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31 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ich meines Theils mache weit mehr aus einemAffecte, aus einem Charakter, der sich nach und nach entwickelt und sich endlich in aller seiner Stärke zeiget, als aus allen den künstlichen Verwickelungen, aus denen man Stücke zusammensetzt, in welchen die Zuschauer eben so sehr hin und her geworffen werden, als die Personen. Mich dünkt, der gute Geschmack kann dergleichen Stücke nicht vertragen, und grosse Wirkungen können sie unmöglich haben. Und das ist es gleichwohl, was wirLeben und Bewegung nennen. Die Alten hatten einen ganz andern Begriff davon. Der einfältigste Verlauf; eine Handlung, mit der man kurz vor ihrem Ende anfängt, damit alles bereits aufs äusserste gebracht sey; eine Entwickelung, die alle Augenblicke ausbrechen will und doch immer durch einen ganz schlechten aber wahren Umstand verschoben wird; nachdrückliche Reden; heftige Leidenschaften; Gemählde; ein oder zwey meisterhaft gezeichnete Charaktere: das war ihre ganze Kunst. Mehr brauchte Sophokles nicht, aller Gemüther unter sich zu bringen. Wer keinen Gefallen an den Alten gefunden hat, der wird nie erfahren, wie viel unserRacine dem alten Homer zu danken hat.


32 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ob nun gleich Bewegung und Leben nach den verschiedenen Gattungen, in welchen man arbeitet, verschieden ist, so gehet die Handlung doch darum immer fort. Sie muß nicht einmal in den Zwischenaufzügen stehen bleiben. Sie ist ein Bruchstück, das sich von dem Gipfel eines Felsen losreisset: je weiter es fällt, desto geschwinder fällt es, und die Hindernisse, auf die es von Zeit zu Zeit aufschlägt, vermehren seine Gewalt.


33 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Ein Vater hat zwey Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter liebt insgeheim einen jungen Menschen, der in dem Hause wohnet. Der Sohn ist von einer Unbekannten eingenommen, die er in seiner Nachbarschaft gesehen hat. Er hat sie vergebens zu verführen gesucht. Er hat sich verkleidet, und unter erborgtem Namen neben ihr eingemiethet. Man hält ihn da für einen geringen Menschen, der irgend einem Handwerke nachgehet. Weil man glauben muß, daß er des Tages über bey seiner Arbeit ist, so kann er seine Geliebte nur des Abends sehen. Der Vater aber, der auf alles, was in sei nem Hause vorgehet, aufmerksam ist, merkt, daß sein Sohn alle Nächte ausser dem Hause bleibt. Diese Aufführung, die ein unordentlichesLeben zu verrathen scheinet, macht ihn unruhig. Er wartet auf seinen Sohn.


34 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Der Vater wird den Charakter seines Standes haben. Er wird gut, wachsam, standhaft und zärtlich seyn. Da ich ihn in die bedenklichsten Umstände seines Lebens setze, so wird seine Seele hinlängliche Gelegenheit haben, sich ganz zu entwickeln.


35 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Die Illusion ist nicht freywillig. Sagen: ich will mich täuschen lassen, ist eben so viel als sagen: ich habe eine Erfahrung von dem, was in dem menschlichen Leben vorfällt, auf die ich nicht achten will.


36 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Nicht genug, komischer Dichter, daß du in deinem Entwurfe gesagt hast: dieser junge Mensch soll sich aus dieser Buhlerin nur wenig machen; er soll sie verlassen, er soll sich verheyrathen; er soll an seiner Frau Geschmack finden; diese soll liebenswürdig seyn, und er soll sich ein erträgliches Leben mit ihr zu führen versprechen; er soll ferner zwey Monate bey ihr liegen, ohne sie zu berühren, und gleichwohl soll sie sich schwanger befinden. Die Schwiegermutter soll in ihre Schnur ganz vernarrt seyn. Desgleichen brauche ich eine Buhlerin von schönen Gesinnungen. Auch kann ich eine gewaltsame Schändung nicht wohl entbehren; und diese muß auf der Strasse von einem jungen betrunkenen Menschen ge schehen seyn. Recht gut; nur fort! Häuffe nur immer einen seltsamen Umstand auf den andern; ich bin es zufrieden. Deine Fabel wird ganz gewiß wunderbar seyn. Nur vergiß nicht, daß du alles dieses Wunderbare mit einer Menge gemeiner Umstände versetzen und so zurichten mußt, daß es mich täuschen kann.


37 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Der Hausvater hat drey und funfzig Aufzüge. Den ersten habe ich zuerst, und den letzten zuletzt geschrieben; und ohne eine Reihe ganz besonderer Umstände, die mir das Leben verdrießlich und die Arbeit eckel machten, würde diese Beschäftigung nur ein Zeitvertreib auf wenig Wochen für mich gewesen seyn. Aber wie kann man sich in verschiedene Charaktere verwandeln, wenn uns Widerwertigkeiten nöthigen, nur immer an uns selbst zu denken? Wie kann man sich vergessen, wenn ein beständiger Verdruß uns an unser Daseyn erinnert? Wie kann man andere erleuchten und erhitzen, wenn die Lampe der Begeisterung verloschen ist, und die Flamme des Genies nicht mehr auf der Stirne glänzet?


38 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Entfernt euch, meine Freunde; laßt mich allein; euer Trost ist mir zur Last. — Ich will zu den Schiffen der Griechen gehen; ja, ich will gehen. Ich will den fürchterlichen Mann sehen; ich will ihn bitten. Vielleicht erbarmt er sich meiner Jahre, und hat Achtung für mein Alter. — Er hat einen Vater, der alt ist, wie ich. — Ah, dieser Vater hat ihn zur Schande und zum Unglücke unsrer Stadt erzeugt! — Wie viel Böses hat er uns allen zugefügt! Aber wem mehr, als mir? Wie viele Kinder hat er mir nicht geraubt, und in der Blüthe ihrer Jugend! — Sie waren mir alle lieb! — Ich habe sie alle beweint. Aber der Verlust dieses letztern schmerzet mich vor allen, und ich werde mein Schmerz mit zur Hölle nehmen. — Ah! warum ist er nicht in meinen Armen gestorben! — So würden wir uns doch über ihn satt geweinet haben, ich und dieunglückliche Mutter, die ihm das Leben gab.

39 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Alsdenn sind die Charaktere gut getroffen, wenn die Situationen dadurch verwirrter und schwieriger werden. Man stelle sich vor, daß die vier und zwanzig Stunden, welche die Personen itzt zubringen, die allerunruhigsten und grausamsten Stunden ihres Lebens sind. Und also mache man sie ihnen auch so sauer, als möglich. Man lasse alle Situationen stark seyn; man setze sie den Charakternentgegen; man setze Interesse dem Interesse entgegen. Keine Person müsse zu ihrem Zweck gelangen können, ohne den Absichten einer andern hinderlich zu seyn; eine einzige Begebenheit halte alle zugleich beschäftiget, aber jeder verlange diese Begebenheit anders, als der andere.


40 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Aber hat die dramatische Gattung nicht dadurch schon unglücklicher Weise romanenhaften Anstrichs genug, daß sie den gemeinen Lauf der Dinge nur in solchen Fällen nachahmen darf, wo es der Natur gefallen hat, ausserordentliche Begebenheiten zu combinieren, und muß zu diesem der Illusion so hinderlichen Anstriche, noch eine Wahl von Charakteren kommen, so wie sie sich fast niemals beysammen finden? Was kömmt in dem gemeinenLeben öftrer vor; Gesellschaften, wo die Charaktere verschieden, oder Gesellschaften, wo sie contrastiert sind? Für eine, wo sich der Contrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer hundert tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind.


41 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Poussin hat eine Landschaft gemahlt, wo man junge Schäferinnen nach dem Schalle einer Feldschalmey tanzen siehet, in einem Winkel aber ein Grabmahl, mit der Ueberschrift erblickt: Auch ich lebte in dem glücklichen Arkadien. Diese Bezauberung des Styls, wovon hier die Rede ist, hängt manchmal von einem einzigen Worte ab, das meinen Blick von dem Hauptgegenstande ablenkt, und mir seitwerts, wie in dem Gemählde desPoussin, den Raum, die Zeit, das Leben, denTod, oder eine andere grosse und melancholische Idee zeiget, die mitten unter die Bilder der Freude geworffen worden.


42 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Man hat verlangt, eben dieselbe Person soll in ebendemselben Aufzuge nicht mehr als einmal auf die Bühne kommen: und warum hat man das verlangt? Wenn er das, was er zu sagen kömmt, nicht damals sagen können, als er das erstemal auf der Bühne war; wenn das, was ihn zurückbringt, während seiner Abwesenheit vorgefallen ist; wenn er den, den er sucht, auf der Bühne zurückgelassen hat; wenn dieser wirklich da ist, oder, wenn er nicht da ist, er ihn nirgend anders zu finden weis; wenn ihn der Augenblick erheischt; wenn seine Zurückkunft das Interesse verstärkt; kurz, wenn er in der Handlung eben so natürlich wieder erscheinet, als es uns täglich im gemeinen Leben begegnet: so mag er nur immer wieder kommen, ich bin bereit, ihn zum zweyten und drittenmale zu sehen und zu hören. Der Kunstrichter mag Autoritäten an führen so viel als er will; genug, daß der Zuschauer meiner Meinung seyn wird.


43 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Wenn dem Dichter diese eingebildeten Physiognomieen gleich zu Anfange nützlich seyn können: wie viele Vortheile wird er nicht vollends aus den geschwinden und überhingehenden Eindrücken ziehen können, nach welchen sich diese Physiognomieen in dem Verlauffe des ganzen Stückes, ja auch oft in dem Verlauffe einer einzigen Scene, abändern? — Du entfärbst dich — Du zitterst. — Du hintergehst mich. — Spricht man im gemeinenLeben mit jemand, so merkt man genau auf ihn, und sucht aus seinen Augen, aus seinen Bewegungen, aus seinen Zügen, aus seiner Stimme, was in dem Innersten seines Herzens vorgehet, zu errathen. Aber selten geschieht das auf dem Theater. Und warum? Ohne Zweifel, weil wir noch weit von derWahrheit entfernt sind.


44 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Es ist ein grosser Unterschied zwischen dem Spasse auf dem Theater und dem Spasse im gemeinen Leben. Dieser würde auf der Bühne viel zu schwach, und ohne Wirkung seyn. Jener würde im gemeinen Leben allzuhart seyn, und beleidigen. Die cynische Freymüthigkeit, die im gemeinen Leben so verhaßt und unerträglich ist, ist auf der Bühne vortrefflich.


45 - Von der dramatischen Dichtkunst /

Es ist ein grosser Unterschied zwischen dem Spasse auf dem Theater und dem Spasse im gemeinen Leben. Dieser würde auf der Bühne viel zu schwach, und ohne Wirkung seyn. Jener würde im gemeinen Leben allzuhart seyn, und beleidigen. Die cynische Freymüthigkeit, die im gemeinen Leben so verhaßt und unerträglich ist, ist auf der Bühne vortrefflich.