Predigt Nr. 23 – Vetter 19– BT41vb-43ra
[41vb]
Überschrift
Absatz 1
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Abschnitt 1
Absatz 2
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Am uffartstag die ander predig von fynfferley gefencknuß, damitt die menschen gefangen werden und gar kummerlich entlediget: Daz ist gefencknus der lieb zuͦ den creaturen, eigner lieb zuͦ in selbs, der vernunfft, der suͤssigkeit des geissts und eigens willens. Darnach volget eyn gar nützliche underrichtung, wie man sich zuͦ entpfencknus des heiligen geists schicken soll. Gewisen uff die wort Pauli ad Ephesios quarto: "Ascendens Christus in altum. Captivam duxit captivitatem."
Die zweite Predigt am Tag der Himmelfahrt über fünf Arten der Knechtschaft, in der die Menschen gefangen sind und wovon sie sich nur mühsam befreien: Das ist die Knechtschaft der Liebe zu den Kreaturen, der Eigenliebe zu sich selbst, des Verstandes, der [überwältigenden] Süße des Geistes [= Entrückung] und des Eigenwillens. Darauf folgt eine sehr nützliche Lehre, wie man sich für den Empfang des heiligen Geistes vorbereiten soll. [Sie] bezieht sich auf die Worte des Paulus [im Brief] an die Epheser im vierten [Kapitel]: "Ascendens Christus in altum. Captivam duxit captivitatem."
Abschnitt 2
Absatz 3
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"Unser herr fuͦr uff zuͦ hymel und fuͦrt mitt im die gefangen gefenckniß." Man findet fünfferley gefencknuß, damitt die menschen hie schwaͤrlich gefangen werden in diser zeit, die Christus ufffuͤret und abnimpt, so er in uns geistlich ufffart.
"Unser Herr fuhr auf in den Himmel und führte die Knechtschaft gefangen mit sich." Man begegnet fünf Arten von Knechtschaft, in der die Menschen hier [auf Erden] gefangen sind in dieser Zeit und die Christus mit sich hinaufführt und ablöst, wenn er in uns eine geistliche Himmelfahrt hält.
Abschnitt 3
Absatz 4
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Die erst ist, das der mensch wurt gefangen mit lieb der creaturen, syA seyen lebendig oder todt, so es gott nit ist, unnd sunderlich menschlich lieb, die als nahe in der natur ist von gleicheyt wegen der menschen. Und der schad, der davon kompt, ist nicht woll uß zuͦ sprechen, und den hatt man in zweier hand weiß: Die einen bekennen sich und foͤrchBten in und haben leid darumb und angst und ein widerbeissen und harte straffung darin. Das ist ein guͦt zeichen, das sy von gott nit verlassen synd. Wann got laßt den menschen lyden tag unnd nacht, er eß oder trinck. Und dem nitt seinea oren verstopfft sind und des gewar wirt, der wirt noch saͤlig. Aber die ander menschen seind so frey in den schedlichen gefencknissen unnd synd gantz taub unnd blind in der gefencknus und sind in fryd unnd woͤllen also gerecht sein: Sy thuͦnd vill guͦter werck, sy singen, sy lesen, sy schweigen, [42ra] sy dienen und betten vill, das man in dester baß ir weyse günne und das sy dester baß moͤgen thuͦn gott und der welt, und seind also andechtig unnd gerechtC vor der welt. Dise menschen seind sorgklich daran, und das thuͦtt in der feind umb des willen, das er sy behalte in der gefencknuß. Und die natur betreügt denn den menschen und ist der mensch in grossen sorgklichen anfechtungen. Und were im besser, das er nicht bettete in disem, wann er bitt wider sich selber unnd were im vil weger, das er in grossem gedreng unnd wee stoͤnde unnd in traurigkeit, er wurde vil ee loß unnd ledig der sorgklichen schedlichen gefencknuß. Wann wirt er in disem gefunden, er beleibt sicher ewigklich ein gefangner des teüffels.
Die erste ist, dass der Mensch gefangen ist von der Liebe der Kreaturen, ganz egal, ob sie lebendig oder tot sind, wenn es sich nicht um Gott handelt, und insbesondere von menschlicher Liebe, die der Natur [des Menschen] aufgrund der Gleichheit der Menschen besonders nahe ist. Und die Schädigung, die hierdurch entsteht, lässt sich gar nicht beschreiben, und man erleidet sie in doppelter Weise: Die einen verfügen über Selbsterkenntnis und fürchten sich und haben deswegen Kummer und Angst und ein schlechtes Gewissen und verspüren dabei eine harte Zurechtweisung. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass sie von Gott nicht verlassen wurden. Denn Gott lässt den Menschen Tag und Nacht leiden, ganz egal, ob er ist oder trinkt. Und wessen Ohren nicht verstopft sind und es wahrnimmt, der wird dann noch selig werden. Aber die anderen Menschen bewegen sich so frei in den Knechtschaften, die ihnen schaden, und sind gänzlich taub und blind in der Knechtschaft und sind zufrieden und meinen, auf folgende Weise gerecht zu sein: Sie vollbringen viele gute Werke, sie singen, sie lesen [liturgische Texte], sie schweigen, sie leisten Dienste und beten viel, so dass man ihnen ihre Lebensweise um so eher erlaubt, damit sie um so besser für Gott und die Welt tätig sein können, und sind auf diese Weise fromm und gerecht in den Augen der Welt. Diese Menschen sind dabei beklagenswert, denn das tut der Teufel, damit er sie in seiner Knechtschaft halten kann. Und es wäre besser für einen [solchen Menschen], dass er nicht auf diese Weise betete, denn er bittet gegen sich selbst und es wäre viel besser für ihn, dass er sich in großer Bedrängnis und Schmerz und in Traurigkeit befände, dann würde er von der beklagenswerten und schadenbringenden Knechtschaft viel leichter frei und ledig. Denn wenn er in diesem [= in dieser Lebensweise] bis zum Ende verharrt, wird er mit Sicherheit für ewig ein Gefangener des Teufels bleiben.
Abschnitt 4
Absatz 5
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Die ander gefencknüß ist, das etlichD menschen, als sy werden von diser ersten gefencknuß erloͤßt von lieb der creaturen in den außwendigen dingen, so fallen sy in eigen lieb ir selbs. Dise liebe steet so gerecht und in so grosser bleiblikeit in in, das es eyn wunder ist. Da strafft sy niemant umb noch auch sy sich selber, und haben so schoͤne mentel und scheinen so schoͤn, das da wyder nichts mag gsein, und kommen denn dar zuͦ, das sy auß eygner liebe suͦchen in allen dingen iren nutz, iren lust, iren trost, ir gemach und ir ere unnd werden also versüncken in das ir, das sy in allen dingen das ir suͦchen, auch an gott. Ach, was sol man denn finden, so man in den grundt kommet, das da groß heiligkeit scheinet unnd doch falschb ist? Wie schwerlich ist in zuͦ helffen, die mit zartheit der natur und mit vernünfftigen weysen in den geist komment! Wie schwerlich seind die auß der gefencknuß zuͦ loͤsen! Wann so man also besessen ist mitt der natur, wer mag da gehelffen? Sicher nicht woll yemant dann allein got. Es scheint so vil ding notturfftig, unnd ist die notturfft so weytt, so breitt, unnd dunck man sich so kranck, so zart. Und es [b] geschicht offt, das die ding angenomen werden oder angeruͤrt – es sey daz gemach der freünd oder daz guͦt oder die eer oder daz trostlich ding –, daz man got offt laßt geen mit zornigen worten oder mit wercken oder mit unwarheit oder mit heimlichen dingen uß zuͦ ruͦffen. Und denn ist der mensch nicht ein mensch; er ist ein zorniger hund oder ein ryssender wolff. Diß ist ein schedlich gefencknuß, eigne liebe.
Die zweite Knechtschaft ist, dass einige Menschen in Eigenliebe zu sich selbst geraten, wenn sie von der ersten Knechtschaft, der Liebe zu den Kreaturen in äußerlicher Weise, befreit worden sind. Diese Liebe bleibt selbstgerecht und in so großer Beharrlichkeit bestehen, dass man sich wundert. Und es tadelt sie niemand, auch sie selbst tun das nicht, und sie haben eine so gute Tarnung und geben sich einen so guten Schein, dass dem gegenüber nichts Bestand haben kann, und sie gelangen dann dorthin, dass sie aus Eigenliebe in allen Dingen ihren Nutzen, ihre Lust, ihren Trost, ihr Vergnügen und ihre Ehre suchen und versenken sich in dieser Weise in das, was zu ihnen gehört, dass sie dieses in allen Dingen suchen, auch in Gott. Ach, was wird man dann, wenn man in den inneren Grund gelangt, finden, das dort den Anschein großer Heiligkeit erweckt, aber [eigentlich] unwahrhaftig ist? Wie unwahrscheinlich/mühsam ist es, dass denen geholfen werden kann, die mit einer Verzärtelung ihres Körpers und mithilfe ihres Verstandes zum [heiligen] Geist gelangen! Wie unwahrscheinlich/mühsam ist es, sie aus der Knechtschaft zu befreien! Denn wer kann da [noch] helfen, wenn die Natur in einer solchen Weise von jemandem Besitz ergriffen hat? Ganz sicher niemand anders als Gott allein. Es hat den Anschein, dass so viele Dinge nötig sind, und die Notwendigkeiten sind so umfangreich und gewaltig, und man fühlt sich so schwach und verletzlich. Es passiert auch häufig, dass Dinge zurückgenommen oder angetastet werden – wie das angenehme Leben mit Freunden oder der Besitz oder die Ehre oder der [geistliche] Trost –, so dass man Gott durch zornige Worten und Taten oder mit Lügen wegschickt oder indem man [göttliche] Geheimnisse herausposaunt. Und dann ist der Mensch nicht mehr Mensch; er ist ein wütender Hund oder ein bissiger Wolf. Das ist eine schadenbringende Knechtschaft, [diese] Eigenliebe.
Abschnitt 5
Absatz 6
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Die drittE gefengknuß ist eyn gefengknuß der vernunfft, und darin fallen etlich menschen gar schwerlich. Wann alles, daz in dem geist solt geborn wirden, daz verderben sy domit, das sy glorieren in der vernunfft, es sey leer, es sey warheit, es sey welcherley es sey, daz sy daz versteen und davon künden reden und do mit etwas scheinen und erhoͤhet wirden, und bringen es weder zuͦ leben noch zuͦ wercken. Auch die bilde unsers herren nemen sy in ir vernünfftige weyß. Truͤgen sy das in daz goͤttlich übernatürlich liecht, da schynen sy als ungleych, recht als ungleich underscheit waͤre, daz ich neme ein liecht, das von eim faden lüchten soͤlt, gegen der sonnen. Noch vill minder ist das natürlich liecht gegen dem goͤtlichen liecht. Dise underscheid des natürlichen liechts und des goͤttlichen liechts sol man erkennen daran: Das natürlich liecht scheint als außwendig in hoffart, in eigen wolgefallen und in ruͦm der menschen und in urteil ander menschen. AberF das goͤttlich liecht, da daz in der warheit ist, das druckt sich nyder in den grundt. Es weiset sich und dunckt sich der minst, der schnoͤdest, der krenckst, der blindest. Und daz besteet und ist woll recht, wann ist etwas bessers da, das ist gottes und nit seyn. Es weißt auch daz innerlich nichts usserlich. Es suͦcht alles den inwendigen grundt, daruß es geborn ist. Da eilt es wider in mit aller krafft. Alles des menschen thuͦn geet innerlich nach der wurtzeln, daher es entsprungen ist. Da jagt es wyder in mitt fleiß. Und darumb ist grosser G[42va] underscheid zwischen den, die nach der geschrifft leben, unnd denen, die sie alleyn lesen. Die sie lesen, die woͤllen gegroͤßt sein und geeret unnd verschmehen die, die nach der geschrifft leben. Die haben sy für affen unnd verkert menschen unnd verfluͦchen, vernichten und verdammen sy. Aber die da leben der geschrifft, die haben sich für sünder und schetzen sich sünder und erbarmen sich über die andern. Und als ungeleich ir leben ist, also ungleich ist ir end: Die eynnen finden das leben, die andern den tod. Sant Paulus spricht: "Die geschrifft toͤdet, und der geistH macht lebendig."
Die dritte Knechtschaft ist eine Knechtschaft des Verstandes, und viele Menschen geraten sehr tief in sie. Denn alles, was im Geist geboren werden sollte, verderben sie damit, dass sie –ganz egal ob es sich um [theologische] Lehre handelt, um Wahrheit oder was auch immer – Ehre im Verstand suchen, [darin] dass sie es verstehen und darüber reden können und damit glänzen und hervorgehoben werden, aber sie erfüllen es weder mit Leben noch mit Taten. Auch die Gleichnisse unseres Herren eignen sie sich in ihrer Verstandesweise an. Brächten sie diese [Verstandesweise] zum göttlichen übernatürlichen Licht, da leuchteten sie ungleich [schwächer] in derselben Weise, wie es ein großer Unterschied ist, wenn ich ein Licht, das von einem Doch strahlt, gegen die Sonne hielte. Noch viel schwächer verhält es sich mit dem natürlichen Licht gegenüber dem göttlichen Licht. Diesen Unterschied zwischen dem natürliche Licht und dem göttlichen Licht kann man an Folgendem erkennen: Das natürliche Licht strahlt nach draußen durch Hochmut, Selbstgefälligkeit und menschlicher Geltungssucht und durch das Urteilen über andere Menschen. Aber wo sich das göttliche Licht in Wahrheit befindet, erniedrigt es sich zutiefst. Es verhält und versteht sich als der Kleinste, der Verachtenswerteste, der Schwächste, der Blindeste. Und das ist begründet und ganz richtig, denn wenn es etwas sehr Gutes gibt, dann kommt das von Gott und gehört nicht ihm [= dem Menschen]. Das Innerliche kennt auch nichts Äußerliches. Es sucht alles in dem inneren Grund, aus dem es geboren wurde. Dorthin zurück eilt es mit seiner ganzen Kraft. Alles, was der Mensch tut, strebt innerlich nach der Wurzel, aus dem es seinen Ursprung genommen hat. Dahin eilt es eifrig zurück. Und deshalb gibt es einen großen Unterschied zwischen denen, die nach der Schrift leben, und denen, sie sie nur lesen. Die, die sie lesen, möchten gegrüßt und geehrt werden und verachten die, die nach der Schrift leben. Diese halten sie für Affen und verdorbene Menschen und verfluchen sie, machen sie klein und verurteilen sie. Doch die, die der Schrift gemäß leben, halten sich für Sünder und beurteilen sich als Sünder und haben Erbarmen mit den anderen. Und genauso wenig wie ihre Lebensweise gleich ist, wird auch ihr Ende gleich sein: Die einen werden das Leben finden, die anderen den Tod. Sankt Paulus sagt: "Die Schrift tötet, und der Geist macht lebendig."
Abschnitt 6
Absatz 7
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Die vierd gefencknyß ist suͤssigkeit des geysts. Daran ist mancher mensch verirret, das er zuͦ ferr volget und sich daran zuͦ vil lasset unordenlich und zuͦ vil suͦcht und daran bestet. Wiewoll es ein groß guͦt scheinet doch daran, sich zuͦ lassen unnd das mitt lust zuͦ besitzen, da behelt die natur das ir und wirtt da lust genommen, da manI waͤnet got zuͦ nemen. Und das sol man dabey mercken, ob es gott oder die natur gewesen sey. So sich der mensch findt unruͦwig und in unfryd unnd in leidigkeit, so im die suͤssigkeit empfelt und entgat, und kann gott als gern und als trülich nit dienen, als ob er diß het, so sol man diß erkennen, das man es nit mit got gehept hab. Unnd ob man ein solchs besitzen .xl. jar gehept hette unnd im den genommen wurde, nach dem moͤcht der mensch groͤßlich fallen. Und ob man auff den obersten grad keme und stuͦnd darinne, dannocht bedenckt sich gott, ob er in behalt oder nit, und mag verloren werJden.
Die vierte Knechtschaft ist die Süße des Geistes. Dadurch wird mancher Mensch irregeleitet, so dass er ihr zu weit folgt und sich ihr zu sehr ohne jede Regel überlässt und zu viel [danach] sucht und daran festhält. Auch wenn es etwas sehr Gutes zu sein scheint, sich [der Süße] zu überlassen und sie mit einem Wohlgefühl zu besitzen, hält die Natur dann [doch] an ihren Eigenheiten fest, und man greift nach einem Wohlgefühl, wo man meint, Gott zu erlangen. Aber das muss man dabei unterscheiden, ob es Gott oder die Natur gewesen ist. Wenn sich der Mensch in [innerer] Unruhe und Unfrieden befindet und in Betrübnis, sobald ihm die Süße verloren geht und entrinnt, und er Gott nicht so gerne und beständig dienen kann, wie wenn er sie hätte, dann soll man daran erkennen, dass man es [= das vermeintlich Gnadenerlebnis] nicht durch Gott gehabt hatte. Und wenn man so etwas 40 Jahre gehabt hätte und es dem Menschen dann weggenommen würde, kann der Mensch schwer stürzen. Und wenn man auf die oberste Stufe gelangte und dort verharrte, würde Gott sich trotzdem überlegen, ob er ihn [= den Menschen] erretten wolle oder nicht, und er [= der Mensch] kann verloren sein.
Abschnitt 7
Absatz 8
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Die fünfft gefencknyß ist des eigenwillens, das der mensch seinen eygenwillen will haben auch in allen goͤttlichen dingen und an gott selber. Were, das gott in des menschen willen sasse und in seinem wunsch, das er aller seiner gebrechen ledig werden moͤcht und alle tugent und volkommenheit gewinnen, [b] das scheine eyn torheit, ob ich das nitt wolt oder neme. Aber ich hab mich das bedacht: Ob ich den willen unnd wunsch moͤcht haben, so woͤlt ich sprechen: "Neyn, herre, nit mein gnad oder gab oder will, sunder, herre, wie du wilt, also nim ich es." Oder: "Wer es nit dein will, so wil ich seyn entperen in deim willen." Also mangelen unnd entperen in rechter gelassenheyt nimpt man mer und hat mer, dann naͤme man und hette in eigenwillen, es sey got oder creatur. Das ist im unzallich nützer: ein willig demuͤtig mangeln des selben und alles habens in rechter gelassenheit und in ußgen dins willens. Und darumb so het ich lieber ein rechten gelassen menschen mit mindern wercken unnd mitt minderem schein dann ein vast hohen menschen in wercken und in schein mitt vill grossen bilden und were minder gelassen.
Die fünfte Knechtschaft ist die des Eigenwillens, indem der Mensch seinen eigenen Willen haben möchte – auch in Bezug auf göttliche Dinge und auf Gott selbst. Geschähe es, dass Gott von dem Willen des Menschen Besitz genommen hätte und von seinem Wunsch, frei von allen seinen Schwächen zu sein und alle Tugenden und Vollkommenheit zu erlangen, dann wäre es eine Dummheit, wenn ich das nicht wollte und annähme. Doch ich habe darüber nachgedacht: Wenn ich diesen Willen und Wunsch hätte, würde ich sagen: "Nein, Herr, nicht meine Güte oder Gabe oder Wille, sondern wie du es willst, Herr, so nehme ich es an." Oder: "Wenn es nicht dein Wille ist, so will ich in Einklang mit deinem Willen darauf verzichten." Indem man auf diese Weise Mangel leidet oder auf etwas verzichtet, erhält man mehr und besitzt mehr, als wenn man durch den Eigenwillen erhalten oder besitzen würde, ganz egal ob es Gott oder Kreatur wäre. Das ist ihm unendlich viel nützlicher: ein williger demütiger Verzicht auf jenes und auf alles Habenwollen in einer echten Gelassenheit und mit Aufgabe deines Willens. Und deswegen würde ich einen wirklich gelassenen Menschen bevorzugen, der weniger große Werke und geringeres Ansehen vorweisen kann, als einen in Werken und im Ansehen außerordentlich bedeutenden Menschen, der beeindruckende Vorstellungen hat und weniger gelassen wäre.
Abschnitt 8
Absatz 9
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Do unser herr bey seinen jüngern was, do liebten sy so seer sein menscheit, das sy nicht zuͦ der gotheit gelangen mochten noch kommen vor liebe der menscheit. Do sprach er: "Es ist eüch nütz, das ich von eüch far, sunst der troͤster, der heilig geist, mag eüch nicht wirden." Do muͦsten sy noch beiten viertzig tag, ee er zuͦ himel fuͤr, daz er alles ir gemuͤt mit im fuͤrte und hymlisch machte, und darnach beiten .x. tage, ee daz in der heilig geist ward gesant. Das in warend tag, das seind unß jare. Wann so sy das fundament soͤllen sein, des ward ir frist kurtz als eyn tag für ein jar etc.
Als unser Herr bei seinen Jüngern lebte, liebten sie seine menschliche Natur so sehr, dass sie aus Liebe zu seiner menschlichen Natur nicht zu seiner göttlichen Natur gelangen konnten. Da sagte er: "Es ist nutzbringend für euch, dass ich euch verlasse, sonst könnt ihr den Tröster, den Heiligen Geist, nicht bekommen." Damals mussten sie noch vierzig Tage warten, bis er zum Himmel fuhr, wobei er ihr ganzes Denken und Wollen mit sich nahm und im Himmel vollendete, und danach mussten sie zehn Tage warten, bis der Heilige Geist zu ihnen gesandt wurde. Was für sie Tage waren, sind für uns Jahre. Denn weil sie das Fundament werden sollten, war ihre Wartezeit mit einem Tag anstelle eines Jahres kurz.
Abschnitt 9
Absatz 10
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Der mensch thuͦ, was er thuͦ, und leg es an, wie er woͤll, er kompt nymmer zuͦK warem fryd, noch wirt nimmer eyn wesenlich hymmelisch mensch, es sey dann, das er komme an seyne .xl. jar. Es ist so mancher kommerc mit den menschen und treibt in die natur nun her, nun hin, nun dar, unnd ist mancherley, da die natur offt regniert, da man wenet, das es zuͦmal got sey; und kan der mensch nit zuͦ warem goͤtliche fryde kommen, noch zuͦmal hym [43ra] lisch werden ee der zeyt. Darnach soll der mensch .x. jar beiten, ee im der troͤster, der heilig geist, werde, der geist, der alle ding leret, als die jünger .x. tag muͦstenL beiten nach dem, als alle bereittung lebens und leidens unnd alle ding gelassen waren von in unnd das sy die aller hoͤchsten bereitung hetten, das sy den gelassen hetten, den sy über alle ding liebten und durch den sy alle ding gelassen hetten, unnd er alle ire geist und all ir hertz und liebe mit im hette gantz gefuͤret in den himel und alle ir meinung, ir lieb, ir hertz, ir seel gantz in im und mit im in dem himel was. Nach aller diser bereitung unnd edler weysung muͦsten sy dannocht .x. tag beiten, ee sy den geistM entpfiengen. Sy waren ingeschlossen und versamlet und vereinet und beitend. Also muͦß der mensch auch thuͦn. Nach dem, so er ist in ein vestigkeit kommen an seine .xl. jar und himlisch unnd goͤtlich worden ist und die natur in etlicher maß überkommen ist, nach dem gehoͤren .x. jar darzuͦ, das der mensch kommen sey zuͦ seinen fünfftzig jaren, ee dann im der heilig geist werde in der hoͤchsten und edelsten weyß, der heilig geist, der alle warheit leret. In den .x. jaren, so der mensch kommen ist in ein goͤtlich leben unnd die natur überwunden ist denn in den .x. jaren, sol der mensch haben einen inkere und ein insencken, ein inschmeltzen in das lauter goͤtlich einfeltig guͦt, da das edel inwendig füncklein ist, und hat ein gleich widertragen und ein gleich widerfliessen in sein ursprung, dad es auß geflossen ist. Da der widerfluß recht geschicht, da wirt alle schuld gentzlich bezalt – ja, und were ir also vil, als alle menschenn ye schuldig wurden von anfang der welt – und alle gnad unnd seligkeit wirt da innen beschlossen, und wirt der mensch ein goͤtlich mensch. Diß seind die seül der welt und der heiligen kirchen.
Der Mensch kann tun, was er will, und es anfangen, wie er will, er gelangt doch niemals zu wahrem Frieden, noch wird er jemals ein in seinem Wesen vollendet himmlischer Mensch, bevor er nicht 40 Jahre alt wird. Es gibt so manchen Kummer durch die Menschen und man wird durch die Natur hin und her und dorthin getrieben, und es gibt vieles, wo die Natur nur zu häufig herrscht, wo man meint, dass es sogar Gott sei; und [deswegen] kann der Mensch nicht zu wahrem göttlichen Frieden kommen oder gar himmlische Vollendung erlangen vor dieser Zeit. Danach muss der Mensch zehn Jahre warten, bevor der Tröster zu ihm kommt, der Heilige Geist, der Geist, der ihn alle Dinge lehrt, genauso wie die Jünger zehn Tage warten mussten nachdem sie von aller Einübung von Leben und Leiden und von allen Dingen abgelassen hatten und als sie die allerwichtigste Vorbereitung erhalten hatten, indem sie von demjenigen ablassen mussten, den sie über alles liebten und dessentwegen sie von allen Dingen abgelassen hatten und er ihren Geist und ihre Herzen alle mit sich in den Himmel genommen hatte und alle ihre Vorstellungen, ihre Liebe, ihre Herzen, ihre Seelen ganz und gar in ihm und mit ihm im Himmel waren. Nach dieser ganzen Vorbereitung und edlen Wegweisung mussten sie trotzdem noch zehn Tage warten, bevor sie den Geist empfingen. Sie waren eingeschlossen und versammelt und vereint und wartend. Genauso muss auch der Mensch handeln. Danach – wenn er gefestigt seine 40 Lebensjahre erreicht hat und vollendet himmlisch und göttlich geworden ist und die Natur in einem guten Maße überwunden hat – danach kommen noch zehn Jahre dazu, so dass der Mensch seine 50 Lebensjahre erreicht hat, bevor er den Heiligen Geist in der erhabensten und edelsten Weise erhält, den Heiligen Geist, der [ihn] alle Wahrheit lehrt. In diesen zehn Jahre, wenn der Mensch begonnen hat ein göttliches Leben zu führen und die Natur dann in den zehn Jahren überwunden ist, soll der Mensch in das reine göttliche gradlinige Gut, in dem der edle innere Funken ist, eingehen und sich hinein versenken und in ihm verschmelzen, und [so] gelingt ihm ein unterschiedsloses Zurückbringen und unterschiedsloses Zurückfließen in seinen Ursprung, aus dem es geflossen ist. Wo dieses Zurückfließen auf die richtige Weise erfolgt, wird alle Schuld ganz und gar ausgeglichen – ja, auch wenn es so viel wäre, wie alle Menschen ja schuldig geworden sind von Anbeginn der Welt –, und alle Gnade und Seligkeit ist dort enthalten, und der Mensch wird zu einem göttlichen Menschen. Dies sind die [tragenden] Säulen der Welt und der heiligen Kirche.
Abschnitt 10
Absatz 11
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Das uns soͤlichs auch widerfar, daz helff uns got. Amen.
Gott helfe uns, dass auch wir solches erleben werden. Amen.

Variantenapparat

aseine
bfalsch im
ckomm#:-eer
ddas

Marginalien

A Lieb der creaturen.
B Merck.
C Dise steend sorgklich.
D Gefengknyß eigner lieb zuͦ sich selber.
E Gefengnyß der vernunfft.
F Das goͤttlich liecht.
G Grosser underscheid deren, die die geschrifft lesent, und deren, die ir gelebent.
H In suͤssigkeyt gefencknyß des geists.
I Merck, ob es got oder natur sig.
J Gefencknysz ist des eigenwillens.
K Zuͦ warem frid kompt man selten vor den .xl. jaren.
L Die juͤnger Christi mústent noch .x. tag warten.
M Sy warent ingeschlossen versamlet, vereiniget und beytend.
XML: unbekannt
XSLT: unbekannt