Predigt Nr. 24 – Vetter 20 – BT43rb-45ra
[43rb]
Überschrift
Absatz 1
FN-Anzahl: 0
Abschnitt 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 0
Am uffartstag die drytt predig sagt, wie das not syg den menschen, die mit Christo woͤllen uffaren, das sy im vorhin in seinem leben nachfolgen; wie man erkennen soll, die nitt recht von Christo beruͤrt worden seind; was ursach syg, das etlich von got nit beruͤrt werden; von dem berg Oliveti, uff dem Christus ufffuͦr; was uns der anzeyg geistlich; vom tal der trehen und von rechter inniger andacht. Anfengklich gesetzt uff die wort Marci ultimo: "Dominus quidem Jesus postquam locutus est eis assumptus est in celum."
Die dritte Predigt am Tag der Himmelfahrt spricht davon, wie notwendig es für die Menschen ist, die mit Christus zusammen empor fahren wollen, dass sie ihm zuvor in seinem Leben nachfolgen; [sie spricht davon,] wie man die erkennen kann, die von Christus innerlich nicht richtig erreicht wurden; welchen Grund es hat, dass einige von Gott nicht innerlich ergriffen werden; von dem Ölberg, von dem aus Christus [in den Himmel] auffuhr; was der [Ölberg] für uns bedeutet; vom Tal der Tränen und von der richtigen innigen Andacht. [Die Predigt] bezieht sich von Anfang an auf die Worte im letzten [Kapitel] des Markus [evangeliums]: "Dominus quidem Jesus postquam locutus est eis assumptus est in celum."
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 0
Do der gotttes sun Christus Jesus uff dem berg Oliveti mitt seinen jüngern gessen het und hett sy da gestraffet, das sy so lang zeitt bey im geweßt waren und noch als hert zuͦ glauben waren in irem hertzen, do fuͦr er auff in den himel in irem angesicht.
Als der Sohn Gottes Christus Jesus auf dem Ölberg mit seinen Jüngern gegessen hatte und sie getadelt hatte, dass sie so lange Zeit bei ihm gewesen waren und sie doch in ihren Herzen noch immer zu verstockt zum Glauben waren, fuhr er vor ihren Augen auf in den Himmel.
Abschnitt 3
Absatz 4
FN-Anzahl: 1
Ach, kinder wie wenent ir, das der jungern hertz stuͦnde, die in so gar wunderlich lieb hetten? Wann es was nit unbillich, das sy all nach im hetten ein pinlichen schmertzlichen jamer; wann wo der schatz ist, da ist auch all zeit das hertz. A Mit diser wunderbarer hymelfart so will Christus Jesus recht nach im ziehen aller seiner usserwelten freünd hertzen und sinn und all ir krefft inwendig und außwendig, das sy nymmermer haben wonung mit lust oder gnuͤgde in diser zeit, dann das all unser wandlung und wonung sey allein in dem himel unnd niendert anders ausser gott. Wann es mag nit anders gesein: Die glider soͤllen nachvolgen irm haupt, das heut uffgefaren ist in den himel und ist uns allen demuͤtigklich vorgangen die statt zuͦ bereiten im nachzuͦvolgen. Darumb wir [43va] mit innigkeit soͤllen sprechen den spruch in der liebe buͦch: "Trahe me post te." Daz ist: "Zeüch mich nach dir, lieber herr." Wer mag uns des gehinderen, wir volgen nach unserm haupt Jesu Christo? Wan er selber gesprochen hat: "Ich gee zuͦ meinem vatter und zuͦ euwerm vatter." Und sein grundt und sein endt und sein selikeit und unser seligkeyt ist recht ein seligkeit in im. Wann wir seind uß dem selben grund heraußgeflossen mit allen dem, das wir sind, unnd darumb gehoͤren wir recht widerumb in das selb end und in den selben grund, ob wir anders selber woͤllen uns dar zuͦ schicken.
Ach, Kinder, was glaubt ihr, wie es um das Herz der Jünger stand, die ihn auf so ganz besondere Weise liebten? Denn es war durchaus angebracht, dass sie sich alle schmerzlich und quälend nach ihm sehnten; denn wo dein Schatz ist, da ist auch stets dein Herz. Mit dieser einem Wunder gleichenden Himmelfahrt will Christus Jesus Herz und Sinn seiner auserwählten Freunde und alle ihre inneren und äußeren Kräfte mit sich führen, damit sie auf dieser Welt niemals mehr mit Freude und Wohlgefühl ihre Wohnstatt haben sollen und damit unser Leben und unsere Wohnstatt ausschließlich im Himmel und niemand anders als Gott [selbst] sein soll. Denn es kann nicht anders sein: Die Glieder sollen ihrem Haupt folgen, das heute in den Himmel aufgefahren und in Demut uns allen vorangegangen ist, um die Wohnstätte vorzubereiten, zu der wir ihm nachfolgen sollen. Deswegen sollen wir von ganzem Herzen das Wort aus dem Buch der Liebe sprechen: "Trahe me post te." Das bedeutet: "Führe mich mit dir, lieber Herr." Wer kann uns daran hindern, dass wir unserem Haupt Jesus Christus nachfolgen? Denn er selbst sagte: "Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater." Und sein [Seelen-]Grund und sein Ziel und seine Seligkeit und unsere Seligkeit sind eine wahre Seligkeit in ihm. Denn wir sind aus demselben Grund entsprungen mit allem, was wir sind, und deshalb gehören wir zurecht zurück an dieses Ziel und in denselben Grund, wenn wir uns denn darauf vorbereiten wollen.
Abschnitt 4
Absatz 5
FN-Anzahl: 1
Nun soͤllen wir ansehen, das uns Christus Jesus vorgegangen ist in die seligkeit seines himlischen vatters. Darumb, w#.eollen wir im gentzlich nachvolgen, so muͤssen wir auch den weg mercken und geen, den er uns .xxxiii. jar gezeigt und vorgegangen hat in ellend, in armuͦt, in verschmechnuß, in bitterkeit byß in den todt. Also muͤssen wir denselben weg auch geen, woͤllen wir anders kommen mit im in den hymel. Wann ob das wer, das all meyster todt weren unnd alle buͤcher verbrennet, so fünden wir doch an seim heiligen leben leer und lebens gnuͦg. Wann er selber ist der weg unndB das leben und die warheit, und in keinem andern weg mügen wir im warlich und lauterlich nachkommen zuͦ dem end, dann darinne er uns vorgangen ist hie in diser zeit.
Nun sollen wir unseren Blick darauf richten, dass Christus Jesus uns in die Seligkeit seines himmlischen Vaters vorangegangen ist. Wenn wir ihm ganz und gar nachfolgen wollen, müssen wir deswegen auch auf den Weg achtgeben und den Weg gehen, den er uns 33 Jahre lang gezeigt hat und vorangegangen ist in der Fremde, in Armut, in Verachtung, in Leid bis zum Tod. Genauso müssen wir denselben Weg auch gehen, wenn wir mit ihm in den Himmel gelangen wollen. Denn [selbst] wenn es geschähe, dass alle Lehrmeister tot wären und alle Bücher verbrannt, so würden wir doch in seinem heiligmäßigen Leben ausreichend Lehre und [Vorbild für den] Lebenswandel finden. Denn er selbst ist der Weg und das Leben und die Wahrheit, und mit keinem anderen Weg können wir ihm wahrhaftig und ganz bis zu dem Ziel folgen als mit dem, den er uns vorangegangen ist auf dieser Welt.
Abschnitt 5
Absatz 6
FN-Anzahl: 1
Wann als der agsteyn nachC im zeücht das eysen, also zeücht nach im Christus Jesus alle hertzen, die da von im beruͤrt werdenn. Als das eysen von dem stein wirt beruͤret mit seiner krafft, so geet es z#.ou berg dem steyn nach, wiewol es doch sein natur nit ist, so rast es doch nit in im selber, es komme dann vor über sich in die hoͤhe. Also alle gründ, die von disem agsteyn des ewigen gottes sun beruͤrt werden warlich unnd lauterlich, die selben menschen behelt weder lieb, noch freud, noch trost: Sy geen [b] alzeit uff über sich zuͦ gott. Sy vergessen ir eigner natur und volgen nach der beruͤrung gottes und volgen dem, als vil sy dann adelicher unnd mer beruͤrt sind worden von got dann ander menschen.
Denn wie der Magnet das Eisen zu sich zieht, so zieht Christus Jesus die Herzen aller derer zu sich, die von ihm ergriffen werden. Wenn das Eisen von dem Magnet durch seine Kraft erfasst wird, folgt es dem Magnet auf den Berg, obwohl das doch nicht in seiner Natur liegt, und es ruht doch nicht in sich selbst, bevor es nicht über sich selbst hinaus in die Höhe gelangt ist. Genauso ergeht es allen Seelengründen, die von dieser Magnetkraft des ewigen Gottes wahrhaftig und ganz erfasst werden: Diese Menschen hält weder Liebe, noch Freude, noch Hoffnung zurück: Sie streben stets über sich hinaus zu Gott. Sie vergessen ihre eigene Natur und folgen der Berührung Gottes und folgen ihr in dem Maße, in dem sie edler und stärker von Gott ergriffen wurden als andere Menschen.
Abschnitt 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 1
Nun merck ein yeglicher mensch in im selber, ob er von got beruͤrt sey oder nit. Wann alle menschen, die von gott nit warlich beruͤrt seind worden, die fahen offt an schoͤn weyß, das man meinet, es soͤlle groß ding uß in werden, und so man zuͦsicht, wirt gar nichts auß in. Wann sy fallen gar bald darnider und stürtzen wider in die alten weiß und gewonheit unnd auff den lust der natur und der creatur. Sy thuͦnd eben, als die unnützen boͤsen jaͤger thuͦn, so man jaget: Sy wissen von dem edlen gewild nicht, wo es laufft, und lauffen fast dem wild nach, aber sy bleiben auff dem rechten weg nicht. Also geschicht auch disen menschen. Wann ich sage dir in der warheit: Das stundlin mag gar klein sein, darinn du dich schwerlich saumest oder daran du mit lust klebest, dadurch du diß gewild last fürlauffen, das es dir nicht zuͦteyl wirt, das du es fahest. Aber die edlen guͦten hund, das sind die warenD diener gottes, die das edel wild gespüret haben; die gen froͤlich und willigklich disem wild nach durch feur und durch wasser, durch spieß und durch spaͤr und durch alle ding, byß sy das wild ervolgen unnd fahen. Also thuͦnd dise edlen menschen, die des edlen lauteren gottes gewar worden seind, die lassen nicht ab, byß das sy in ervolgen, weder durch lieb noch durch leid. Aber die anderen menschen bleiben gentzlich steen, das sy nicht für sich faren in irem leben. Und darumb alle dy, die hie bleiben steen und nicht für sich geend byß durch den todt, die muͤssen on zweifel ewigklich bleiben, als lang als got ewig ist in der warheit.
Nun soll ein jeder Mensch an sich selbst prüfen, ob er von Gott ergriffen wurde oder nicht. Denn alle diejenigen Menschen, die nicht wirklich von Gott ergriffen wurden, beginnen häufig mit einer guten Lebensweise, so dass man meint, sie müssten große Wirkung entfalten, und wenn man [sie dann] beobachtet, wird gar nichts aus ihnen. Denn sie stürzen sehr schnell ab, und fallen wieder in die alten Lebensweisen und Gewohnheiten und die Freuden der Natur und der Kreatur. Sie handeln genauso wie die nutzlosen schlechten Jäger, wenn man jagt: Sie wissen nicht, wo das edle Wild läuft, und laufen dem Wild schnell hinterher, aber bleiben nicht auf dem richtigen Weg. Genauso ergeht es auch diesen Menschen. Denn ich sage dir – und das ist wahr: Die Zeit kann sehr kurz sein, in der du dich auf schwerwiegende Weise versäumst oder in der du mit Freude an etwas festhältst, so dass du dieses Wild weglaufen lässt und du es nicht bekommst und es nicht fängst. Mit den edlen guten Hunden jedoch werden die echten Diener Gottes verglichen, die das edle Wild aufgespürt haben; diese folgen diesem Wild gutgelaunt und bereitwillig durch Feuer und Wasser, zwischen Spießen und Speeren und durch alle Hindernisse, bis sie das Wild erreichen und fangen. Genauso verhalten sich jene edlen Menschen, die den edlen reinen Gott verspürt haben, und sie lassen weder aus Liebe noch aus Schmerz [von ihm] ab, bis sie ihn erreicht haben. Die anderen Menschen dagegen bleiben ganz und gar stecken, so dass sie in ihrem [ganzen] Leben nicht vorankommen. Und deswegen werden zweifellos alle, die hier stecken bleiben und bis zu ihrem Tod nicht aus sich selbst herausgehen, in Ewigkeit so bleiben, so lange wie Gott ewig ist – das ist [wirklich] wahr.
Abschnitt 7
Absatz 8
FN-Anzahl: 0
Kinder, die ursach, das man nitt von got beruͤrt worden ist, des darff man dem ewigen got hierin kein schuld geben, als [44ra] doch offt die menschen blintlich sprechen: "Der ewig gott beruͤt mich nit oder trybet mich nit als den oder den menschen." Dise red ist falsch und ist ein irsal. Wann gott treybt unnd ruͤrt und manet alle menschen unnd will alle menschen als vil, als es an im ist, selig machen. Aber sein beruͤren und sein ermanen und seine gaben werden ungleich entpfangen und genommen. So nun gott mit seiner beruͤrung und mit seinen milten gaben kompt zuͦ vil menschen, so findet er dieselben stat bekümmert unnd findet ander gest. Denn so muͦß er von not wegen widerkeren unnd mag also zuͦ unß nit kommen, wann wir lieben und meynen ein anders dann in, waren lautern gott. Darumb so muͦß der guͤtig gott mit seinen genaden widerkeren, die er on underlaß gebe einem yeglichen menschen, der im sein hertz frey, lauter unnd rein behielt von aller creatur. Kinder, das ist die ursach unsers ewigen schadens. Dieselb schuld ist unser unnd nit gottes. Als vil unnutz unmuͦß machen wir uns mit den armen creaturen, das wir unser selbs nit warnemen und gottes gegenwertigkeit, und damit thuͦn wir unß unsprechlichen ewigen schaden. Und disem falschen gegenwurff der natur mügen wir nit baß entrinnen und entpfliehen dann mit eim geschwinden dapffern vonkern und mit hertzlichem, ernstlichem gebett. Damit erfolgen wir diß stilsten und mit vestem gantzen getrauwen der grundlossen barmhertzigkeyt gots, an der doch alles unser getrauwen leit, und darzuͦ ein fleissig getrew warnemen haben alle zeyt zuͦ bleiben in dem willen gots in thuͦn, in lassen, im geist und in natur.
Kinder, dafür, dass man nicht von Gott ergriffen wurde, darf man dem ewigen Gott hierbei nicht die Schuld geben, wie es doch oft die Menschen kurzsichtig tun, wenn sie sagen: "Der ewige Gott ergreift mich nicht oder leitet mich nicht wie diesen oder jenen Menschen." So zu sprechen, ist verkehrt und ein Irrtum. Denn Gott leitet und ergreift und ermahnt alle Menschen und will alle Menschen zur Seligkeit bringen, wenn es [nur] an ihm läge. Aber seine Berührung und seine Ermahnung und seine Gaben werden [von den Menschen] auf unterschiedliche Weise empfangen und angenommen. Wenn nun Gott mit seiner Berührung und mit seinen großzügigen Gaben zu den Menschen kommt, findet er diesen Ort [= diese Menschen] vielmals besetzt und findet [dort] andere Gäste. Dann muss er sich deswegen gezwungenermaßen wieder abwenden und kann so nicht zu uns kommen, denn wir lieben und erstreben etwas anderes als ihn, den reinen Gott. Deshalb muss sich der gütige Gott mit seinen Gnadengaben abwenden, die er unablässig jedem Menschen gäbe, der sein Herz für ihn frei, unverfälscht und unbefleckt von aller Kreatur hielte. Kinder, das ist der Grund unseres ewigen Verderbens. Diese Schuld ist unsere [Schuld] und nicht die Gottes. Wir entwickeln so viel überflüssige Geschäftigkeit um die armselige Kreatur, dass wir uns selbst und die Gegenwart Gottes nicht erkennen, und damit fügen wir uns unaussprechlichen ewigen Schaden zu. Und diesem tückischen Widerstand der Natur können wir auf keine bessere Weise entkommen und entfliehen als mit einer schnellen beherzten Abkehr und mit von Herzen kommendem und ernsthaften Beten. Damit erreichen wir dieses Stillstehen und mit einem festen und unverfälschten Glauben an die unendliche Barmherzigkeit Gottes, auf der doch aller unser Glauben beruht, und darüber hinaus mit einer beständig sorgfältigen und unerschütterlichen Aufmerksamkeit, in Tun und Lassen, Geist und Körper.
Abschnitt 8
Absatz 9
FN-Anzahl: 1
Kinder, ir sollent auch wissen die stat, an der der ewig gottes sun Jesus Christus ufffuͦr gen himel: Die waz an dem berg Oliveti. Derselb berg hat dreyerley liecht. Das ein ist von der sonnen uffgang, wann der berg ist hoch und steet gen der son [b] nen uffgang. Und wenn die sonn dannen gieng, so ward der berg erleüchtet vonE dem liecht des tempels. Und uff dem berg wesentlich so wuͦchs denn die matery des liechts. Also die seel, da gott wunnigklichen inne auffaren soll on alles mittel, die muͦß ein hoher berg sein und muͦß erhaben seyn über dise zergengklichen irdischen ding, darumb das sy müge entpfengklich werden dreyerley liechte: Das ist, das sy statt müg geben in ir selbs, das die hoͤhe dreyvaltigkeit in sy geleüchten müg und ir edel hoch werck in ir gewircken müge nach allem irem willen, darumb das gottes fürschein in sy fliessen müg.
Kinder, ihr sollt auch den Ort kennenlernen, von dem aus der ewige Gottessohn Jesus Christus in den Himmel empor fuhr: Dieser befand sich auf dem Ölberg. Dieser Berg besitzt drei Arten von Licht. Das erste kommt vom Aufgang der Sonne, denn der Berg ist hoch und ist dem Aufgang der Sonne zugewandt. Und wenn die Sonne unterging, wurde der Berg von dem Licht des Tempels erleuchtet. Und auf dem eigentlichen Berg wuchs weiterhin der Urstoff des Lichtes. Genauso muss die Seele, in der Gott voll Freude und ohne Hindernis hinauffahren soll, ein hoher Berg sein und muss über die vergänglichen Dinge dieser Erde erhöht sein, damit sie für drei Arten des Lichts empfänglich werden kann: Das bedeutet, dass sie in sich selbst Platz schaffen soll, damit die hohe Dreifaltigkeit in sie leuchten kann und ihr edles, würdiges Werk in ihr vollbringen kann, ganz wie es ihrem [= der Dreifaltigkeit] Willen entspricht, so dass der Feuerschein Gottes in sie [= die Seele] fließen kann.
Abschnitt 9
Absatz 10
FN-Anzahl: 3
Diser bergF lag zwischen Jherusalem und Bethania. Nun wißt in der warheit: Woͤlcher mensch Jesu Christo nach will volgen warlich, der muͦß auff disen berg klymmen oder steygen, wie saur oder wie hert es im immer wird. Wann es ist kein berg so schoͤn und so wunnigklich auff disem erdtrich, man muͦß mit hertikeit unnd mit arbeit darauff steygen. Also woͤllicher mensch unserm herren Jesu Christo nachvolgen will, der muͦß on zweifel der natur und irem lust urlaub geben. Man findt der menschen vil, die got gern nachvolgten on peyn und on arbeyt als ferr, das es in nicht saur wurd, unnd weren gern auff den berg, als ferr es in zuͦ fryden diente on widerGwertigkeit. Und die selben suͦchen in in selbs trost, fryd und freud. Da wirt denn nichts auß! Sy muͦssen haben auch zuͦ H der andren seiten Bethaniam, das ist als vil als ein peinlichkeit der gehorsame oder des leidens. Von disen sprach wol der prophet im psalter: "Er hat gesetzt sein stat in das tal der zaͤher." Wissend, woͤlcher mensch seyn statt hie inne nicht setzt, der bleibet unfruchtbar und wirt nichts auß im. Und darumb der andechtig mensch sol alle zeit haben einen ernsthafften jamer nach seinem lieben gemahel Jesu Christo, der [44va] im so hoch und so ferr entpfaren ist und im also gantz unbekant und verborgen worden ist. Und darumb so der grund des menschen ye warlicher und grundtlicher beruͤrt ist worden von gott, so dises tal der zaͤher ye eigentlicher in dem menschen ist. Unnd were es nicht mer, so were es doch groͤßlich nott umb die sünde unnd umb den unflat, der in der armen leidigen natur verborgen leyt, dadurch der mensch so vil unnd so offt gehyndert wirt manches edlen keres zuͦ got, die doch on underlaß moͤchten und solten sein von den gnaden gottes in dem menschen, und darzuͦ manches liebliches aufftragen, in dem der mensch alle ding got leüterlichen solte aufftragen on underlaß, daran in die arme natur groͤßlich offt irret und hindert, das sy auch offt verborgenlich da regieret, da doch got leüterlich solt sein on underlaß. Diß were denn die ander seiten zuͦ Bethania..
Dieser Berg lag zwischen Jerusalem und Bethanien. Jetzt müsst ihr wissen – und das ist wahr: Der Mensch, der Jesus Christus in der richtigen Weise nachfolgen will, muss auf diesen Berg klettern oder hinaufsteigen, ganz egal wie anstrengend es ist und wie schwer es ihm auch fällt. Denn kein Berg ist so schön und wunderbar auf der Erde, dass man ihn nicht mit Anstrengung und Mühe besteigen müsste. Und so muss sich der Mensch, der unserem Herrn Jesus Christus nachfolgen will, zweifellos von der Natur [seines Körpers] und ihren Freuden verabschieden. Man begegnet vielen Menschen, die Gott gerne ohne Schmerz und Mühe nachfolgen würden, solange es sie keine Anstrengung kostet, und sie wären gerne oben auf dem Berg, solange es ihrem Frieden ohne Verdruss dienlich ist. Und diese [Menschen] suchen in sich selbst Tröstung, Friede und Freude. Daraus wird aber nichts! Sie müssen auf der anderen Seite auch Bethanien besitzen, was so viel bedeutet wie Qual durch Gehorsam und Leiden. Der Prophet sagte treffend von ihnen im Psalm: "Er hat seine Wohnstätte im Tal der Tränen genommen." Ihr sollt wissen: Der Mensch, der seine Wohnstätte dort nicht nimmt, bleibt unfruchtbar, und es wird nichts aus ihm. Und deswegen soll der fromme Mensch jederzeit eine tiefe Sehnsucht nach seinem lieben Bräutigam Jesus Christus haben, der so hoch und so weit weg von ihm empor gefahren und ihm auf diese Weise fremd und unvertraut geworden ist. Und deswegen ist dieses Tal der Tränen umso mehr im eigentlichen Sinne in dem Menschen, je wahrhaftiger und tiefer der innere Grund des Menschen von Gott ergriffen wurde. Und auch wenn es nicht um mehr ginge, so wäre es doch außerordentlich nötig wegen der Sünde und des Drecks, der sich in der armen, bedauernswerten Natur verbirgt; dadurch wird der Mensch so sehr und so häufig an einer edlen Umkehr zu Gott gehindert, die sich doch unablässig aus göttlicher Gnade jederzeit im Menschen vollziehen könnte und sollte; und auch an manchem wertvollen Streben [wird er gehindert], bei dem der Mensch alle Dinge Gott gänzlich und unablässig anempfehlen soll, wobei ihn die arme Natur außerordentlich häufig stört und behindert, indem sie sehr oft im Verborgenen dort herrscht, wo doch Gott immerwährend und unverfälscht sein sollte. Dieses wäre dann die andere Seite [des Ölbergs] zu Bethanien hin.
Abschnitt 10
Absatz 11
FN-Anzahl: 0
Darumb wer des in im selbs warneme, der fuͤre gon Jherusalem, der wurd gantz weiß in thuͦn und in lassen, was gott were oder die natur. Und were auch dem menschen darzuͦ guͦt, das er damit gesterckt wurde, das er daz wee und den jamer dester baß erleyden moͤchte, das er nitt zuͦ kranck wurde in dem leyden unnd in dem ellend. Wenn das ist, das er von got gelassen ist und ungetroͤst unnd in herter bitterkeit steet von aussen unnd von innen, so solt der mensch darinn fleyssigklich der guͤte gottes gedencken, als der weiß man spricht: "Sun, in den boͤsen tagen solt du der guͦtthaͤt gottes nit vergessen."
Wer dies nun also in sich selbst feststellt, der sollte nach Jerusalem gehen, dann würde er klug in all seinem Tun und Lassen und darin, was Gott ist und was die Natur. Und darüber hinaus wäre es auch gut für den Menschen, dass er auf diese Weise gestärkt würde, damit er den Schmerz und die Sehnsucht umso besser ertragen kann, so dass er nicht zu schwach wird im Leid und in der Fremde. Wenn das geschieht, dass der Mensch von Gott verlassen ist und ohne Trost und sich äußerlich und innerlich in großer Verbitterung befindet, soll er unermüdlich an die Güte Gottes denken, wie der weise Mann sagt: "Sohn, in den schlechten Tagen sollst du die Wohltaten Gottes nicht vergessen."
Abschnitt 11
Absatz 12
FN-Anzahl: 3
Kinder, dise seyten, das ist Jherusalem und Bethania, miessen beide sampt in dem menschenI bey einander sein. Wann Jhierusalem heißt 'ein stat des fryds'. In derselben statt ward der ewig gottes sun Jesus Christus getoͤdt und muͦst da mancherley marter leyden in derselben stat des fryds. Also muͦst du auch on allen zweifel leyden und sterben in gantzem fryd [b] des deinen, wann es ist nit anders daran. Trag dich leüterlich unnd warlich uff dem ewigen willen gottes und verleugne gantz dein selbs im geyst und in natur. Wann du muͦst ye under die boͤJsen juden. Die werden und muͤssen dich peinigen geistlichen und martren und dich zuͦ feld ußtreiben, als ob du ein falscher boͤser mensch seyest, unnd werden darzuͦ alles dein leben verurteilen nach dem aller boͤsten, so sy erdencken mügen, und dich in aller menschen hertzen toͤdten, ob sy anders mügen. Ich sag dir: Du muͦst zuͦgrund sterben, sol gott dein leKben und wesen on mittel werden. Und als Jesu Christo geschach, der warde getoͤdt von den juden, und wollten daran ere gethon haben, das sy Christum Jesum todten, zuͦ gleycher weyß soll dir ouch geschehen. Wann alle menschen, die dich verschmaͤhen und verurteilen, peinigen oder martern, die meinen in irem sinn, das sy gott an dir einen grossen dienst thuͤen und auch thuͦn woͤllen. Ach, lieben kinder, wie were der selb mensch so hertzenklich selig, das er denn gantz zuͦ Jherusalem in der statt wonete und einen gantzen fryde het in im selber in disem unfryde; da wurde der war fryde gottes in dem menschen wesentlich und leüterlich uß dem grunde gottes geboren in der warheit.
Kinder, diese [beiden] Seiten, also Jerusalem und Bethanien, müssen beide zusammen gemeinsam im Menschen vorhanden sein. Denn Jerusalem bedeutet 'ein Ort des Friedens'. An diesem Ort wurde der ewige Gottessohn Jesus Christus getötet und musste in dieser Stadt des Friedens viele unterschiedliche Torturen erleiden. Genauso musst zweifellos auch du leiden und sterben im Frieden mit dir selbst, denn es geht nicht anders. Empfiehl dich aufrichtig und wahrhaftig dem Willen Gottes an und nimm dich selbst in Geist und Natur ganz zurück. Denn du musst dich nun einmal den bösen Juden unterwerfen. Diese werden und müssen dich geistlich quälen und dir Leid zufügen und dich [zur Stadt hinaus] auf’s Feld treiben, als ob du ein verlogener böser Mensch seist; und sie werden darüber hinaus dein ganzes Leben in der schlimmsten Weise verurteilen, die sie sich nur ausdenken können, und dich in den Herzen aller Menschen töten, wenn es ihnen irgendwie gelingt. Ich sage dir: Du musst vollständig sterben, wenn Gott ungehindert dein Leben und [ureigenstes] Wesen werden soll. Und so wie es Jesus Christus erging, der von den Juden getötet wurde – und sie dachten, sie hätten sich damit Ruhm erworben, dass sie Christus Jesus getötet hatten –, soll es auch dir ergehen. Denn alle Menschen, die dich verachten und verurteilen, quälen oder misshandeln, beabsichtigen in ihrem Sinn, Gott an dir einen großen Dienst zu erweisen, und sie wollen ihn auch erweisen. Ach, liebe Kinder, wie wäre derselbe Mensch so von Herzen selig, wenn er dann uneingeschränkt in der Stadt zu Jerusalem wohnte und einen vollkommenen Frieden hätte in sich selbst in diesem Unfrieden; dort würde der wahre Friede Gottes in dem Menschen in ureigenster Weise und unverfälscht aus dem Grunde Gottes geboren – das ist wahr.
Abschnitt 12
Absatz 13
FN-Anzahl: 1
Kinder, auff disem berg wechßt der oͤlbaum. Dabey versteen wir war goͤtlich andacht. Ach gott, wie ein suͤß andacht das ist einem menschen, der da alle zeyt hatt ein inbrünstig begyrlich anhangen zuͦ dem lauteren got mit einem bereiten gantzen gemuͤt, alle zeit lieb haben und meinen alles das, das gott zuͦgehoͤret, das man sich alle zeit innerlich zuͦ got verbunden habe in willen, in meinen und in allen dingen! Diß ist ein lüstlicher oͤlbaum, der alle zeit wol schmecket vor dem himlischen vatter und vor allen seinen ußerwelten. Und hastu diß warlichen an dir in dem grund, so bist du ein andechtiger mensch in der warheit. [45ra] Und dise andacht sol offt unnd dick erfrischt und ernüwert werden mit dem feüer goͤtlicher liebe unnd allezeyt ein emssig ansehen unnd insehen haben in den grund, das sich nichts darinne verberge, das gott nit warlich und leüterlich sey, das die natur mit regiere und wirck in deinem grund, do allein gott sein soll und anders nicht. Und findet man es doch leyder vil in geystlichen und in weltlichen, das der mensch gott nicht in allen dingen lauterlich meinet unnd anders nicht. Er meinet mer sich selbs in dem geist und in der natur. ManL findt gar wenig, die gott dienen umb sein selber und nicht ansehen weder trost, noch freud, noch hymmelsche gnad in zeyt und in ewigkeit dann allein bloß lauter gott und anders keinen gegenwurff.
Kinder, auf diesem Berg wächst der Ölbaum. Darunter verstehen wir wahrhaftige göttliche Frömmigkeit. Ach Gott, was für eine süße Frömmigkeit herrscht in einem Menschen, der jederzeit auf innigste Weise voller Verlangen an dem unverfälschten Gott mit einem bereitwilligen uneingeschränkten Gemüt hängt und jederzeit das liebt und es im Sinn behält, was zu Gott gehört, so dass man sich jederzeit mit Willen, Lieben und in allen Dingen innerlich mit Gott verbunden hat! Das ist ein anmutiger Ölbaum, der jederzeit vor dem himmlischen Vater und seinen Auserwählten gut duftet. Und wenn du dies wahrhaftig bei dir in deinem inneren Grund besitzt, bist du ein frommer Mensch – das ist wahr. Und diese Frömmigkeit soll durch das Feuer der göttlichen Liebe häufig und reichlich erfrischt und erneuert werden und soll jederzeit ein fleißiges Betrachten und Vertiefen in den inneren Grund besitzen, damit sich dort nichts verbergen kann, was nicht wahrhaftig und unverfälscht Gott ist, so dass die Natur in deinem inneren Grund mit herrschen und handeln kann, wo Gott allein und nichts anderes sein soll. Und trotzdem begegnet es einem leider häufig bei geistlichen und weltlichen [Menschen], dass der Mensch nicht Gott allein unverfälscht in allen Dingen liebt. Er [= dieser Mensch] liebt sich selbst stärker in Geist und Natur. Man begegnet sehr wenigen, die Gott um seiner selbst willen dienen und es nicht auf Tröstung, Freude oder himmlische Gnaden in Zeit und Ewigkeit abgesehen haben, sondern allein auf den reinen unverfälschten Gott und keine anderen Vorstellungen.
Abschnitt 13
Absatz 14
FN-Anzahl: 0
Das wir nun also mit dem ewigen gottes sun aufffaren von dysem elende unnd von allen creaturen, das wir mit im besitzen das ewig leben, verleyhe uns gott der vatter und der sun und der heilig geyst. Amen.
Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, verleihe uns, dass wir nun in dieser Weise mit dem ewigen Gottessohn hinauffahren aus dieser Fremde und von allen Kreaturen, damit wir mit ihm das ewige Leben besitzen werden. Amen.

Marginalien

A Warumb Christus zuͦ himel gefaren syg.
B Wenn alle lerer todt werent und alle buͤcher verbrent.
C Der war agstein ist Christus.
D Die edlen guͦten hund.
E Der berg Oli-//ti [!] hat dryerley liecht.
F Diser berg lag zwyschen Hierusalem und Bethaniam.
J Du muͦst ye under die boͤsen juden
K Sich zuͦ, wiltu volkommen werden.
L Lauterlich got dienen.
XML: unbekannt
XSLT: unbekannt