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Eine Geschichte
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Monat August 1751.

Eine Geschichte.

[] In einer von den Inseln, welche der Stadt Hieres in der Provence gegenüber liegen, sieht man zwischen den Felsen ein kleines aber altes Schloß, am Rande des Meeres, wovon die Beschreibung in einer spanischen Roman wenigstens zwanzig Seiten einzunehmen verdiente. Auch ich würde dieses Blat damit auszuschmücken nicht vergessen, und der gothischen Baukunst alle Kunstwörter, wann sie anders welche hat, abborgen, wenn ich nicht die Ungeduld meiner Leser befürchten müßte. Der Deutsche geht gerne seinen geraden Weg. Ich will also nur einer Allee von Pommeranzenbäumen gedenken, welche in diesen Inseln sehr häuffig sind. In dieser Allee war es, wo, im Monate September vergangenen Jahres, zwey Schwestern spatziren gingen, deren Vater dieses einsiedlerische Schloß besitzt. [] Die älteste von diesen zwey Schwestern ist schön; die jüngste ist sehr artig; die eine erweckt Bewunderung, die andre Liebe. Die älteste, welche ich Lucile nennen will, liebt das Abentheuerliche; Marianne ihre jüngere Schwester begnügt sich natürlich und aufgeweckt zu seyn, womit sie ein gutes Herz und viel Verstand verbindet. Lucile hat auch Verstand; zu viel spröde Gesinnung und Eigenliebe aber, andre ausser sich zu lieben. Marianne liebte ihre Schwester zärtlich, die sich gleichwohl, aus Stolz, eine Art von Herrschaft über sie anmaßte, welche ernsthafte Frauenzimmer über aufgeweckte zu haben vermeinen. Lucilenäherte sich mit langsamen Schritten dem Ufer des Meeres. Sie war seit einigen Tagen traurig. Marianne zog sie damit auf, daß sie der Vater, aus eigennützigen Absichten, an einen benachbarten Edelmann, welcher weder jung noch liebenswürdig war, verheyrathen wollte. Diese Heyrath ist gar nicht für dich, sagt Marianne scherzend zu ihr. Du bist gebohren, am Ende eines Romans, einen Cyrus oder einen Orondates zu heyrathen. [] In der That war die Denkungsart der Lucile ziemlich romanen-mäßig; eine Schwachheit, von der man seit langer Zeit bey Hofe und in der Stadt nichts mehr weiß, und die man in wüste Schlösser verbannt hat, wie dasjenige war, welches Lucile bewohnte, wo die Romanen die einzige Gesellschaft sind. Sie hatte eben die Geschichte von Leander und Hero in der Hand, worinne sie verschiedene Stellen fand, die sehr wohl zu den Ideen paßten, womit sie sich beschäftigte. Nachdem sie ihre Augen ziemlich lange auf dem Meere hatte herumschweiffen lassen, fiel sie in ein tieffes Nachdenken. Marianne fragte sie um die Ursache; sie antwortete mit Seufzern. Doch Marianne drang so lange in sie, bis sie sich entschloß, das Stillschweigen zu brechen. Anfangs ließ sie sich, ungeachtet ihres natürlichen Stolzes, soweit herab, daß sie ihre Schwester umarmte, und recht aufrichtig umarmte; denn sie liebte alle diejenigen sehr zärtlich, die sie nöthig hatte. Hierauf reichte sie ihr, mit einer kostbaren Gebehrde, das Buch und sagte: da hier! lies, lies einmal die Unruhen und Verwirrungen der zärtlichen Hero, worinne sie ihren geliebten Leander, welcher durchs Meer zu ihr schwimmen soll, auf dem Thurme erwartet. Ich brauche das Buch nicht, versetzte Marianne, um zu wissen, daß du, wie Hero, einen geliebten Leander erwartest. Die Anverwandte dieses Leanders, hat mir dein Abentheuer erzählt; ich that aber aus Vorsichtigkeit und Hochachtung gegen meine ältere Schwester, als ob ich es nicht wüßte. Ich weiß, daß, als er diese Insul, woselbst er vor einigen Monaten ankam, verließ, er dir zurückzukommen, und bey unserm Vater um dich anzuhalten, versprach. [] Als Lucile sahe, daß sie schon um die Sache wußte, so machte sie ihr länger aus ihrer Liebe kein Geheimniß, aus der Liebe nemlich, die sie zu haben glaubte; denn der Stand und das Vermögen ihres Leanders hatte sie weit mehr gerührt, als sein Verdienst. Allein sie liebte grosse Gesinnungen; sie strebte darnach, und brachte es endlich dahin, daß sie sich etwas wirklich zu fühlen überredte, was sie sich nur einbildete. Sie hatte nichts als poetische Bilder von der Liebe im Kopfe, und predigte Mariannen alles vor, was man nur möglicher Weise von der schönsten Leidenschaft schönes sagen kan. [] Zur Sache, antwortete Marianne: Leander ist sehr reich; der Gemahl, dem dich mein Vater bestimmt, ist es eben
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nicht. Ich will ihn heyrathen, dir die Freyheit zu lassen, den andren heyrathen zu können. Ich will unsern Vater schon dahin bringen.
[] Der Vater war ein guter Dorfjuncker, dem die Geartheit der Marianne gefiel; daher er sie weit mehr als die ältere Tochter liebte. Bey Tische besonders pflegte der gute Alte, welcher eben so empfindlich für den Wein als für das muntre Wesen seiner jüngern Tochter war, die häuslichen Angelegenheiten mit ihr abzuthun. Gleichwohl hatte sie Mühe von ihrem Vater, welcher sich ein Bedencken machte, das Recht der Erstgeburt nicht zu beobachten, die Einwilligung zur Heyrath, vor ihrer älteren Schwester, zu erhalten. Es mußte Lucile dieses Recht schriftlich an Mariannen abtreten, und da Lucile die wahrhafte Ursache ihrem Vater nicht entdecken wollte, so sagte sie nur: sie empfände, ich weiß nicht was für eine Antipathie gegen den Gemahl, welchen sie ihrer Schwester abgetreten. Man machte sich nicht wenig über diesen mit dem Rechte der Erstgeburth abgetretenen Liebsten lustig. Der ehrliche Vater tranck auf die Gesundheit der neuen erstgebohrnen Marianne. Die Verbindung ward beschlossen, und der Edelmann, welcher ohnedem Mariannen mehr liebte als Lucilen, willigte darein. [] Beyde Schwestern waren gleich vergnügt. Denn Marianne, die gegen ihr eigen Vortheil ganz gleichgültig war, theilte die Hoffnung eines schimmernden Glücks recht aufrichtig mit ihrer Schwester. Unterdessen verflossen einige Tage, und die Zeit die Leander zu seiner Zurückkunft festgesetzt hatte war bereits verstrichen. Lucile fing an, tödliche Unruhen zu empfinden, und Marianne schob ihre kleine Ausstattung von einem Tage zum andern auf, fest entschlossen sie ihrer Schwester wieder abzutreten, im Fall ihr die andre fehl schlagen sollte. [] Eines Tages befanden sich beyde am Ende eben derselben Allee, aus welcher man auf das offne Meer sehen konnte. Lucile hatte ihre Augen gegen die Reede von Toulon geheftet, von wannen derjenige kommen sollte, der sich nur deßwegen von ihr beurlaubt hatte, die Einwilligung seiner Aeltern in diese Heyrath zu hohlen. Sie war in Traurigkeit versenkt, als sie ein Schiff gewahr ward. Dieser Gegenstand brachte sie ausser sich, als ob kein ander Schiff auf dem Meere seyn könnte, als dasjenige, welches ihren Geliebten zurückbringen sollte. Ihre Freude wurde verdoppelt, als ein Wind, welcher sich erhob, das Schiff gegen
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ihre Insel zu treiben schien. Doch dieser Wind war ihren Wünschen nicht lange günstig. Zwar nahte sich das Schiff mit vieler Geschwindigkeit, plötzlich aber entstand ein so fürchterliches Ungewitter, daß sie die Abgründe für ihren Leander offen sahe. Die romanhafte Lucile würde ohne Zweifel, wenn sie diesen Ort ihrer Geschichte erzählen sollte, sagen, daß die Marter in ihrer Seele nicht weniger stürmisch als auf dem Meere, wo das Schiff untergehen sollte, gewesen sey. [] Nach einigen gefährlichen Stunden, warf ein Windstoß das Schiff an das Ufer, zwischen die Felsen, nicht weit vom Schlosse. Man stelle sich das Vergnügen vor, welches Lucile empfand, als sie ihren Geliebten in Sicherheit sahe. [] Leander sollte sich, bey seiner Zurückkunft, bey einer Nachbarin einfinden, wo die ersten Unterhaltungen vorgefallen waren. Sie war gleich auf dem Schlosse, wohin sich beyde Schwestern in aller Eil begaben, ihr von dem, was sie gesehen hatten, Nachricht zu geben. Dem Vater etwas davon zu sagen, hielten sie noch nicht für gut. Lucile sagte ihm nur, daß sie diese Nacht bey ihrer Nachbarin zubringen wollte, wie sie es schon ofte gethan hatte. Marianne aber blieb zu Hause, ihrem Vater Gesellschaft zu leisten, welcher sich ihrer nicht entschlagen konnte. [] Kaum war Lucile mit der Nachbarin in den Wagen gestiegen, als ein Mensch vom Schiffe kam, und mit dem Herrn des Schlosses zu sprechen verlangte. Dieser Mensch war eine Art eines groben Bedienten, welcher mit einer traurigschrecklichen Erzehlung anfing, wie viel sein junger Herr, während des Sturms, erlitten habe. Mitleiden zu erwecken, ließ er sich ziemlich weitläuftig über alle Eigenschaften aus, die er an ihm wahrgenommen zu haben glaubte, und schloß endlich mit der Bitte um ein Nachtlager für ihn. [] Der Vater, der beste Mann von der Welt, ließ sogleich die Fackeln anzünden, weil es bey nahe Nacht war. Er wollte sich selbst an das Ufer begeben wohin ihm Marianne, aus Neugierde den Liebsten ihrer Schwester zu sehen, folgte. Sie zweifelte nicht, daß er den Sturm nur zum Vorwande brauche, unbekannter weise in das Schloß zu kommen, wo er Lucilen schleuniger zu sehen hoffen konnte als bey seiner Anverwandtin. [] Indem sie auf das Ufer zugingen, wurden sie bey dem Schimmer andrer Fackeln auf einem Wege zwischen den Felsen verschiedne Bediente gewahr, die sich um ihren Herrn, welcher eben das Schiff verlassen hatte,
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beschäftigten. Er war, weil er allzuviel Ungemach in dem Sturme ausgestanden hatte, in eine Art einer Ohnmacht gefallen. Mariannebetrachtete ihn sehr aufmerksam, sie bewunderte seine Schönheit, und bewunderte sie so sehr, daß sie endlich anfing ihrer Schwester einen solchen Liebhaber zu mißgönnen. Unterdessen kam er wieder zu sich. Kaum warf er die Augen auf Mariannen, als sein Übel auf einmal verschwand, und er nichts, als das Vergnügen sie zu sehen, fühlte. [] Man bewundre hier die verschiednen Wirkungen der Liebe. Auf einmal ist die natürliche Lebhaftigkeit der Marianne von einer hervorbrechendenLeidenschaft erstickt, da unterdessen ein fast toder Mensch durch ein Feuer, dessen Heftigkeit er bey dem ersten Anblicke fühlte, neu belebt wird. Nie ist eine Leidenschaft in ihrer Geburth so lebhaft gewesen. Wie ist es aber möglich, wird man sagen, daß dieser Leander, welchen eine ganz andre Neigung über das Meer zu Lucilen führte, den Augenblick so empfindlich gegen Mariannen seyn sollte? Noch ist es nicht Zeit auf diese Frage zu antworten. Man bilde sich bloß einen Menschen ein, den nichts als die Liebe beseelt. Seine Augen waren auf Mariannen geheftet, welche die ihren zur Erde niedergeschlagen hatte. Beyde waren stum und der Vater allein führte die Unterredung, doch ohne die Ursache ihres Stillschweigens zu vermuthen. Endlich kommen sie auf dem Schlosse an, wo Marianne sogleich alle ihre Sorgfalt sehen läßt. Sie läuft, sie ordnet an, und ist mit einem Eifer um ihren liebenswürdigen Gast besorgt, den sie bis jezo nur einer zärtlichen Gastfreyheit zuschreibt. Der Vater befahl, die Lucile auf das schleunigste nach Hause kommen zu lassen, seinem neuen Gaste die Gesellschaft noch angenehmer zu machen, welchen man unterdessen mit seinen Bedienten in einem Zimmer alleine gelassen hatte. [] Man gab der Lucile bey ihrer Nachbarin davon Nachricht. Sie kam auf das schleunigste. Sie war ausser sich vor Freuden. Marianne aber fing an, verdrüßlich zu werden. Dieses gute Mädchen hatte ihre Liebe schon gemerckt; sie schämte sich die Mitbuhlerin ihrer Schwester zu seyn, und faßte in dem Augenblicke den festen Entschluß, eine Leidenschaft zu unterdrücken, welche ihren tugendhaften Gesinnungen so sehr zuwieder war. Sie lief der Lucile entgegen, sie wünschte ihr aufrichtig Glück, sie lobte den neu angekommnen, sie übertrieb alles, was sie angenehmes in seiner Gesichtsbildung und in seinem Bezeigen bemerkt hatte, und indem sie
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sich unmerklich dem Vergnügen ihn zu loben überließ, so macht sie ihr eine so lebhafte Beschreibung von ihm, daß sie sich ihn selbst noch tieffer in das Herz drückte, als er schon darinne war. Sie schloß ihre Lobeserhebung mit einem Seufzer und der Ausruffung: ach Schwester, wie glücklich bist du! Auf einmal kam ihre Überlegung wieder. Sie blieb stum und verwirrt, und erstaunte, daß sie sich noch verliebt fand, da sie doch beschlossen hatte, es nicht länger zu seyn. [] Lucile machte unterdessen, bis Leander erschien, eine Menge romanenhafte Betrachtungen, über die Besonderheit dieses Abentheuers. Das geheimnißvolle Verfahren dieses Liebhabers von dem feinsten Geschmacke, sagte sie, bezaubert mich. Er that in Gegenwart meines Vaters als ob er auf dem Wege in Ohnmacht fiel, damit er einen Vorwand, unbekannter Weise herzukommen, und mich angenehm zu überraschen, haben möge. Ich will ihm, aus gleicher Feinheit des Geschmacks, das Vergnügen lassen, zu glauben, daß er mich überrascht habe. Ich will so bald er sich sehen läßt, ein außerordentliches Erstaunen annehmen, den angenehmsten Gegenstand - - - Hier ward Lucile von einem Bedienten unterbrochen, welcher ihr meldete, daß das Abendessen bereit sey. Die beyden Schwestern traten zu der einen Thüre in den Saal, indem der Vater mit dem angenehmesten Gegenstande zu der andern hinein kam. Dieser ging auf sie loß, Lucilen seine Ergebenheit zu bezeigen. Sobald sie ihn sah, that sie einen Schrey, und blieb unbewegt, ob sie gleich versprochen hatte zu thun als ob sie erstaunt wäre. Marianne fand die Verstellung ein wenig zu übertrieben; der Vater aber gab nicht darauf Acht, weil er auf gar nichts Acht gab, so ein guter Vater war er.Lucile war in der That sehr erstaunt. Und wie sollte sie es nicht seyn? Der Unbekannte, war ihr erwarteter Leander nicht. Es war ein junger Kaufmann, den aber seine Bildung und Gestalt eben so liebenswürdig als den artigsten jungen Herrn machten. Er war sehr reich und brachte auf seinem Schiffe aus Indien sehr viel Waren mit. Ein widriger Wind hatte ihn überfallen, als er in die Reede zu Toulon einzulauffen glaubte, und hatte ihn, wie wir gesehen haben, auf diese Insel verschlagen. [] Der junge Liebhaber setzte sich mit dem Vater und den zwey Töchtern zu Tische. Die Abendmahlzeit war nicht allzu munter. Nur
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der Vater war völlig zufrieden, und also der einzige, welcher redte. Der Kaufmann, welcher von dem Schiffbruche, noch mehr aber von seiner neuen Liebe betäubt war, antwortete blos mit Höflichkeitsbezeigungen. Das wunderbareste dabey ist, daß in ganzen zwey Stunden, die man bey Tische zubrachte, weder der Vater noch die Töchter seine Liebe merkten. Lucile, welche diesen falschen Leander nicht ohne Betrübniß ansehen konnte, schlug beständig die Augen nieder; und Marianne, die es sich selbst abgemerkt hatte, daß sie ihn nur allzugerne ansähe, wolte sich damit bestraffen, daß sie ihn nur verstohlner Weise ansahe. Was den Vater aber anbelangte, so wäre er eher, ich weiß nicht auf was, als auf eine so schleunige und heftige Liebe gefallen. [] Man muß hier nicht vergessen, daß der Vater, welcher ein vollkommener Schmauser war, den Gast ohne Unterlaß zum Trincken, und seine Töchter, ihn aufgeräumt zu machen, ermunterte. "Wo<Wo> ist deine Munterkeit geblieben? sagte er zu Mariannen. So gleich zwang sie sich munter zu seyn. Weil aber die Scherze sich nicht gerne freywillig denjenigen darbieten, welche sie suchen, so betraf der erste, welcher ihr beyfiel, das Recht der Erstgeburth, welches seit einiger Zeit der Stoff aller ihrer Unterhaltungen gewesen war. Ich wundre mich sehr, sagte Marianne zu ihrem Vater, daß Sie von mir verlangen lustig zu seyn, da ich doch ernsthaft seyn muß. Die Ernsthaftigkeit kömmt mir, als der ältesten Schwester zu, und die Munterkeit ist für die jüngere. Der Kaufmann schloß natürlicher Weise daraus, daß Marianne die älteste sey. Diesen Umstand merke man. Nachdem man ihn endlich auf das beste bewirthet hatte, so führte ihn der Vater in sein Zimmer. Lucile blieb mit ihrer Schwester alleine und entdeckte ihr, daß dieses ihr Liebhaber nicht sey. Wie groß hätte die Freude der Marianne seyn müssen, wenn sie ein weniger gutes Herz gehabt hätte; so aber schlug sie die Traurigkeit ihrer Schwester fast eben so sehr nieder, als ihr die Betrachtung, keine Mitbuhlerin an ihr mehr zu haben, Vergnügen erweckete. [] Die zwey Schwestern begaben sich jede in ihr Zimmer, wo sie wenig schlieffen. Marianne überließ sich ohne Bedenken allen Gedanken, welche ihrer Liebe schmeicheln konnten. Lucile aber machte nichts als traurige Überlegungen, weil sie verzweifelte, ob sie den Leander, von dem sie ihr Glück hofte, jemals wieder sehen würde. Sie war aber dazu bestimmt durch alle Zufälle erfreut zu werden, welche der Marianne
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schmerzlich fallen konnten. Der junge Kaufmann war in seinen Leidenschaften sehr lebhaft, und was noch mehr ist, so hatte er nicht Zeit zu seufzen, weil er wieder nach Indien zurückkehren mußte. Er faßte also seinen Entschluß eben so schleunig, als seine Liebe entstanden war. Der Vater kam des Morgens in sein Zimmer und fragte ihn, wie er geruhet habe: Sehr schlecht, sagte er, aber ich habe hundert tausend Thaler baar Geld. Der Vater verstand diese kaufmännische Beredsamkeit nicht sogleich; doch der Liebhaber erklärte sich deutlicher, und verlangte seine älteste Tochter zur Ehe. Beyde waren Leute von wenig Umständen. Die Sache kam den Augenblick zu Stande. Der Vater verließ das Zimmer, und beschwor seinen Gast noch einige Stunden zu ruhen. Unterdessen wolle er seiner Tochter ihr Glück ankündigen. Der ehrliche Mann war so ausser sich, daß er sich auf die Scherzreden, die man wegen des Rechts der Erstgeburth über Tische geführt, und die der Kaufmann nach den Worten genommen hatte, nicht besann. Wie betrübt war diese Zweydeutigkeit für Mariannen als der Vater Lucilen zu melden kam, der reiche Kaufmann sey in sie verliebt. Weil Lucile sahe, daß er weit reicher als ihr Leandersey, so dachte sie auf nichts, als wie sie ihre Unbeständigkeit durch grosse Gesinnungen rechtfertigen möchte. Sonderlich brauchte sie ihre Pflicht dazu. Es ist löblich, sagte sie, daß man seine Liebe dem väterlichen Willen aufopfert. Was Mariannen anbelangte, so würde sie sich gewiß dem Vergnügen, ihre Schwester wohl versorgt zu sehn, überlassen haben, wann dieses ihr erster Gedanke gewesen wäre; so aber bemeisterte sich ihrer ein andrer erste Gedanke. Welcher Schmerz, zu erfahren, daß derjenige, welchen man liebt, in die Schwester verliebt ist. [] Während der Zeit, als dieses auf dem Schlosse vorging, langte Leander, der wahrhafte Leander bey der Anverwandtin an, welche in aller Eil Lucilen davon Nachricht zu geben kam. Sie fand sie aber gegen diese Nachricht sehr unempfindlich. Ihre schöne Leidenschaft war verschwunden. Leander hätte sollen eher kommen. Sie urtheilte mit vieler Feinheit, daß ein Liebhaber, welcher sich zu späte einfindet, und nicht mehr als funfzig tausend Thaler besitzt, wohl verdiene daß man ihn einem Manne von hundert tausend Thaler aufopfre. Die Anverwandtin des Leanders erzürnte sich Anfangs über eine so offenbare Untreue; Lucile aber bewieß ihr nach den Regeln der allerfeinsten Liebe,
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daß Leander zuerst Unrecht gehabt habe, daß die Fehler des Herzens unvergeblich wären, daß jemehr einFrauenzimmer liebe, jemehr sey es verbunden sich zu rächen, und daß die zärtlichste Rache die man gegen einen Liebhaber, welcher uns vergißt, ausüben könne, darinne bestehe, daß man ihn wieder vergesse. [] Nachdem sich Lucile sehr sinnreich gerechtfertigt hatte, so floh sie zu ihrem Nachttische, ihrem Liebsten bey seinem Erwachen wenigstens so schön als die aufgehende Sonne zu scheinen. Die Anverwandtin des Leanders, welche ihm mit einer wahren Freundschaft zugethan war, begab sich voller Verdruß fort, und überzeugte den Leander von der Untreue der Lucile so wohl, daß er von Stund an, die Insul zu verlassen, und niemals wieder zu kommen beschloß. [] Marianne that ihr möglichstes einem Vater ihre Liebe und Betrübniß zu verbergen, welcher es sich äusserst angelegen seyn ließ, alles zu thun, was seinem neuen Schwiegersohne gefallen könnte. Komm, meine Tochter, sagte er zu Mariannen, komm mit mir. Laß uns ihm durch unsre Sorgfalt und Höflichkeit zeigen, daß er in eine Familie tritt, welche alle mögliche Achtsamkeit gegen ihn haben wird. Er verdient sie, nicht wahr meine Tochter? Nicht wahr, dein Schwager ist recht liebenswürdig? [] Marianne folgte ihm, ohne zu antworten, voller Betrübniß, nichts als die Schwägerin dieses liebenswürdigen Schwagers zu seyn. So bald sie die Thüre des Zimmers erblickte, so kehrte sie ihre Augen weg, weil sie sich nicht getrauete der Gefahr in das Gesichte zu sehen. Der Vater gieng zu erst hinein, und sagte unserm Liebhaber, daß seine älteste Tochter gleich hier seyn würde; daß sie alle mögliche Erkenntlichkeit, und so gar schon Hochachtung gegen ihn empfände. Diese kleine Schmeicheley entwüschte diesem aufrichtigen Manne: denn Liebe und grosser Reichthum verändern allezeit etwas, auch in dem Herzen des rechtschaffensten Menschen. Unterdessen kam Marianne ganz langsam herbey. So bald sie ihr Liebhaber herein treten sahe, so lief er ihr entgegen, und sagte ihr hundert Schmeicheleyen, wovon die eine immer verliebter, als die andre war. [] Marianne war so bestürtzt und verwirrt, daß sie kein Wort hervor bringen konnte. Der Vater war nicht weniger erstaunt. Endlich blieben alle dreye stumm und unbeweglich. Während dieses stummen Auftritts langte Lucile mit gemeßnen Schritten an. Ihr Betragen war
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majestätisch und zärtlich; sie war glänzend, und wie eine Göttingeschmückt, die ihre Anbeter aufsucht. Indem sie sich näherte, so fiel dem Alten der gestrige Scherz bey, welcher zu der Zweydeutigkeit Gelegenheit gegeben hatte. Lucile geht ihren Weg fort, sie macht dem Kaufmann eine Verbiegung, und dieser schlägt voller Verwirrung die Augen nieder. Sie sieht diese Verwirrung, für die Schaam eines furchtsamen Liebhabers an; sie liebäugelt, ihn beherzter zu machen. Doch diese Stellung war für den ehrlichen jungen Menschen nicht länger erträglich; ohne ein Wort zu sagen begab er sich also ganz sachte aus dem Zimmer. Was sollte man von einem solchen Verfahren denken? Die Liebe kan einen Liebhaber wol stumm machen, aber wird es<er> deswegen fliehen? Lucile sieht ganz bestürzt ihre Schwester an, die es nicht wagen will, ihr ihr Unglück zu entdecken. Auch der Vater hat das Herz nicht ihr den Irrthum zu benehmen. Er geht fort, Marianne folgt ihm, und Lucile bleibt alleine in dem Zimmer. Man urtheile von ihrer Verwirrung. Nimmermehr würde sie sich von selbst heraus gefunden haben. Denn war es ihr wohl möglich zu glauben, daß man ihre Schwester mehr lieben könne als sie? Ich weiß nicht, wer sie aus ihrem falschen Wahne gebracht hat; so viel weiß ich, daß sie ihres Erstaunens ohngeachtet, so viel Gegenwärtigkeit des Geistes behielt, daß sie sogleich zu ihrer Nachbarin lief, ihren wahren Leander wieder zurück zu hohlen. Es kommt drauf an, ob es ihr gelingen wird. [] Als der Vater Lucilen aus dem Schlosse gehen sahe, so glaubte er, daß sie aus keiner andern Ursache zu der Nachbarin gehe, als weil sie keine Zeugin von dem Glücke ihrer Schwester abgeben wolte. Man war auf nichts als auf die Anstalten zur Hochzeit bedacht. Vorher wolte der Kaufmann noch verschiedene Waaren sehen lassen, welche er auf dem Schiffe hatte, wo dem Capitaine die Zeit ziemlich lang ward; denn das Schiff war wieder ausgebessert, und im Stande seinen Lauf fortzusetzen. Dieser Capitain war ein unverstellter Mann, der beste Freund von der Welt, und dem Kaufmanne sehr zugethan. Er war sein Reisegefährte, sein Rathgeber, und so zu sagen sein Vormund. Er erwartete mit größter Ungeduld Nachricht von seinem Freunde. Wie man aber gesehen hat, so beschäftigte ihn die Liebe allzusehr, als daß er eher an den Capitain hätte gedenken sollen, als bis er ihn in das Schloß herein treten sah. Er lief ihm entgegen, er umarmte ihn, und dieses war
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genug, daß ihn alle in dem Schlosse wohl empfingen. Er nahm die Höflichkeitsbezeigungen sehr frostig auf, weil er nicht anders als frostig seyn konnte. Man setzte sich zu Tische; man ließ Wein bringen, das kalte Blut des Capitains anzufeuren, und jeder brachte ihm die Gesundheit seines jungen Freundes und seiner Liebste. Auf die Gesundheit meines Schwiegersohns! sagte der Vater. Auf die Gesundheit meines Schwiegervaters! sagte der Kaufmann. Hier sperrete der Capitain Augen und Ohren auf, und sein Erstaunen war ausserordentlich. Er hatte geglaubt, seinen Freund krank und übel bewirthet zu finden, wie man es meistentheils in einem fremden Hause ist; und fand ihn voller Freude, ohne den geringsten Zwang, als ob er in seiner Familie wäre. Dieser misantropische Seemann wußte nicht, was er von diesem Abentheuer denken solte. So phlegmatisch er aber war, so schnell faßte er doch seinen Entschluß. Er hörte alles an, und nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, so brach er das Stillschweigen durch einen Spaß nach seiner Art: zur Gesundheit der neuen Eheleute, sagte er. Die Ehen über Tische sind völlig nach meinem Geschmacke; sie kommen in einem Augenblick zu Stande, und zertrennen sich in einem Augenblick wieder. [] Endlich ließ er sich ganz ernstlich erklären, wie weit man in der Sache gekommen sey. Er verdoppelte sein kaltes Blut, und versprach das Hochzeitfest auf dem Schiffe auszurichten. Komm, lieber Freund, sagte er zum Kaufmanne, du must helffen auf dem Schiffe Anstalt machen. Recht gerne, antwortete der Freund, ich habe ohnedem was aus meinen Koffern zu hohlen. Ich will meinem Schwiegervater meine Edelsteine zeigen. Sie begaben sich auch in der That gleich nach Tische dahin, und der Vater blieb mit Mariannenauf dem Schlosse, die sich auf der höchsten Spitze ihres Glücks sahe, und Lucilen so sehr eben nicht betauerte. Drey bis vier Stunden vergingen, und Marianne, welche ganz ungeduldig war, ihren Liebhaber wieder zu sehen, fand, daß er zu lange aussen blieb. Die Ungeduld vermehrte sich von Augenblick zu Augenblick, bis jemand ohngefehr kam, und die Nachricht brachte, daß der Capitain mit dem Kaufmanne abgefahren sey, und daß man das Schiff schon weit in der See sähe. Man wollte eine so unwahrscheinliche Sache lange nicht glauben. Man lief an das Ufer, und ward das Schiff kaum mehr gewahr. Es
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ist unmöglich, die verschiednen Urtheile alle anzuführen, die man darüber fällte. Niemand konnte sich die Ursache einer so wunderlichen und schleunigen Abreise vorstellen. Ich will es dem Leser nicht rathen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Ende der Geschichte ist nicht mehr weit. [] Nachdem man verschiedene Tage hinter einander unzähliche Betrachtungen über die Erscheinung dieses verliebten und reichen Reisenden angestellt hatte, so vergaß man ihn endlich, wie einen Traum. Angenehme Träume aber machen oft sehr tieffe Eindrücke auf das Herz einer jungen Person. Marianne konnte diesen zärtlichen Liebhaber nicht vergessen, und sie verdient, daß wir sie einen Augenblick betauern. Jedermann betauert sie, nur Lucile nicht, welche eine boshafte Freude empfand, durch die sie sich ein wenig wegen ihres muthwilligen Verlusts schadlos hielt. Ihr Liebhaber hatte die Gelegenheit ergriffen, und sich mit dem Capitain eingeschifft, fest entschlossen, niemals wieder zu kommen; und der Edelmann, weil er sahe, daß man Mariannen dem Kaufmanne versprochen hatte, ließ es sich auch nicht einkommen, um Lucilen von neuen anzuhalten. Der Vater hielt also für nöthig, die Verbindung mit Mariannen wieder vorzusuchen. Sie wolte sich ihm auch aufopffern, weil diese Heyrath den häuslichen Umständen ihres Vaters, welche die besten nicht waren, ziemlich vortheilhaft schien. Die Ehestiftung war schon aufgesetzt, und man machte Anstalt zur Hochzeit. [] Wie ging es aber dem Kaufmanne, seit dem wir ihn aus dem Gesichte verlohren haben? Er war dem Capitaine nach seinem Schiffe gefolgt, wo er einige Edelsteine hohlen wollte. Er hatte ihn auf dem Wege von dem Vergnügen unterhalten, das Glück eines so würdigen Frauenzimmers machen zu können. Er langte auf dem Schiffe an, wo er alle seine Koffer auspackte, die Edelsteine und nöthigen Handschriften herauszunehmen. Er brachte hiermit geraume Zeit zu; endlich wollte er wieder auf das Schloß zurückkehren. Wie erstaunte er aber, als er sahe, daß sich das Schiff vom Ufer entfernte. Er schrie, und lief zu dem Capitaine welcher auf dem Obertheile des Schiffs war, wo er in aller Ruhe eine Pfeiffe Taback rauchte. Liebster Freund, schrie der unruhige Liebhaber, wir stoßen ja vom Lande. Ich weiß wohl, antwortete der Capitain ganz frostig und rauchte fort. Es geschiht also auf Ihren Befehl, versetzte der andre? Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich vor meiner Abreise noch diese
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Heyrath zu Stande bringen will? Warum spielen Sie mir einen so grausamen Streich? Weil ich Ihr Freund bin
, sagte unser Tobacksschmaucher. Wann Sie es sind, versetzte der Kaufmann, so stürzen Sie mich nicht in Verzweiflung, führen Sie mich in die Insel wieder zurück, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie. Der feurige Liebhaber wirft sich ihm zu Füssen, er ist untröstlich, er weint. Kein Erbarmen! Der Capitain rauchte seine Pfeiffe aus, und das Schiff läuft immer seinen Weg fort. Umsonst stellt ihm der Kaufmann vor, daß er sein Wort gegeben habe, daß seine Ehre und sein Leben davon abhange. Der unerbittliche Freund schwört ihm, er werde es nimmermehr zugeben, daß er sich mit einer Million Vermögen verheyrathe, ohne Zeit zu haben zu überlegen, was er thue. Man muß, sagte er, diese Liebe ein wenig auf dem Meere spatzieren führen, um zu sehen ob sie nicht kälter wird, wenn sie einmal unter der Linie weg ist. [] Endlich endigte sich diese Spatzierfarth bey Toulon, wo der Capitain anlandete, weil er sahe daß sein Freund verzweifeln wollte. Dieser suchte sogleich ein ander Schiff und kehrte in die Insel zurück. Beynahe wäre er zu späte gekommen. Zu Mariannens Glück aber war ihre Heyrath noch nicht weiter als bis zur Unterschreibung der Ehestiftung gekommen. Einige tausend Pistolen, die man dem Edelmann gab, machten den ganzen Contract nichtig. — — Der Schluß ist wie der Schluß von allen Romanen.


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