Text

Die Schauspielkunst

Beyträge
zur
Historie und Aufnahme
des
Theaters.
Viertes Stück.
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Stuttgard,
bey Johann Benedict Metzler, 1750.

Vorbericht
des Uebersetzers. Wir haben die Uebersetzung dieses Stücks unsern Lesern schon im vorhergehenden Stücke verspro chen. Es ist nur in diesem Jah re in Paris auf sieben und einen halben Bogen in Octav herausgekommen; und verdienet wegen der vielen vortrefflichen Anmerkungen, die es ungeachtet seiner Kürze enthält, daß wir es ganz mittheilen. Der ältere Riccoboni, der Vater unsers Verfassers, hat sich schon um die Schauspielkunst durch seinen Tractat von der Declamation, und sein italienisches Ge dichte, von der Kunst zu agiren sehr verdient gemacht, und wir werden nicht ermangeln, ehestens beydes, in einer deutschen Klei dung, auch in unsre Beyträge einzurücken.

Vorrede. [] Jch hatte dieses kleine Werk schon vor verschiednen Jahren ausgearbeitet. Einige Freunde, welchen es bekannt war, wollten mich bereden es ge mein zu machen. Allein eine ganz wohlge gründete Zärtlichkeit hat mich bis itzo davon abgehalten. Wenn man sich in einer Kunst, die man selbst ausübet, zum Lehrer aufwirft, so scheint es übelgesinnten Gemüthern allezeit, als wolle man sich zum Muster vorstellen. Jch wollte nicht gern einer Absicht wegen im Verdacht seyn, die ich niemals gehabt hatte. Jtzo aber, da mich meine üble Gesundheit nö thiget, das Theater aufzugeben, glaube ich auf dieser Seite nichts mehr zu befürchten zu haben. Denn wie kann man sich einbilden, daß ich nach einem Ruhme strebe, von dem ich in Zukunft nicht den geringsten Nutzen mehr ziehen kann?

I.
Die
Schauspielkunst
an die
Madame * * *
durch
den Herrn Franciscus Riccoboni,
den jüngern.
Aus dem Französischen übersetzt.

Jnhalt.

Madame! [] Der Geschmack, den Sie an den Schau spielen haben, ist bey Jhnen zu ei ner Leidenschaft geworden. Sie be gnügen sich nicht bloß mit dem Ver gnügen sie vorstellen zu sehen; Sie führen sie selbst mit vielem Eifer auf. Die Mode scheinet ihre Neigung zu rechtfertigen. Paris ist voller kleinen Theater, und jedermann will ein Schauspieler seyn. Weil man alles, was man unternimmt, so gut wie mög lich ausführen muß, so haben Sie geglaubt, guten Rath nöthig zu haben, um in einer Kunst, die Sie schwer befanden, glücklich zu seyn. Sie haben sich deswegen an mich gewandt, und mich zu ihrem Füh rer bey ihren theatralischen Ergötzungen erlesen. Al lein, Madame, es ist nicht genug, daß man über einige Rollen, die man übernommen hat, vernünf tig zu reden weis, und daß man sie mehr durch Ge wohnheit als durch Kenntniß andern lehren kann: man muß sich in den Stand setzen, mit Ueberlegung spielen zu können, indem man die wahren Grundsä tze der Kunst inne hat. Wie aber soll man diese ler

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nen? da sich niemand sie aufzusetzen die Mühe ge nommen; da die Schauspieler selbst genöthiget sind in ihrem ganzen Leben, Regeln, durch die öftre Ue bung, auseinander zu wickeln, die sie, ehe sie ange fangen, hätten wissen sollen, und die man nicht eher kennen lernt, als bis man nicht mehr im Stande ist sie zu brauchen. Mein Vater hat ein kleines Werk verfertiget, welches Gedanken über die Decla mation heißt. Es ist voller feinen und zärtlichen Betrachtungen. Allein wie viel Leser haben sich be trogen, wenn sie es vollkommen zu verstehen geglaubt haben. Es ist beynahe unmöglich, die Meisterstü cke, welche einen Schauspieler vortrefflich und in sei ner Kunst vorzüglich machen, wohl einzusehen, wenn man nicht vorher von den Wegen, nur zum Mittel mäßigen zu gelangen, wohl unterrichtet ist. Gedan ken aber über die Declamation zu lesen, ehe man die Kunst zu declamiren gelernt hat, heißt malen wol len, ohne die Zeichenkunst vorher begriffen zu haben. Es ist meine Absicht nicht, zu diesem Werke, welches ich eben so hoch schätze als den, der es geschrieben hat, etwas hinzu zu setzen. Jch will Jhnen nur, Madame, die kleinen Grundsätze davon absondern, die man zu allererst wissen muß, und welche zur Ein leitung eines Werks dienen können, in welchem Sie hernachmals das wirklich Erhabene des Theaters fin den werden.
Die Bewegung. [] Jch will zuerst von der Bewegung reden, und die ses wird Jhnen vielleicht etwas widersinnisch vorkom men. Wenn Sie aber überlegen, daß man, wenn

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man auf der Bühne erscheint, sich eher zeigt, als man redt, so werden Sie zugestehen, daß das Tra gen das erste ist, wovon man sich unterrichten muß *. Dieses Stück scheint übrigens denjenigen, welche keine Uebung haben, das allerschwerste. Es ist es auch in der That. Man kann nimmermehr seine Rolle so spielen, wie man es sich vorgesetzt, oh ne vorher alle die Schwierigkeiten der Stellung über stiegen zu haben. Man sagt gemeiniglich, daß es keine Regeln für die Bewegung gäbe, und ich glau be, man betriegt sich. Jch verstehe durch die Bewe gung, nicht allein die Bewegung der Arme, sondern überhaupt aller Theile des Körpers. Denn bloß von ihrer Uebereinstimmung hängt die ganze Anmuth ei nes Schauspielers ab. [] Ein gutes Ansehen zu haben, muß man sich auf gerichtet halten, doch nicht allzusehr. Alles was zu viel ist, läßt gezwungen, scheint den Augen unange nehm und wird hinderlich. Uebrigens, wenn man sich allzu aufgericht hält, beraubt man sich des größ ten Vortheils bey den tragischen oder hohen komi schen Stellen. Wenn man sich erhabner als die übrigen Personen, mit welchen man auf der Bühne ist, zeigen und ein gebietrisches Ansehen annehmen muß, alsdann muß man sich brüsten, und durch die Stellung größer als alle die andern scheinen. Hält man sich aber die ganze Rolle durch so aufgericht als möglich, wie will man sich in den Augenblicken, wo 1

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die Stellung erhabner seyn muß, größer machen? Man hat auch zu bedenken, daß ein allzu sehr zurück geworfner Körper, und ein allzu hoher Kopf den Schultern Zwang anthut, und die Bewegung der Arme verhindert. [] Manchmal ist man genöthiget sich zu krümmen, wenn man Ehrfurcht oder Zärtlichkeit ausdrücken muß. Bey diesen Gelegenheiten machen viel Schau spieler eine sehr üble Stellung. Gemeiniglich biegen sie sich über den Lenden, indem sie den Unterleib und die Brust ganz steif halten. Weil sich nun der Kör per in dieser Stellung außer dem Gleichgewichte be findet, wenn beyde Füße bey einander stehen; so se tzen sie den hintersten weiter zurück, biegen das vor derste Knie ein wenig, erheben den einen Arm sehr hoch, strecken den andern an der Hüfte herab, und spielen ganze Stellen in der Lage eines Klopffechters, wie er uns auf alten Bildsäulen fechtend vorgestellt wird. Da diese gezwungene Stellung so sehr Mo de geworden ist, so hat man sich, durch das öftre Sehen, so daran gewöhnt, daß man das Lächerliche davon gar nicht mehr wahrnimmt. Man muß sich mit der Brust biegen, ohne wegen Vergrößerung der Schultern besorgt zu seyn, die bey dieser Gelegenheit niemals eine schlechte Gestalt bekommen können. Man wird mir einwenden, daß die starren römischen Rüstungen, und die Schnürbrüste der Frauenzimmer sich mit meiner gegebenen Regel nicht vertragen. Jch gebe es zu, daß alle diese Kleidung unbequem ist; allein es ist besser, wenn der Anputz einem Ge walt anthut, bloß den Kopf, welcher allezeit das vor nehmste Theil des Körpers ist, nieder zu senken, den

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Körper selbst aber nur ganz wenig zu biegen; und diese Stellung ist zugleich den Augen angenehm, und mit der Beschaffenheit der Rede übereinkommend. Wenigstens können die Mannspersonen in dem Lust spiele sich mit dem Zwange der Kleidung nicht im geringsten entschuldigen. [] Man muß mit gewissen, aber gleichen, gemäßig ten und ununterbrochenen Schritten gehen. Einige tragische Schauspieler glauben sich ein besseres Anse hen zu geben, wenn sie mit so scharf aufgesetzten Schritten gehen, daß der ganze Körper davon er schüttert wird, und ihr Steifrock bey jedem Tritte tanzet. Aber weit gefehlt, daß so ein außerordent licher Gang das Edle vermehre, er thut vielmehr der Verstellung Schaden, und entdeckt den angeputzten Schauspieler, wo man bloß die Freyheit eines Hel den wahrnehmen sollte. [] Endlich weis man oft nicht, was man mit seinen zwey Händen anfangen soll. Meistentheils hat man in der einen den Hut. Allein, wenn sich der Schau spieler zu bedecken verbunden ist, so sieht man, daß er oft ganz aus seiner Verfassung kömmt. Jn unsrer Kleidung kann man sich noch helfen, wenn man die eine Hand in den Busen und die andere in die Tasche steckt; in dem tragischen Anputze aber kann man die eine Hand, und oftmals, wann es sich nicht besser thun läßt, auch beyde, nicht anders als auf den Rü cken legen. [] Wenn man nur auf den Bau eines Menschen Ach tung geben wollte, so würde man sehen, daß er nie mals leichter und schöner stehen könne, als wenn er auf beyden Füßen, einen nicht weit von dem andern,

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ruhet, und die Arme und Hände so sinken läßt, wie sie natürlicher Weise nach ihrem Gewichte fallen. Diese Stellung, die Hände auf den Taschen, nennt man in der Tanzkunst die zweyte Stellung. Sie ist die ein fachste und natürlichste; gleichwohl hat man unend liche Mühe sie Anfängern im Tanzen üblich zu ma chen. Es scheint, als ob sich die Natur beständig sich selbst widersetze. Das Vernünfteln, welches nicht allezeit so gar vernünftig ist, suchet beständig die ein fachen Schönheiten zu vermeiden; wie wir denn se hen, daß heut zu Tage in allen Künsten das Außer ordentliche und Gesuchte beynahe allzusehr Mode ist. [] Wenn man redt, so müssen sich die Arme bewe gen. Das ist der Punkt, wobey Sie mich, Madame, ohne Zweifel erwarten, und vielleicht glauben Sie, daß ich allzuspät darauf gekommen bin. Gleich wohl glaube ich nicht schon allzuviel unnütze Sachen gesagt zu haben. Jch will mich bemühen, die Theile, welche am meisten mechanisch sind, durch eine desto genauere Auseinandersetzung zu erklären, je schwerer das zu verbessern ist, was man sich einmal übel an gewöhnet hat. [] Die Anmuth der Arme erlangt man nur durch viele Bemühungen. So gut auch die natürlichen Geschick lichkeiten darzu sind, so hangt dennoch die Vollkom menheit von der Kunst ab. Damit die Bewegung des Armes weich sey, muß man folgende Regel ge nau beobachten. Wenn man einen davon erheben will, so muß der obere Theil desselben, der Theil nämlich von der Schulter an, bis an den Ellebogen, sich zuerst von dem Körper los machen, und die an dern beyden Theile, welche nur nach und nach, und

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ohne Uebereilung in stärkre Bewegung müßten ge bracht werden, mit sich in die Höhe ziehen. Die Hand muß ganz zur letzt gebraucht werden. Sie muß gegen den Boden zu gekehrt seyn, bis sie der vordre Theil des Armes zur Höhe des Ellebogens gebracht hat: alsdann wendet sie sich in die Höhe, da unterdessen der Arm seine Bewegung bis zu dem bestimmten Punkte immer fortsetzt. Wenn man alles dieses ungezwungen beobachtet, so ist die Bewegung vollkommen angenehm. Bey dem Herabsinken aber muß die Hand zuerst fallen, und die übrigen Theile müssen ihr in ihrer Ordnung folgen. Man muß auch Acht haben, daß man die Arme niemals allzu steif halte, und muß Gegentheils immer die Bieg samkeit des Ellebogens und der Hand wahrnehmen lassen. Die Finger müssen nicht gänzlich gestreckt, sondern mit Anmuth gebogen seyn, so daß man das natürliche Verhältniß unter ihnen beobachte, welches sehr leicht in einer mäßig gebognen Hand zu bemer ken ist. Man muß sich, so viel wie möglich hüten, die Faust gänzlich zu schließen; noch mehr aber muß man sich hüten, sie gegen die Person, mit welcher man redt, zu strecken; sollte man auch gleich in der größten Wuth seyn. Diese Bewegung ist an sich selber unedel; gegen ein Frauenzimmer ist sie unhöf lich, und gegen eine Mannsperson hohnsprechend. Man muß seine Bewegungen nicht allzugeschwinde machen; denn je langsamer und weicher die Bewegung ist, desto angenehmer wird sie. Wenn man sich von diesen Regeln entfernt, und, zum Exempel, die Hand und den Vordertheil des Armes sich zuerst bewegen läßt, so wird die Bewegung links; breitet sich der

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Arm allzu schnell und allzu heftig aus, so wird die Bewegung hart; bewegt man aber gar nur den halben Arm, so daß der Ellebogen an den Körper ange schlossen bleibt, so kann nichts schändlichers erdacht werden. Unterdessen muß man beyde Arme gleich weit auszustrecken, oder gleich sich zu erheben mög lichst vermeiden; denn diese kreuzförmige Bewegung, womit die Tonkünstler die Cadence bey dem Schlusse einer Arie begleiten, ist kein Muster, dem man nach ahmen kann. Es ist eine ganz bekannte Regel, daß man die Hand nicht höher, als das Auge ist, bringen darf. Wenn den Schauspieler aber eine heftige Lei denschaft dahin reißt, so kann er alle diese Regeln vergessen; er kann sich mit mehr Geschwindigkeit be wegen, und die Arme wohl bis über den Kopf erhe ben. Wenn er aber einmal gewohnt ist, sich zärt lich und anmuthig zu bewegen, so werden auch seine lebhaftesten Bewegungen noch allezeit den besten Grundsätzen gemäß erscheinen. Uebrigens, Ma dame, nehmen Sie sich ja in Acht, vor dem Spiegel auf ihre Bewegungen zu sinnen; diese Art ist der nächste Weg zum Gezwungenen; man muß seine Bewegungen fühlen, und ohne sie zu sehen, beurthei len lernen.
Die Stimme. [] Die Geschicklichkeit seiner Stimme einen voll ständigen, angenehmen und natürlichen Ton zu ge ben, ist einer von den vornehmsten Punkten auf dem Theater. Man muß gleich anfangs beobachten, wie hoch wir mit unsrer Stimme heraus können, ohne

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daß sie überschnappt und quickend wird; daß gleich wie tief wir mit derselben fallen können, ohne daß sie rauh und unvernehmlich wird. Durch öftere Uebung kann man den höchsten Tönen Anmuth und den tiefsten Ver ständlichkeit geben lernen, so daß sich alle, welche wir durchzulaufen fähig sind, beynahe gleich werden. Eine anhaltende Bemühung giebt der Gurgel eine gewisse Geschmeidigkeit, welche sie von Natur nicht zu haben scheint. [] Die schreyenden und quickenden Töne zu vermei den, muß die Brust mit einer beständigen Gleich heit wirken, und die Gurgel muß sich bey dem Durch gange des Tons nicht allzusehr zusammen ziehen. Mit seinem Athem muß man sehr sparsam seyn, und nicht mehr anwenden, als die Stimme nöthig hat. Wenn man den Athem allzuhäufig ausstößt, so verdunkelt er den Ton, weil er die Gurgel allzu sehr füllt, und bringt das zuwege, was man eine Todtenstimme zu nennen pflegt. Man muß die Brust niemals allzu sehr anstrengen, um dem Ausdrucke Stärke zu ge ben: denn anstatt sie zu vermehren, so vermindert man sie in der That, und ist genöthiget so heftig Athem zu holen, daß man es im ganzen Schauplatze hören kann; welches den Zuhörern sehr unleidlich ist. [] Jeder muß sich der Stimme bedienen, welche ihm die Natur gegeben hat, und sie niemals mit einem erborgten Tone vertauschen. Jch will Jhnen, Ma dame, durch ein Exempel erklären, was ich durch eine erborgte oder nachgemachte Stimme verstehe, und das Mechanische davon zeigen. Manche wollen gern eine grobe Stimme haben, sie machen es also auf diese Art: Nachdem sie in der Brust allen Athem, so

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viel sie in sich behalten kann, zusammen genommen haben, so bemühen sie sich den Ton mit Gewalt her auszustoßen, die Gurgel sehr weit zu eröffnen, den Gaumen zu erheben, und die Zunge mehr als ge wöhnlich, hinter zu ziehen. Da der Mund also eine Höle bekömmt, und sich die Lippen nicht vollkommen öffnen können, so entsteht eine Art eines Sprachrohrs, welches den Schall der Worte verstärkt. Ob nun gleich dergleichen Stimme anfangs etwas verführe risches hat, so ist sie doch erborgt, und folglich schlecht. Viele Sänger haben zu diesem Kunststücke ihre Zu flucht, und ich habe Tonkünstler gehöret, welche die sen Fehler wohl einsahen, und dergleichen Töne ge wölbte Töne nennten; ohne Zweifel wegen des Ge wölbes, das der Mund darbey machet. [] Noch schlimmer ist es, wenn man die persönliche Stimme eines andern Schauspielers nachzuahmen sucht. Die Nachahmung derjenigen, welche vor uns gewesen sind, ist allezeit unglücklich. An und vor sich ist es schon ein sehr kleines Verdienst, so wie ein andrer zu spielen, und nichts verdienet gelobt zu werden, als das, was selbst ein Muster seyn kann. Das Schlimmste aber dabey ist, daß wir nichts als die Fehler unsrer Muster nachahmen können. Jch habe zwey Arten von Stimmen in Paris einan der ablösen sehen, und beyde hatten ihren Ursprung von der Nachahmung. [] Die berühmte Champmele, die in so großem An sehen zu den Zeiten des Racine stand, hatte eine helle und in der Höhe sehr durchdringende Stimme. Die hohen Töne waren ihr sehr günstig, und sie konnte sie ungemein vortheilhaft anwenden. Jhre Nachahme

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rinnen, die ich in meiner Jugend habe spielen sehen, fanden in ihrem Spiele keine andere Schönheiten, als die klaren Töne, die ihnen so sehr in die Ohren fielen; sie wollten also alle so hoch singen, welches bey denen, deren Stimme sich zu dieser Art von De clamation nicht schickte, ein sehr widriges Gequicke hervorbrachte. Die Lecouvreur brachte eine ganz verschiedene Weise auf. Die Natur hatte dieser un vergleichlichen Schauspielerinn eine dunkle und sehr eingeschränkte Stimme gegeben. Jhre übrigen vor trefflichen Gaben bedeckten diesen sonst so großen Feh ler; sie war ganz ungemein zärtlich. Die, die ihr nachahmen wollten, bildeten sich ein, das Zärtliche an der Lecouvreur käme von ihrer dunkeln Stimme; und folgten ihr also in diesem Fehler. Sie zwan gen sich den tiefsten Ton anzunehmen, und verdarben den natürlichen Schall ihrer Stimme. Man hörte also Frauenzimmer mit Mannsstimmen reden; und wann diese Stimme durch eine starke Brust nicht genug unterstützt wurde, so ward sie traurig und fürchterlich, anstatt angenehm und rührend zu seyn. [] Alle diese nachgeahmten Stimmen sind sehr feh lerhaft. Es ist gleich unangenehm, wenn man die äußersten Töne, entweder auf der einen oder auf der andern Seite der Stimme, allzuoft durchläuft. Die Mitte muß man gemeiniglich beobachten; denn diese ist der schönste und deutlichste Theil der Stimme. Manchmal kann man sie zwar überschreiten, allein es muß mäßig und nur bey Gelegenheiten geschehen, wo es nothwendig ersodert wird. Vor allen Din gen, keine geborgte Stimme; weil sie nicht viel Weite haben kann, und also der Abwechselung der Töne,

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welche aus der Entfernung, die sich unter ihnen be findet, entsteht, entbehren muß. [] Da ich nun von den mechanischen Theilen der Schauspielkunst, welche, so zu reden, nur die Werkzeuge sind, deren sich ein Schauspieler bey der Vorstellung bedient, geredt habe, so muß ich nun auf die kom men, welche das Spiel ausmachen, und allein von dem Verstande abhängen.
Die Declamation. [] Die Alten brauchten das Wort Declamation nur in der übeln Bedeutung, und seine Herableitung zei get, daß sie diejenigen, welche mehr schrien als redten, Declamatores nennten. Wir müssen uns durch die wahre Bedeutung dieses Worts nicht verführen las sen. Nicht die Stärke der Stimme ist es, welche das Schreyen ausmacht, sondern die Art, mit der man den Ton von sich giebt, und vornehmlich das öftere Zurückfallen auf Jntervalle von einerley Art, welches ich nach und nach in der Folge erklären werde. Die Schauspieler und Redner bey den Römern redten mit vieler Stärke; sie waren bestän dig genöthiget ihre Stimme zu erheben, damit sie von einer entsetzlichen Menge Zuhörer könnten ver standen werden. Jn eben der Nothwendigkeit befin den sich die heiligen Redner, wann sie sich in großen Tempeln müssen hören lassen. Die Schauspieler in Jtalien reden viel lauter als in Frankreich, weil ihre Theater viel größer sind: alles das aber geschieht ohne zu declamiren. Die Heftigkeit und Monotonie zu sammen sind es, welche die Declamation ausmachen.

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Sachte anfangen, mit einer gezwungenen Langsamkeit aussprechen, die Töne dehnen ohne sie zu verändern, plötzlich einen davon mitten im Verstande erheben, und schleunig wieder in den Ton, den man verlassen hat, fallen; in den Augenblicken, da sich die Leiden schaften äußern, sich mit einer übermäßigen Stärke ausdrücken, ohne jemals die Art der Tonfügung zu ändern; das heißt declamiren. Das wunderbarste ist, daß diese Art zu reden in Frankreich aufgekom men ist, und sich auch beständig daselbst erhalten hat. Diejenige Nation, die am meisten das Angenehme, Liebliche und Ungezwungene sucht, und die auch die meiste Fähigkeit darzu hat, ist gleich diejenige, bey welcher auf dem Theater zu allen Zeiten die Mono tonie, das Schwerfällige und das Gezwungene ge herrscht hat. Jch will mich gar nicht damit über die jetzigen Schauspiele aufhalten, sie sind niemals in Paris anders gewesen. Umsonst hat sie Moliere in unterschiedenen von seinen kleinen Stücken getadelt, umsonst hat sie das italienische Theater parodiert. Nichts ist fähig gewesen ein so eingewurzeltes Uebel auszurotten. Hier müssen sich die besten Schauspie ler nach dem allgemeinen und von langer Zeit her üblichen Geschmacke bequemen; und man ist wider seinen Willen genöthiget dem Strome zu folgen, und gebilligte Fehler an sich zu nehmen, ohne die man in Gefahr ist zu misfallen. [] Der berühmte Baron, welcher in vielen Stücken seinen großen Ruhm verdiente, war der einzige wel cher nicht declamirte. Gleichwohl hatte er den mei sten Beyfall; und warum hat man nicht gesucht ihm nachzufolgen? Er spielte mit mehr Stärke als alle

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andre, allein er zwang sich niemals, und die größte tra gische Rolle ermüdete ihn weit weniger, als eine mit telmäßige jeden andern würde ermüdet haben. Al lein diejenigen, welche mit ihm spielten, waren schon allzusehr gebildet, als er auf die Bühne kam; es war nicht mehr Zeit, daß sie sich bessern konnten. Man sagt, Baron habe in seiner Jugend wie die andern declamirt. Jn einer Abwesenheit von 30 Jahren hatte er seine ersten Angewohnheiten verlohren, und durch die gründlichen Betrachtungen, die er über eine Kunst, für welche ihm die Natur die größten Gaben gegeben, angestellet hatte, war das Wesentliche sei nes Spiels ganz verändert worden, er erschien aufs neue mit derjenigen Einfalt und Wahrheit, in wel cher er ein vortreffliches Muster war. Zum Un glück konnte er nicht lange mehr leben, und die Schau spieler verlohren dieses bewundernswürdige Beyspiel allzufrüh. [] Jch will zu dem Hauptgrundsatze kommen. Die tragischen Verse müssen mit dem Tone ausgesprochen werden, welchen die Gedanken, die sie enthalten, na türlicher Weise verlangen. Wann ein Held etwas sagt, was ihn nicht bewegt, warum sollte er sich zu einer außerordentlichen Stimme zwingen? Wann eine Prinzeßinn durch keine Leidenschaften beunru higet wird, warum soll sie weinen? Gleichwohl ge schieht es alle Tage. Jst es nothwendig, daß man sich, wenn man edel reden will, nie von der so ver drüßlichen Monotonie entfernen muß? Es ist wahr, die tragischen Verse haben ein einförmiges Maaß, allein sie verbinden sich doch nicht immer auf einerley Art. Was darinne gesagt wird, ändert alle Au

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genblicke Gedanken und Empfindung, man muß also auch alle Augenblicke den Ton verändern. Bey ru higen Stellen müssen zwar diese Töne durch unmerk liche Staffeln verbunden seyn, allein ein ganz einför miger Ton ist durchaus nicht zu billigen. [] Man hat die falschen Betrachtungen über die Declamation so weit getrieben, daß man sich ganz unvernünftige Grundsätze davon gemacht hat; einer hiervon ist dieser. Man glaubt, daß man allezeit das Trauerspiel mit schwacher Stimme anfangen, und das Spiel sparen müsse, damit der Ausdruck bis zum Ende des Stücks immer mehr und mehr wachsen und stärker werden könne. Diesem Grund satze gemäß habe ich Schauspieler die Tragödie Mithridat anfangen sehen. Xifars beweint gleich in dem ersten Auftritte den Tod seines Vaters, wel chen er kurz vorher erfahren hatte, und sie lassen ihn diese Neuigkeit mit so kaltem Blute erzählen, als wir etwa von dem Tode des Mogols, wenn wir ihn er führen, reden würden. Die einzige Regel, der wir folgen müssen, ist die, welche uns die Empfindung, die wir auszudrücken haben, vorschreibt. Wenn der Poet sein Trauerspiel durch die Rede eines, wegen des Todes seines Vaters, in Verzweiflung stehenden Sohnes angefangen hat, so muß dieser Sohn, so bald er auf der Bühne erscheint, die stärkste Traurigkeit blicken lassen, und sie mit der größten Stärke auszu drücken suchen. Der Schauspieler muß die Sachen so vorstellen, wie sie in dem Stücke sind, sie mögen sich an einem Orte befinden an welchem sie wollen. Desto schlimmer für den Verfasser, wenn er die Ge

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schicklichkeit nicht gehabt hat, in der Folge die Em pfindungen höher zu treiben. [] Es ist nunmehr nöthig, daß ich Jhnen, Madame, ein sehr wesentliches Stück betrachten lasse. Die Mode jede Redensart, die einen völligen Verstand hat, so zu schließen, daß man hört daß sie aus sey, hat sich fast gänzlich verlohren. Alle Verse endigen sich heut zu Tage mit aufgezogener Stimme, und es scheint, als ob in dem ganzen Stücke weder Punkt noch Komma wäre. Diesen Fehler zu vermeiden, will ich Jhnen zeigen, welches die Verbindung der Töne sey, wodurch das Ende des Verstandes bemer ket wird. Die Verschiedenheit der Töne hat in der Rede viel kleinere Jntervallen als im Gesange: un terdessen bemerkt ein zartes Ohr doch die Verglei chung die man zwischen diesen zwey Arten von Ver schiedenheit anstellen kann. Einen Punkt muß man im Reden bemerken, wie man in der Musik eine Baß=Cadence bemerkt. Wenn der Baß einen Ge sang beschließen soll, so stimmt er im Herabsteigen die Quinte an, das ist, er giebt die Quinte des Tons an, und fällt auf einmal auf die tonische Note zurück. Eben so muß es mit der Rede seyn. Wann die Stimme im Herabsinken ein Jntervall an stimmt, welches entfernt genug ist, daß es dem Jn tervalle einer Quinte gleichen kann, so empfindet das Ohr, daß der Verstand aus ist. Wenn aber der Ton der letzten mit dem Tone der vorhergehenden Syl ben einerley ist, oder gar noch höher steigt, so bleibt der Verstand ungeschlossen, und der Zuhörer glaubt, daß der Schauspieler fortfahren werde. Die Sorg falt den Punkt bemerken zu lassen ist sehr nothwen

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dig; denn davon hängt die Verschiedenheit des To nes ab, die in den Ohren eine sehr angenehme Wir kung hervorbringt, und die Richtigkeit und Abwech selung des Ausdrucks empfinden läßt. [] Man kann es sich kaum einbilden, daß jemand als einen Grundsatz hat annehmen können: Die Mo notonie sey, wenn man jeden Verstand mit der tiefen Octave ende. Ohne mich bey dem falschen Ausdrucke aufzuhalten, will ich nur die Falschheit des Gedankens vornehmen. Glaubt man denn, daß es keine Monotonie ist, wenn man allezeit mit aufgezo gener Stimme endet? Muß man von diesen zwey Gleichförmigkeiten nicht vielmehr diejenige wählen, die uns von der Natur vorgeschrieben ist, als die, welche den Mangel des Geschmacks und zugleich des Gehörs und des Verstandes verräth? Jch will noch mehr sagen, ein einziges Punkt, das man unange merkt vorbey gehen läßt, ist schon ein unerträglicher Fehler. Die Art zu urtheilen ist meistentheils diese: Man geht in das Schauspiel, man hört, daß dieser oder jener Spieler gut ist, und verblendet sich so sehr, daß man alle seine Fehler für Vollkommenheiten an sieht, sie zum Muster vorstellt, und sogar Grundsätze daraus ziehen will. Jch behaupte, daß alle diese Urtheile von dem Hörensagen entspringen; denn ein Zuschauer, der aus Kenntniß urtheilet, weis in einer Person, welche Beyfall verdienet, die guten Eigen schaften von den schlechten leicht zu unterscheiden.
Die Einsicht. [] Wenn man einen Schauspieler loben will, so lobt man heut zu Tage seine Einsicht. Es ist wahr, es

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gehört eine große Einsicht darzu, die Verschiedenhei ten, nicht allein in unterschiedenen Rollen, sondern auch die, welche sich in jeder ins besondere befinden, wohl vorzustellen und empfinden zu lassen. Man hört aber auch oft mit dem Titel der Einsicht, eine bloße grobe Art das, was die Worte der Rolle sagen wollen, zu verstehen, belegen. Eine dergleichen Ein sicht ist eine sehr geringe Sache, und die kleinste gute Eigenschaft, die ein Schauspieler haben kan; da sie aber doch nicht alle besitzen, so muß man denen, wel che sie besitzen, Recht wiederfahren lassen. Das, was in der That den Namen Einsicht verdienet, ist die vorzüglichste theatralische Gabe. Sie allein macht große Schauspieler; und ohne sie kann man niemals was anders als eine von den mittelmäßigen Leuten werden, welchen gewisse Annehmlichkeiten des Körpers oder der Stimme dann und wann einigen Glanz ge ben, mit denen aber ein Kenner unmöglich gänzlich zufrieden seyn kann. Das ist nicht genug, daß man die Rede, welche uns der Dichter in Mund gelegt, versteht, und sie nicht widersinnisch ausdruckt: man muß alle Augenblicke das Verhältniß einsehen, wel ches das, was wir sagen, mit dem Charakter unserer Rolle, mit der Stellung, in welche uns die Bühne setzt, und mit der Wirkung, die es in der Haupt handlung hervorbringen soll, hat. Diese Art der Einsicht ist so zärtlich, daß sie, wenn man sie ver nunftmäßig auseinander setzen wollte, ein ganz eignes langes Wort erfoderte. Jch will mich mit einigen Beyspielen begnügen, welche zureichend seyn werden zu beweisen, wie viel verschiedne Aufmerksamkeit man verbinden muß, wenn man eine wirkliche Einsicht zei gen will.

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[] Man hat in einem Auftritte zu sagen: guten Tag. Dieses Wort ist sehr einfach, und jedermann versteht es. Allein es ist nicht genug einzusehen, daß es eine Höf lichkeit sey, die man Leuten, welche kommen, oder welche man anredet, erweiset: es sind nach der Verschieden heit der Charaktere und der Stellungen, worinn man sich befindet, tausend Arten guten Tag zu sagen. Ein Liebhaber sagt zu seiner Schönen, mit derjenigen Ge fälligkeit und Zärtlichkeit guten Tag, welche seine Em pfindungen für die, die er grüßet, anzeigen. Ein Vater sagt es zu einem Sohne den er liebt, mit vieler Güte, zu einem aber, über den er misvergnügt ist, mit einer verdrüßlichen Kaltsinnigkeit. Ein Geiziger muß sich, auch wenn er es zu seinem Freunde sagt, beständig unruhig und besorgt erzeigen. Der Eifer süchtige verräth einen Zorn, welchen der Wohlstand auszubrechen verhindert, wenn er einen jungen Men schen grüßt, den er wider Willen empfangen muß. Ein Mägdchen sagt guten Tag zu dem Geliebten ih rer Frau mit einem höflichen und einschmeichelnden Tone; zu einem Alten aber, der die Liebe ihrer Frau ohne ihre Erlaubniß erhalten will, sagt sie es mit ei ner anfahrenden Stimme. Der Petitmaitre grüßet mit einer gezwungenen und mit Stolz vermengten Höflichkeit, welche denen, die er grüßt, zeigen muß, daß es aus bloßer Gnade geschehe, und daß er es eben sonst nicht nöthig habe. Ein Trauriger sagt guten Tag mit einem betrübten Tone. Ein Bedienter, der seinem Herrn einen übeln Streich gespielet hat, redet ihn mit einer Art an, welche ein gut Gewissen zu zei gen bemüht ist, die aber gleichwohl die Furcht nicht undeutlich spüren läßt. Ein Betrieger grüßet den,

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welchen er betriegen will, mit einem Tone, welcher Vertrauen zu erwecken sucht, woraus aber gleichwohl der Zuhörer seine üble Absicht muß schließen können. Man müßte alle menschlichen Charaktere, und alle Stellungen, die im Leben vorkommen, anführen, wenn man die unzählbaren Veränderungen alle zeigen wollte, die sich bey einem einzigen Worte, das Anfangs so einfach zu seyn scheinet, befinden können. Der Hr. de la Torilliere, der Vater dessen, der noch auf der Büh ne ist, war in diesem Stücke der vollkommenste Schau spieler, den ich jemals gekannt habe. Er glaubte nicht, daß ein einziges einsylbiges Wort in seiner Rolle um sonst sey; ein Ja, ein Nein in seinem Munde be merkte allezeit die Stellung und den Charakter. Jch habe hernach eben diese Stellen durch andre, welchen man eine vollkommene Einsicht zuschrieb, spielen se hen, die aber gar weit entfernt waren, sie so, wie er, zu verstehen. Diese Einsicht, welcher nichts ent wischt, ist es, welche den Schauspieler so weit über den Leser, ja so gar über den witzigen Kopf setzet. Denn alle, welchen die NaturWitz gegeben hat, würden im Stande seyn ein Lustspiel vorzustellen, wenn mit dieser Eigenschaft die Einsicht von der ich rede, noth wendig verbunden wäre. Allein wir haben allzuviel Erfahrungen von dem Gegentheile, und haben allzu viel Schauspieler gesehen, welche es durch viel Witz und viel Erziehung doch nicht weiter bringen konnten, als das äußre von ihrer Rolle zu verstehen. Jch will aufhören von einer unerschöpflichen Sache zu reden; die Kenntniß aber derjenigen verschiedenen Punkte, die ich in der Folge abhandeln will, werden Sie, Madame, leicht auf den wieder zurück führen

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können, den ich jetzo verlasse; so, daß Sie nach und nach werden einsehen lernen, daß die ganze Schau spielkunst von diesem einzigen Theile abhange.
Der Ausdruck. [] Den Ausdruck nennt man diejenige Geschicklich keit, durch welche man den Zuschauern diejenigen Be wegungen, worein man selbst versetzt zu seyn scheint, empfinden läßt. Jch sage, man scheint darein versetzt zu seyn, nicht, daß man wirklich darein versetzt ist. Jch will Jhnen hier, Madame, einen von den glän zenden Jrrthümern entdecken, durch den man sich hat verführen lassen, und welchen einigermaßen die Prahlerey auf Seiten der Schauspieler mag bestärkt haben. Wann ein Schauspieler mit der gehörigen Stär ke die Empfindungen seiner Rolle ausdrückt, so sieht der Zuschauer das vollkommenste Bild der Wahrheit an ihm. Ein Mensch der wirklich in einer dergleichen Gemüthsbeschaffenheit wäre, würde sich nicht anders ausdrücken, und so weit muß man auch, wenn man gut spielen will, die Verstellung treiben. Da also viele durch eine so vollkommene Nachahmung des Wahren in Erstaunen gesetzt wurden, so nahmen sie es für das Wahre selbst, und glaubten, der Schau spieler habe wirklich die Empfindungen, die er vor stellte. Sie überhäuften ihn also mit Lobsprüchen, die er zwar verdiente, die aber aus einem falschen Be griffe herflossen: und der Schauspieler, der seine Rech nung dabey fand, unterstützte sie in ihrem Jrrthume durch seinen Beyfall.

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[] Jch bin niemals dieser Meynung gewesen, ob sie gleich beynahe allgemein ist; ich habe vielmehr alle zeit als etwas ganz gewisses angenommen, daß man, wenn man das Unglück hat, das was man ausdrückt, wirklich zu empfinden, außer Stand gesetzt wird zu spielen. Die Empfindungen folgen in einem Auftritte mit einer Geschwindigkeit aufeinander, die gar nicht natürlich ist. Die kurze Dauer eines Stücks, welche alle Begebenheiten ganz nahe zusammenbringt, und dadurch der theatralischen Handlung alles gehörige Feuer giebt, macht diese Geschwindigkeit nothwendig. Wenn man sich bey einer zärtlichen Stelle allen Em pfindungen seiner Rolle überließe, so würde das Herz augenblicks beklemmt, und die Stimme erstickt wer den; und wenn nur eine einzige Thräne den Augen entfiele, so würden die Seufzer wider Willen aufstei gen, und man würde unmöglich nur ein einziges Wort ohne lächerliches Stocken hervorbringen kön nen. Wenn man nun plötzlich aus dieser Zärtlich keit in den größten Zorn verfallen sollte, würde es wohl möglich seyn? Nimmermehr. Man würde sich aus einer Stellung zu bringen suchen, die uns die Kraft fortzufahren benimmt, ein kalter Schauer würde sich aller Sinne bemeistern, und man würde eine Zeitlang aufs höchste nur mechanisch spielen. Wie würde es alsdann mit dem Ausdrucke einer Em pfindung aussehen, welche viel mehr Feuer und Stärke als die vorhergehende erfodert? Was für eine Ver wirrung wird das nicht in der Ordnung der Staffeln verursachen, welche der Schauspieler alle betreten muß, wenn seine Empfindungen mit einander verbun den und auseinander entsprungen zu seyn scheinen

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sollen? Jch will noch einen andern Fall untersuchen, aus welchem man einen noch deutlichern Beweis ziehen kann, und den das Vorurtheil schwerlich wird bestrei ten können. Der Schauspieler kömmt auf die Büh ne, die ersten Worte die er hört, sollen ihm ein außerordentliches Schrecken verursachen, er nimmt diese Stellung an, Gesicht, Gestalt und Stimme zeigen ein Erstaunen, wodurch der Zuschauergerührt wird. Kann er wohl in der That erschrocken seyn? Er weis es ja auswendig, was man ihm sagen will, und kömmt eben, daß man es ihm sagen soll, auf die Bühne *. [] Das Alterthum hat uns eine besondre Begeben heit aufbehalten, welche den Begriff, den ich be streite, zu unterstützen scheint. Ein berühmter tragi scher Schauspieler, Namens Aesopus, spielte eins mals den rasenden Orestes. Eben in dem Augen blicke, als er den Degen in der Hand hatte, kam ein Sklave, welcher zum Dienste des Theaters bestimmt war, über die Bühne gegangen, und gerieth ihm unglücklicher Weise in Weg. Aesop besann sich nicht einen Augenblick ihn zu tödten. Da sieht man ja einen Menschen, welcher von seiner Rolle so durch 2

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drungen zu seyn scheint, daß er so gar die Raserey empfindet. Aber warum tödtete er denn niemals ei nen Schauspieler, welcher mit ihm spielte? Weil er das Leben eines Sklaven für nichts achten konnte, das Leben aber eines römischen Bürgers weit höher zu schätzen genöthiget war. Seine Raserey war al so nicht wahr, weil sie seiner Vernunft die Freyheit zu wählen ließ. Als ein geschickter Schauspieler aber ergriff er die Gelegenheit, welche ihm das Glück an die Hand gab. Jch behaupte nicht, daß der Schauspieler, wenn er Stellen voll großer Leiden schaften vorstellet, nicht sehr lebhaft bewegt werde; denn das ist eben das, was auf dem Theater am meisten abmattet. Allein diese Bewegung kömmt von der Anstrengung her eine Leidenschaft vorzustel len, die er nicht empfindet, wodurch das Blut in eine außerordentliche Wallung gebracht wird, so daß der Schauspieler selbst dadurch kann betrogen wer den, wenn er nicht mit Aufmerksamkeit die wahre Ursache davon untersucht. [] Man muß die Bewegungen der Natur bey an dern vollkommen wissen, und von seiner Seele alle zeit Meister bleiben, damit man sie, nach Belieben, der Seele eines andern ähnlich machen kann. Das ist das Hauptwerk der Kunst. Daraus entspringt die so vollkommne Vorstellung, welcher sich die Zu schauer nothwendig überlassen müssen, und die sie wider Willen mit sich fortreißt. [] Der Ausdruck muß natürlich seyn: gleichwohl glaubt man gemeiniglich, daß man eben nicht nöthig habe sich so genau an die Natur zu binden. Wenn man es thäte, sagt man, würde die Wirkung sehr ge

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ringe und das Spiel sehr frostig seyn. Mein Vater pflegt zu sagen, wenn man rühren wolle, so müsse man zwey Finger breit über das Natürliche gehen; so bald man aber dieses Maaß nur um eine Linie überschreite, so werde das Spiel alsobald übertrie ben und unangenehm. Diese Art zu reden drückt die beständige Gefahr, worinne der Schauspieler ist, ent weder in seinem Ausdrucke zu schwach oder zu stark zu seyn, ungemein wohl aus. Unterdessen wollen wir doch untersuchen, ob man nicht in der Natur Muster finden könne, welche, wenn man ihnen genau folget, die äußerste Wahrheit, mit der nöthigen Leb haftigkeit verbunden, an die Hand geben. Wir wollen die Menschen betrachten, doch nicht allein die, die sich artiger Sitten befleißigen, sondern die Men schen überhaupt, und vielmehr die Geringen als die Vornehmen. Diese haben zu viel Lebensart und Klugheit, als daß sie sich durch die erste Bewegung in Gegenwart eines andern sollten hinreißen lassen, sie können uns also wenige Beyspiele eines lebhaften Ausdruckes geben. Allein Leute von einem weniger vornehmen Stande, die sich ihren Eindrücken leich ter überlassen, und der Pöbel, welcher seine Empfin dungen nicht zu bändigen weis, das sind die wahren Muster eines starken Ausdrucks. Bey ihnen findet man die Niedergeschlagenheit der Betrübniß, die Niederträchtigkeit eines Bittenden, den verachtenden Stolz eines Siegers, und die aufs äußerste getriebe ne Raserey. Bey ihnen findet man häufiger, als sonst wo, Beyspiele des hohen tragischen. Hiermit darf man nur ein wenig Wohlanständigkeit verbin den, und alles wird gut seyn. Kurz, man muß sich

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ausdrücken wie der Pöbel, und betragen wie Leute von Stande. [] Man muß den Ausdruck niemals übertreiben; das ist eine unstreitige Regel. Allein man muß auch wissen, daß das Uebertriebene nicht von der großen Stärke der Empfindung herkömmt; die unnöthigen Zusätze sind es, welche sie verderben, ich meyne das Mechanische der Bewegungen und der Stimme. Wenn man, sich stark auszudrücken, eine heftige Be wegung macht, und vorher einige Vorbereitung da zu merken läßt, wenn man sich alsdann in einer ge zwungenen Stellung erhält, wenn man die Stimme allzu heftig und anhaltend heraus stößt, wenn man einen Ton erzwingt, der von den andern allzu un terschieden ist, alsdann ist das Spiel übertrieben. Die Vorbereitung und das Schwerfällige sind es, welche einen gezwungenen Schauspieler ausmachen. Je heftiger eine Bewegung ist, desto kürzre Zeit muß man darinne bleiben: und alsdann ahmt man der Natur nach, welche sich nicht sehr lange in Stellun gen erhalten kann, die ihr Zwang anthun.
Die Empfindungen. [] Die Bewegungen, welche am geschwindesten in der Seele entstehen, wozu die Ueberlegung nichts beyträgt, und die sich unsrer augenblicklich, fast wider unsern Willen bemächtigen, sind die einzigen, welche man mit dem Namen Empfindungen belegen sollte. Zwey davon sind die Hauptempfindungen, die man gleichsam als die Quellen aller übrigen ansehen kann, der Zorn und die Liebe.

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[] Alles was nicht aus diesen zwey Quellen herfließt, ist von einer andern Art. Zum Exempel, Freude, Traurigkeit, Furcht sind einfache Eindrücke. Die Ehrsucht, der Geiz sind überlegende Leidenschaften. Das Mitleiden aber ist eine Empfindung, die aus der Liebe entspringt; Haß und Verachtung sind die Kinder des Zorns. [] Diese Unterscheidung, die Jhnen, Madame, viel leicht ein wenig allzu metaphysisch scheinen wird, war nöthig, damit ich Jhnen den Grund zeigen kön ne, warum ich alle Empfindungen nur unter zwey Classen bringe. Jn der einen sind die zärtlichen, in der andern die heftigen Empfindungen. Die er stern haben ihre vornehmste Eigenschaft von der Lie be, die andern sind allezeit mehr oder weniger mit Zorn verbunden.
Das Zärtliche. [] Die zärtlichen Stellen sind diejenigen, welche man sonst gemeiniglich Empfindungen nennt. Dieser Ausdruck aber ist allzu allgemein, ich will mich also lieber des Worts Zärtlichkeit bedienen, welches mir eigentlicher und bestimmender zu seyn scheint. Die ser Theil des Ausdrucks erfodert die meiste Bieg samkeit und Anmuth. Doch muß man sich hüten, daß man ihn nicht am unrechten Orte anbringt, und darf nicht glauben, wie gleichwohl viele in der Mey nung stehen, daß man beständig erweichen müsse, wenn man eine zärtliche Rolle zu spielen hat. Wenn so eine Rolle ruhige oder vergnügte Stellen hat, so würde es lächerlich seyn, sie mit einem weinenden

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Tone zu sagen. Jch verlange dadurch nicht, daß man ausgelassen lachen müsse, wenn man nichts als eine sanfte Freude empfindet, wie sich bey Leuten von Stande, und bey edeln Gesinnungen befindet; allein das Gesicht und die Stimme müssen aufgeweckt schei nen. Man glaubt ganz fälschlich, daß ein heitres Ansehen das Trauerspiel verunziere. Das Gegen theil von dem Wahren sind bey dieser Gelegenheit die hohle Sprache und die traurige Declamation, von welchem Fehler man nur allzu viel Beyspiele sieht. [] Wann die Stelle nothwendig einen zärtlichen Ton erfodert, so muß man wohl untersuchen, von welcher Art die Zärtlichkeit sey, die man ausdrücken soll. Die Zärtlichkeit einer Mutter gegen ihre Tochter, eines ge treuen Unterthanen gegen seinen König, eines Liebha bers gegen seine Geliebte, sind alle von besonderer Art, und jede muß anders ausgedrückt werden. Die ge sunde Vernunft läßt diese Regel leicht begreifen. Al lein es gehört viel Feinheit darzu, wenn man die Verschiedenheiten einer Empfindung unterscheiden soll, welche anfangs durchgängig einerley zu seyn scheint. Jch kann mich nicht anheischig machen alle Töne auseinander zu setzen, deren eine einzige Empfindung fähig ist. Empfindliche Gemüther mögen sie selbst wahrnehmen. Alles was ich Sie, Madame, dabey zu erinnern habe ist, daß die Zärt lichkeit auf dem Theater fast niemals eine einfache Bewegung ist, sondern meistentheils von einer an dern begleitet wird, welche die Stellung bestim men und dem Schauspieler in der Art, wie er sich zärtlich zeigen soll, zum Wegweiser dienen muß.

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Bald ist es die Furcht für den Gegenstand unserer Liebe, bald die Unruhe ihn zu verlieren, bald die Betrübniß sich von ihm getrennt zu sehen. Manch mal ist es die Verzweiflung ihm nicht zu gefallen, manchmal das Mitleiden mit seinen traurigen Um ständen. Oft können es auch die Gewissensbisse einer unrechtmäßigen Liebe seyn, oder der Zorn über den Misbrauch der Vertraulichkeit, welcher um so viel lebhafter ist, weil er deswegen die Zärt lichkeit nicht unterdrückt, und tausend andre Be wegungen, die man leicht beobachten kann, wenn man die Regel, die ich gegeben habe, vor Augen hat. Bey den Stellen, wo man die Zärtlichkeit der Liebe auszudrücken hat, muß man sich ja wohl für die allzugroße Stärke des Ausdrucks hüten; denn hier wird sie, besonders bey den Frauenzimmern, sehr unanständig. Man muß das Schreyen ver meiden, denn dadurch fällt auf einmal die Zärtlich keit weg, welche eine sanfte Leidenschaft ist. Diese Empfindung ist diejenige, welche mittelmäßige Schauspieler meistentheils am besten auszudrücken wissen, wenn sie nur nicht in das Kalte verfallen. Man muß dergleichen Rollen niemals über sich neh men, wenn man nicht eine schmeichelhafte Stimme und eine angenehme Bildung hat; starre Augen und eine rauhe Stimme sind einem zärtlichen Ausdrucke durchaus zuwider.
Die Stärke. [] Die Heftigkeit ist weit schwerer, und wird selten wohl ausgedruckt, weil sie bey dem Spiele eben so

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viel Mäßigkeit als Feuer erfodert. Ein Mensch, den eine heftige Leidenschaft mit sich fortreißt, hat seinen Verstand nicht gänzlich verlohren, sondern ist noch im Stande nachzudenken; eine allzuheftige Art zu spielen aber zeigt von einer Narrheit. Man muß sich, wie es die Gelegenheit erfodert, mäßigen. Wenn man mit einem Frauenzimmer redt, so muß man so viel wie möglich die Hochachtung, die man ihr schul dig ist, beybehalten, wann man ihr auch gleich die alleranzüglichsten Sachen sagt. Dieses ist ein ich weis nicht was, welches ein wohlgesitteter Mensch vollkommen empfindet, schwerlich aber zu erklären weis. Jst der Mensch geringer als wir, so machen wir uns verächtlich, wenn wir die Heftigkeit gegen ihn allzu weit treiben, weil er nicht im Stande ist, sich deswegen zu rächen. Jst er aber mehr als wir, so müssen wir ihn, auch wenn wir noch so verwegen gegen ihn zu sprechen haben, niemals in die Noth wendigkeit versetzen, sich herab zu lassen und nieder trächtig zu werden, indem er etwas gedultig erträgt, was nimmermehr ein Mensch ertragen würde: denn es ist nicht genug, daß man für sich alleine spielt, man muß auch für andre spielen. Dieses aber beob achtet man fast gar nicht, und in diesem Falle eben ist es, wo die geballte Faust eine sehr üble Wirkung hervorbringt.
Die Wuth. [] Es giebt in der That zwar seltne aber sehr rüh rende Stellungen, für die beynahe gar keine Regeln zu geben sind, weil das gute oder schlechte Spiel der selben von so kleinen Umständen abhangt, daß man

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es leichter empfinden, als Rechenschaft davon geben kann. Diese Stellungen sind, wenn sich die Per son außer sich befindet und aller Menschlichkeit ent rissen zu seyn scheint: von welcher Art die wüthen den Scenen sind. Der Schauspieler muß sich in diesem Augenblicke nicht an das geringste Maaß hal ten, noch sich an einen gewissen Ort auf der Bühne binden. Die Bewegungen seines Körpers müssen weit heftiger als aller andrer, die um ihn sind, schei nen. Die Blicke müssen entflammt seyn, und von nichts als von Verwirrung zeigen. Seine Stim me muß manchmal donnernd, manchmal erstickt, alle zeit aber von einem sehr starken Athem unterstützt seyn. Vornehmlich muß er viel gehen, und sich viel bewegen. Die Arme aber auszustrecken und auf den Beinen zu zittern ist eine sehr schlechte Vorstellung eines Wüthenden. Man kann sehr leicht, wenn man die Wuth wohl ausdrücken will, in das Lächer liche verfallen; und dergleichen Rollen sind gar nicht für einen jeden. Vornehmlich aber muß man wohl merken, daß nicht jede Wuth von einerley Art ist. Die Wuth des Orestes in der Andromacha ist die Wirkung einer verzweifelnden Liebe; in der Elektra ist es der Schmerz über eine wider Willen begange ne Schandthat; im Oedip ist es der Schauer sich als einen Vorwurf des göttlichen Zornes, und als den Sammelplatz aller Laster, die er doch nicht hat vermeiden können, zu sehen; im Herodes ist es die Traurigkeit eines Ehemannes, der seine Geliebte hat umbringen lassen, und die Scham wegen einer ver ächtlichen Leidenschaft. Jede von diesen Rasereyen hat ihre besondere Eigenschaften, und man muß,

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wenn man sie vorstellet, den Zuschauern allezeit die Empfindung zu zeigen wissen, welche die Quelle da von ist.
Die Entzückung. [] Die Prophezeyung des Joad ist weniger beschwer lich, aber ungleich schwerer, weil sie mehr Größe und mehr Abwechselung erfodert. Wenn Joad von dem göttlichen Geiste getrieben wird, so muß er von einer Majestät erfüllt scheinen, die ihm gar nicht ei gen ist. Er sieht voll Verwirrung die Zukunft, wie sie sich nach und nach seinen Augen entwickelt. Wenn er dem jüdischen Volke die Laster vorwirft, womit es sich beflecket, so ist es nicht der Mensch, sondern Gott, welcher redet. Bald darauf presset ihm das Unglück seiner Nation Thränen aus, und die Mensch lichkeit zeiget sich. Endlich wird der Prophet mit einer heiligen Freude erfüllet, sieht die Zukunft des Meßias vorher, und verkündiget sie der ganzen Welt. Was für Mühe, alle diese Empfindungen mit einer übernatürlichen Stärke auszudrücken, ohne sie zu übertreiben, und beständig von einer göttlichen Ge walt getrieben zu seyn scheinen, die uns wider un sern Willen zu reden zwingt. Allein man muß sich wohl in Acht nehmen, daß man anstatt der Entzü ckung eines Propheten nicht die Rasereyen einer Py thia vorstellt; welches doch dann und wann zu ge schehen pflegt. Man muß von der Natur dazu ge bildet seyn, wenn man in dergleichen Stellen zu ei ner Vollkommenheit gelangen will; denn die Kunst wird es nimmermehr so weit bringen, wenn sie nicht von allen natürlichen Gaben unterstützt wird.

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Das Edle. [] Jch finde hier einen ganz bequemen Ort zu erklä ren, wodurch in der Vorstellung die zwey so selt nen Stücke, das Edle und Majestätische entstehen. Es scheint als ob man diese Eigenschaften nur von der Natur allein bekommen könne, und daß die Kunst und Ueberlegung nicht den geringsten Antheil daran habe. Die Erfahrung scheint diese Meynung zu be stärken. Leute von der schönsten Gestalt haben manchmal nicht das geringste Edle. Gegentheils aber erinnere ich mich die Rolle eines Petitmaitres von einer Privatperson sehr edel vorgestellt gesehen zu haben, dessen Gestalt doch so wenig regelmäßig war, daß auch die wohlgemachtesten Kleider den Fehler seines Körpers nicht verbergen konnten. Woher ent steht denn also das Edle? Aus der Vollkommenheit der Bewegungen, mehr als aus jedem andern Stü cke. Wenn der Schauspieler leichte und unvorbe reitete Gestus hat, so ist sein Spiel edel. Die Leich tigkeit im Gange, die Einfalt in der Stellung, die Annehmlichkeit und das Ungezwungne im Arme, die sind es, welche diese so gewünschte Eigenschaft verschaffen. Wann wir keine Aufmerksamkeit auf unsre Gestalt merken lassen, und der Zuschauer glaubt nur unsere Seele wirken zu sehen, alsdann ist das Edle auf seinem höchsten Punkte.
Das Majestätische. [] Das Majestätische geht noch weiter, und man sieht es viel seltner. Es besteht eigentlich zu reden in dem zu einer außerordentlichen Höhe gebrachten

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Edeln. Die Hoheit des Ansehens ist ein Geschenk der Natur, allein zur Majestät ist sie nicht hinrei chend. Man muß eine andre Eigenschaft damit verbinden, welche von der Ueberlegung abhangt, und mehr thun muß als die natürlichen Gaben. Wenn ein Schauspieler seine Stellung empfindet, die ihn weit über alle andre, die um ihn herum sind, setzet, und es den Zuschauern auch empfinden zu lassen sich bemüht, so wird sein Spiel ganz gewiß majestätisch seyn. Wenn ein König gütig mit einem seiner Un terthanen, dessen Eifer ihm werth ist, spricht, so muß er, auch wenn er die größte Freundschaft die er für ihn empfindet, auszudrücken hat, in allen dennoch so zurückhalten, daß man deutlich sieht, seine Größe verhindre ihn, so gemein mit ihm zu thun, als er sich mit einem seines gleichen machen würde. Wenn er befiehlt, muß es mit der Zuversicht eines Obern ge schehen, dem man unmöglich ungehorsam seyn kann. Wann ihn von ungefähr ein Verwegener bis zum Zorne treibt, so muß die Vernunft den Zorn zurück halten, und die Verachtung, die er als ein Mann, der über allen Schimpf erhaben zu seyn glaubt, blicken läßt, muß ihn überwinden. Kurz der, der seine Stellung empfindet, ist ganz gewiß majestätisch. Hierinne kann der Umgang mit Großen ganz unge mein nützlich seyn. Jch glaube so gar, daß eine ge wisse Hoheit der Seele erfodert wird, die Größe auf eine anständige Art auszudrücken. Denn wenn man in Stellen, wo man majestätisch seyn will, die Grän zen der Wahrheit überschreitet, so wird man ganz gewiß lächerlich werden. Ein Mensch scheint nie mals kleiner, als wenn man ihn auf Stelzen sieht.

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Das Lustspiel. [] Es scheint als ob ich bis hieher nur von dem Trauerspiele gesprochen hätte. Jch zweifle aber nicht, daß Sie, Madame, nicht einsehen sollten, wie wohl alles das, was ich gesagt habe, eben sowohl auf das Komische als auf das Tragische anzuwenden sey. Diese zwey Arten der Vorstellung gleichen sich an hundert Orten. Man bringt zwar nichts Lächer liches in das Trauerspiel, doch können die größten tragischen Bewegungen in dem Lustspiele ihren Platz haben. Alle Leidenschaften, alle Stellungen schicken sich für sie, und die Empfindung kann bis auf das höchste darinne getrieben werden. Das Lustspiel hat oft edle Personen, und es giebt Stellen, wo so gar das Majestätische nöthig ist. Der ganze Unter schied den man zwischen der einen und der andern Art machen kann, ist, daß das Lustspiel alle Töne durchläuft, das Trauerspiel aber sich an einer kleinern Anzahl begnügen läßt. Man würde von dem was ich behaupte, leichter überzeugt werden können, wenn man öfterer Trauerspiele ohne Uebertreibung der Stimme und der Bewegungen spielen sähe.
Die Liebhaber. [] Wir wollen zu dem Lustspiele insbesondere kom men, das ist, auf diejenigen Punkte, welche ihm ein zig und allein zukommen. Wir wollen von der Kunst reden, Freude zu erwecken. Dieses ist das schwerste Stück auf dem Theater. Jch rede hier nur von den edlern komischen Personen, das ist, von

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denjenigen, welche ohne Grimassen und ohne Nieder trächtigkeit Lachen zu erregen verbunden sind. [] Wenn man nicht von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, in welchem Falle man den tragischen Ton an sich nehmen soll, muß man in dem Lustspiele allezeit ein aufgeräumtes und ruhiges Ansehen haben. Ein zufriednes Gesichte macht den Zuschauer geschickt in der Folge zu lachen. Die komischen Schauspieler müssen sich der Traurigkeit, auch wenn sie nothwen dig wird, nur nach und nach überlassen, als Leute welche sich gern davon los machen wollten. Wenn ihre Rolle nicht Lachen erregen soll, so müssen sie sich nicht durch ein düstres und trauriges Ansehen dem ko mischen Eindrucke widersetzen, welchen die andern, die mit ihm auf der Bühne sind, machen sollen. Wenn sie aber selbst lächerliche Sachen vorzubrin gen haben, so müssen sie alle ihre Kunst anwenden, sie so auszudrücken, daß das Edle nichts dabey ver liere. Dieses gehört sonderlich für die Rollen der Liebhaber, welche man spielen muß, so lange man jung ist, weil sie eben nicht allzuschwer sind und das ungezwungene Wesen verschaffen, welches das wahre Kennzeichen eines Menschen, der zu leben weis, ist.
Die Charaktere. [] Wenn man die Blüte des Gesichts, die der Liebe so wohl ansteht, verlohren und durch die Uebung Zuversicht im Spiele erlangt hat, so kann man zu etwas wichtigern schreiten, welches die charakterisir ten Rollen sind. Je bestimmter eine Rolle ist, je schwerer ist sie vorzustellen. Durch das Lesen kann

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man zwar lernen, wie die Menschen nach ihren ver schiedenen Charakteren denken, allein die Art wie sie ihre Gedanken ausdrücken, kann man nur durch ihren Umgang lernen. Man muß also, sich hierinne voll kommen zu machen, vornehmlich viel Menschen ken nen lernen. Hernach muß man auch die Geschick lichkeit haben, das was man an andern sieht leicht lich nachzuahmen. Der Charakter hat einen so gros sen Einfluß in die ganze Person, daß er dem, welcher ihn besitzt, eine ganz besondere Gesichtsbildung, eine Stellung die ihm eigen ist, eine Bewegung, die seine Art zu denken ihm gewöhnlich gemacht hat, und eine Stimme giebt, deren Ton keinem andern Charakter zukommen kann. Hierüber muß man sehr feine An merkungen zu machen wissen, und ein sehr scharfes und richtiges Auge haben. Jch sage jeder Chara kter hat seine besondere Stimme, und diese ist eines von den sichersten Mitteln ihn in seiner Vollkom menheit vorzustellen. Die Furchtsamkeit giebt eine schwache und unterbrochene Stimme; die Dumm heit hat einen befehlrischen und zuversichtlichen Ton; die Grobheit hat eine volle und ungelenke Ausspra che; der Geizige, welcher die Nächte mit Zahlung seines Geldes zubringt, hat eine heisre Stimme. So ist es mit allen übrigen Charakteren, und jeder erfo dert einen Ton, welcher ihm einzig und allein zukömmt. [] Man muß niemals den Charakter seiner Rolle aus dem Gesichte verlieren. Ob man auch gleich die al lergleichgültigsten Sachen zu sagen hat, so muß man es doch niemals auf eine Art thun, die sich auch für einen andern schicken würde, der nicht diesen Cha

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rakter vorzustellen hat. Dadurch erhält man seine Person, und läßt manchmal den Charakter auch da vorzüglich erscheinen, wo ihn der Dichter vergessen zu haben scheint. Eine beständige Aufmerksamkeit auf die Bühne ist die allervortheilhafteste Eigenschaft, die ein Schauspieler haben kann. Diese macht sein Spiel so vollständig und verbunden, daß, wenn sie nur durch ein klein wenig Einsicht unterstützt wird, oft ein sonst sehr fehlerhafter Schauspieler viel Anse hen dadurch erlangt hat. Die Zerstreuung hingegen ist ein so großer Fehler, daß sie allein vermögend ist den Schauspieler unerträglich zu machen. [] Aus dem was ich von den charakterisirten Rollen gesagt habe, können Sie, Madame, schließen, daß eine ganz besondere Gabe darzu erfodert werde. Es ist nicht allen Leuten gegeben, sich zu verwandeln, und ihre Stellung, Stimme und Gesichtsbildung so oft wie die Kleidung zu verändern. Es ist in dieser Art nicht genug, daß man sich nur so obenhin ausdrückt. Jn den Charaktern muß man entschiedne und be stimmte Züge anwenden; welches gewiß nichts leich tes ist, wenn man die Natur nicht übertreiben will. Es ist mehr zu bewundern, als man glaubt, daß ein Schauspieler, der, wenn er nur ein wenig Verstand hat, zittert, indem er den Fuß auf die Bühne setzt, seiner genugsam mächtig seyn und alle Kühn heit zeigen kann, die ihm bey dergleichen Gelegenhei ten nöthig ist. Die Art von der ich jetzo geredt habe, heißt das hohe Komische, weil sie das Lustige und Edle verbindet.

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Das Niedrigkomische. [] Die Knechte, die Bauren, die lächerlichen Alten, die Dummen und alle lustigen Personen, die nur mei stentheils in den episodischen Auftritten gebraucht wer den, gehören in das Komische der andern Classe. Es ist nicht nöthig zu sagen, wie viel leichter diese Rollen sind als jene, wovon ich vorher geredt habe. Jeder mann sieht es und erkennt es. Die Ursache ist ganz leicht. Je weniger man verbunden ist auf das Edle und auf die Anmuth seiner Person, auf die Richtig keit und Biegsamkeit der Stimme zu denken, desto leichter wird das Spiel. Ja dieses sind so gar Ei genschaften, die man bey dem Niedrigkomischen able gen muß. Ein Alter muß sich wie ein Mann stel len, den die Beine kaum mehr tragen wollen, seine Stimme braucht nicht vollständig und helle zu seyn, seine Bewegung muß langsam, schwach und weniger gezwungen seyn: denn die Arme eines Menschen, dem das Alter den Rücken gebogen und die Schultern enger zusammengezogen hat, können sich nur mit Mü he bewegen. Ein Knecht, welcher jünger und mun terer ist, muß mehr Lebhaftigkeit, aber nicht mehr Anmuth zeigen, und seine ganze Person muß den Man gel der Auferziehung verrathen. Noch viel gröber und ungelenker ist der Bauer. Seine Stimme muß härter seyn, und die Art sich zu bewegen muß mit seinem Bauerstande vollkommen übereinstimmen. Sie werden mich hier vielleicht fragen, ob sich der Schauspieler, Beyfall zu erhalten, unangenehm ma chen müsse. Anstatt auf diese Frage zu antworten, will ich nur die Gränzen, worinne er sich zu erhalten

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hat, bestimmen. Ein Schauspieler des Niedrigko mischen muß sich von aller Anmuth entfernen, die man durch die Auferziehung und durch Umgang er halten kann. Aufs höchste darf er nichts als eine gute natürliche Art zeigen. Doch muß er auch nicht, sich von aller Anmuth der Bewegungen, die nur bey edeln Rollen Statt findet, zu entfernen, verborgne und unnatürliche Gestus anwenden; er muß keine übertriebene Wendungen des Körpers und Verzu ckungen der Achseln erzwingen, dergleichen die Natur keiner Person giebt, und die ihren Ursprung aus den übeln Possen der Lustigmacher haben. Er muß sich niemals so weit erniedrigen, daß er in den Augen der Zuschauer niederträchtig wird; doch muß er sich auch wohl hüten, daß er niemals edel scheint. Einer von unsern Sophisten nach der Mode möchte zwar sagen, daß auch die allerniedrigsten Charaktere ihre Art von Anmuth und Adel hätten. Allein das sind nichts als Worte, deren Ungrund man gar leicht wahrnimmt, sobald man die Sachen genauer untersucht. Jch kann mich nicht enthalten eine Gewohnheit zu tadeln, die ich auf allen Theatern durchgängig gefunden habe. Wenn sich ein Knecht als einen Menschen von Stande verkleidet, so wird er allezeit in einer höchst ausschwei fenden Kleidung erscheinen, dergleichen im ganzen Lande nicht zu finden ist. Diese Gewohnheit ist wi der alle gesunde Vernunft. Gemeiniglich setzt man voraus, daß er ein Kleid von seinem Herrn genom men hat, und oft ist es der Herr selbst, der es ihm gegeben, und die Verkleidung befohlen hat; vermuth lich aber hat der Herr Kleider wie man sie ordent lich trägt, und der Bediente weis selbst wie sich Leute

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von Stande zu kleiden pflegen. Das gebe ich zu, daß er sich in ein Kleid, welches zu kostbar für ihn ist, nicht muß zu schicken wissen; allein das Kleid selbst muß edel und reich seyn: und wenn der Schauspieler das Komische in seiner Gewalt hat, so wird ihm der Unterschied, der zwischen der Kleidung und seinem Betragen ist, weit vortheilhafter seyn, als aller lächer licher und verstellter Anputz. Jn Ansehung solcher übertriebenen Rollen, deren man sich nur selten und im Vorbeygehen bedient, ist es unnöthig gewisse Vor schriften, sie wohl vorzustellen, zu geben. Man kann die Originale von ihren Figuren in den grotesquen Zeichnungen des Callot sehen, und sie, wie man es für gut befindet, anwenden. Es giebt Zuschauer, wel chen diese Art viel Vergnügen macht.
Das Frauenzimmer. [] Die komischen Rollen der Frauenzimmer müssen nach eben den Grundsätzen gespielt werden; ausge nommen daß das weibliche Naturell mehr Feinheit und Artigkeit besitzt. Jn den Rollen der Alten und Bäuerinnen verfährt man heut zu Tage ganz ver nünftig. Jch kann mich aber nicht genug über die Hartnäckigkeit beklagen, mit welcher man sich schon seit langer Zeit bemühet die Rollen der Mägdchen edel zu machen. Man stellt sie als verliebte und aufgeweckte Personen vor, und dieses scheint mir wi der alle Natur zu seyn. Es ist wahr, unsere jetzigen komischen Dichter haben nicht wenig zu diesem Fehler beygetragen. Ein Mägdchen sieht zwar die Gesell schaft, welche zu ihrer Frau kömmt, allein sie kömmt

I. Die Schauspielkunst.

doch nicht zu ihr. Sie kann also zwar wissen was Lebensart ist, doch muß sie eben selbst nicht allzuviel haben. Der Charakter ihres Witzes ist, daß sie mehr beißend als fein seyn muß, und ihre aufgewecktesten Ge danken müssen in ihrem Spiele mit aller Stärke ei ner Person ausgedrückt werden, die zwar fähig ist sie zu haben, aber nicht mit der Anmuth, mit welcher sie eine Person, die eines glänzenden Umganges gewohnt ist, haben würde. Man wird wenig Schauspielerin nen sich in diesen Gränzen halten sehen. Die mei sten von ihnen kleiden sich so gar auf eine Art, die ihrer Rolle gar nicht anständig ist. Die, die ich in meiner Jugend habe spielen sehen, wußten sich besser zu charakterisiren. Die Begierde sich sehen zu lassen hat alles verändert. Jetzo ist die Kleidung des Mägdchen manchmal weit prächtiger als die Klei dung ihrer Frau, ihre Ohren hängen voller Diaman ten, und in ihrem Spiele ist eben so viel Flitterwerk als auf ihrem Putze.
Das Lustige. [] Jch sehe mich jetzo verbunden, zu untersuchen, wo her das Lustige entstehe. Dieses ist ein sehr zärtli cher Punkt, und man versieht sich oft darinne. Wann der natürlich gute Geschmack einen Schauspieler nicht auf dem rechten Wege erhält, so wird er anstatt des Lachens Unwillen erwecken. Es ist zu merken, daß ein komischer Schauspieler nicht allein lustig seyn muß, wenn er in einer angenehmen Stellung ist, und auf geweckte Sachen zu sagen hat; er muß so gar zum Lachen bewegen, wenn er in einer traurigen Stellung ist und betrübte Sachen vorzubringen hat. Bey

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freudigen Stellen ist ein aufgewecktes Gesicht und eine natürliche Art sich auszudrücken schon zureichend das Lustige zu unterstützen. Allein, wie muß man es bey betrübten Stellen anfangen, wenn man zum La chen bringen will? Man muß sich hüten, daß man unter die traurigen Empfindungen, die man zu haben scheint, ja keinen von denjenigen Zügen menge, wel che die Seele erhöhen, und für den, den man im Un glücke sieht, zu gleicher Zeit Mitleiden und Hochach tung erwecken. Jn einer ernsthaften Rolle zum Exempel muß die Furcht mit einer Standhaftigkeit unterstützt werden, welche zeigen muß, daß man fähig seyn werde, das Unglück auszuhalten, so, daß der Zu schauer die Stärke unserer Gesinnungen bewundert. Jn einer komischen Rolle aber muß man eine gewisse Niederträchtigkeit damit verbinden, welche den Un glücklichen geringschätzig macht, und uns über seinen Unstern zu lachen bewegt. Denn man muß nicht glauben, daß es das Unglück ist, welches uns entwe der zum Weinen oder Lachen bringt, wenn wir an dere damit befallen sehen. Beyde von diesen Em pfindungen entstehen aus der Art, womit wir sehen, daß der Zufall, den man uns vorstellt, ertragen wird. Wenn wir diese Betrachtung bey allen Stellungen anbringen, so werden wir leicht den Unterschied des komischen und tragischen Ausdrucks in einerley Falle bemerken. [] Es ist noch eine andere Quelle des Lustigen, deren man sich sehr glücklich bedienen kann. Diese ist das übel angebrachte Ernsthafte. Wenn die Art wohl angebracht wird, so macht sie einen um desto stärkern Eindruck, je gemeiner das Bild des Lächerlichen ist,

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das sie uns vorstellt. Wenn wir sehen, daß eine Per son, für welche wir wenig Hochachtung und oft gar Verachtung haben, sich ein sehr wichtiger Mensch zu seyn dünkt, und einen gebiethrischen Ton an sich nimmt, so lachen wir über seine falsche Einbildung und über die Aufmerksamkeit, die er will, daß wir sie bey sei nen Possen haben sollen; und aus dieser Ungleichheit entsteht die Art von Rollen, welche man Mantelrol len nennet. Diese muß man, wenn sie recht lustig ausfallen sollen, als tragische Rollen spielen. Noth wendig aber muß der Schauspieler in seiner Stimme und in seinen Bewegungen eine gewisse Ungleichheit beobachten, die ihn niemals edel werden läßt. Dieses ist die wirkliche Gelegenheit, wo man die Ernsthaftig keit eines Scaramouche, von welcher Racine in der Vorrede zu seinen Klägern redt, anbringen kann. Die Mantelrolle ist von allen niedrigkomischen die jenige, worinne man am schwersten glücklich seyn kann. Und in Ansehung der Geschicklichkeit, welche dazu er fodert wird, könnte man sie wohl in die Classe des hohen Komischen stellen. [] Besonders muß ein Schauspieler dieses beobach ten: je mehr er lustige Sachen vorbringt, destoweni ger muß er selbst darauf Acht zu haben scheinen. Es ist ein unerträglicher Fehler selbst zu lachen, wenn man andere zum Lachen bewegt, weil dieser Fehler die ganze Vorstellung aufhebt.
Das stumme Spiel. [] Das aller achtungswürdigste Stück bey einem Schauspieler ist das stumme Spiel; und nur wenige besitzen es wohl. Es müssen sich alle Leidenschaften,

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alle Bewegungen der Seele, alle Veränderungen der Gedanken auf seinem Gesichte abmalen, wenn er will, daß die Zuschauer einen lebhaften Antheil an der Vorstellung nehmen sollen. [] Zu diesem Grade des Ausdrucks zu gelangen ist es gut, wenn man von der Natur kennbare Züge er halten hat, deren Bewegungen sich deutlich bemerken lassen. Diese Züge nun müssen alle Augenblicke eine Bildung annehmen, die ihnen vor jetzo zukommt, doch muß diese Bildung niemals so gezwungen seyn, daß sie zu einer Grimasse wird. Dieser Fehler ist sehr gebräuchlich, weil alle gern mit dem Gesichte spielen wollen, und jeder Schauspieler doch nicht die Geschicklichkeit dazu besitzt. Unterdessen ist es doch ganz leicht, sich für den Grimassen zu hüten, und die Anmuth in den Bewegungen des Gesichts han gen von einer gänzlich mechanischen Gewohnheit ab. Der obre Theil des Gesichts muß beständig spielen, der Mund aber und das Kinn müssen sich nur zum Re den bewegen. Man sagt nicht ohne Grund, daß die Augen der Spiegel der Seele sind. Jn ihnen müssen sich alle innere Bewegungen abmalen, man muß sie aber von einer kennbaren Farbe haben, und ihre Leb haftigkeit muß vom weiten zu bemerken seyn, wenn man auf eine empfindliche Art mit dem Gesichte spie len will. Die Bewegungen der Stirne helfen den Bewegungen der Augen sehr. Ein Schauspieler muß durch die Uebung, wenn er die Augenbraunen erhebt, die Stirn leichtlich runzeln, und wenn er sie niederschlägt, den mittlern Theil zwischen den Augen braunen leichtlich falten können. Die gerunzelte Stirn, und die gefaltnen Augenbraunen, und die

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bald rund bald länglich geöffneten Augen sind es, welche die Verschiedenheiten des Ausdrucks anzeigen. Der Theil der Backen, welcher gleich unter den Au gen ist, kann auch durch das Erheben oder Fallen etwas dazu beytragen, allein man muß sich in der Bewegung dieses Theils mäßigen, weil sie sehr leicht gezwungen wird. Der Mund muß niemals als bey dem Lachen bewegt werden: denn diejenigen, die bey betrübten Stellen, wenn sie weinen sollen, die beyden Winkel des Mundes herab hängen lassen, machen ein sehr häßliches und unedles Gesicht. Alle diese Arten des Ausdrucks müssen während des Redens angewendet werden; gleichwohl habe ich ihrer nicht eher als bey dem stummen Spiele gedacht, weil sie der vornehmste Theil davon sind und die größte Schönheit davon ausmachen. Der Leib bewegt sich bey diesen Gelegenheiten auch, und trägt das seine zum Ausdrucke sowohl als das Gesichte bey; doch muß man bey dem stummen Spiele seine Bewegun gen sehr mäßigen. Allzu deutliche und allzu ofte Ge stus sind bey einem Schauspieler, wenn er nicht redt, nicht nur lächerlich, sondern verringern auch die Auf merksamkeit, die der Zuschauer auf den, der mit ihm spricht, haben soll, welches in dem Verfolg der Scene viel schadet. Man muß niemals unempfindlich ge gen das, was man höret, scheinen, besonders wenn es uns angeht; allein man muß auch niemals vergessen, daß die Person, welche redt, jetzo die herrschende Person auf der Bühne ist, und daß diejenigen, die ihr zuhören, ihr untergeben sind, so wichtig als auch der Charakter, den sie vorstellen, sonst seyn mag. Man sieht, daß viel Schauspieler wider diesen Grundsatz

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verstoßen, besonders diejenigen, welche die niedrigko mischen Rollen haben. Die Begierde so lustig zu seyn, als nur immer möglich ist, verführet sie bey ih rem Stillschweigen zu Gebährden, die oft widerfin nisch, allezeit aber übel angebracht sind, und deren Lä cherlichkeit einige von den Zuschauern zwar vergnügt, Leuten von Geschmack aber zuwider ist.
Die Uebereinstimmung. [] Die Uebereinstimmung, die sich in dem Spiele und in den Reden aller derer, die zu gleicher Zeit auf der Bühne sind, befinden muß, erfodert ein gutes Ge hör und viel Stärke auf dem Theater. Verschiedne Schauspieler, wovon gemeiniglich jeder einen beson dern Charakter hat, und deren Stellung niemals ei nerley ist, müssen gleichwohl in ihrem Spiele eine ge wisse Gleichheit beobachten, damit sie weder den Oh ren noch den Augen der Zuschauer uneins, und also unangenehm werden. Man kann sie den Tonkünst lern vergleichen, welche einerley Stück nach unter schiedenen Partien singen; jeder hat seine besondern Töne, alle aber zusammen machen eine einzige Har monie. [] Die Art wie das Ohr einen Schauspieler zu dieser Uebereinstimmung, von welcher ich rede, leiten kann, ist diese. Wenn ein Schauspieler seine Rede ge schlossen hat, so muß der, welcher nach ihm redet, in eben dem Tone anfangen, worinne der andre geschlos sen hat. Wann die Schauspieler, die sich auf der Bühne befinden, gleich gut sind, so stimmen sie leicht mit einander überein, weil jeder, wenn er seine Rede schließt, den Ton seines Nachfolgers selbst angiebt.

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Wenn man aber mit einem zusammen kommt, der den gehörigen Ton verläßt, und uns weit von dem wegführet, worinne wir natürlicher Weise anfangen sollten, so müssen wir gleichwohl unumgänglich in seinen Ton fallen, er mag nun so übel seyn als er im mer will; nach und nach aber muß man das Ohr wieder zu dem Tone bringen, welchen die Sache er fodert. Eben diese Uebereinstimmung muß man auch unter den Bewegungen aller Schauspieler beob achten. Eine natürliche Aufmerksamkeit macht die Sache ungemein leicht. Es darf nur jeder die Stel lung, in der er sich in Ansehung der andern be findet, untersuchen; ob er Ansehen oder Ehrfurcht zeigen soll, ob er den, welcher redt, kühn ansehen darf, oder ob er seine Blicke vermeiden muß? Die Be wegungen des einen müssen die Bewegungen des an dern hervorbringen, und alle müssen sich genau in der Stellung erhalten, in welche sie die Scene setzet. Schauspieler, die, wenn sie nicht reden, ganz unbe weglich bleiben, und sich nicht eher rühren, als wenn sie sprechen; und die, welche mit einer mäßigen Stel lung ihre Blicke aus einem Winkel in den andern schi cken, werden niemals zu dieser Uebereinstimmung ge langen, sondern durch ihre Nächläßigkeit ihr vielmehr schaden. Alle Schauspieler müssen sich gemeinschaft lich bemühen, die Stärke des Ausdrucks dessen, wel cher redt, zu vermehren; und wann sie gehörig an den Augen des Zuschauers Theil nehmen, so helfen sie nicht wenig, ihn zu betriegen.
Das Theaterspiel. [] Manchmal schweigen alle Schauspieler zugleich zu

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einer Zeit, und geben nur durch ihre Bewegungen zu erkennen, was in ihnen vorgeht oder was sie für ein Anschlag beschäfftiget. Dieses nun ist das Thea terspiel, wovon man so viel redt, und welches doch sehr selten ausgeübet wird. Es hat keine Gränzen außer die, welche ihr die Sache selbst vorschreibet. So lange als man was neues ausdrücken kann, das mit der Stellung überein kömmt, so lange kann man das Theaterspiel ohne Bedenklichkeit dauren lassen. Man kann seinen Platz verlassen, einen andern Schau spieler welcher weit entfernt ist, aufzusuchen, man kann die ganze Ordnung, womit sich die Scene an gefangen hat, umkehren; alles das ist gut, wenn nur die Bewegung in beständiger Hitze bleibt, ein einzi ger frostiger Augenblick aber verdirbt alles. [] Hieraus entsteht das Spiel der Pantomimen, das man bis jetzo nur ein wenig ausgeputzt, und welches ungleich weiter könnte getrieben werden, da gegen aber unsägliche Bemühungen erfodern wür de. Jch will nur demjenigen, der sich etwa darauf zu legen Lust haben sollte, dieses sagen, daß der Panto mime mit den Augen nur die Stellung anzeigen, und also nichts als Empfindungen ausdrücken kann. Al les übrige muß mit der Stimme nachgeholet werden. Wenn sich also der Pantomime ihrer nicht bedienen soll, so fallen alle Erklärungen, Erzählungen und Betrachtungen weg, und er muß von Anfange bis zum Ende nur immer aus einer Stellung in die an dere kommen; das aber macht die Verfertigung von dergleichen Stücken ungemein schwer. [] Dieses nun, Madame, sind die bekanntesten Theile der Schauspielkunst. Jch habe sie für eine Person

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von Jhrem Verstande nur allzuweitläuftig ausein ander gesetzt. Jch will nunmehr von denjenigen Theilen reden, welche nur von den Schauspielern be merket werden, und wovon der Zuschauer nichts als die Wirkung empfindet. Es sind zwey wichtige Stücke, wovon man sich meistentheils falsche Begriffe macht, die Zeit und das Feuer.
Die Zeit. [] Die Zeit begreift die genaue Beobachtung des Au genblicks, da man reden soll, und des Zwischenraums, den man in seinen Reden lassen muß, damit man dem Zuschauer Zeit giebt sich zu erholen, neue Eindrücke anzunehmen, und die verschiedenen Empfindungen zu bemerken, welche eine Rolle nach und nach haben kann. Diejenigen, welche bloß mechanisch spielen, beobach ten diese Zwischenräume niemals; und diejenigen, welche bloß nachahmen, beobachten sie oft zu ungele gener Zeit; andre aber misbrauchen sie durch die allzu öftere Beobachtung, welches ihrem Spiele die allerunangenehmste Monotonie giebt. Die Regel, hierinn nicht zu irren, ist diese. Wenn man dem, der jetzt ausgeredt hat, antworten soll, so untersuche man, ob das, was man sagen soll, von der Beschaf fenheit ist, daß uns eine plötzliche Bewegung, die seine Rede in unserer Seele ohne Vorbereitung her vorgebracht hat, darzu Gelegenheit giebt. Je plötz licher diese Bewegung seyn soll, je nothwendiger ist der Zwischenraum vor der Antwort. Denn wenn wir durch eine unvermuthete Empfindung überfallen werden, so fühlt sich die Seele plötzlich von einer Menge Jdeen erfüllt, die sie aber nicht eben so plötzlich unterscheiden kann. Sie ist also einige Augenbli

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cke ungewiß, welcher sie folgen soll; endlich reißt uns die Jdee, welche die Oberhand bekömmt, mit sich fort, die übrigen verschwinden alle, und wir drücken die nun herrschende Empfindung mit aller Stärke aus. Bey dieser Gelegenheit fällt die Zeit am meisten in die Augen, und ist durchaus nothwendig. Es giebt noch andre, wo man sie gleichfalls anwenden muß: wenn nämlich die Antwort, die wir geben müssen, nichts als die Frucht der Ueberlegung seyn kann; wenn wir durch die Empfindung zwar augenblicks bestimmt, von der Vernunft aber, die uns dem ersten Eindrucke nur nach und nach überläßt, zurück gehalten werden, oder die Empfindung gar durch die Gewalt, die wir uns anthun, gänzlich unterdrücken. Wir wollen den Grundsatz durch Exempel deutlicher zu machen suchen. [] Ein sehr merkliches giebt uns Achilles in dem sech sten Auftritte des vierten Aufzugs der Jphigenia an die Hand. Agamemnon giebt ihm solche hochmü thige Reden, daß sie den jungen Held nothwendig be leidigen und zu dem heftigsten Zorne bringen müssen. Er unterdrückt ihn aber doch, so viel es einem Men schen von seinem Charakter möglich ist. Er ant wortet ihm nicht plötzlich, sondern hält lange Zeit zurück, endlich bricht er sein Stillschweigen, und in dem er die Zeilen
Rendez graces au seul noeud qui retient ma colere etc. sagt, so hält er bey jedem Worte etwas inne, den Kampf seines Zornes und seiner Ueberlegung auszu drücken: endlich aber reißt ihn der Zorn mit sich fort. Man irrt aber meistentheils in dem Ausdrucke dieser Stelle. Jch habe gesehen, daß einige Schauspieler

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die ersten zwey Verse mit einer schwachen Stimme aussprachen, in den folgenden aber die Stimme erho ben, und mit sehr starkem Tone schlossen. [] Will man aber Empfindung und Charakter wohl ausdrücken, so muß der Schauspieler auf eine Art spielen, die der erwähnten gerade entgegen ist. Jn einem wirklich unerschrocknen Menschen bringt der äußerste Zorn eine vollkommene Ruhe hervor. Die wahre Eigenschaft des Muths ist, daß er den äußer sten Entschluß ohne die geringste Furchtsamkeit, die ihn wankend machen könnte, ergreift, und dabey ist er ganz gelassen. Achilles muß also die zwey letzten Verse
Pour parvenir au coeur que vous voulez percer,
Voila par quel chemin vos coups doivent passer. mit schwacher Stimme aber mit einem recht zuver sichtlichen Ansehen sagen. [] Man muß betrachten, daß er ihm den Zweykampf mit diesen Worten vorschlägt, diesen Vorschlag aber thut man einem Menschen, welcher Hochachtung ver dienet, niemals mit Geschrey. Die stolzen Aufwerfun gen des Kopfes also, womit man diese letzten Worte meistentheils begleitet, sind dem Edeln und der Wahr heit der Stellung durchaus zuwider. Es ist ein stum mes Spiel, welches sehr lächerlich und übel ange bracht ist. Allein, es ist am Ende eines wichtigen Auftritts, man wollte gern, daß die Zuschauer klatsch ten, wenn man aber auf die Art, wie ich es verlan ge, spielte, so könnte es leicht geschehen, daß sie es unterließen: denn die Zuschauer sind gewohnt, es an

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ders vorstellen zu sehen, und glauben also gewiß, daß es so recht sey. [] Wir wollen auf die Zeit zurück kommen und die übrigen Fälle betrachten, wo die Zwischenräume noth wendig sind. Wenn wir wollen, daß derjenige, mit welchem wir reden, auf das, was wir sagen, wohl Acht haben, oder unsre Gründe gut befinden, oder gewisse Eindrücke annehmen soll, so müssen wir die unterschiednen Jdeen, die wir ihm vorstellen, durch merkliche Zwischenräume unterscheiden. Wir geben dadurch seiner Vernunft Zeit, alle unsre Worte ab zuwiegen, und wir erleichtern uns selbst die Mittel den Ausdruck nach und nach zu verstärken, bis wir auf den Punkt der Ueberzeugung gelangen. Jch will der Augenblicke nicht erwähnen, wo das Herz unent schließig ist, welcher Empfindung es sich überlassen soll, und nach und nach aus einer Bewegung in die andre verfällt, welche gar keine Verbindung haben; jedermann weis genugsam, daß dergleichen Stellen mit vieler Zeit müssen vorgetragen werden. Nur auf einen Punkt muß man wohl dabey Acht haben, welches auch der wichtigste ist. Wenn der Zwischen raum allzu kurz ist, so macht er keinen Eindruck; ist er allzu lang, so schwächt er die Empfindung, die wir in den Zuschauern erweckt haben, und genau unter halten müssen. Wir müssen also eine sehr feine Em pfindlichkeit anwenden, dem Zwischenraume seine ge hörige Größe zu geben. Wir müssen dem Zuschauer Zeit lassen, das was wir gesagt, genau einzusehen, damit ihn die Folge aufmerksam mache, aber nie mals so viel Zeit, daß er sich des Betrugs erinnern kann. Vor allen Dingen müssen wir die Zeit nur

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am gehörigen Orte anwenden, damit sie dem Zuhö rer nicht allzu gewöhnlich werde, und den Eindruck verliere.
Das Feuer. [] Das was die Schauspieler das Feuer nennen, ist gleich das Gegentheil von der Zeit. Es ist eine außer ordentliche Lebhaftigkeit, eine Schnelligkeit im Reden und eine mehr als gewöhnliche Hurtigkeit in den Be wegungen. Diese Art zu spielen ist manchmal noth wendig, und kann gar sehr bewegen, wenn sie an ih rer gehörigen Stelle ist. Die Stellungen, wo uns eine Leidenschaft gewaltsam herum treibt, sind dieje nigen, die oft dazu Gelegenheit geben. Der gesunde Verstand zeigt es allzu deutlich, wo sich dieses Feuer hinschicket; ich kann also einer umständlichen Aus einandersetzung überhoben seyn. Jch will nur erklä ren, wie dieses Feuer oft übel kann angebracht seyn, und wie oft das, was man Feuer nennt, nichts als ein lä cherlicher Muthwille ist. [] Wenn unsre Seele so heftig bewegt ist, daß sie der Ueberlegung gar keinen Platz verstattet, und also ihrer selbst nicht mehr Meister ist, alsdann muß man schnell reden, sich geschwinde bewegen, den andern keine Zeit uns zu antworten lassen, und nicht die ge ringste Ordnung in den Bewegungen mehr beobach ten. Sie werden leicht einsehen, Madame, was ich für einen großen Unterschied unter dem Feuer, und einem lebhaften und starken Ausdrucke mache. Denn wenn man die Gelegenheiten, wovon ich geredt habe, ausnimmt, so ist es allezeit mit Hülfe der Zeit, daß man sich am stärksten ausdrückt. Aus diesem Feuer,

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welches wohl angewandt sehr gute Wirkungen thut, ist ein Fehler entstanden, der nun schon seit langer Zeit sehr gebräuchlich ist, nämlich der übermäßige Gebrauch des Schnatterns. Wenn man eine lange Rede zu sagen hat, so glaubt man es ganz vortrefflich schön zu machen, wenn man es sehr geschwinde thut; man sucht durch diese Fertigkeit der Zunge den Zuschauer zu blenden, und oft läßt er sich auch dadurch blenden. Jch habe diesen Gebrauch niemals gebilliget. Wenn eine Stelle mit merkwürdigen Sachen erfüllt ist, so müssen wir unsern Zuhörern genugsame Zeit alles wohl zu bemerken lassen. Wenn sie aber nicht sent hält als eine Menge Worte ohne Gedanken, so kann man den Verfasser bitten sie zu verkürzen. Jch ver lange gar nicht, daß das Waschhafte gänzlich von dem Theater solle geschafft werden; es giebt Gele genheiten, wo es sich sehr wohl schickt; allein sie sind ungemein selten; und viele Reden, welche man mit solcher Eilfertigkeit herausstößt, würden den Oh ren eines zärtlichen Zuhörers, welcher gern alles hören will, weit angenehmer klingen, wenn man sie langsamer sagte. Die angehenden Schauspieler ha ben manchmal gar zu viel Feuer, und eben dieses macht sie frostig. Sie wollen gern alles ausdrü cken, aus Mangel der Uebung aber nehmen sie die Heftigkeit und Uebereilung für die Stärke.
Die Wahl. [] Mein Vater sagt in seinem italienischen Gedichte, von der Vorstellungskunst, daß sich jeder, welcher in einer Komödie spielen wolle, genau an die Rollen

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halten müsse, die mit seinem Naturelle, besonders aber, die mit seiner Figur und Stimme überein kom men. Dieser Grundsatz ist allzuweise, als daß ich mich im geringsten davon entfernen sollte: denn ich will mir nicht in Sinn kommen lassen zu behaupten, daß alle Schauspieler von einer schönen Gestalt und angenehmen Stimme seyn müssen. Bey denen, welche tragische und hohe komische Rollen spielen wollen, ist es zwar wahr, in Ansehung der komischen Rollen überhaupt aber kann nichts falscher seyn. Zu der Rolle des Nicolle im bürgerlichen Edelmanne, der Martine in den gelehrten Weibern, und hundert andern wird sich die Gestalt einer groben Bäuerinn weit besser schicken, als die Gestalt einer zärtlichen Nymphe, und eine harte Sprache wird weit anstän diger seyn, als eine weiche. Eben so ist es mit den Rollen der Alten, der Bauern, der lächerlichen Vä ter und so gar der Bedienten. Ein Mensch von ei ner zärtlichen und feinen Gestalt, von einer biegsa men Stimme, und besonders von einer edeln Ge sichtsbildung wird bey dergleichen Charakteren be ständig der Wahrheit und dem Lustigen seiner Per son Schaden thun. Kurz, Mons. Guillaume muß eine schwerfällige Gestalt haben, und Thomas Dia phoirus muß ein dummes Ansehen haben, beydes aber ist keine Schönheit. [] Nachdem wir die unterschiedenen Punkte durchge gangen sind, welche die Theorie des Theaters in sich schließen, so ist noch übrig, daß ich Jhnen, Madame, die Mittel zeige, wie Sie nach und nach zu der Ausü bung gelangen können. Man muß Schritt vor Schritt gehen, und viel Schauspiele sind aus keiner andern

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Ursache zurück geblieben, als weil sie allzu hurtig ge hen wollten. Die Kunst wohl zu reden ist der erste Schritt zum Theater; und die Kunst alles auszudrü cken ist die Staffel der Vollkommenheit. Dieses ist die Methode, die ich gebraucht habe, wenn ich jeman den Rath in Erlernung dieser Kunst habe ertheilen sollen. Ungeduldigen scheint sie allzu langwierig zu seyn, ich glaube aber nicht, daß man eine genauere und nützlichere finden könne.
Der Ton in der Stube. [] Anfangs muß man sich ein Stück zu lesen gewöh nen, wie man es in einem Zimmer, unter guten Freunden, lesen muß. Die Gabe wohl zu lesen ist nicht sehr gemein. Die Eigenschaften davon sind diese. Wenn man alleine ist, so lieset man Be trachtungen selbst zu machen, lieset man aber vor an dern, so geschieht es ihnen Betrachtungen machen zu lassen. Die Ueberlegungen und Betrachtungen also sind die vornehmsten Stücke, die sich bey dem beson dern Lesen befinden müssen. Die Bewegung muß auch in den lebhaftesten Stellen wenig Antheil daran haben. Man muß sie zwar so lesen, daß man sie merke, niemals aber bis zu dem starken Ausdrucke treiben, welcher bey dem Stillschweigen allezeit hart und oft lächerlich wird. Diese Art zu lesen gewöhnt die Stimme, sich in den Jntervallen, die nicht weit von einander sind, mit Gleichheit zu erhalten.
Der Ton in der Akademie. [] Von diesem muß man sich an einen etwas be stimmtern Ton machen, und eben dieses Stück so zu

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lesen lernen, wie es sich in einer öffentlichen Ver sammlung der Akademie schicken würde. Mit die ser Art von Lesen muß gleichfalls noch größtentheils die Ueberlegung verbunden seyn. Sie muß nichts von der vorigen voraus haben, als eine bestimmte Weise die Zierlichkeit der Schreibart, die artigen Wendun gen und die glückliche Wahl der Wörter merken zu lassen. Die Stimme muß dabey weit heller seyn, weil man voraus setzt, daß sie in einem weit größern Saale, und vor einer weit zahlreichern Versamm lung solle verstanden werden. Die Aussprache muß sich in der größten Annehmlichkeit und der vollkom mensten Richtigkeit erhalten.
Der Ton vor Gerichte. [] Nunmehr sind wir geschickt uns an den Ton vor Gerichte zu machen. Hier fängt der Ausdruck an eine gewisse Stärke zu bekommen; doch muß sie noch sehr gemäßiget seyn. Der Advocat vertritt bey dem Richter in einigen Stücken die Stelle seines Clien ten; er redt mit ehrwürdigen Männern, welche sein Schicksal entscheiden sollen; die Ueberredung ist sein vornehmster Endzweck, und der bewegliche Ton ist der sicherste Weg darzu. Er muß also seine Grün de mit Stärke aber ohne Stolz vorbringen; er muß bey der Erzählung viel Sorgfalt anwenden, damit man an seinen Schilderungen Antheil nehme; er muß beweglich reden, in so weit er ein Mensch, nicht in so fern er die Partey ist. Hierdurch wird sein Ausdruck edel und zugleich unverdächtig. Wenn man sich in diesem Tone übet, so werden einem her

I. Die Schauspielkunst.

nach die einschmeichelnden Stellen sehr leichte fallen.
Der Ton auf der Kanzel. [] Die Kanzel steiget viel weiter. Sie hat einen hohen und befehlerischen Ton. Der heilige Redner befindet sich in dem Augenblicke, da er spricht, in einer Stellung, die ihn weit über alle seine Zuhörer setzt. Er handelt von den verehrungswürdigsten Sachen, er muß also allezeit die Ehrfurcht, die sie verdienen, zu erwecken suchen. Wenn er Rath er theilt, so thut er es als Herr; wenn er sich erweicht, so geschieht es nur aus Mitleiden. Diese Art zu re den führt zur Größe und zum Majestätischen. Sie steigt bis zur größten Stärke, und von dieser Art steht ihr alles auch so gar die Entzückung an.
Der Ton auf der Bühne. [] Die Bühne vereinigt alle diese verschiedne Töne, und setzt noch etwas mehreres hinzu, nämlich den Ausdruck seiner eignen Empfindung. Der Leser hat das Werk nicht verfertiget, welches er lieset, der Aka demicus ist kein Lehrer derer, die ihm zuhören, der Advocat selbst hat keinen Proceß, der heilige Redner ist nichts als ein Mensch, der Schauspieler aber ist die Person selber, wie sie in der oder jeder Stellung sich befindet; alles was er sagt, muß die geschwinde Verrichtung seiner Seele zu seyn scheinen. Wenn man dieser Ordnung also, die ich vorgeschrieben ha be, in seinen theatralischen Uebungen folgt, so kann man es dahin bringen, daß man alles auszudrücken

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fähig ist, man mag sich in einer Stellung befinden, in welcher man will. [] Jch würde alles gesagt zu haben glauben, wenn es möglich wäre, daß es ein Mensch in seiner Kunst könne so weit gebracht haben, daß er alles gesehen hätte; so weit aber schmeichle ich mir nicht gekom men zu seyn: die ganze Schauspielkunst ist in wenig Grundsätze eingeschlossen. Man muß allezeit die Natur nachahmen. Das Gezwungene ist der größte von allen Fehlern, ob es gleich der gemeinste ist. Der Geschmack allein muß uns in den engen Gränzen der Wahrheit erhalten. [] Alles, was ich bisher geschrieben habe, sollen Jh nen bloß die Mittel erleichtern, diese Gränzen wohl zu unterscheiden: alles übrige, Madame, kann Jhr Verstand allein bewerkstel ligen.
1 * Die Ordnung, der ich folgen werde, ist eben dieje nige, nach welcher ein Schauspieler seine Kunst er lernen muß.
2 * Jch weis, daß ich in diesem Punkte ganz anderer Mey nung als mein Vater bin, wie man aus seinen Ge danken über die Declamation ersehen kann. Die Hoch achtung, die ich seinen Aussprüchen schuldig bin, in dem ich ihn für meinen Meister in der Kunst des Theaters erkennen muß, überzeuget mich genugsam, daß ich unrecht habe; ich habe aber doch geglaubt, daß meine Betrachtung, sie mag nun wahr oder falsch seyn, dem Leser nützlich seyn könne.

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