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46 - Von den Trauerspielen /

Diese Freyheit des Dichters ist in dem 25 Capitel, welches die Entschuldigungen oder vielmehr Recht 246 II. P. Corneille zweyte Abhandlung,fertigungen, deren er sich gegen seine Tadler bedienen kann, enthält, noch deutlicher. Er muß sich, sprichter, einer von den drey Arten die Sachen auszuführen bedienen, entweder muß er sie vorstellen, wie sie gewesen sind, oder wie man sagt,daß sie gewesen sind, oder wie sie hätten seyn sollen. Hierdurch stellt er es in seine Wahl, entweder der historischen Wahrheit oder der gemeinen Meynung, welche der Grund der Fabeln ist, oder der Wahrscheinlichkeit zu folgen. Gleich drauf fügt erhinzu: Wenn man ihm vorwirft, daß er die Begebenheit nicht nach der Wahrheit abgehandelt habe, so kann er antworten, er habesie so vorgestellt, wie sie hätte geschehen sollen: giebt man ihm aber Schuld, er habeweder das eine noch das andre gethan, so kann er sich mit dem, was die gemeine Meynung davon sagt, wie in dem was von den Göttern erzählt wird, wovon der größte Theilnicht wahr ist, entschuldigen. Und kurz hernach: Oft ist es nicht die beste Art, nach welcher sie sich zugetragen haben, und nach welcher sie der Dichter beschreibt; gleichwohlhaben sie sich in der That auf diese Art zugetragen; und der Dichter folglich ist außer Schuld.Diese letzte Stelle beweiset, daß wir eben nicht verbunden sind uns von der Wahrheit zu entfernen, damit wir den Handlungen des Trauerspiels, durch dieAuszierungen der Wahrscheinlichkeit, eine beßre Art geben können, und beweiset es um so viel kräftiger, je unwidersprechlicher aus der andern von diesen drey angeführten Stellen erhellet, daß bloß die allgemei von den Trauerspielen insbesondre. 247ne Meynung uns zu rechtfertigen genug sey, wenn wir die Wahrheit nicht für uns haben, und daß wir etwas besseres daraus machen können, wenn wir die Schönheiten dieser Wahrscheinlichkeit aufsuchen. Wir laufen dadurch zwar Gefahr weniger Beyfall zu finden, doch das ist auch nur eine Sünde wider die Sorgfalt für unsre Ehre, nicht aber wider die Regelnder Schaubühne.


47 - Von den Trauerspielen /

Diese wechselsweise Verziehung des Wahrscheinlichen vor dem Nothwendigen, und des Nothwendigenvor dem Wahrscheinlichen deutlich zu machen, mußman zweyerley in den Handlungen, die die Tragödienausmachen, unterscheiden. Das erste bestehet in denHandlungen selbst und in den unzertrennlich damit 248 II. P. Corneille zweyte Abhandlung, verbundenen Umständen der Zeit und des Orts; und das andre in der Verbindung, die sie unter einander haben, und wornach eines aus dem andern folget. Bey dem ersten ist das Wahrscheinliche dem Nothwendigen vorzuziehen, bey dem andern aber das Nothwendige dem Wahrscheinlichen.


48 - Von den Trauerspielen /

Ehe wir noch auf die Erklärung und Eintheilungen des Wahrscheinlichen und Nothwendigen kommen, sowollen wir noch eine Betrachtung über die Handlungen, woraus das Trauerspiel besteht, anstellen; undwir werden finden, daß wir deren dreyerley dabey anwenden können, wie wir es für das beste halten. Dieeinen folgen der Geschichte, die andern setzen was zuder Geschichte hinzu, die dritten verfälschen die Geschichte. Die ersten sind wahr, die andern manchmal wahrscheinlich und manchmal nothwendig, und die dritten müssen allezeit nothwendig seyn.


49 - Von den Trauerspielen /

Diese offenbare Falschheit, welche alle Wahrscheinlichkeit über den Haufen stößt, kann sich auch sogar inden ganz und gar erdichteten Stücken befinden. Man von den Trauerspielen insbesondre. 255 kann zwar die Historie daselbst nicht verfälschen, weil diese gar keinen Theil daran hat, allein es sind gewisse Umstände der Zeit und des Orts, welche den Verfasser, wenn er seine Einrichtung nicht wohl macht,seiner Lügen überführen können. Wenn ich einen König von Frankreich oder Spanien unter einem erdichteten Namen einführte, und wählte zur Zeit der Handlung ein Jahrhundert, worinne uns die Geschichtewahrhaftige Könige von diesen beyden Reichen meldet,so würde die Falschheit sehr deutlich seyn; die aber würde noch viel empfindlicher seyn, wenn ich Rom zwey Meilen von Paris setzen wollte, damit man in einem Tage hin und her kommen könne. Es giebt gewisse Sachen, worauf der Poet niemals einiges Recht hat. Er kann sich zwar einige Freyheit gegen die Historie nehmen, in so weit sie die Handlungen besondrer Personen, als den Cäsar oder den August angeht, und kann ihnen Handlungen beylegen, die sie niemalsgethan haben, oder kann sie auf eine andre Art geschehen lassen, als sie nicht geschehen sind; allein die Chronologie kann er nicht umstoßen, und kann nicht denAlexander zu Zeiten des Cäsars leben lassen, nochvielweniger kann er die Lagen der Oerter, die Namender Königreiche, der Provinzen, der Städte, derBerge, und der merkwürdigen Flüsse ändern. Die Ursache ist, weil diese Provinzen, diese Berge, diese Flüsse beständig bleibende Sachen sind. Was wir von ihrer Lage wissen, war von Anfange der Welt so,und wir dürfen nicht vermuthen, daß eine Veränderung damit vorgegangen sey, wenn sie von der Geschichte nicht ausdrücklich bemerkt wird; die Geographie aber sagt uns alle ihre sowohl alte als neue 256 II. P. Corneille zweyte Abhandlung, Namen. Derjenige also würde sehr lächerlich seyn, der sich einbilden wollte, zu den Zeiten Abrahams habe Paris an dem Fuße der Alpen gelegen, oder die Seyne wäre durch Spanien geflossen, und wollte dergleichen Ungereimtheiten in ein erfundenes Stück bringen. Allein die Historie betrifft vorgehende Sachen, und von denen eine auf die andre folgt, und deren jede nur einen Augenblick währet, und wovon vieles der Kenntniß derjenigen, die die Geschichte schreiben, entwischt. Man kann auch keine aufweisen, die alles in sich enthielte, was sich an den Orten, von welchen sie redt, zugetragen hat, oder alles was von dem, dessen Leben sie beschreibt, ist verrichtet worden. Ich nehme auch nicht einmal die Commentare des Cäsars aus, worinne er seine eigne Historie, die er doch wohl vollkommen wissen sollte, beschreibet. Wir wissen, was für Länder an der Rhone und an der Seyne gelegen haben, ehe Cäsar nach Gallien gekommen ist, allein wir wissen wenig, oder vielleicht gar nichts, was sich vor seiner Ankunft daselbst zugetragen hat. Wir können zwar also wohl einige Handlungen daselbst vorgehen lassen, die wir zu dieser Zeit geschehen zu seyn erdichten, allein an der natürlichen Entfernung eines Orts von dem andern, können wir, unter dem Vorwande einer poetischen Erfindung, oder der lange verfloßnen Zeiten, nichts ändern. So hat Barclajusin seiner Argenis verfahren, er nennt jede Stadt, jeden Fluß von Sicilien, jede von unsern Provinzenmit seinem eigentlichen Namen, obgleich die Namen allen Personen, die er einführt, eben sowohl, wie ihre Handlungen, erdichtet sind.


50 - Von den Trauerspielen /

Aristoteles scheint in diesem Puncte so strenge nicht zu seyn, weil er glaubt, der Dichter sey zu entschuldigen, wenn er wider eine andre als seine Kunst sündige, zum Exempel wider die Medicin oder wider die Astrologie. Hierauf aber antworte ich, daß er ihn unter keiner andern Bedingung entschuldiget, als wenn er dadurch zum Zwecke seiner Kunst gelanget, zu welchem er nicht anders hätte gelangen können. Er gestehet auch noch; daß er in diesem Falle sündige, unddaß es besser wäre wenn er gar nicht sündigte. Wenn ich diese Entschuldigung annehmen sollte, so würde ich einen Unterschied unter den Künsten machen; unter denen, von welchen er ohne Schande nichts verstehen kann, weil es sehr selten Gelegenheit giebt, auf der Bühne davon zu sprechen, als die Arzeneykunst oder die Astrologie; und unter denen, ohne deren Kenntniß, entweder ganz oder zum Theile, er in seine Stücke keine Genauigkeit bringen könnte, dergleichen die Geographie und die Chronologie sind. Weil er keine Handlung vorstellen kann, ohne daß er sie an einen gewissen Ort oder an eine gewisse Zeit bringt, so ist er nicht zu entschuldigen, wenn er in der Wahl dieses Orts oder dieser Zeit, seine Unwissenheit verräth.


51 - Von den Trauerspielen /

Der Zweck der spielenden Personen ist verschieden, nach den verschiednen Absichten, welche ihnen die Verschiedenheit der Stoffe giebt. Ein Liebhaber hatden Zweck seine Liebste zu besitzen, der Hochmüthigeeine Krone zu erlangen, ein Beleidigter sich zu rächen, ein jeder einen andern. Dasjenige nun, wassie thun müssen, dazu zu gelangen, heißt das Nothwendige, welches man dem Wahrscheinlichen vorziehen muß, oder genauer zu reden, welches man in der Verbindung der Handlungen mit dem Wahrscheinlichen vereinigen muß. Ich glaube mich hierüber schongenugsam erklärt zu haben, ich will also nichts mehrdavon gedenken.


52 - Von den Trauerspielen /

Ich halte also, wie ich schon gesagt habe, dafür, daß in dem Lustspiele die Einheit der Handlung inder Einheit der Verwicklung oder der Hindernisse,welche sich den Absichten der Hauptpersonen in Wegstellen, bestehe; in dem Trauerspiele aber, in derEinheit der Gefahr, der Held mag nun derselben unterliegen oder nicht. Ich will darmit gar nicht sagen, daß man in dieser nicht verschiedne Gefahren, und in jeder nicht verschiedne Hindernisse anbringen könne, wenn nur eines immer nothwendig aus dem andern folgt; denn alsdann macht die Befreyungvon der ersten Gefahr die Handlung noch nicht vollständig, weil sie gleich eine andre hervorbringt, und 546 II. P. Corneille dritte Abhandlung, die Wegschaffung des einen Hindernisses beruhiget die Zuschauer noch nicht, weil sie so gleich in eine neue verwickelt werden. Ich kann mich auf kein Exempel aus den Alten besinnen, wo die Vervielfältigung mit einander verbundner Gefahren nicht die Einheit der Handlung vernichte. Ich habe aber diese unverknüpfte Verdoppelung in den Horaziern und in der Theodoraals einen Fehler angemerkt; denn in jenen war es gar nicht nöthig, daß er seine Schwester, nachdem er gesiegt hatte, umbrachte, und diese auch nicht geb rauchtgebraucht in den Märtyrertod zu rennen, nachdem sie der Beschimpfung entgangen war. Wenn ich mich nicht sehr betriege, so ist der Tod des Polixen und des Astianax in den Trojanerinnen des Seneca von gleicher Unregelmäßigkeit.


53 - Von den Trauerspielen /

Zum andern will die Einheit der Handlung nichtso viel sagen, als ob das Trauerspiel nicht mehr alseine einzige auf dem Schauplatze dürfe sehen lassen.Die Handlung die der Dichter zu seinem Stoffewählt, muß Anfang, Mitte und Ende haben,und diese drey Theile sind nicht nur eben so viel Handlungen, welche sich auf die Haupthandlung beziehen, sondern jeder von ihnen kann sogar mehr als eine, wenn sie nur mit einander nothwendig verbunden sind, enthalten. Es muß nur eine einzige vollständige Handlung seyn, welche denZuschauer beruhiget; vollständig aber kann sie durchnichts als durch andre unvollständige Handlungen werden, welche ihr gleichsam den Weg bahnen, und den Zuschauer in einer angenehmen Ungewißheit erhalten müssen. Dieses muß man besonders bey dem Schlusse jedes Aufzugs beobachten, damit die Hand von den drey Einheiten. 547lung nicht unterbrochen wird. Es ist eben nicht nothwendig, daß man genau wisse, was jede spielende Person in den Zwischenräumen, welche die Aufzüge von einander absondern, thue; man braucht nicht einmal zu wissen, daß sie etwas, während der Zeit, da sie nicht auf dem Schauplatze sind, thun. Allein das ist nothwendig, daß in jedem Aufzuge etwas vorkomme, welches uns auf das, was in dem anderngeschehen soll, begierig macht.


54 - Von den Trauerspielen /

Die Verbindung der Auftritte, welche alle beson dern Handlungen eines jeden Aufzuges mit einander verknüpft, und wovon ich in der Untersuchung des Kammermägdchens geredt habe, ist eine große Zier de eines Gedichts, und hilft durch die Fortwährung der Vorstellung viel zur Fortwährung der Handlung; sie ist aber dem ohngeachtet nur eine Zierde und keine 550 II. P. Corneille dritte Abhandlung, Regel. Die Alten haben sich derselben nicht allezeit unterworfen, obgleich größtentheils ihre Aufzüge nur aus zwey oder drey Auftritten bestehen, welches ihnen diese Verbindung viel leichter machte, als uns, die wir einem Aufzuge oft neun bis zehn Auftritte geben. Ich will nur zwey Exempel anführen, wie nachläßig sie hierinne gewesen sind. Das eine ist in dem Ajax des Sophokles, wo dieMonologe, die er, ehe er sich tödtet, hält, nichtdie geringste Verbindung weder mit dem vorhergehenden noch dem darauf folgenden Auftritte hat. Das andre ist in dem dritten Aufzuge des Evnuchus, wo der Auftritt des Antipho keine Verbindungmit dem Chremes oder der Pythias hat, welche vorher von der Bühne gehen. Die Gelehrten unsresJahrhunderts, die sie in ihren uns nachgelassenenTrauerspielen zum Muster genommen haben, sindnoch viel nachläßiger mit dieser Verbindung, als sie selbst, umgegangen. Hiervon überzeugt zu seyn, darf man nur einen Blick auf die Stücken des Buchananus, Grotius und Heinsius werfen, wovon ich in der Untersuchung des Polyeuct gesprochen habe. Wir aber haben unsere Zuschauer an diese Verbindung so sehr gewöhnt, daß sie keinen unverknüpften Auftritt mehr sehen können, ohne ihn als einen Fehler anzumerken. Auge und Ohr ärgern sich daran, ehe noch der Verstand seine Betrachtung darüber anstellen kann. Eben dieser Fehler macht den vierten Aufzug im Cinna schlechter als die übrigen; und das was vorher keine Regel war, ist es durch den beständigen Gebrauch geworden.


55 - Von den Trauerspielen /

Obgleich die Handlung des dramatischen Gedichts ihre Einheit haben muß, so muß man doch zwey Theiledabey beobachten, die Verwicklung und die Auflösung. Die Verwicklung besteht, nach dem Aristoteles, theils aus dem, was außer der Bühne vor Anfang der Handlung, die man beschreibt, vorgefallen ist, theils aus dem, wasin dem Stücke wirklich vorgeht; das übrigegehört zur Auflösung. Die Veränderung eines Glücks in das andre macht die Theilungdieser beyden Theile. Alles was vor dieser Veränderung vorher geht, gehört zum ersten, und die Verändrung selbst nebst dem, wasdarauf folgt, gehören zum andern. Die Ver von den drey Einheiten. 553wicklung hanget gänzlich von der Wahl und ämsigen Einbildung des Dichters ab, und man kann keine Regeln darvon geben, außer, daß er alles nach dem Wahrscheinlichen und Nothwendigen, wovon wir inder zweyten Abhandlung geredt haben, einrichtenmüsse: diesem füge ich noch einen guten Rath bey;daß er sich mit dem, was vor der Handlung geschehen, so wenig als möglich zu thun machen muß. Die Erzählungen desselben sind gemeiniglich zur Last, weil sie unerwartet kommen, und dem Geiste der Zuschauerallzuvielen Zwang anthun, die ihr Gedächtniß mit dem beschweren müssen, was zehn oder zwölf Jahr vorher geschehen ist, wenn sie das, was jetzo geschehen soll, verstehen wollen. Die Erzählungen abervon dem, was wirklich hinter der Bühne geschieht,thun allezeit eine bessere Wirkung, weil sie mit Neugier erwartet werden, und einen Theil der vorgestelltenHandlung ausmachen. Eine von den Ursachen, diedem Cinna so vielen hohen Beyfall verschafft haben,und ihn über alles, was ich gemacht habe, setzen, ist,daß keine einzige Erzählung von dem Vergangenen darinne vorkommt; denn die Erzählung, die er von seiner Verschwörung der Aemilia macht, ist vielmehr eine Zierde, die den Witz der Zuschauer kützelt, als eine nothwendige Erklärung besonderer Umstände, die sie wissen und behalten mußten, wenn sie das übrige verstehen wollten. Aemilie giebt ihnen in den zwey ersten Auftritten genugsam zu verstehen, daß er ihr zu Gefallen sich wider den August verschworen habe, und wenn ihr Cinna bloß und allein sagte, daß sich die Verschwornen auf Morgen fertig hielten, so würde es für die Handlung eben so viel seyn, als daß er ihr 554 II. P. Corneille dritte Abhandlung, in hundert Versen von dem, was er ihnen gesagt, und von der Art wie sie ihn empfangen, Rechenschaft giebt. Es giebt Verwicklungen, die mit der Geburt des Helden anfangen, wie im Heraclius; allein diese besondern Anstrengungen der Erfindungskraft, erfodern auch eine besondre Anstrengung der Aufmerksamkeit bey den Zuschauern, und matten sie so sehr ab, daß sie oft verhindern werden, das ganze Vergnügen der ersten Vorstellungen zu empfinden.


56 - Von den Trauerspielen /

Aristoteles verlangt, daß ein Trauerspiel ohne Beyhülfe der Schauspieler und außer der Vorstellung, schön und fähig zu gefallen seyn solle. Um demLeser dieses Vergnügen zu erleichtern, muß man seinenGeist eben so wenig anstrengen, als den Geist des Zuschauers; denn die Mühe die er hat, sich alles inGedanken selbst vorzustellen, verringert die Lust, dieer daraus ziehen soll. Ich wollte also rathen, daß der Poet alle kleine Handlungen, die sich nicht der Mühe verlohnen, daß er die Verse damit belästiget, welche durch dergleichen Kleinigkeiten vieles von ihrer von den drey Einheiten. 559 Würde verlieren würden, an dem Rande sorgfältig anmerkte. Auf der Bühne ersetzt sie der Schauspieler gar leicht, in dem Buche aber würde man oftmals rathen müssen, und würde öfters übel rathen,wenn man nicht von diesen kleinen Nebenumständenunterrichtet wäre. Ich gestehe zwar zu, daß die Altendiesen Gebrauch nicht gehabt, man wird mir aber auchzugestehen, daß sie uns, eben deswegen, weil sie ihn nicht gehabt, viel Oerter in ihren Gedichten dunkel gelassen haben, welche nur Meister in der Kunst entwickeln können; obgleich manchmal auch diese nicht, so sehr sie sich es auch einbilden, allzuglücklich sind. Wenn wir den Alten in allen Stücken folgen wollten, so müßte man auch die Aufzüge und Auftritte nicht unterscheiden, weil es die Griechen nicht gethan haben. Der Mangel dieser Unterscheidungen ist oft Schuld, daß man nicht wissen kann, wie viel Aufzügein ihren Stücken sind, noch ob zum Schlusse einesAufzuges der Schauspieler abgeht, um den Chor singen zu lassen, oder ob er, ohne Handlung, so lange dableibt, als man singt; weder sie selbst noch ihre Ausleger haben das geringste hiervon anzumerken für gutbefunden.


57 - Von den Trauerspielen /

Wider diese Regel wird von vielen gestritten, die sie eine Tyranney nennen. Sie würden Recht haben, wenn sie allein auf das Ansehen des Aristotelesgegründet wäre, und uns die Natur nicht selbst befähle, sie anzunehmen. Das dramatische Gedichteist eine Nachahmung, oder besser zu reden, ein Bildder menschlichen Handlungen; und es ist außer allemZweifel, daß die Bilder desto vortrefflicher sind, je näher sie dem Originale kommen. Die Vorstellung dauert ungefähr zwey Stunden, und nur alsdannwürde sie vollkommen ähnlich seyn, wenn die vorgestellte Handlung in der That nicht mehr Zeit erfoderte. Was brauchen wir uns also in 12 oder 24Stunden einzuschließen? Wenn wir nur die Hand lung des Gedichts in eine so kurze Dauer einschränken als es möglich ist, damit die Vorstellung desto ähnlicher, und also desto vollkommner sey. Kann man sie vollkommen ähnlich machen, und die Dauerder Handlung selbst auf zwey Stunden bringen, so ist es desto besser. Ich glaube nicht, daß Rodogune vielmehr Zeit erfodert, und für den Cinna werden sie auchhinlänglich seyn. Geht es aber nicht an, daß zweyStunden zu der Dauer zureichend sind, so können wir vier, sechs, zehn Stunden dazu nehmen, nur daß wir die 24 Stunden nicht allzusehr überschreiten, weil alsdann alle Kleinigkeiten allzu weit auseinander gesetzt seyn würden, als daß sie ihre gehörige Verhältnisse gegen einander haben könnten.


58 - Von den Trauerspielen /

Wenn das Ende der Handlung von den Personen abhängt, die das Theater nicht verlassen haben, sodaß man nichts neues von ihnen zu erfahren erwartet, wie im Cinna und in der Rodogune, so hat der fünfteAufzug dieses Vorrechts nicht vonnöthen, weil alsdanndie ganze Handlung vor den Augen geschieht, welchesaber wegfällt, wenn ein Theil derselben, gleich vomAnfange, hinter der Bühne vorgeht. Desgleichen verdienen auch die übrigen Aufzüge diese Erlaubniß nicht. Wenn man da nicht Zeit genug hat eine abgegangene Person wieder kommen zu lassen, oder zu erfahren, was sie in ihrer Abwesenheit gethan, so kann man es bis in folgenden Aufzug verschieben, davon Rechenschaft zu geben; und unter der Musik, welche die Aufzüge von einander scheidet, kann so viel Zeit verfließen, als nöthig ist; in dem fünften Aufzuge aber ist kein Zwischenraum, die Aufmerksamkeit ist erschöpft, und der Schluß wird erwartet.


59 - Von den Trauerspielen /

Ich halte also dafür, daß man diese Einheit so genau als möglich beobachten müsse; weil sie sich abermit allen Materien nicht verträgt, so ist es zu derEinheit des Orts schon genug, wenn die Handlungnur in einer Stadt geschieht. Ich will damit nichtsagen, daß die Bühne die ganze Stadt vorstellen solle, das würde allzu ausschweifend seyn, sondern nur zwey oder drey Orte, die innerhalb ihren Mauren sind. So ist die Bühne im Cinna beständig in Rom, bald aber ist sie in dem Zimmer des Au gustus, und bald im Hause der Aemilia. Im Lügnerist der Ort bald die Tuilleries, bald der königlichePlatz, beständig aber in Paris: in der Fortsetzungdieses Stücks, das Gefängniß oder die Wohnung der Melisse, beydes in Lyon. Im Cid kommen noch mehr besondre Orte vor, alle aber sind in Seville; und weil die Verbindung der Auftritte darinne nicht beobachtet ist, so stellet die Bühne im ersten Aufzuge die Wohnung der Chimene, das Zimmer der Infantinn im königlichen Pallaste, und einen öffentlichen Markt vor. Im andern Aufzuge kömmtnoch das Kabinet des Königs darzu, und ich habe 570 II. P. Corneille dritte Abhandlung, diese Freyheit hier ohne Zweifel gemisbraucht. Damit diese Verschiedenheit der Bühne, wenn sie nothwendig ist, ein wenig regelmäßig sey, so wollte ich zwey Stücke dabey beobachtet wissen. Erstlich, daß man die Bühne nicht in einem, sondern in verschiednen Aufzügen ändre, so wie ich es in den drey ersten Auf zügen des Cinna gethan habe; zum andern, daß die verschiednen Orte nicht verschiedne Verzierungen brauchten, und daß keiner von ihnen genennt würde, sondern daß man nur immer den Hauptort nenne, der alle in sich schließt, zum Exempel Paris, Rom,Lyon, Constantinopel etc. dadurch würde man denZuhörer leichter betriegen können, indem er die Verschiedenheit des Orts nicht bemerkt, wenn er sie nichtaus Tadelsucht selbst ausforscht, wozu aber die wenigstenaufgelegt sind; denn die meisten überlassen sich derHitze der Handlung, die sie vorstellen sehen. DasVergnügen das sie dabey finden, ist Ursache, daß siedas Unregelmäßige nicht sehen wollen, und es nichteher bemerken, als wenn sie dazu gezwungen werden, oder wenn es allzu sichtlich ist, wie in dem Lügnerund desselben Verfolge, wo man aus den verschiedenen Verzierungen die Verschiedenheit des Orts schließen muß, man mag wollen oder nicht.


60 - La Poésie Dramatique /

Mais comment renfermer dans les bornes étroites d'un drame tout ce qui appartient à la condition d'un homme? Où est l'intrigue qui puisse embrasser cet objet? On fera dans ce genre de ces pieces que nous appellons à tiroir; des scenes épisodiques succéderont à des scenes épisodiques & décousues, ou tout au plus liées par une petite intrigue qui serpentera entr'elles: mais plus d'unité, peu d'action, point d'intérêt. Chaque scene réunira les deux points si recom mandés par Horace: mais il n'y aura point d'ensemble, & le tout sera sans consistence & sans énergie.