Suchbegriff: trag
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46 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Aristoteles sagt irgendwo in seiner Dichtkunst: Man mag einen bekannten Stoff bearbeiten, oder man mag einen ganz neuen erfinden, so muß man in beiden Fällen vor allen Dingen die Fabel entwerffen, und alsdenn erst auf die Episoden oder Umstände, die sie erweitern können, denken. Ist es eine Tragödie, so sage man: Eine junge Prinzeßin wird zu dem Altare geführet, um geopfert zu werden; plötzlich aber verschwindet sie vor den Augen der Zuschauer, und wird in ein Land versetzt, wo man die Gewohnheit hat, alle Fremde einer daselbst verehrten Göttin zu opfern. Hier wird sie Priesterinn. Einige Jahre nachher kömmt der Bruder der Prinzeßin in dieses Land; er wird von den Einwohnern ergriffen, und soll eben jetzt von den Händen seiner Schwester geopfert werden. Indem ruft er aus: So war es nicht genug, daß meine Schwester geopfert wurde; ich muß es auch werden? Durch diese Worte wird er erkannt und gerettet.


47 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Die Tragödie verlangt, daß ihre Mittel wichtig; die Komödie, daß sie fein sind.


48 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ein Plan, wider den man nichts einzuwenden hätte, welche ein Werk würde das seyn! Giebt es wohl einen? Je verwickelter er ist, desto weniger wahr wird er seyn. Allein es ist die Frage: ist der Plan zu einer Komödie, oder ist der Plan zu einer Tragödie schwerer?


49 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Es finden sich hier drey Stuffen. Die Historie, wo das Faetum gegeben ist. DieTragödie, wo der Dichter zur Historie dasjenige hinzuthut, wodurch er sie interessanter zu machen glaubt. Die Komödie, wo der Dichter alles erfindet.


50 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Nicht aus allen historischen Begebenheiten lassen sich Tragödien machen; auch können nicht alle häusliche Vorfälle Stoffe zu Komödien abgeben. Die Alten schränkten die tragische Gattung auf die Familien des Alkmäons, des Oedipus, des Orest, des Meleagers, des Telephus, und des Herkules ein.


51 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Weil der Theil, den der tragische Dichter aus der Geschichte entlehnet, macht, daß man das, was aus seiner Erfindung geflossen ist, gleichfalls für historisch annimmt. Die Dinge, die er erdichtet, werden durch die, die ihm gegeben sind, wahrscheinlich. Dem komischen Dichter aber wird durchaus nichts gegeben; und folglich ist es ihm weniger vergönnt, sich auf die Simultaneität der Begebenheiten zu gründen. Uebrigens ist die Fatalität, oder der Wille der Götter, ob welchem die Menschen so sehr erzittern, wenn sie ihr Schicksaal in der Gewalt höherer Wesen sehen, denen sie nicht entgehen können, und deren Hand sie oft in dem Augenblicke, wenn sie am allersichersten sind, ergreift, in der Tragödie ungleich nöthiger. Wenn irgend in der Welt etwas rührendes ist, so ist es der Anblick eines Menschen, der wider seinen Willen strafbar und unglücklich geworden ist.


52 - Von der dramatischen Dichtkunst /

In der Komödie müssen die Menschen die Rolle spielen, welche in der Tragödie die Götter spielen. Hier ist die Fatalität, und dort die Bosheit die Grundlage des dramatischen Interesse.


53 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Die Alten hatten Tragödien, in welchen alles von der Erfindung des Dichters war. Die Geschichte hatte nicht einmal die Namen der Personen dazu geliehen. Und was liegt auch daran, wenn der Dichter das wahre Maaß des Wunderbaren nur nicht überschreitet?


54 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Die häusliche Tragödie würde die Schwierigkeiten von beiden Gattungen haben; denn sie müßte eben dieselbe Wirkung hervorbringen, welche die heroische Tragödiehervorbringt, und der Plan müßte, wie in der Komödie, ganz und gar erfunden seyn.


55 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ich habe mich manchmal gefragt, ob man die häusliche Tragödie in Versen schreiben könnte; und ohne eigentlich zu wissen warum, habe ich mir allezeit mit Nein geantwortet. Gleichwohl wird die gewöhnliche Komödie, gleichwohl wird die heroische Tragödie in Versen geschrieben. Und was kann man sonst nicht in Versen schreiben! Sollte dieseGattung wohl einen eignen Styl verlangen, von dem ich noch selbst keinen Begriff habe? Sollte wohl die Wahrheit des Stoffs, sollte wohl das stärkere Interesse keine abgemesseneSprache leiden wollen? Oder ist vielleicht der Stand der Personen unserm Stande allzunahe, als daß er die höhere Harmonie des Verses verstatten könne?


56 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Hieraus sieht man, daß eine Tragödie in Prosa eben so wohl ein Gedicht ist, als eineTragödie in Versen; daß es mit der Komödie und mit dem Roman gleiche Bewandtniß hat; daß aber die Absicht der Dichtkunst weit allgemeiner ist, als die Absicht der Geschichte. Man lieset in der Geschichte, was ein Mann von dem Charakter Heinrichs des vierten, gethan und gelitten hat. Wie viel Umstände aber sind möglich, in welchen er auf eine seinemCharakter gemässe und weit wunderbarere Art hätte handeln können, als uns die Geschichte meldet; und diese wunderbarere Art eben ist es, welche die Poesie erdichtet.


57 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Hieraus sieht man, daß eine Tragödie in Prosa eben so wohl ein Gedicht ist, als eineTragödie in Versen; daß es mit der Komödie und mit dem Roman gleiche Bewandtniß hat; daß aber die Absicht der Dichtkunst weit allgemeiner ist, als die Absicht der Geschichte. Man lieset in der Geschichte, was ein Mann von dem Charakter Heinrichs des vierten, gethan und gelitten hat. Wie viel Umstände aber sind möglich, in welchen er auf eine seinemCharakter gemässe und weit wunderbarere Art hätte handeln können, als uns die Geschichte meldet; und diese wunderbarere Art eben ist es, welche die Poesie erdichtet.


58 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Das Drama mag seyn wie es will, so ist der Knoten bekannt. Denn er wird in Gegenwart der Zuschauer geschürzt. Oft verräth auch schon der Titel einer Tragödie die Entwickelung. Es ist ein historisches Factum; es ist der Tod des Cäsars; es ist die Opferung der Iphigenia. Allein mit derKomödie ist es anders.

59 - Von der dramatischen Dichtkunst /

In der Tragödie, wo das Factum bekannt ist, geschiehet die Exposition mit einem Worte. Wenn meine Tochter den Fuß nach Aulis setzt, so muß sie sterben. In der Komödie geschiehet sie, dürfte ich fast sagen, durch den Anschlagzettel. Wo ist z. E. im Tartüffe eine Exposition? Meinem Bedünken nach könnte man eben sowohl von dem Dichter verlangen, seine ersten Auftritte so einzurichten, daß sie einen kurzen Entwurf des ganzen Stückes enthielten.


60 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Je ernsthafter die Gattung ist, desto weniger scheinet sie mir den Contrast erlauben zu wollen. In der Tragödie ist er sehr selten. Wenn man ihn ja braucht, so braucht man ihn nur unter den Personen vom zweyten Range. Der Held stehet allein. Es ist kein Contrast im Britannicus; keiner in der Andromacha; keiner im Cinna; keiner in der Iphigenia; keiner in der Zaire; keiner im Tartüff.