie die Nazarener zu tragen pflegen. Seine Stirne ist platt, aber sehr heiter. Das Gesicht ist ohne Runzeln und Flecken, und von einer mässigen Röthe.
323
Die Nase und
der Mund sind untadelhaft. Der Bart ist dicht, und
an Farbe den Haupt haaren gleich, nicht lang, in der
Mitten aber getheilt. Sein Blick ist unschuldig und
ge setzt; seine Augen sind blau und helle. Wenn er bestraft, ist er schrecklich; wenn er ermahnt, ist er freundlich. Er macht sich beliebt. Er ist freudig, aber dabey gesetzt. Niemals hat man ihn lachen, wohl aber weinen sehen. Seine Armen und Hände sind fein. Jn Gesellschaften ist er sehr an genehm, er findet sich aber selten darbey ein; und wenn er sich dabey einfindet, so ist er stille. Kurz, seiner äusserlichen Gestalt nach ist er der schönste Mensch, den man sich nur einbilden kann.“
[
↔] Jn dieser Nachricht kommen drey bis vier
Kennzeichen eines vollkommen temperirten Men schen vor. Das erste ist das Haupthaar und der Bart, welche
beyde nußgelb waren; eine Farbe, die, wenn wir sie wohl
betrachten, nichts als ein verbranntes Roth ist, und von welcher,
nach dem Befehl GOttes, *) die Kuh seyn mußte, die zum Vorbilde Christi geopfert
wurde. Und als er wie der in den Himmel mit
einem ihm anständigen Triumphe zurück kam; so sagten einige Engel, welche nichts von seiner
Menschwerdung wußten:
wer ist der, so von Edom kömmt, mit röthlichen
Kleidern von Bazra? Sie woll ten
hiermit fragen: wer ist der, der von dem
324
rothen Lande kömmt, in
Kleidern von gleicher Far be? Sie meynten sein
Haupthaar, seinen rothen Bart und das Blut, womit er noch
bezeichnet war.
[
↔] Gleichfalls erzählt der Brief, daß er der aller schönste Mensch dem Ansehen nach gewesen sey, welches das zweyte Kennzeichen eines wohl tem perirten Menschen ist. Jn der heil. Schrift felbstselbst war es vorher verkündigt worden, daß man ihn an diesem
Merkmale erkennen sollte: (Ps. LXV.)
du bist der Schönste unter
den Menschenkindern; und (1. B. Mos. XLIX.
12.)
seine Augen sind röthlicher denn Wein,
und seine Zähne weisser denn Milch. Diese Schönheit und gute Beschaffenheit des Körpers trug sehr viel darzu bey, daß ihm alle geneigt waren, und nichts Verabscheuungswür diges an ihm fanden. Der Brief sagt ferner, daß er von mittler Statur gewesen sey: nicht et wa, weil es dem Heil. Geiste an Stof gefehlet habe, woraus er ihn hätte können grösser machen,
sondern weil er seine vernünftige Seele nicht mit allzuviel Knochen und Fleisch belästigen wollte,
als welches, nach der Meynung des
Plato und
Aristoteles, dem
Genie
sehr nachtheilig ist.
[
↔] Das dritte Kennzeichen, ein tugendhaftes Leben
nämlich und gute Sitten, bekräftigt der Brief gleichfalls: und die Juden konnten mit allen ihren falschen Zeugen das Gegentheil nicht
beweisen, noch auf seine Frage antworten:
wel cher unter euch kann mir eine Sünde bezeu=
gen?
Josephus selbst, *) nach der Aufrichtigkeit, die er als ein guter Geschichtschreiber beobachten mußte,
versichert von ihm, daß er in Ansehung seiner Güte und Weisheit eine ganze andere Na tur, als alle andere Menschen, gehabt
zu haben ge schienen. Bloß das lange Leben
findet bey un serm Heilande nicht statt, weil er in so jungen Jahren
hingerichtet wurde, seiner Natur aber nach, älter als achtzig
Jahre hätte werden kön nen. Denn der, welcher
in einer Wüste vierzig Tage und vierzig Nächte **) zubringen konnte, ohne daß er starb oder krank ward, der
würde sich noch weit leichter gegen andere kleinere Zufälle haben vertheidigen können:
obschon diese That als ein Wunder und
als eine Sache, die na türlicher Weise nicht
geschehen kann, betrach tet wird.
[
↔] Diese zwey Beyspiele von Königen, die wir
angeführt haben, werden genugsam zu verstehen geben, daß der
königliche Scepter nur dem wohl temperirtesten Menschen zukomme,
und daß nur diese das
Genie und die Klugheit haben, welche zu dem Amte eines Königes
nöthig sind. Doch es ist noch ein Mensch übrig, welcher von
den eigenen Händen in der Absicht gemacht wurde, daß er ein König seyn, und über alles Erschaffene herrschen sollte. Auch diesen zog er aus einer rothen Erde,
machte ihn zu einem angenehmen Manne, gab ihm Tugend, Gesundheit,
langes
325
326
Leben und Weisheit. Dieses
zu beweisen, wird unsrer Meynung nicht schädlich seyn können.
[
↔]
Plato*) hält es für etwas Unmögliches, daß GOtt oder die Natur in einer übel temperirten Gegend einem Menschen ein gutes Temperament
geben könne; er sagt daher, GOtt habe, weil er den ersten
Menschen weise und vollkommen ge mäßigt habe
schaffen wollen, einen Ort darzu ausgesucht, wo weder die Wärme
der Luft die Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit über steige. Die heil.
Schrift, aus welcher diese Meynung gezogen ist, sagt
nicht, daß GOtt den Adam in dem Paradiese, welches der allergemäs sigste Ort war, erschaffen; sondern ihn nur
nach seiner Erschaffung darein gesetzt habe. Denn da die Macht GOttes unendlich, da seine Weis heit ohne Grenzen ist, und er durch sein blosses Wollen dem Menschen alle natürliche Vollkom menheit, deren einer aus
seinem Geschlechte nur fähig ist, mittheilen konnte; so stehet zu
glauben, daß weder das Stückchen Erde, aus welchem er den Adam bildete, noch die
Gegend von Damas cus, wo er gebildet wurde, ihm
an der Erschaf fung eines vollkommen
temperirten Menschen hinderlich gewesen sey Die Meynung des
Pla to,
Aristoteles und
Galenus findet nur bey den natürlichen Wirkungen Statt;
und auch bey die sen trägt es sich noch
manchmal zu, daß auch in ungemäßigten Gegenden ein gemäßigtes
Genie hervorgebracht wird. Daß aber Adam das er
327
ste
Kennzeichen eines gemäßigten Menschen, ro thes
Haupthaar und einen rothen Bart gehabt habe, ist eine ausgemachte
Sache; weil er wegen dieser so merklichen Unterscheidung den
Namen
Adam bekam, welches, nach der Auslegung des
heil. Hieronymus, einen rothen Mann bedeutet.
[
↔] Daß er wohlgestaltet und von einer angeneh men Gesichtsbildung, worinnen das zweyte Kenn zeichen bestehet, gewesen sey, auch dieses kann
man nicht leugnen. Denn nachdem ihn GOtt erschaf fen hatte, so setzt die
Schrift*) hinzu:
und GOtt sah an alles, was er
gemacht, und siehe da, es war alles sehr gut. Es ist
al so unwidersprechlich, daß er aus den
Händen GOttes weder ungestaltet, noch häßlich gekom men sey:
denn GOttes Werke sind
vollkom men. **) Sogar von den Bäumen sagt die heil. Schrift, daß sie lustig anzusehen gewesen wären; wie vielmehr wird es also nicht Adam gewesen seyn, welcher das Hauptwerk GOttes war, und ein Herr über die ganze Welt seyn sollte?
[
↔] Daß er tugendhaft, weise, und von guten Sit ten, worinnen das dritte und sechste Kennzeichen besteht, gewesen sey, dieses ist aus den Worten
zu schliessen:
laßt uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sey. Denn nach der Meynung der alten Weltweisen, ***) beruht
328
329
330
die Gleichheit des
Menschen mit GOtt auf nichts, als auf Tugend und Weisheit. Auch
Plato sagt daher, *) daß GOtt kein grösseres Ver gnügen im
Himmel habe, als wenn er höre, daß auf Erden ein weiser und
tugendhafter Mann gepriesen und hochgeachtet werde: denn dieser
sey, in so fern er weise und tugendhaft ist, sein leben diges Ebenbild; hingegen erzürne sich GOtt,
wenn Thoren und Lasterhafte hochgeachtet und verehrt würden; und dieses zwar wegen der Ungleichheit,
die sich zwischen ihnen und GOtt befände.
[
↔] Daß Adam endlich gesund und lange
gelebet habe, worinnen das vierte und fünfte Kennzei chen bestehet, wird nicht schwer zu erweisen
seyn; weil er sein Leben bis auf neunhundert und dreys sig Jahr brachte. Aus allen diesen nun wird man schliessen können, daß derjenige Mensch, wel cher röthlich, von angenehmer Gesichtsbildung, von mittler Statur, tugendhaft, gesund und von
langem Leben ist, nothwendig auch der allerklüg ste seyn und das
Genie haben müsse, welches zum königlichen Scepter erfordert wird. †) Wir haben hierbey
zugleich die Art und Weise entdeckt, wie sich ein grosser
Verstand mit einer starken Ein bildungskraft
und einem starken Gedächtnisse verbinden lasse, obgleich hierzu
auch noch ein anderer Weg möglich ist, ohne daß der Mensch vollkommen gemäßigt sey. Die Natur aber
331
332
macht so wenige
Genies von dieser Art, daß
ich unter allen, die ich bisher untersucht,
deren nicht mehr als zwey gefunden habe.
[
↔] Wie es möglich sey, daß ein grosser Verstand bey
einer starken Einbildungskraft und einem starken Gedächtnisse
seyn könne, wenn auch der Mensch nicht vollkommen gemäßigt ist;
dieses läßt sich leicht einsehen, wenn man die Meynung verschiedener Aerzte voraussetzt, die Einbildungs kraft habe ihren Sitz
in dem Vordertheile des Hauptes, der Verstand in der Mitte, und das Gedächtniß in dem
hintern Theile. Man kann sich dieses ganz wohl einbilden, ob es
gleich ein wenig schwer zu begreifen ist, daß, da das Gehirn zur Zeit der Erzeugung an Grösse kein Pfeffer korn übertrift, das eine Ventrikel nur aus sehr hitzigem Saamen, das andere nur aus sehr feuch tem, und das mittelste nur aus sehr trockenem soll te gemacht werden. Wenigstens aber ist es
keine Unmöglichkeit.
Funfzehntes Hauptstück. Welches ohne Zweifel das
wichtig ste seyn wird, weil man darinnen
zeigt, wie die Väter weise und zu den Wis senschaften fähige Söhne erzeu gen sollen.
[
↔] Es ist in der That etwas sehr
merkwürdiges, daß, obschon die Natur, wie wir alle wis sen, sehr weise, klug, geschickt, künstlich und mäch=
tig ist; obschon der Mensch
dasjenige Werk ist, woran sie ihre Kunst am meisten zeigt: daß,
sage
ich, die Natur gleichwohl unter unzähligen
Thoren und unfähigen Menschen kaum einen weisen und tugendhaften hervorbringt. Da ich mich, von
dieser Beobachtung die natürlichen Ursachen zu ergründen,
bemühte, so kam ich endlich durch mein Nachdenken darauf, daß die
Väter bey der Erzeu gung nicht nach der Ordnung, welche die Natur darinnen
festgesetzt habe, verführen; und daß sie die Bedingungen nicht
kennten, welche, wenn die Söhne klug und weise werden sollen,
nothwendig beobachtet werden müssen. Denn so wie in einer gemäßigten oder ungemäßigten Gegend, ein sehr
grosses
Genie gebohren wird; eben sowohl
können derer hundert tausend gebohren werden, wenn beständig auf
einerley Art damit verfahren würde. Wenn wir also dieser
Unbequemlichkeit durch die Kunst abhelfen könnten, so würden
wir ohne Zweifel der Republik den allergrößten Dienst von der Welt damit leisten. Die Schwierig keit aber hierbey ist, daß man bey dieser Materie sich nicht so zierlich und ehrbar ausdrücken kann, als es vielleicht die natürliche Schamhaftigkeit der Menschen
erforderte. Wenn wir also aus dieser Ursache hier und da etwas
anzumerken, und uns darüber nicht deutlich zu erklären
unterlassen sollten, so würde nothwendig alles vergebens
seyn; besonders da es die Meynung vieler angesehener Weltweisen ist, daß die weisesten Leute gemeinig lich die allerdümmsten Söhne zeugen, weil sie
bey
dem Erzeugungswerke
aus Ehrbarkeit diese und jene Sorgfalt unterlassen, welche doch
nothwendig angewendet werden muß, wenn die Weißheit des Vaters auch auf den Sohn soll fortge pflanzt werden.
[
↔] Von der natürlichen Schamhaftigkeit der Augen,
wenn sie die Werkzeuge der Fortpflanzung sehen, von dem
natürlichen Verdrusse, der den Ohren aus ihren Benennungen
entsteht, haben viele alte Weltweisen die Ursachen aufzusuchen sich bemüht. Sie sahen, daß die Natur
die se Theile des Leibes mit so vieler Kunst und Sorgfalt, und zu einem so
grossen Endzwe cke, als die ewige Erhaltung des
menschli chen Geschlechts ist, gemacht
hatte: sie konn ten es also nicht begreifen,
wie es möglich seyn könne, daß einem Menschen der Anblick und die Benennung derselben desto verhaßter sey,
je klüger und weiser er ist.
[
↔] Die Schamhaftigkeit und Bescheidenheit ist, nach
dem Ausspruche des
Aristoteles, die eigen thümliche Eigenschaft des Verstandes. Derje nige also, welcher sich über die Handlungen bey dem Erzeugungswerke nicht
ärgert, von dem kann man gewiß behaupten, daß er an dieser Vermögenheit Mangel habe; †) eben sowohl als
333
man sagen kann, daß
derjenige kein Gefühl hat, welcher
die Hand in das Feuer halten kann, ohne sich zu verbrennen. Aus
diesen Kennzeichen schloß der ältere
Cato, daß es jenem berühmten Römer, dem
Manilius, am Verstande fehlen
müsse, weil er seine Frau in Gegenwart der Toch ter, die er hatte, küssen konnte. Er stieß ihn deswegen aus dem
Rath, und gab es durchaus nicht zu, daß er jemals wieder unter
die Zahl der obrigkeitlichen Personen aufgenommen wurde.
[
↔] Diese Betrachtung giebt dem
Aristoteles zu folgender Aufgabe Gelegenheit: δια τι
μαλιϛα
αἰχυνονται
ὁμολογειν
οἱ ἐπιθυμουντες
ἀφρο- δισιαzεσϑαι, ἀλλ' οὐ πιειν,
οὐδε
φαγειν,
οὐδε ἀλλο
των τοιουτων οὐδεν; das ist: warum
der Mensch, wenn ihm die venerische Lust ankomme, sich sein Verlangen zu entdecken schäme, da er
sich doch nicht schäme, seine Begierde zu essen und zu trinken und zu andern dergleichen unumgängli chen Sachen, zu gestehen? Er antwortet auf
diese Frage sehr schlecht, wenn er sagt: ἠ ὁτι
των μεν
πλειϛων
ἀναγκαιαι
ἁι
ἐπιθυ- μιαι, ἐνια
δε και
ἀναιρει τους μη
τυγχανοντας! ἡ δε
των
ἀφροδισιων,
ἐκ περιουσιας
ἐϛι; das ist: weil es
nicht wenige Begierden gäbe, wel che zu dem
Leben des Menschen so unumgäng lich nöthig
wären, daß einige davon, wenn sie nicht gestillet würden, den Tod
verursachten;
die
venerische Lust aber sey vielmehr ein Zeichen des Ueberflusses, als einer Nothdürftigkeit.
[
↔] Doch die Wahrheit zu gestehen, nicht allein die
Antwort, sondern auch selbst die Aufgabe ist falsch. Der Mensch
scheuet sich nicht allein seine Begierde zur fleischlichen
Vermischung zu bekennen, sondern auch sogar seine Begierde zu essen, zu trinken und zu schlafen. Auch wenn er
sich entladen muß, scheuet er sich, davon zu reden, und es zu
thun; und wenn er es ja thut, so begiebt er sich an den
allerverborgensten Ort, wo ihn niemand sehen kann. Es giebt so
gar so scham hafte Leute, die unmöglich in
Gegenwart ande rer Leute das Wasser lassen
können, wenn es auch noch noch so dringend ist; sobald sie
aber allein sind, so stößt die Blase den Urin von sich. Auch dieses sind Begierden, dasjenige, was
in dem Körper überflüssig ist, wegzuschaf fen; und wenn sie nicht gestillet werden, so verursachen sie eben so leicht den Tod, als die Unterlassung des Essens und des Trin kens.
Hippokrates sagt sogar, daß derjeni ge,
welcher sich in Gegenwart anderer schäme ihnen Genüge zu leisten,
nicht bey gesundem Verstande sey.
[
↔] Der Saame, sagt
Galenus, *) verhält sich gegen die Saamengefässe eben so, als der
Urin gegen die Blase. Denn gleichwie der viele Urin in der Blase einen Kützel verursacht, damit er
herausgelassen werde, eben so kützelt der viele
334
Saame die Saamengefässe.
Daß aber
Aristo teles meynt, es könne weder eine Mannsperson, noch ein
Frauenzimmer durch die lange Zurück haltung des Saamens krank werden, oder gar
das Leben verlieren, dieses streitet mit der durch gängig angenommenen Meynung aller Aerzte,
besonders des
Galenus, welcher *) sagt und be hauptet, daß viele
Frauenzimmer, wenn sie ent weder unverehelicht
oder im Wittwenstande blie ben, nach und nach
Empfindung und Bewe gung, Puls und Athem, und endlich gar
das Leben verlöhren.
Aristoteles selbst **) erzählt verschiedene Krankheiten, welchen enthaltsame Menschen aus eben dieser Ursache ausgesetzt sind.
[
↔] Die wahre Antwort auf diese Frage kann aus der
natürlichen Weltweisheit nicht hergeholt werden, als deren Umfang
sich so weit nicht er streckt. Wir müssen uns
also in eine andere höhere Wissenschaft machen, nämlich in die
Me taphysik,
worinnen
Aristoteles***) behauptet, daß die vernünftige Seele das niedrigste von allen geistigen Wesen sey. Da
sie nun mit den Engeln einerley generische Natur hätte, so wür de sie verdrüßlich,
so oft sie empfände, daß sie in einem Körper eingeschlossen sey, welchen sie mit den
unvernünftigen Thieren gemein habe. Auch die heilige Schrift merkt es als eine ge heimnißvolle Sache an, daß der erste Mensch
335
336
337
anfangs sich nicht
geschämt habe, nackend zu ge hen; sobald er es
aber gesehen, habe er sich zu schämen angefangen, weil er
zugleich wahrge nommen, daß er sich aus eigener
Schuld der Unsterblichkeit verlustig gemacht, daß sein Kör per hinfällig und vergänglich sey, daß er
diese Glieder und Werkzeuge nur deswegen empfan gen habe, weil er nothwendig sterben, und an dere seines gleichen nach sich lassen müsse, weil er Essen und Trinken, und die unverdaulichen
schändlichen Reste von sich schaffen müsse, wenn er sich anders
seine kurze Lebenszeit hindurch er halten
wolle. Diese Schaam wurde noch grös ser, wenn
er überlegte, daß die Engel, welchen er doch gleich komme,
unsterblich wären; daß sie nicht nöthig hätten, zur Erhaltung
ihres Le bens zu
essen, zu trinken und zu schlafen; daß sie keine Werkzeuge
brauchten, wodurch einer den andern hervorbrächte, weil sie alle
zugleich aus keiner Materie
erschaffen worden wären, und keine Auflösung ihres Wesens
befürch ten dürften. Von allen diesen
Stücken sind die Augen und Ohren von Natur schon unter richtet, so, daß sich die vernünftige Seele
ärgert und schämt, wenn ihr dasjenige ins Gedächtniß gebracht wird, was den Fall des Menschen, und
folglich seine Sterblichkeit und Vergänglichkeit verursachte *).
338
[
↔] Daß dieses die wahre Antwort sey, erhellet
deutlich daher: weil GOtt, die vernünftige See le zufrieden zu stellen, und sie gänzlich zu
ver herrlichen, nach dem allgemeinen
Gerichtstage ihrem Körper die Eigenschaften der Engel, die Feinheit, die
Geschwindigkeit, die Unsterblichkeit, und den Glanz geben will,
so, daß sie nicht mehr nöthig habe, gleich den unvernünftigen Thieren, zu essen und zu trinken. Wenn sie nun
bey diesen Umständen im Himmel seyn wird, so wird sie sich des
Fleisches nicht schämen, eben so wenig, als sich jetzt unser Heiland und seine Mutter des
ihrigen schämen. Es wird vielmehr ein zufälliges Stück ihres
Ruhms seyn, daß nunmehr der Gebrauch derjenigen Theile, wel che das Gehör und das Gesicht sonst so sehr beleidigten, aufgehört habe.
[
↔] Jn Ansehung nun dieser natürlichen Scham haftigkeit des Gehörs, will auch ich mich bemü hen, die harten und anstössigen Worte in
dieser Materie zu lindern, und sie durch bescheidenere Redensarten zu umschreiben. Wo es sich aber
nicht wohl thun lassen will, so wird es mir der geneigte Leser
verzeihen, weil es eine ungemein nützliche Sache für die Republik
ist, die Art und Weise, wie man Kinder von einem feinen
Genie erzeugen soll, in Form einer Kunst zu bringen; indem diese
Kunst zugleich dem Staa te tugendhafte, wohlgebildete, gesunde, und ein langes
Leben geniessende Bürger verschafft.
[
↔] Die Materie dieses Hauptstücks läßt sich, sollten
wir meynen, auf vier besondere Haupt punkte
bringen, wenn unser Vortrag nicht un deutlich,
und der Leser nicht irre werden soll. Der erste Punct besteht
darinnen, daß wir zei gen, was für
Beschaffenheiten und was für ein natürliches Temperament sowohl
die Mannsper son, als das Frauenzimmer haben müsse, wenn sie zur Fortpflanzung
ihres Geschlechts geschickt seyn sollen. Der andere Punkt betrift
dasje nige, was die Aeltern zu beobachten
haben, da mit ihre Kinder männlichen und nicht weiblichen Geschlechts
werden. Der dritte Punkt zeigt, was sie für Behutsamkeit anwenden
müssen, wenn diese Kinder männlichen Geschlechts auch klug werden sollen. Der vierte Punct endlich
lehrt, wie sie auferzogen werden müssen, damit sich das
natürliche
Genie bey ihnen erhalte.
[
↔] Was den ersten Punkt betrift, so haben wir schon
aus dem
Plato*) angeführt, daß in ei ner wohlbestellten
Republik gewisse Ehestifter seyn
sollten, die durch Kunst die Beschaffenhei ten
derjenigen Personen, welche einander heyra then
wollen, zu entdecken wüßten, damit jede Mannsperson dasjenige
Frauenzimmer, welches ihr am gemässesten ist, und jedes
Frauenzim mer diejenige Mannsperson bekommen
möge, die sich am besten für dasselbe schickt.
[
↔] Jn dieser Materie haben schon
Hippocra tes und
Galenus angefangen zu arbeiten, indem
339
sie viele Vorschriften und
Regeln gegeben, wor aus man erkennen könne, welches Frauenzimmer fruchtbar, und welches zum Gebähren ungeschickt sey; ferner,
welche Mannsperson untüchtig sey, Vater zu werden, und welche
hingegen Nach kommen hinterlassen könnte.
Allein sie sagen von allen diesen Stücken nur sehr wenig, und nicht mit so genauer Auseinandersetzung, als wir
es zu unserm Vorhaben nöthig haben. Wir sind daher gezwungen,
diese Kunst aus ihren Grundsätzen herzuleiten, und kürzlich die
Ord nung zu
beschreiben, die dabey beobachtet wer den muß,
wenn man es genau erkennen will, von welchen Aeltern weise und
fähige Kinder, von welchen hingegen dumme und unfähige kommen müssen.
[
↔] Hierzu wird vor allen Dingen erfordert, daß man
eine gewisse Philosophie inne habe,
welche zwar den Erfahrnen in dieser Kunst ganz deutlich und
begreiflich, dem Pöbel aber völlig unbekannt ist. Es hängt aber
von ihr alles ab, was wir bey dem ersten Punkte werden zu sagen haben; nämlich dieses, daß eine Manns person, wie sie uns auch nach ihrer äusserlichen Gestalt vorkommen mag, dennoch nach dem Aus spruche des
Galenus*) von einer Weibsperson in
nichts weiter unterschieden ist, als darinnen, daß sie die
Geburtsglieder ausser dem Leibe hat. Denn wenn man ein Mädchen
zergliedert, so
340
findet man in ihr zween
Testikel, zwey Saa mengefässe, und die
Mutterscheide von eben dem Baue, als das männliche Glied, ohne
daß eine einzige Gleichheit daran fehlt. Dieses ist so ge wiß, daß die Natur,
wenn sie einen vollkom menen Mann gebildet hat,
und ihn wieder in ein Weib verwandeln will, nichts weiter thun
darf, als daß sie die Werkzeuge der Erzeugung wie der hineinzieht. Wenn sie hingegen aus einer Weibsperson eine Mannsperson machen wollte, so
brauchte sie nichts weiter zu thun, als die Te stikeln und die Mutterscheide herauszutreiben.
[
↔] Dieses pflegt die Natur nicht selten zu thun,
sowohl, wenn die Creatur noch in dem Leibe, als auch wenn sie
schon ausser dem Leibe ist. Die Geschichte ist von diesen Beyspielen voll, ob sie gleich einigen fabelhaft scheinen, weil sie se hen, daß sich die Dichter damit abgegeben ha ben. Es verhält sich aber in der That also, daß die Natur oft ein Weibsbild gemacht, und es als ein
solches die ersten zween Monate in dem Leibe der Mutter erhalten
hat; weil aber durch einen gewissen Zufall in die Geburtsglie der eine grosse Hitze gekommen, so sind sie
her ausgetrieben worden, so daß endlich eine
Manns person daraus entstanden ist. Mit wem
sich die se Verwandlung in dem Leibe der Mutter
zuge tragen hat, der ist hernach sehr leicht
an gewis sen Merkmalen zu erkennen; an gewissen
Be wegungen, welche dem männlichen
Geschlechte gar nicht geziemen; an einem gewissen weibi
schen und
verzärtelten Betragen; an der kla ren und
weichen Stimme; an der Neigung zu weiblichen Verrichtungen,
welche nicht selten in die abscheulichsten und unnatürlichsten
Verbre chen ausschlägt. Gegentheils ereignet
es sich eben so oft, daß die Natur eine Mannsperson mit allen ihren männlichen Gliedern gemacht
hatte; weil aber allzuviel Kälte darzu kam, so zog sie diese
Glieder wieder herein, daß folglich ein Frauenzimmer daraus wurde
†). Auch die ser Fall ist nach der Geburt leicht zu
erkennen, wenn nämlich das Frauenzimmer ein männli ches Ansehen,
eine grobe Sprache, und ihrem
Geschlechte nicht gewöhnliche Bewegungen hat. Es scheint zwar, als ob dieses sehr schwer zu
beweisen sey; wenn man aber die Zeugnisse so vieler glaubwürdigen
Geschichtschreiber überlegt, so kann man unmöglich daran
zweifeln. Daß aber auch nach der Geburt Frauenzimmer sich in Mannspersonen verwandeln, ist eine Sache,
worüber auch der Pöbel nicht mehr erstaunt, weil ausser den
vielen Erzählungen, die uns die Alten hinterlassen haben, sich selbst in Spanien vor kurzem ein solches Beyspiel ereignet hat. ††)
341
342
Was aber die Erfahrung lehrt, dawider sind alle
Einwendungen und Gegengründe zu schwach.
[
↔] Aus welcher Ursache aber die Geburtsglie der sich bald in dem Leibe, bald ausser dem Leibe befinden, so daß bald Mannspersonen, bald
Weibspersonen daraus werden, ist eine ausge machte Sache, da man weiß, daß die Wärme alle Sachen erweitert
und ausdehnet, die Kälte aber enge macht und einzieht.
[
↔] Es ist daher ein Ausspruch, worinnen alle
Weltweisen und Aerzte übereinkommen, *) daß kalter und feuchter Saame das Weibliche und nicht das Männliche, warmer und trockener Sa me aber das Männliche und nicht das Weibliche hervorbringe. Und hieraus nun folgt deutlich,
daß keine Mannsperson in Betrachtung einer Weibsperson kalt, noch
eine Weibsperson in Be trachtung einer
Mannsperson hitzig genannt wer den könne.
[
↔] Wenn die Weibsperson, sagt
Aristoteles, **) fruchtbar seyn soll, so muß sie kalt und feucht seyn; denn wenn sie es nicht ist, so kann sie
unmöglich weder ihre Monatszeit bekommen, noch genugsame Milch
haben, die Frucht im Lei=
343
344
be neun Monate lang zu
erhalten; und wenn sie sie ja erhält, so ist sie doch aufs
längste in zwey Jah ren nach ihrer Geburt hin.
[
↔] Der Mutterleib verhält sich, wie alle Aerz te und Weltweisen behaupten, zu dem männli chen Saamen nicht anders, als die Erde zu dem Waizen, oder zu einer andern Art von Saamen.
Wenn die Erde nicht kalt und feucht ist, so wagt es der Ackermann
nicht, seinen Saamen auszu streuen; weil er
sich mit der Erde nicht gehörig verbinden kann.
[
↔] Auch unter den Arten der Erde sind dieje nigen die fruchtbarsten *), welche die meiste Käl te und
Feuchtigkeit haben; welches aus der Er fahrung
erhellet, wenn man die Länder gegen Norden, England, Holland, und Deutschland be trachtet, deren Fruchtbarkeit an allen Arten
des Ge traides so groß ist, daß sie jeden in
Erstaunen setzt, der die Ursache davon nicht weiß. Jn eben diesen Ländern wird sich auch selten eine Weibs person verheyrathen, ohne Kinder zu bekommen; sie wissen fast nicht, was
Unfruchtbarkeit ist, in dem sie alle, wegen der
vielen Kälte und Feuch tigkeit, zur Erzeugung
sehr geschickt sind.
[
↔] Ob es nun gleich wahr ist, daß die Weibs person kalt und trocken seyn muß, wenn sie em pfangen und gebähren soll; so kann sie doch beydes in einem so grossen Grade seyn, daß der
Saamen dadurch erstickt wird; so wie wir se hen, daß durch allzuhäufigen Regen das Korn
345
verdirbt, und durch die
allzugrosse Kälte zu sei ner Reife nicht
gelangen kann. Es versteht sich also, daß diese zwo
Beschaffenheiten einen gewissen Grad haben müssen; denn wenn
sie zu heftig sind, so verliert sich die Fruchtbarkeit eben sowohl, als wenn sie zu schwach sind.
Hip pokrates*) hält diejenige Weibsperson für frucht bar, deren Leib so gemässigt ist, daß weder die Wärme die
Kälte, noch die Feuchtigkeit die Trockenheit übersteigt. Er sagt
daher, daß diejenigen Weiber nicht empfiengen, welche einen allzukalten Leib hätten, auch diejenigen
nicht, welche einen allzufeuchten, oder einen allzuhitzigen, oder
einen allzutrockenen hät ten. Aus eben diesem
Grunde, wenn nämlich die Weibspersonen und ihre Geburtsglieder
voll kommen gemässiget wären, sey es
unmöglich, daß sie empfangen, ja gar eine Weibsperson bleiben könne. Denn wenn der Saame, aus dem sie erzeugt
worden, gleich anfangs gemässigt gewe sen wäre,
so wären die Geburtsglieder her aus getrieben
worden, welches sie zu einer Manns person
gemacht hätte; es wäre ihr der Bart gewachsen; die Monatszeit
wäre weggeblieben; kurz, sie wäre die vollkommenste
Mannsperson geworden, welche die Natur nur hervorbringen kann. Eben so wenig kann die Weibsperson oder
ihr Leib ausnehmend hitzig seyn: denn wenn der Saame, aus dem sie
gebohren wor den, diese Temperatur gehabt
hätte, so hätte er
346
eine Mannsperson und nicht
eine Weibsperson hervorgebracht.
[
↔] Es ist also unwidersprechlich, daß die zwo
Beschaffenheiten, welche eine Weibsperson frucht bar machen, Kälte und Feuchtigkeit sind;
weil die Natur des Menschen viel
Nahrung erfor dert, wenn er empfangen und
erhalten werden soll. Wir sehen daher auch, daß bey keinem unvernünftigen Thiere das Weibchen seine mo natliche Zeit bekömmt, wie eine Weibsperson. †) Sie
muß also durchaus kalt und feucht seyn, und zwar in einem so
grossen Grade, daß viel phlegmatisches Blut erzeugt wird, welches
sich bey ihr nicht verzehren kann. Jch sage mit Fleiß phlegmatisches Blut, weil dieses zur Her vorbringung der Milch am geschicktesten ist. Und eben hiervon, wie
Hippokrates und
Gale nus
behaupten, ernähret sich die Creatur, so lan ge
sie in dem Leibe der Mutter ist. Wenn die se
nun von einem gemässigten Temperamente ist, so erzeugt sich in
ihr viel Blut, welches zu Hervorbringung der Milch ganz
ungeschickt ist; es löset sich gänzlich auf, und läßt nichts
zurück, wovon sich die Creatur erhalten könne.
[
↔]
Jch halte also gänzlich dafür,
daß keine Weibsperson eines gemässigten und hitzigen Tem peraments seyn könne; sie müssen vielmehr
al=
347
le kalt und feucht seyn.
Diejenigen Weltwei sen und Aerzte, die mir
dieses nicht zugeben wollen, mögen mir einen andern Grund
sagen, warum keiner Weibsperson der Bart wächst; warum sie alle, so lange sie gesund sind, ihre mo natliche Zeit haben; oder warum, wenn der
Saame, aus welchem sie erzeugt worden sind, gemässigt und hitzig
gewesen ist, nicht vielmehr eine Mannsperson als eine Weibsperson
daraus entstanden sey? Ob es nun aber gleich wahr ist, daß alle insgesammt kalter und feuchter Na tur sind; so haben doch nicht alle einerley Grad der Feuchtigkeit und Kälte. Bey einigen ist es
der erste, bey andern der zweyte, bey andern der dritte Grad.
Alle aber können empfangen, wenn nur die Hitze der Mannsperson
jedem von diesen Graden gemäß ist; wovon wir in dem folgenden reden wollen. Aus welchen Kennzei chen man es aber schliessen könne, welcher von diesen drey Graden der Kälte und Feuchtigkeit
bey einer Weibsperson anzutreffen sey, ist eine Sache, welche bis
jetzt noch kein Weltweiser oder Arzt entdeckt hat. Wenn wir aber
die Wirkungen betrachten, welche diese Beschaffen heiten bey den Weibspersonen hervorbringen, so können wir sie füglich
in gewisse Klassen einthei len, nach welchen
sich die Stärke oder Schwä che ihrer Ursachen
schliessen läßt. Jn die erste Klasse setzen wir das
Genie und die Fähigkeit der Weibsperson; in die zweyte ihr
Betragen und ihre Sitten; in die
dritte ihre Stimme,
ob sie
stark oder klar ist; in die vierte, das Fleisch, ob sie dessen
wenig oder viel hat; in die fünfte die Farbe; in die sechste die
Haare; in die siebente die Schönheit oder Häßlichkeit.
[
↔] Was das erste anbelangt, so ist folgendes zu
wissen. Ob es gleich wahr ist, wie wir in dem Vorhergehenden
behauptet haben, daß sich das
Genie und die
Fähigkeit einer Weibsper son nach dem
Temperamente des Gehirns und nach keinem andern Gliede richtet;
so haben doch die Testikeln und der Mutterleib eine sol che Gewalt, daß sie den ganzen Körper verän dern
können, so, daß wenn sie warm und tro cken,
oder kalt und feucht sind, nach dem Aus spruche
des
Galenus*), alle übrige Glieder eben diese Beschaffenheit erhalten.
Dasjenige Glied aber, welches, nach der Meynung aller Aerzte, die meisten Veränderungen von dem Mutterlei be erduldet, ist das Gehirn; ob man gleich kei ne Ursache von einer so genauen Verknüpfung angeben kann.
Galenus beweiset
es aus der Erfahrung**), daß, wenn man ein Schwein schneiden lasse, das Fleisch
sogleich fett und schmack haft werde, da es
hingegen wie Hundefleisch schmecke, wenn man ihm die Testikeln
lasse. Man sieht also hieraus, daß die Testikeln und der Leib eine besondere Kraft haben, den übrigen Theilen
des Körpers ihr Temperament mitzutheilen;
348
349
besonders dem Gehirne,
weil dieses von Natur gleichfalls feucht und kalt ist, so daß der
Ueber gang in dasselbe wegen dieser
Gleichheit sehr leicht seyn muß.
[
↔] Wenn wir uns nun besinnen, daß die Käl te und Feuchtigkeit diejenigen Beschaffenheiten sind, welche den vernünftigen Theil des Men schen unfähig machen, und daß die gegenseiti gen Beschaffenheiten, die Wärme und Trocken heit nämlich, ihn stärken und schärfen: so sieht man leicht, daß diejenige Weibsperson, welche
viel
Genie und Fähigkeit zeigt, die Kälte und Feuchtigkeit im ersten Grade besitzen müsse. Jst aber das
Frauenzimmer ungemein dumm, so ist
es ein Kennzeichen des dritten Grades; daß also der mittelste
Grad bey denjenigen Statt finden wird, welche weder sehr fähig,
noch sehr dumm sind. Denn daß man glauben wollte, eine Weibsperson könne hitzig und trocken seyn, ohne das
Genie und die Fähigkeit zu besitzen, welche
diese Beschaffenheiten hervorzubringen pflegen, ist ein sehr
grosser Jrrthum. Wä re der Saame, aus welchem
sie erzeugt wur de, ungemein hitzig und trocken
gewesen, so wä re eine Mannsperson und nicht
eine Weibsper son daraus entstanden; weil er
aber kalt und feucht war, so kam ein Weib und nicht ein Mann hervor.
[
↔] Die Wahrheit von dieser Lehre erhellt ganz
deutlich, wenn man die erste Weibsperson, die
in der Welt gewesen ist, betrachtet. Ob sie gleich GOtt mit seinen eigenen Händen gebaut, und sie so vollkommen gemacht hatte, als eine ihres
Geschlechts werden kann, so ist es doch eine aus gemachte Sache, daß sie weit weniger Verstand, als Adam hatte. Der Teufel
merkte dieses sehr wohl; er versuchte daher sie, und wagte es nicht, seine Gründe dem Manne vorzulegen, vor
dessen
Genie und Weisheit er sich fürchtete.
Denn, daß man sagen wollte, Eva hätte aus eigener Schuld nicht eine so grosse Weisheit be sessen, als Adam, das
wäre eine Behauptung, die man nicht beweisen könnte, weil sie
damals noch nicht gesündiget hatte. Die Ursache also, war um schon das erste Weib nicht so viel
Genie hatte, als der Mann, ist offenbar
diese, weil sie GOtt kalt und feucht erschuf, als welches Temperament nothwendig zur Fruchtbarkeit
erfordert wird, dem Verstande aber ganz zu wider ist. Hätte sie GOtt von einem so ge mässigten Temperamente gemacht, als den Adam, so würde sie auch eben so vollkommen weise gewesen seyn, als er; sie würde aber weder
gebohren, noch die monatliche Zeit gehabt haben, wenn GOtt nicht
etwas Uebernatürliches hätte thun wollen. Auf diese Natur
gründet sich der heil.
Paulus, wenn er befiehlt, daß kein Weib lehren, sondern schweigen und lernen, und ihrem Manne unterthänig seyn solle. Dieses aber
versteht sich nur alsdenn, wenn das Weib keinen göttlichen Geist oder eine andere natürli
che Gnadengabe hat: denn wenn diese da ist,
so ist es ihr ganz wohl erlaubt zu reden und zu lehren. Dieses
sieht man an jener weisen Frau, der Judith, welche, als die Jsraeliten von den Assyrern in
Bethulien eingeschlossen wurden, die Aeltesten Chambri und Charmi zu sich
holen ließ, und zu ihnen sagte:
was soll das
seyn, daß Osias gewilliget hat, die Stadt den Assyrern aufzugeben, wenn uns in fünf Ta gen nicht geholfen wird? Wer seyd ihr, daß ihr GOtt versucht? Das dient
nicht, Gnade zu erwerben, sondern vielmehr
Zorn und Ungnade. Wollt ihr dem HErrn eures Gefallens Zeit und
Tage be stimmen, wenn er helfen soll?
Nachdem sie ihnen auf diese Art ihr Unrecht vorgehalten hatte, so zeigte sie ihnen auch, wie sie GOtt ver söhnen, und das Gebetene von ihm erlangen müß ten. Auf gleiche Art lehrte die Elbora, ein nicht weniger weises
Weib, das Jsraelitische Volk, wie es GOtt für den gegen seine
Feinde erfochtenen grossen Sieg gehörig danken sollte. Wenn
aber eine Weibsperson in ihrer natürlichen Beschaf fenheit bleibt, so sind alle Theile der Gelehrsam keit und
Weisheit ihrem
Genie ganz und gar zuwider. Die katholische Kirche hat es also aus sehr gutem Grunde befohlen, daß
kein Weib, weder lehren noch predigen, noch Beichte hören soll, weil ihr Geschlecht keiner Klugheit, und
Kirchenzucht fähig sey.
[
↔] Auch aus den Sitten und Betragen
einer Weibsperson kann man den Grad der Kälte
und Feuchtigkeit ihres Temperaments schliessen. De