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31 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Aristoteles, **) geht einen andern Weg und und spricht: πασα διδασκαλια, και πασα μαθησις διανοητικη, ἐκ προ{!D}ϋπαρχουσης γι-νεται γνωσεως. Dieses will so viel sagen:

*) Plato hat das beste, was man in seinen Werken findet, aus der heiligen Schrift genommen; daher man ihn auch den Göttlichen nannte.

**) ἀναλυτικων ὑϛερων το πρωτον, κεφαλ. α.

alles, was die Menschen lernen und wissen, lernen und wissen sie durch das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen; und der Verstand kann von nichts einige Erkenntniß haben, was nicht durch einen von diesen fünf Sinnen in ihn gekommen ist. Er spricht daher an einem andern Orte, *) diese Vermögenheiten kämen, gleich einer polirten Tafel, auf welche noch nichts gezeichnet worden, aus den Händen der Natur. Doch auch diese Meynung ist falsch. Damit wir es aber desto besser beweisen können, müssen wir erst mit den gemeinen Weltweisen darinnen einig werden, daß nur eine Seele in dem menschlichen Körper sey, nämlich die vernünftige, welche der Grund von allem ist, was wir thun und wirken; obgleich ganz verschiedne Meynungen davon sind, und es auch an Leuten nicht fehlt, welche behaupten, daß die vernünftige Seele noch zwey oder drey andre Seelen **) neben sich habe.


32 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Wie man aber die Prophezeyhung der phrenetischen Weibsperson begreifen solle, werde ich mit den Worten des Cicero besser, als mit irgend eines Philosophen, erklären können. Er sagt nämlich, wenn er die menschliche Natur mit wenig Worten beschreiben will: Animalprouidum, sagax, multiplex, astutum, memor, plenum rationis et consilii; quem vocamus hominem. Besonders sagt er, daß gewisse menschliche Naturen in Erkenntniß zukünftiger Dinge vor andern einen grossen Vorzug haben. *) Der Fehler der Philosophen bestehet darinnen, daß sie, wie es gleichwohl Plato that, die Aehnlichkeit nicht in Betrachtung ziehen, nach welcher der Mensch mit GOtt erschaffen ward, und vermöge welcher er an der göttlichen Vorhersehung Theil nimmt, so daß er alle drey Verschiedenheiten der Zeit zu erkennen fähig ist, die vergangene durch das Gedächtniß, die gegenwärtige durch die Sinne, und die zukünftige durch dieEinbildung und den Verstand. Wie es nun Menschen giebt, welche andre in Erinnerung vergangener Sachen, oder in Empfindung des Gegenwärtigen übertreffen; so giebt es auch Menschen, welche mehr natürliche Fähigkeit, sich das Zukünftige vorzustellen, besitzen, als andre. Einer von den stärksten Bewegungsgründen, welche den Cicero, die Unvergänglichkeit der vernünftigen Seele zu glauben, zwangen, war die Gewißheit, mit welcher die Kranken das Zukünftige vorher sagten, besonders, wenn sie dem Tode sehr nahe wären. Der Unterschied aber zwischen dem prophetischen Geiste und dieser na

*) Qui valetudinis vitio furunt et melancho- lici dicuntur, habent aliquid in animis prae- sagiens atque diuinum. Cicero de diuinat.

türlichen Fähigkeit bestehet darinnen, daß dasjenige, was GOtt durch den Mund der Propheten verkündiget, untrieglich seyn muß, weil es sein ausdrückliches Wort ist, da dasjenige, was der Mensch, vermöge seiner natürlichen Einbildungskraft vorher sagt, diese untrügliche Gewißheit nicht hat.


33 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Aus dem, was an den äusserlichen Sinnen so klar und deutlich ist, können wir schliessen, wie es mit den innern Sinnen beschaffen seyn müsse. Durch eben diese animalische Vermögenheit haben wir Verstand, Einbildung und Gedächtniß. Wenn es also wahr ist, daß jede Wirkung ihr besonderes Werkzeug erfordert, so muß nothwendig in dem Gehirne ein besonderes Werkzeug zum Verstande, ein besonderes zur Einbildung, und ein besonderes zum Gedächtnisse seyn; weil, wenn das Gehirn nur auf einerley Art organisirt wäre, alles entweder nur Gedächtniß, oder Verstand, oder Einbildung seyn würde. Da wir aber die Verschiedenheit der Wirkungen erkennen, so müssen wir auch die Verschiedenheit der Werkzeuge eingestehen. Laßt uns also den Kopf öfnen, und das menschliche Gehirn untersuchen. Alles ist darinnen auf einerley Art und von einerley homogenischer Materie, ohne die geringste Vermischung heterogenischer Theile zusammmengesetzt; nur vier kleine Ventrikel fallen in die Augen, die aber auch alle viere von einerley Zusammensetzung und Gestalt sind, so daß man auch nicht das geringste wahrnehmen kann, woran sie etwa unterschieden seyn möchten.


34 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Ueberdieses sind die Gründe, auf die Aristoteles den Beweis seines Satzes, daß der Verstand keine organische Vermögenheit sey, gründet, von solcher Stärke, daß es scheint, man könne unmöglich etwas anderes daraus schliessen. Da nämlich der Verstand dasjenige ist, wodurch wir die Natur und das Seyn aller körperlichen Dinge erkennen, so kann er mit nichts körperlichem verbunden seyn, oder das körperliche, mit welchem er verbunden wäre, würde ihn die andern körperlichen Dinge zu erkennen verhindern. Wir sehen dieses deutlich an den äussern Sinnen: wenn der Geschmack durch etwas bittres verdorben ist, so wird ihm alles, was die Zunge anrühret, bitter vorkommen; wenn die krystallische Feuchtigkeit grün oder gelb ist, so wird das Auge glauben, alles, was es sieht, sey von dieser Farbe. Denn παρεμφαινομενον κωλυει το αλλοτριον. Diesem fügt Aristoteles noch hinzu: wenn der Verstand mit einem körperlichen Werkzeuge vermischt wäre, so müßte erποιος seyn: denn alles, was sich mit etwas Kalten oder Warmen verbindet, muß nothwendig selbst kalt oder warm werden. Den Verstand aber warm oder kalt, feuchte oder trocken zu nennen, ist in den Ohren eines Philosophen ein abscheulicher Ausdruck.


35 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Die Gründe, auf die sich Aristoteles stützet, sind von keiner besondern Wichtigkeit; weil es gar nicht folgt, daß der Verstand deswegen, weil er die körperlichen Sachen erkennen muß, mit keinem körperlichen Werkzeuge verbunden seyn könne: denn die körperlichen Beschaffenheiten, aus welchen das Werkzeug bestehet, verändern seine Vermögenheiten nicht, und bringen auch keine Bilder hervor, sondern das, was Aristoteles von den äusserlichen Sinnen sagt, gilt auch hier: ἐπιτιθεμενων γαρ ἐπι το ἀισθητη-ριον, οὐκ αἰσϑανεται. *) Dieses sieht man deutlich an dem Gefühle. Ob es gleich aus den vier körperlichen Beschaffenheiten zusammengesetzt, und entweder weich oder hart ist, so erkennet die Hand dennoch, ob etwas kalt oder warm, hart oder weich, groß oder klein ist. Fragt man nun, warum die natürliche Wärme in der Hand das Gefühl nicht verhindere, die Wärme, welche z. E. in einem Steine ist, zu empfinden: so antworte ich: weil die Beschaffenheiten, die das Werkzeug vermöge seiner Zusammensetzung hat, das Werkzeug selbst nicht ändern, und auch keine Bilder, wodurch sie könnten empfunden werden, hervorbringen. Gleichfalls ist es die Verrichtung des Auges, daß es die Gestalten und Grössen der ausser ihm befindlichen Dinge erkennet. Sehen wird denn aber nicht, daß das Auge selbst seine Gestalt und Grösse hat, und daß die Flüssigkeiten und Häute, aus welchen es bestehet, theils farbicht, theils durchsichtig, theils von sonst einer Beschaffenheit sind? Gleichwohl verhindert dieses nicht, durch das Auge die

*) Empedokles behauptete, die Vermögenheiten müßten von eben der Natur seyn, als ihre Gegenstände wären, wenn diese ihnen empfindlich seyn sollten. Er sagte daher: Γαιῃ μεν γαρ γαιαν ἐπωπαμεν, ὑδατι δ' ὐδορ,Αἰθερι δ' αἰθερα δια, ἀταρ πυρι πυρ ἀϊδη-λον. Galenus billiget diese Meynung περι των καθ' Ιπποκρ. και Πλατ. δογματων βιβλ. z.

Gestalten und Grössen aller Sachen, die uns vorkommen, zu erkennen; weil die Flüssigkeiten und Häute, die Gestalt und Grösse des Auges, die Vermögenheit, zu sehen, nicht verändern, noch den Verstand an der Empfindung der äusserlich befindlichen Gestalten verhindern können. Eben dieses muß man von dem Verstande sagen, daß er nämlich sein eigenes Werkzeug, ob es gleich körperlich und mit ihn verbunden ist, nicht empfinden kann, weil keine Bilder aus demselben entstehen, die auf ihn wirken können: denn ἐπιτιθεμενων ἐπι τον νουν οὐ νοειται. Er kann also alles, was ausser ihm ist, empfinden, ohne, daß ihn etwas daran verhindert. Der zweyte Grund, worauf sich Aristoteles stützet, ist noch schwächer, als der vorhergehende; weil weder der Verstand, noch sonst ein ander Accidens ποιον wird, indem es an und für sich selbst keiner Beschaffenheit fähig seyn kann. Daraus also, daß der Verstand das Gehirn, nebst der Mischung der vier Hauptbeschaffenheiten zu seinen Werkzeugen hat, folgt es noch gar nicht, daß er ποιος seyn müsse; weil nicht der Verstand, sondern das Gehirn der Wärme und Kälte, der Feuchtigkeit und Trockenheit unterworfen ist. Auf das dritte endlich, worauf sich die Peripatetiker stützen, daß nämlich, wenn man den Verstand zu einer organischen Fähigkeit mache, ein Grundsatz verlohren gehe, aus welchem man die Unsterblichkeit der Seele herleiten könne, antworten wir, daß man zu dieser Absicht schon andere und weit stärkere Beweise habe, die wir in dem folgenden Hauptstücke abhandeln werden.


36 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Auf den dritten Zweifel antworte ich: daß das Gedächtniß nichts als eine Weiche des Gehirns ist, da es durch einen gewissen Grad der Feuchtigkeit geschickt gemacht wird, dasjenige anzunehmen und zu behalten, was die Einbildung wahrgenommen hat. Das Gedächtniß verhält sich also eben so zu der Einbildung, wie sich das reine und weisse Papier gegen den Schreibenden verhält. Denn so wie der Schreibende dasjenige auf das Papier bringt, was er nicht vergessen will, und wie er es, nachdem er es darauf gebracht hat, wieder überlieset; eben so schreibet gleichsam die Einbildungskraft die Bilder derjenigen Sachen in das Gedächtniß, welche die Sinne empfunden, oder der Verstand begriffen, oder sie sich selbst gebildet hat; und wenn sie sich ihrer wieder erinnern will, sagt Aristoteles, *) so übersieht und betrachtet sie sie wieder. Fast eben so ein Gleichniß braucht Plato, wenn er spricht: aus Furcht vor dem schwachen Gedächtniß im Alter, solle man sich bey Zeiten ein Gedächtniß von Papiere, worunter er die Bücher verstehet, zulegen, damit Fleiß und Arbeit nicht vergebens sey, und man einmal etwas habe, welches uns an alles erinnern könne, was wir für anmerkungswürdig gehalten haben. Diese Verrichtung nun hat die Einbildung, welche in das Gedächtniß schreibt, und was sie geschrieben hat, so oft wieder überlieset, als sie sich dessen erinnern will. Der erste, der auf diese Erklärung fiel, war Aristoteles, **) und der andere Galenus, welcher sich folgendermassen aus

*) βιβλ. δ. περι ψυχης.

**) βιβλ. γ. περι ψυχης.

drückt: *) το γαρ τοι φαντασιουμενον της ψυ-χης ὁτι ποτ' ἀν ἠ, ταυτο τουτο και μνη-μονευειν ἐοικεν. Dieses erhellet auch deutlich daraus, weil dasjenige, was wir uns scharf einbilden, sich dem Gedächtnisse tief eindrückt, und weil das sich im Gegentheil leicht vergißt, was wir nur obenhin betrachtet haben. So wie der Schreibende dadurch, daß er jeden Buchstaben mit Fleiß zieht, die Schrift sehr leserlich macht, so macht auch die Einbildungskraft, daß jedes Bild lange und deutlich in dem Gedächtnisse bleibet, wenn sie es mit Fleiß in das Gehirn gedrückt hat, da es sonst gar bald kaum mehr zu erkennen ist, wenn sie sich weniger Mühe damit gegeben hat. Was sich übrigens bey alten Schriften, an welchen ein Theil durch die Zeit verdorben worden, ein Theil aber unbeschädiget geblieben ist, ereignet, daß man sie nämlich nicht lesen kann, ohne das meiste aus wahrscheinlichen Gründen errathen zu müssen; das ereignet sich auch hier, wenn in dem Gedächtnisse einige Bilder geblieben sind, einige aber sich verloren haben. Und eben dieses war es, was den Aristoteles auf den Jrrthum brachte, das Erinnern müßte ein von dem Gedächtnisse verschiedenes Vermögen seyn; †) und was ihn zu sagen be

*) περι μυων κινησεως βιβλ. β.

†) Diese Meynung des Aristoteles ist wohl kein so grosser Jrrthum, als der Verfasser hier behauptet. Denn die Erinnerungskraft ist mit dem Gedächtnisse nicht völlig einerley, wofern man nicht von der gewöhnlichen Bedeutung dieser Wörter abweichen, und ganz einerley Begriffe dadurch bezeichnen will. Jch werde meine Gedanken darüber in den Zusätzen sagen. E.

wegte, diejenigen, welche eine lebhafte Erinnerung hätten, besässen einen grossen Verstand. Doch auch hier irret er sich: denn die Einbildungskraft, welche die Erinnerung verursacht, ist dem Verstande ganz zuwider. Die Sachen also in das Gedächtniß fassen, und sich der gefaßten Sachen wieder zu erinnern, ist ein Werk der Einbildungskraft; so wie schreiben, und des Geschriebenen sich erinnern, ein Werk des Schreibenden und nicht des Papiers ist. Das Gedächtniß selbst ist folglich bloß eine leidende, nicht aber eine thätige Vermögenheit; so wie das reine und weisse Papier nichts als eine Bequemlichkeit für den ist, welcher schreiben will.


37 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Die fünfte Geschicklichkeit eines guten Redners bestehet darinnen, daß er geschickt im Vergleichen sey, und gute Beyspiele anzubringen wisse, als woran die Zuhörer mehr Vergnügen haben, als an irgend einem andern Stücke; weil durch ein gutes Beyspiel oft eine ganze Lehre deutlich gemacht werden kann, welche die Zuhörer ohne dieses Beyspiel, als allzutiefsinnig würden vorbey gelassen haben. Aristoteles fragt daher; *) δια τι τοις παραδειγμασι χαιρου-σιν οἱ ἀνθρωποι ἐν ταις ῥητορειαις και τοις λογοις μαλλον των ἐνθυμηματων; das ist: warum die, welche einen Redner hören, sich an dem Beyspiele und Fabeln, die er zur Bestärkung desjenigen beybringt, wovon er sie überreden will, mehr ergötzen, als an seinen Beweisen und Gründen? Er antwortet hierauf: weil sich die Menschen eher durch Beyspiele und

*) προβλ. τμημα ιη.

Fabeln, welches eine Art der sinnlichen Beweise wären, bewegen liessen, als durch Gründe, welche allzuviel Verstand und Nachdenken erfordern. Daher bediente sich auch unser Erlöser in seinen Reden so vieler Parabeln und Gleichnisse, weil er wohl sah, daß sich vermittelst derselben dem Volke viel göttliche Geheimnisse beybringen liessen. Diese Geschicklichkeit aber, Fabeln und Gleichnisse zu erfinden, ist ganz gewiß ein Werk der Einbildungskraft, weil es dabey auf Figuren, Verhältnisse und Aehnlichkeiten ankömmt.


38 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

ich fürchte aber, daß nicht, wie die Schlange Hevam verführte mit ihrer Schalkheit, also auch eure Sinnen verrückt werden von der Einfältigkeit in Christo. Denn solche falsche Apostel und trügliche Arbeiter verstellen sich zu Christus = Aposteln. Und ist auch kein Wunder: denn er selbst, der Satan, verstellet sich zum Engel des Lichts. Darum ist es nicht ein grosses, ob sich auch seine Diener verstellen als Prediger der Gerechtigkeit, welcher Ende seyn wird nach ihren Werken

39 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Was das erste anbelangt, muß man wissen, daß, obgleich der Verstand die edelste und würdigste Fähigkeit des Menschen ist, gleichwohl keine einzige andere Fähigkeit sich so leicht mit derWahrheit irrt, als eben er. Dieses fieng schonAristoteles*) an zu beweisen, wenn er sagte: die Sinne irrten niemals, der Verstand hingegen pflegte größtentheils falsch zu schliessen. Dieses sieht man deutlich aus der Erfahrung: denn würden wohl sonst unter den größten Weltweisen, Aerzten, Gottesgelehrten und Rechtsverständigen, so viel Widersprüche, so viel unglei

*) βιβλ. γ. περι ψυχης κεφ. γ.

che Meynungen, so viel verschiedene Erklärungen und Urtheile über eben dieselbe Sache anzutreffen seyn, da die Wahrheit nicht mehr als eine einzige ist?


40 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Woher es aber komme, daß die Sinne von ihren Gegenständen so gewiß seyn können, und der Verstand hingegen mit den seinigen sich so leicht irre, wird man ohne Mühe begreifen, wenn man überlegt, daß die Gegenstände der fünfSinne und die Bilder, wodurch sie empfunden werden, ihrer Natur nach, ein gewisses, festes und beständiges Wesen, ehe man sie noch empfindet, haben. Die Wahrheit aber, womit der Verstand umgehet, ist an und für sich selber nichts gewisses, wenn sie der Verstand nicht zu etwas gewissen macht. Sie ist ganz und gar zerstreuet, und ihre Materialien liegen nicht anders untereinander, als die Steine, die Erde, das Holz und die Ziegel eines niedergerissenen Hauses, womit in dem Baue selbst so viel verschiedene Jrrthümer können begangen werden, als verschiedene Menschen sich mit ihrer Einbildungskraft daran machen. Eben dieses ereignet sich an dem Baue, welchen der Verstand durch die Verbindung der Wahrheiten aufführt; wenn sich nicht ein gutes Genie damit beschäftiget, so werden alle andere tausend Fehler begehen, ob sie gleich alle einerley Grundsätze haben. Daher kömmt es, daß unter den Menschen von eben derselben Sache so viel verschiedene Meynungen sind. Jeder ordnet und verbindet die Wahrhei ten auf diejenige Art, die ihm sein Verstand an die Hand giebt.


41 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Eben dieses ereignet sich in der sinnlichen Vermögenheit; weil von allen fühlbaren Beschaffenheiten keins, weder das Harte noch das Weiche, weder das Rauhe noch das Glatte, weder das Warme noch das Kalte, weder das Feuchte noch das Trockene, allen Gefühlen gleich angenehm ist. Es giebt Leute, welche in einem harten Bette besser schlafen, als in einem weichen, und andere, welche in einem weichen besser schlafen, als in einem harten.


42 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Daß aber die Einbildungskraft diejenige Fähigkeit sey, welche dem Arzte unentbehrlich ist, wenn er eines jeden Krankheit erkennen und derselben abhelfen will, ist sehr leicht zu erweisen, wenn man die Lehre des Aristoteles voraussetzt. Dieser sagt nämlich, daß der Verstand weder das Besondere erkennen, noch eines von dem andern unterscheiden, noch wißen könne, was die Zeit, der Ort und andre Besonderheiten sind, nach welchen ein Mensch von dem andern unterschieden ist, und also auch auf verschiedene Art kurirt werden muß. Die Ursache hiervon, wie sie die gemeinen Weltweisen anführen, soll diese seyn, weil der Verstand eine geistige Vermögenheit ist, und von den Besonderheiten, welche in die Materie versenkt sind, keine Veränderungen leiden kann. Aristoteles sagt: die Sinne erkennen das Besondere; der Verstand aber das Allgemeine. Da nun aber die Kuren an jedem Menschen insbesondre, nicht aber an den Menschen überhaupt, geschehen, als welche überhaupt betrachtet, unveränderlich und keiner Verderbung unterworfen sind, so ist es offenbar, daß der Verstand eine Fähigkeit ist, welche bey dem Kuriren gar nicht angewandt werden kann. †)


43 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Nimmermehr wird ein Arzt diese oder jene Krankheit einsehen und kuriren können, wenn er nicht bey sich einen Schluß in Darii macht, ob er gleich ein blosser Empiricus ist. Der erste von den Vordersätzen darinnen hängt seinem Beweise nach von dem Verstande ab; der zweyte aber von der Einbildungskraft. Grosse Theoretici irren daher gemeiniglich in Minori; grosse Practici hingegen in Maiori. Zum Beyspiele mag folgender Schluß dienen: jedes Fieber, welches seinen Grund in den kalten und feuchten Säften hat, muß mit hitzigen und trockenen Arzneymitteln vertrieben werden; das Fieber nun, welches diesen Kranken befallen hat, ist nach allen Merkmalen ein solches, welches aus den kalten und feuchten Säften entstehet; folglich muß es mit hitzigen und trockenen Arzneymitteln kurirt werden. Die Wahrheit des ersten Vordersatzes muß durch den Verstand bewiesen werden, weil er allgemein ist, nämlich daher, weil, wenn die Kälte und Feuchtigkeit gemässiget werden soll, dieses durch nichts anders, als durch Wärme und Trockenheit geschehen kann, indem jede Beschaffenheit sich nur durch die gegenseitige Beschaffenheit schwächen läßt. Kömmt man aber auf den Beweis des andern Vordersatzes, so kann der Verstand nichts dabey thun, weil er nicht allgemein ist, und also einer andern Fähigkeit zugehört. Diese ist die Einbildungskraft, welche durch die fünf äusserlichenSinne die eigentlichen und besondern Merkma le der Krankheit muß erkannt haben. Wenn nun diese Merkmale von der Wärme oder ihrer Ursache hergenommen werden müssen, so kann sie der Verstand unmöglich erkennen: denn dieser lehrt bloß, daß man die Merkmale daher nehmen müsse, woraus die meiste Gefahr zu besorgen sey. Welches Merkmal aber das größte sey, dieses kann bloß die Einbildungskraft erreichen, indem sie den Schaden des Fiebers mit dem Schaden der Symptomen und der Ursache, nach ihrer Stärke und Schwäche, vergleicht. Zu dieser Erkenntniß zu gelangen, besitzt die Eiinbildungskraft gewisse Eigenschaften, die sich nicht beschreiben lassen, und vermittelst welcher sie Sachen erreicht, die sich weder ausdrücken, noch begreifen, noch durch irgend eine Kunst erlernen lassen. Sehen wir nicht unzäligmal, daß ein Arzt einen Kranken zu besuchen kömmt, und durch das Gesicht, durch das Gehör, durch den Geruch und das Gefühl Sachen erräth, welche ganz unmöglich zum errathen schienen, so daß er selbst, wenn man ihn fragen sollte, auf was Weise er zu einer so verborgenen und geheimen Kenntniß gelange, die Ursache davon nicht angeben könnte; weil es eine Geschicklichkeit ist, die aus der Fruchtbarkeit der Einbildungskraft entsteht. Jn der lateinischen Sprache wird siesolertia genannt, und ihre Stärke besteht darinnen, daß sie aus gemeinen, ungewissen, veränderlichen und muthmaßlichen Kennzeichen in einem Augenblicke tausend Verschiedenheiten an Dingen wahrnehmen kann, als worinnen das Hauptwerk des Kurirens und der gewissen Vorherverkündigungen besteht.


44 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Der zweyte Grundsatz ist dieser: alles Erschaffene strebt natürlicher Weise nach seiner Erhaltung, und bemüht sich immer zu dauern, und in dem Wesen, welches ihm GOtt und die Natur gab, zu verbleiben, wenn es auch schon hernach ein besseres Wesen bekommen sollte. Diesem Grundsatze gemäß, verabscheuet jedes Erschaffene, dem es an Gefühl und Sinnen nicht fehlt, alles, was seine Natur verändern oder verderben könne, und flieht es aus äussersten Kräften.


45 - Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften /

Bey dem ersten ist wenig Schwierigkeit: denn, wie wir schon gesagt haben, so findet we der in dem Kriege noch in dem Schachspiele dasGlück Statt, so daß man niemals sagen kann: wer hätte das gedacht? Alles beruht, sowohl bey dem einen als bey dem andern, auf der Unwissenheit und Ungeschicklichkeit desjenigen, welcher verliert, und auf der Klugheit und Geschicklichkeit desjenigen, welcher gewinnt. Wenn sich ein Mensch in Sachen, die einzig von demGenie und der Fähigkeit abhängen, überwunden sieht, ohne daß er die Schuldauf etwas anders, als auf seine Unwissenheit schieben kann; so muß er sich nothwendig erzürnen: denn ein jeder vernünftiger Mensch ist ehrbegierig, und kann es nicht leiden, daß ihn ein anderer in Werken, die von dem Verstande abhängen, übertreffe. Aristoteles*) wirft daher die Frage auf:διατι ἐj ἀρχης της μεν κατα το σωμα ἀγω-νιας ἀθλοντι προὐταjαν„{??} σοφιας δε οὐδεν ἠθηκαν; das ist: warum die Alten für denjenigen keinen Preiß bestimmt haben, welcher andere an Weisheit und Wissenschaft übertrift, da sie doch den Tänzern, den Läufern und den Ringern keine geringe Belohnung ausgesetzt hätten? Er antwortet auf diese Frage: weil in dem Ringen und in allen körperlichen Uebungen Richter gesetzt werden könnten, welche eines jeden vorzügliche Geschicklichkeit darinnen bestimmten, indem es hier bey Ertheilung des Preises bloß auf die Entscheidung des Auges ankomme,

*) προβλ. τμημ. λ.

welcher am besten tanze, oder am schnellsten renne. Jn den Wissenschaften hingegen sey es etwas sehr schweres, wenn man mit dem Verstande ausmachen sollte, welcher dem andern darinnen vorzuziehen sey, weil die Wissenschaften etwas geistiges sind. Wenn daher der Richter bey Austheilung des Preise ungerecht verfahren wollte, so würden es sehr wenige merken, indem sein Ausspruch auf eine sehr feine Entscheidung, die nicht in die Sinne fallen kann, ankomme. Ausser dieser Antwort ertheilt Aristoteles auch noch eine bessere, diese nämlich: weil die Menschen sich nicht viel daraus machten, wenn sie von andern im Ringen, im Tanzen, und im Laufen übertroffen würden, indem alles dieses Geschicklichkeiten wären, worinnen auch die Fertigsten nicht einmal gewissen unvernünftigen Thieren gleichkommen könnten. Was aber kein Mensch mit Geduld ertragen könnte, wäre dieses, wenn ein anderer für weiser und klüger erklärt würde, als er; er fasse sogleich einen heftigen Haß gegen die Richter, und suche sich an ihnen zu rächen, weil er gewiß glaube, sie hätten ihn aus Bosheit beschimpfen wollen. Diese Verdrüßlichkeiten nun zu vermeiden, haben die Alten niemals denjenigen Verrichtungen, welche von dem vernünftigen Theile des Menschen abhängen, weder Richter noch Preise setzen wollen. Hieraus folgt, daß diejenigen Universitäten sehr übel thun, die durch gewisse Richter bestimmen lassen, welcher von den Licentiaten der erste, zweyte oder dritte, nach Maaßgebung der Geschicklichkeit, die ein jeder in der öffentlichen Prüfung gezeigt hat, seyn solle. Zu geschweigen, daß täglich alle die Verdrüßlichkeiten daraus folgen, welche schon Aristoteles angemerkt hat, so ist es sogar wider die Lehre des Evangeliums, welche durchaus keinen Rangstreit unter den Menschen duldet. Die Wahrheit hiervon erhellet aus folgendem unwidersprechlich. Als eines Tags die Jünger unseres Heilandes auf dem Wege mit einander stritten, welcher unter ihnen der Größte sey; so fragte sie ihr Meister, nachdem sie in der Herberge eingekehret waren, was die Ursache ihres Streits unter Wegens gewesen wäre? So einfältig als sonst die Jünger waren, so begriffen sie doch wohl, daß sie eine unerlaubte Frage unter sich abgehandelt hätten. DieSchrift sagt, daß sie sich nicht unterstanden hätten, es ihm zu sagen. Jesus aber, dem als GOtt nichts verborgen war, sagte zu ihnen: so jemand will der erste seyn, der soll der letzte seyn vor allen und aller Knecht (Marc. IX. 35.) Daher waren auch die Pharisäer unserm Heilande so verhaßt, weil sie, wie er (Matth. XXIII.) sagt, gern in den Schulen und über Tische oben an sassen.