Suchbegriff: moliere_scapin
Treffer: 1

1 - /

Ein Schauspieler kann die meisten der nur gedachten Bedingungen beobachten, und dennoch nicht natürlich spielen. Der Verfasser untersucht also in dem eilften Hauptstücke, worinne das natürliche Spiel bestehe, und ob es auf dem Theater allezeit nöthig sey. Wenn man unter dem natürlichen Spiele dasjenige meint, welches nicht gezwungen und mühsam läßt, so ist es wohl gewiß, daß es überhaupt alle Schauspieler haben müssen. Versteht man aber eine durchaus genaue Nachahmung der gemeinen Natur darunter, so kann man kühnlich behaupten, daß der Schauspieler unschmackhaft Auszug aus dem werden würde, wenn er beständig natürlich spielen wollte. Der komische Schauspieler darf nicht nur, sondern muß auch dann und wann seine Rolle übertreiben. Allein man merke wohl, daß unter diesem Uebertreiben nicht die Heftigkeit der Declamation eines tragischen Acteurs begriffen ist, und daß man sie nur dem komischen Acteur erlaubet, um etwas lächerliches desto stärker in die Augen fallen zu lassen. Doch auch hier müssen gewisse Bedingungen und Umstände beobachtet werden. Der Schauspieler muß noch immer bey seinem Uebertreiben eine Art von Regeln beobachten; er kann wohl weiter gehen, als die Natur geht, aber keine Ungeheuer muß er uns deswegen nicht vorstellen. So erlaubt man zum Exempel wohl einem Mahler, daß er, in der Hitze einer lustigen Raserey, eine Figur mit einer außerordentlich langen Nase mache; aber diese Nase muß doch sonst mit den andern Nasen übereinkommen, und muß sich an der Stelle befinden, welche ihr die Natur angewiesen hat. Gleichfalls muß der Schauspieler, wenn er übertreiben will, zuerst eine Art von Vorbereitung anwenden, und es nicht eher wagen, als bis er den Zuschauern in eine Art von freudiger Trunkenheit versetzt hat, welche ihn nicht so strenge zu urtheilen erlaubt, als wenn er bey kaltem Blute wäre. Außer diesen zwey Bedingungen muß das Uebertreiben auch nicht allzuhäufig und auch nicht am falschen Orte ange Schauspieler.bracht werden. Am falschen Orte würde es zum Exempel angebracht seyn, wenn es diejenigen Acteurs brauchen wollten, die das, was man in der Welt rechtschafne ehrliche Leute nennt, vorzustellen haben, und uns für sich einnehmen sollen. Ein deutliches Exempel übrigens daß das Uebertreiben durchaus nothwendig seyn kön ne, kömmt in den Betriegereyen des Scapins, (Aufz. 1. Auft. 3.) vor, wo Scapin den Argante nachmacht, um den Octavio die Gegenwart eines aufgebrachten Vaters aushalten zu lehren. Der Acteur kann hier übertreiben so viel als er will, weil die Wahrscheinlichkeit dadurch mehr aufgeholfen, als verletzet wird. Es würde nehmlich weniger wahrscheinlich seyn, daß Octav ganz betäubt wird, und nicht weis, was er sagen soll, wenn nicht die außerordentliche Heftigkeit des Scapins und die Gewaltsamkeit seines Betragens, diesen jungen Liebhaber so täuschte, daß er wirklich den fürchterlichen Argante in dem Scapin zu sehen glaubte.