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46 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Die Komödianten wegen ihrer persönlichenSitten angreiffen, heißt allen Ständen zu Leibe wollen.


47 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Eine sehr gewöhnliche Unbequemlichkeit ist diese, daß man aus einer lächerlichenHochachtung für gewisse Stände, endlich nur dieSitten dieser Stände allein schildert; daß auf diese Weise die Nützlichkeit der Schauspiele eingeschränkt wird, und sie wohl gar der Kanal werden, durch welche sich die Thorheiten der Grossen unter die Geringern ausbreiten.


48 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Wir haben Komödien. Die Engländerhaben nichts als Satyren, die zwar in der That sehr stark und munter, aber ohne Sitten und Geschmack sind. Den Italiäner kann man weiter nichts, als das burleske Drama einräumen.


49 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ueberhaupt, je gesitteter und geschliffener ein Volk ist, desto unpoetischer sind seine Sitten. Alles was feiner wird, wird schwächer. Wenn hingegen bildet die Natur Muster für die Kunst? In denjenigen Zeiten ohne Zweifel, wenn sich die Kinder um dem Bette des sterbenden Vaters die Haare ausrauffen; wenn eine Mutter ihren Busen entblösset, und ihren Sohn bey den Brüsten, die er gesogen hat, beschwöret; wenn sich ein Freund das Haupthaar abschneidet, und es auf den Leichnam seines Freundes streuet, oder ihn in seinen Armen auf den Holzstoß trägt, und die Asche desselben in eine Urne sammelt, die er an gewissen Tagen mit seinen Thränen zu benetzen kömmt; wenn sich die Wittwen, in fliegendem Haare, das Gesicht mit ihren Nägeln zerkratzen, weil ihnen der Tod einen geliebten Gatten geraubet; wenn die Häupter des Volks bey allgemeinen Landplagen ihre gedemüthigte Stirne in den Staub legen, ihre Kleider zerreissen, und jammernd sich an die Brust schlagen; wenn ein Vater seinen neugebornen Sohn in die Arme nimmt, ihn gen Himmel hält, und die Götter über ihn anflehet; wenn das erste, was ein Kind, das seine Aeltern nach einer langen Abwesenheit wiedersiehet, dieses ist, daß es ihre Kniee umfasset und fußfällig um ihren Seegen bittet; wenn die Gastmale heilige Opfer sind, die sich mit Bächern voll Weins, auf die Erde gegossen, anfangen und enden; wenn das Volk mit seinen Gebietern spricht, und die Gebieter es anhören und ihm antworten; wenn ein Mensch mit umwundener Stirne vor einem Altare liegt, und eine Priesterin mit aufgehabenen Händen über ihn betet, und die heiligen Gebräuche der Versöhnung und Reinigung an ihm vollziehet; wenn eine schäumende Pythia, in deren Busen ein Gott stürmet, auf dem Dreyfuße sitzet, die Augen verkehret, und von ihrem prophetischen Geheule dunkle Höhlen ertönen läßt; wenn grausameGötter nicht anders als durch Menschenblut zu versöhnen sind; wenn mit dem Thyrsus gerüstete Bachantinnen in den Wäldern herumschwärmen, und den Unheiligen, der sich auf ihren Wegen treffen läßt, in Schrecken setzen; wenn andere Weiber sich ohne Scham entblössen, dem ersten dem besten die Arme öffnen, und sich ihm Preis geben etc.


50 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ich sage nicht, daß diese Sitten gut, sondern daß sie poetisch sind.


51 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Alsdann wenn die Wuth des bürgerlichen Krieges, oder des Fanatismus, die Menschen mit Dolchen bewafnet, und Blut in Strömen fliesset, alsdann treibet und grünet der Lorbeer des Apollo. Mit Blut will er begossen seyn. Er verwelkt in den Zeiten des Friedens und der Musse. Das güldene Weltalter hätte vielleicht ein Lied, oder eine Elegie hervorgebracht. Die epische und dramatischePoesie verlangen andere Sitten.


52 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Was wird also der Dichter unter einem Volke thun, dessen Sitten schwach, klein und gekünstelt sind; wo die strenge Nachahmung des gewöhnlichen Umganges nichts als ein Zusammenhang falscher, sinnloser und niedriger Ausdrücke seyn würde; wo weder Freymüthigkeit noch Gutherzigkeit ist; wo der Vater seinen Sohn Mein Herr nennt, und die Mutter ihre Tochter Mademoisell ruft; wo die öffentlichen Ceremonien nichts Grosses, das häusliche Leben nichts Rührendes und Ehrbares, die feyerlichen Handlungen nichts Wahres haben? Er wird die Sitten dieses Volks verschönern; er wird die Umstände sorgfältig aufsuchen, die seiner Kunst am zuträglichsten sind; die andern wird er übergehen; und hier und da wird er einige erdichtete einzuschieben wagen.


53 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Was wird also der Dichter unter einem Volke thun, dessen Sitten schwach, klein und gekünstelt sind; wo die strenge Nachahmung des gewöhnlichen Umganges nichts als ein Zusammenhang falscher, sinnloser und niedriger Ausdrücke seyn würde; wo weder Freymüthigkeit noch Gutherzigkeit ist; wo der Vater seinen Sohn Mein Herr nennt, und die Mutter ihre Tochter Mademoisell ruft; wo die öffentlichen Ceremonien nichts Grosses, das häusliche Leben nichts Rührendes und Ehrbares, die feyerlichen Handlungen nichts Wahres haben? Er wird die Sitten dieses Volks verschönern; er wird die Umstände sorgfältig aufsuchen, die seiner Kunst am zuträglichsten sind; die andern wird er übergehen; und hier und da wird er einige erdichtete einzuschieben wagen.


54 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Welch einen feinen Geschmack aber muß er haben, wenn er es fühlen soll, in wie weit sich sowohl die öffentlichen als besondern Sitten verschönern lassen? Wenn er das Maaß im geringsten überschreitet, so wird er falsch und romanenhaft werden.


55 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Wenn die Sitten, die er annimt, vormals im Schwange gewesen sind, und diese Zeit eben nicht sehr lange verstrichen ist; wenn ein Gebrauch abgekommen, in der Sprache aber ein methaphorischer Ausdruck davon übrig geblieben ist; wenn dieser Ausdruck etwas Gutes und Rechtschaffenes bemerkt; wenn er von einer alten Frömmigkeit, von einer guten einfältigen Gewohnheit, von der zu wünschen wäre, daß sie noch bestünde, zeiget; wenn die Väter darinn ehrwürdiger, die Mütter werther, die Könige gefälliger erscheinen: so mache er sich nur kein Bedenken; anstatt, daß man ihm, wider die Wahrheit gesündiget zu haben, vorwerffen wird, wird man vielmehr annehmen, daß sich ohne Zweifel diese alten, guten Sitten in dieser Familie so lange erhalten haben. Nur vermeide er alles das, was nach dem gegenwärtigen Gebrauche irgend eines benachbarten Volkes seyn würde.


56 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Wenn die Sitten, die er annimt, vormals im Schwange gewesen sind, und diese Zeit eben nicht sehr lange verstrichen ist; wenn ein Gebrauch abgekommen, in der Sprache aber ein methaphorischer Ausdruck davon übrig geblieben ist; wenn dieser Ausdruck etwas Gutes und Rechtschaffenes bemerkt; wenn er von einer alten Frömmigkeit, von einer guten einfältigen Gewohnheit, von der zu wünschen wäre, daß sie noch bestünde, zeiget; wenn die Väter darinn ehrwürdiger, die Mütter werther, die Könige gefälliger erscheinen: so mache er sich nur kein Bedenken; anstatt, daß man ihm, wider die Wahrheit gesündiget zu haben, vorwerffen wird, wird man vielmehr annehmen, daß sich ohne Zweifel diese alten, guten Sitten in dieser Familie so lange erhalten haben. Nur vermeide er alles das, was nach dem gegenwärtigen Gebrauche irgend eines benachbarten Volkes seyn würde.


57 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Aber man denke nur, wie wunderlich die gesitteten Völker sind. Ihre Feinheit geht oft so weit, daß sie dem Dichter auch so gar den Gebrauch vieler in ihren Sittengegründeter Umstände, die einfältig, schön und wahr sind, untersagt. Wer dürfte es unter uns wagen, auf der Bühne Stroh auszubreiten, und ein neugebornes Kind auf demselben wegzusetzen? Wenn der Dichter eine Wiege anbrächte, würde sich nicht im Parterre mehr als ein Geck finden, der wie ein kleines Kind zu schreyen anfänge? Logen und Amphitheater würden darüber lachen, und um das Stück wäre es gethan. O possierliches und leichtsinniges Volk, wie sehr schränkest du die Kunst ein! Welchen Zwang legst du deinen Künstlern auf! Wie vieler Vergnügen beraubet dich dein verzärtelter Geschmack! Alle Augenblicke würdest du auf der Bühne Dinge auspfeiffen, die dich im Gemälderühren und bezaubern würden. Weh dem Genie, dem es einkommen dürfte, dir ein Schauspiel zu zeigen, das zwar mit der Natur aber nicht mit deinen Vorurtheilen bestehen könnte!


58 - Von der dramatischen Dichtkunst /

O Schauspieler, wenn ihr euch wollt kleiden lernen, wenn ihr den falschen Geschmack an Pracht ablegen wollt, wenn ihr euch der Einfalt nähern wollt, die den grossen Eindrücken, die euren Glücksumständen, die euren Sitten so sehr zuträglich seyn würde: so besucht unsere Gallerieen.


59 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Der Kunstrichter ruft alsdenn: O Zeiten! O Sitten! Der Geschmack ist verdorben. — Und damit hat er sich getröstet.


60 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Hat man sich über die Natur nicht zu beklagen, hat man von ihr einen aufrichtigenGeist und ein empfindliches Herz bekommen, so fliehe man eine Zeitlang die menschliche Gesellschaft, und studiere sich selbst. Wie kann das Instrument die gehörige Harmonie ertönen lassen, wenn es verstimmt ist? Man suche sich von allen Dingen richtige Begriffe zu machen; man vergleiche seine Aufführung mit seinen Pflichten; man bestrebe sich ein ehrlicher Mann zu werden, und glaube ja nicht, daß diese für den Menschen so wohl angewandte Zeit, für den Schriftsteller verloren sey. Es wird von der moralischenVollkommenheit, zu der man seinen Charakter und seine Sitten erhoben hat, eine Schimmer von Grösse und Gerechtigkeit ausfliessen, der sich auf alles was man schreibet, verbreitet. Hat man das Laster zu schildern, so präge man sich nur ein, wie sehr es mit der allgemeinenOrdnung, der öffentlichen und der besondern Wohlfahrt, streitet, und man wird es mit Nachdruck schildern. Ist es hingegen die Tugend: wie kann man sie andern liebenswürdig zeigen, wenn man selbst nicht von ihr bezaubert ist? Kehrt man dann wieder unter die Menschen zurück, so höre man denen fleißig zu, die gut zu reden wissen, und spreche fleißig mit sich selber.