Predigt Nr. 22 – Vetter 60b = Vetter 18 – BT39vb-41vb
[39vb]
Überschrift
Absatz 1
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Abschnitt 1
Absatz 2
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[b]Am heiligen uffarttag die erst predig, wie gott der herr strafft etlich menschen, besunder die geistlichen, umb den unglauben und hertigkeit irs hertzen; von wannen soͤliche hertigkeit kommen bey gleichnyß einer alten faulen cistern, die inen dise menschen graben; item von der unreinigung an frembden bilden; auch von dem lebendigen wasser und vier graden der goͤttlichen lieb. Uff die wort Marcixvi.a: "Recumbentibus undecim discipulis apparuit Jesus et exprobravit incredulitatem illorum et duriciam cordis."
Die erste Predigt am Tag der heiligen Himmelfahrt [darüber], wie Gott, der Herr, manche Menschen, besonderes die geistlichen, tadelt wegen ihres Unglaubens und der Härte ihres Herzens; [darüber], woher diese Härte kommt anhand des Bildes einer alten schmutzigen Zisterne, sich sich diese Menschen graben; ebenso darüber, wie man sich mit Vorstellungen anderer beschmutzen kann; auch über das lebendige Wasser und vier Stufen der göttlichen Liebe. [Sie bezieht sich] auf die Wort des Markus [evangeliums], 16. Kapitel: "Recumbentibus undecim discipulis apparuit Jesus et exprobravit incredulitatem illorum et duriciam cordis."
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 0
"Die junger unsers herrenn bey einander sassen, do erschein in unser herr Jesus und strafft sie umb iren unglauben und hertigkeit irs hertzen."
"Als die Jünger unseres Herren beieinander saßen, erschien ihnen unser Herr Jesus und tadelte sie wegen ihres Unglaubens und wegen der Härte ihres Herzens."
Abschnitt 3
Absatz 4
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Die straffung thuͦt unser herr nochA alle tag und alle zeit umb den unglauben und hertikeit des hertzen, die alle menschen haben von allen stetten, die in der welt seind. Und sunderlichen strafft er alle geistlichen menschen, sie seyen von bewaͤrten geistlichen oͤrden oder angenommen [40ra] geistlichen menschen als beginen schwestern und bruͤder und dergleichen. Die strafft unser herr durch die lerer oder durch sich selbs in ir inwendikeit, ob sie der straff woͤllen war nemen. Dise geistlichen menschen seind billich zuͦ straffen, das sie seind so hert von hertzen und nit glauben. Wann das ist ein groß ding, das got einen menschen darzuͦ erwelt, das er zuͦ dem hochen adel ist beruͦfft eins geistlichen lebens. Davon seind wir got als groß lieb schuldig und danckberkeit von allen dingen. Dise menschen strafft unser herr, das sie seind unglaͤubig und hertes hertzen. Aber doch lassen sie sich darumm ungern straffen, und wer doch guͦt, das sie bekanten die hertikeit ires hertzen unnd iren unglauben, so moͤcht ir noch guͦt rat werden. Sant Jacob spricht: "Der glaub on die werck ist tod." Unser her spricht: "Wer glaubt und getaufft würt, der würt behalten." Wir sprechen den glauben mitt dem münd. Sant Paulus spricht: "Wir seind alle getaufft in den todt unsers herren Jesu Christi." Sant Augustin spricht: B"Das ist nit ein warer glaub, der nit mitt lebendiger lieb unnd mit den wercken ingeet mit gott, so man allein glaubet mit dem mund." Disen unglauben findt man groͤßlich an dem, das unß nit schmecket oder gelustet, das wir mügen sprechen: "Herr, du bist mein gott, wann mir ist niendert wol dann in dir", und das die menschen dem waren lebendigen glauben entpfallen seind und sunderlich, die ein geistlichen namen haben und die etwan von got beruͤrt seind gewesen, schlaffend oder wachend, und gemanet in dem grundt und dem entpfallen seind.
Noch heute tadelt uns unser Herr jeden Tag und jederzeit vor allem wegen des Unglaubens und der Härte des Herzens, die alle Menschen an allen Orten haben, die es auf der Welt gibt. Und besonders tadelt er alle geistlichen Menschen, ganz egal, ob sie einem anerkannten geistlichen Orden angehören oder ob es sich um selbstbestimmte geistliche Menschen wie Beginenschwestern und -brüder und dergleichen handelt. Diese tadelt unser Herr durch die Lehrer und er tut es selbst in ihrem Inneren, wenn sie bereit sind, den Tadel wahrzunehmen. Diese geistlichen Menschen werden zurecht getadelt, dass sie hartherzig sind und nicht glauben. Denn es ist eine bedeutende Sache, wenn Gott einen Menschen auserwählt, zum hohen Adel eines geistlichen Lebens berufen zu sein. Dafür schulden wir Gott vor allen Dingen sehr große Liebe und Dankbarkeit. Aber trotzdem lassen sie sich deswegen nicht gerne tadeln; es wäre aber doch gut, dass sie die Härte ihres Herzens und ihren Unglauben erkennen würden, dann könnten sie noch gerettet werden. Sankt Jakobus sagt: "Der Glaube ist ohne Werke tot." Unser Herr sagt: "Wer glaubt und getauft wird, wird gerettet." Wir sprechen das Glaubensbekenntnis mit dem Mund. Sankt Paulus sagt: "Wir sind alle in den Tod unseres Herrn Jesus Christus hineingetauft." Sankt Augustinus sagt: "Das ist kein echter Glaube, der nicht mit lebendiger Liebe und mit den Werken mit Gott [in den Menschen] eingeht, wenn man alleine mit Worten glaubt." Diesen Unglauben stellt man sehr häufig daran fest, dass es uns nicht behagt oder gefällt, was wir sprechen könnten: "Herr, du bist mein Gott, denn nirgendwo fühle ich mich wohl als nur in dir", und dass die Menschen für den lebendigen Glauben verloren sind und besonders diejenigen, die ein geistliches Amt haben und die irgendwann einmal von Gott ergriffen gewesen waren, ganz egal ob beim Schlafen oder Wachsein, und die in ihrem inneren Grunde aufgerüttelt wurden und dem [doch jetzt] verloren gegangen sind.
Abschnitt 4
Absatz 5
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Unser herr strafft sie auch umb die hertigkeit ihres hertzen. Und das ist ein groß greülich ding, das in got zuͦ im geruͤfft hat und doch also hert seind, das in goͤttlich ding nitt schmeckt, es sey ir gebett oder ander guͦt uͤbung, und das inb ander ding also lycht und lustlich seint, und zuͦ gott seind ir hertzen gantz steine. [b] Zuͦ den sprach der herr durch den propheten: "Ich würd von eüch nemen eüwer steinen hertzen unnd eüch wider geben ein fleyschlich hertz." Was macht disseC herte hertzen, das dise menschen also dürr und kalt seind zuͦ allem dem, das sie guͦts thuͦn solten, das sie das thuͦnd in einer unsinnlicher weyß? Antwurt: Da muͦß das hertz etwas haben, das gott nicht ist, und will doch ungestrafft bleyben. Von disem sprach unser her durch Hieremiam, den propheten: "Ir hymmel verwundernt und verbildent eüch, und ir hymmelporten entschliessent eüch von schuͦhen uber mein volck. Wann sie haben gethan zwey übel: Sie haben mich gelassen, das lebendig wasser, unnd haben in selber gegraben cisternen, die kein wasser enthalten." Was darin kompt, das kompt von aussen oder von oben darin, regen oder ander wasser, das fault und stinckt, und in dem grundt haben sie nicht. Diß groß übel klagt gott hymmel und erden und allen creaturen. Welchs ist daz volck,D von dem gott klagt? Das seind die geistlichen menschen, die so gar die lebendigen wasser gelassen haben, das inn der grundt als wenig liechts unnd lebens gibt, sunder ußwendig ding, und bleyben uff iren synnlichen weysen, uff iren uffsetzen von ussen ingetragen durch die sinn in bildlicher weiß. Und von innen in dem grundt, da es herauß solt springen und quellen, da ist zuͦmal nichts und felt als bald ab, als es zuͦgefallen ist. Und daz selEbig, das an in ist, seind ir auffsetz und wysen, die sie in irem guͦtduncken gestifft haben. Sie keren sich in den grundt nicht, darin haben sie kein quellen noch dürsten, und suͦchen auch nit fürbaß. So sie ir ding gethuͦnd nach irer weiß, die in ingetragen seint von ussen durch die sinn, benuͤgt sie wol, und sie heben sich an ir cisternen, die sie in selber gemacht haben. Und in schmeckt gott nit, auch trincken sie von dem lebendigen wasser nicht. Sie legen sich nyder und schlaffen, und an dem morgen so heben [40va] sie wider an ire alte weiß, und damit benuͤget sie wol und bleiben in ir.
Unser Herr tadelt sie auch wegen ihrer Hartherzigkeit. Und das ist ist eine schreckliche Sache, dass Gott sie zu sich gerufen hat und sie trotzdem innerlich so hart sind, dass ihnen göttliche Sachen nicht behagen, ganz egal ob es das Gebet oder andere gute geistliche Übungen sind, und dass andere Sachen für sie ganz leicht und vergnüglich sind, aber Gott gegenüber sind ihre Herzen gänzlich versteinert. Zu diesen sprach der Herr durch den Propheten: "Ich werde eure steinernen Herzen von euch nehmen und euch dafür ein fleischliches Herz geben." Was macht diese harten Herzen [so], dass diese Menschen so unfruchtbar und kalt sind in Bezug auf alles, was sie Gutes tun sollten, so dass sie es in einer unbesonnenen Art und Weise tun? Antwort: Im Herzen muss etwas sein, welches nicht Gott ist, und es [= das harte Herz] will nicht [dafür] getadelt werden. Darüber sagte unser Herr durch Jeremias, den Propheten: "Seid erstaunt, ihr Himmel, und verwandelt euch, und ihr Himmelspforten öffnet euch für Regengüsse über mein Volk. Denn sie haben zwei böse Taten begangen: Sie haben von mir, dem lebendigen Wasser, abgelassen und haben sich selbst Zisternen gegraben, die kein Wasser haben."Ier 2,12f.: obstupescite caeli super hoc et portae eius desolamini vehementer dicit Dominus 13duo enim mala fecit populus meus me dereliquerunt fontem aquae vivae ut foderent sibi cisternas cisternas dissipatas quae continere non valent aquas Was dort hinein kommt, kommt von außen oder von oben hinein, Regen oder anderes Wasser, welches fault und stinkt, und in dem Grund [der Zisterne] haben sie nichts. Über diese Schlechtigkeit klagt Gott vor Himmel, Erde und allen Kreaturen. Welches ist das Volk, über das Gott klagt? Es sind die geistlichen Menschen, die so gänzlich von den lebendigen Wassern abgelassen haben, dass ihnen ihr innerer Grund kein Licht und Leben [mehr] verleiht, sondern [nur] äußerliche Dinge, und sie halten fest an ihren von den Sinnen bestimmten Weisen, an ihren von außen durch die Sinne in wahrnehmbarer Weise in sie hineingetragenen Vorsätzen. Und von innen aus dem Grund, aus dem heraus es fließen und quellen sollte, kommt überhaupt nichts, und was hineinzukommt, verschwindet gleich wieder. Und jenes, was an ihnen [zu bemerken] ist, sind ihre Vorsätze und Lebensweisen, die sie nach ihrem Gutdünken eingerichtet haben. Die wenden sich nicht dem inneren Grund zu, dort gibt es bei ihnen kein Hervorquellen noch Dürsten [danach], und sie suchen auch nicht weiter. Wenn sie ihr Sache in den ihnen eigenen Weisen tun, die durch die Sinne in sie hineingetragen wurden, sind sie damit zufrieden, und sie begeben sich zu ihrer Zisterne, die sie in sich selbst gemacht haben. Und Gott schmeckt ihnen nicht, und sie trinken nicht von dem lebendigen Wasser. Sie legen sich hin und schlafen, und am Morgen beginnen sie wieder in derselben alten Weise, und damit sind sie sehr zufrieden, und sie bleiben dabei.
Abschnitt 5
Absatz 6
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Von den spricht unser herr in eim andern capitel: "Du hast vil unnkeüscheit getriben und dich verunreint, das ist, das du mich lebendigen bronnen hast gelassen und hast dir ein cistern gegraben." In der cistern würt stincken und faul, was darin kompt und getragen ist, unnd doͤret, das ist mit den sinnlichen uffsetzen, so bleibt denn in dem grund hoffart, eygenwilligkeit, hertmuͤtigkeit und schwer urteil, schwer wort und straffung des nechsten nicht uß lieb und uß senfftmuͤtigkeit, sunder da es weder statt noch zeyt hat. Mancher went, er woͤll eim andern sein hauß erloͤschen und verbrennet das seyn, ja ob er het, drey heüser, mitt seinen worten und gebaͤrden. Kompt ein arms kind zuͦ in, so sprechen sie: "Es ist ein schlecht oder toͤrlich mensch." Kompt zuͦ dem anderen ein mensch, so sprechen sie: "Es ist ein begin." Wolhyn, ir rechten cisternen! Waͤr der lebendig bronn quellen in eüwerem dürren grundt, so wurd nymmer an eüch underscheide der personen, es würd alles gleich. Waͤre goͤtlich lieb in dem grund herauß quellen, so waͤre kein verkleinen noch schwer urteil noch vernichtikeit. Dise faulung waͤchßt alle in disen cisternen.
Von diesen spricht unser Herr in einem anderen Kapitel: "Du hast viel Unkeuschheit getrieben und dich beschmutzt, das bedeutet, dass du von mir als dem lebendigen Brunnen abgelassen und dir eine Zisterne gegraben hast." In der Zisterne beginnt das zu stinken und zu faulen, was hineinkommt und und hineingebracht wird, und es vertrocknet, das geschieht durch die von den Sinnen bestimmten Vorsätzen, und so bleibt dann in dem inneren Grund Hochmut, Eigenwille, Hartherzigkeit und schwere Beschuldigungen, böse Worte und Verurteilung des Nächsten, die nicht Liebe und Sanftmut entspringt, sondern [geschieht], wenn es weder der [richtige] Ort noch die [richtige] Zeit ist. Manch einer denkt, er wolle das Haus eines anderen löschen und verbrennt [dabei] mit seinen Worten und seinem Verhalten sein eigenes, ja wenn er sie hätte, drei Häuser. Kommt ein armes Kind zu ihnen, so sagen sie: "Es ist ein schlechter oder ein dummer Mensch." Kommet zu dem anderen ein Mensch, so sagen sie: "Es ist eine Begine." Auf geht’s, ihr echten Zisternen! Würde die lebendige Quelle in eurem vertrockneten Grund entspringen, so gäbe es in euch keine Bewertung der Personen, es wäre alles gleichwertig. Würde göttliche Liebe hervorquellen, so gäbe es keine Demütigung, keine schwere Beschuldigung, kein vernichtendes Urteil. Alle diese Fäulnis wächst in diesen Zisternen.
Abschnitt 6
Absatz 7
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Auch seind dise cisternen die vernünfftigen mit iren hochen worten und hochem versteen. Den einen benuͤgt mittc seinen guͦtscheinenden wercken, den andern mit seinen hochen worten und verF steen. Wie wenent ir, das es denn geen werd an der zeyt, so die grossen sturmwind kommen rauschen und alle ding übereinander werffen und fellen und soͤlich plagen, die so grülich und so engstlich seind? Denn kompt, das man solchen jamer würt sehen, der unglaͤubig ist. Die vor gar schoͤn geschinen haben mit worten und mit wercken in scheinender heiligkeit, in den wares lebendigs grunds nicht ist, sunder es ist alles ingetragen als in die cistern, da kompt der teüfel [b] an dem end mitt einer axt und schlecht einen schlag dadurch, so zerfleüsset alles, das da was, und würt also zerstreüwet, das ein tropff da nicht bleybet, es sey alles zerfaren.
Diese Zisternen sind auch die von ihrem Geist bestimmten Menschen mit ihren hochfliegenden Reden und ihrer hochfliegenden Erkenntnis. Der eine gibt sich mit seinen nach außen gut wirkenden Werken zufrieden, der andere mit seinen hochfliegenden Reden und seiner hochfliegenden Erkenntnis. Was meint ihr, wie es denen ergehen wird zu der Zeit, wenn die schweren Stürme brausen werden und alles durcheinanderwerfen und zu Fall bringen und Kümmernisse von der Art bringen, die überaus grauenhaft und angsterweckend sind? Denn es wird so kommen, dass man ein solches Elend sehen wird, dass es unglaublich ist. Die zuvor mit Worten und Werken in scheinbarerer Heiligkeit einen sehr guten Anschein erweckt haben, in denen [jedoch] nichts vom wahren lebendigen Grund ist, sondern es wurde alles [von außen] hineingebracht wie in die Zisterne – dorthin kommt am Schluss der Teufel mit einer Axt und schlägt einen Hieb hindurch, so dass alles ausläuft, was darin war, und es wird so verstreut, dass nicht ein Tropfen darin bleibt; es wird alles versickern.
Abschnitt 7
Absatz 8
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Wo wenent ir, das man diß alles finden werd? Daran gedenckent, so ir komment an jene welt, das ich euch das gesagt hab. Unnd ich versich michG gar wol, das diß falsch scheinen und wyß nun alles der gemein lauff ist aller geistlichen menschen, die da bleiben mit ußwendiger guͦtscheinender sinnlicher blinder weiß. Unnd ich meyn, das weltlich menschen in der ee und etlich witwen dise menschen ferr fürlauffen. Unnd ob disen got von seiner erbaͤrmd verlicht, das sie an irem end behalten wirden, so muͤssen sie doch unmessig fegfeür leiden als lang, als er es geordnet hat, und darnach wirden sie ferr von der naͤcheit gottes sein. Darumb, kinder, sehent für euch, das bitt ich euch durch gott! Nement eüwers grunds war, und sehent für euch, womit ir umbgeent, und seind senfftmuͤtig und demuͤtig, und lassent euch under got und alle creatur. Wan got klagt hymmel und erden und allen creaturen von euch. Dise hymel seind alle hymmlischen hertzen. Wann ein yeglicher guͦter menHsch ist ein hymmel gottes, unnd die boͤsen tragen den hymmel in in, doch kommen sie nit darin. Unnd das ist der verdamten groͤste pein, das sie das bekennen in in und sie nymmer darin kommen sollen.
Was meint ihr, wo man diesem allen begegnen wird? Denkt daran, dass ich es euch gesagt habe, wenn ihr in jene Welt kommt. Und ich fürchte sehr, dass dieser falsche Anschein und dies falsche Art momentan das übliche Verhalten aller geistlichen Menschen ist, die an einer nach außen einen guten Anschein erweckenden, [jedoch] von den Sinnen bestimmten, blinden Lebensweise festhalten. Und ich meine, dass weltliche Leute, die verheiratet sind, und viele Witwen diese Menschen weit übertreffen. Und wenn es ihnen Gott aus Barmherzigkeit zuteil werden lässt, dass sie nach ihrem Tod gerettet werden, so müssen sie doch solange unvorstellbares Fegefeuer erleiden, wie er es bestimmt hat, und [auch] danach werden sie fern von der Nähe Gottes sein. Deswegen, Kinder, passt auf euch auf, das bitte ich euch um Gottes Willen! Achtet auf euren inneren Grund und passt auf, womit ihr euch beschäftigt, und seid sanftmütig und demütig, und unterwerft euch Gott und aller Kreatur. Denn Gott klagt vor Himmel und Erde und allen Kreaturen über euch. Diese Himmel stehen für alle himmlischen Herzen. Denn ein jeder guter Mensch ist ein Himmel Gottes, und [auch] die schlechten [Menschen] tragen den Himmel in sich, doch sie kommen nicht in ihn hinein. Und das ist die größte Qual der Verdammten, dass sie das in sich erkennen und [doch] niemals hineinkommen werden.
Abschnitt 8
Absatz 9
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Unnd als wir yetzund beruͤrten, das unser herr sprach durch den propheten: "Ir habent euch verunreinigt und seind eim fremden buͦlen nachgangen und habent mich verschmecht. Doch komm zuͦ mir", spricht er zuͦ der sel, "ich will dir war ruͦw geben und will dir ingiessen lebendig wasser, ob du zuͦ mir gentzlichen kommest." Merckent und sehent die grossen unsprechlichen grundlosen barmhertzigkeit gottes, wie gern er unß hulff, wen wir woͤlten, und redt gern mit unß alles freüntlich, ob wir uns zuͦ im wolten keren. Unnd sprach da vor: [41ra]"Kerestu dich nicht zuͦ mir, so muͦß ich mit dir kriegen an dem gericht." Das ist denn gar ein sorgklicher krieg, wann er nympt da überhandt. Huͤtent eüch, das er da nit sprech, das ir von seinen schaffen nit seyt. Wann seine schaff haben seyn stimm gehoͤrt und haben keinem fremden nachgegangen, als er selber sprach.
Und so haben wir besprochen, dass unser Herr durch den Propheten sprach: "Ihr habt euch unrein gemacht und seid einem fremden Geliebten nachgegangen und habt mich verschmäht. Doch kommt zu mir", spricht er zu der Seele, "ich will dir echte Ruhe geben und will in dich lebendiges Wasser gießen wenn du ganz und gar zu mir kommst." Bemerkt und erkennt die unaussprechlich große, unendlich tiefe Barmherzigkeit Gottes, wie gerne er uns helfen würde, wenn wir wollten, und wie gerne er mit uns redete, wenn wir uns ihm zuwenden würden. Und er sagte davor: "Wendest du dich nicht zu mir, so muss ich mit dir kämpfen beim Gericht." Das wird dann ein besorgniserregender Kampf, denn er [= Gott] wird überhand gewinnen. Hütet euch davor, dass er dann [= beim Gericht] nicht sage, dass ihr nicht zu seinen Schafen gehört. Denn seine Schafe haben seine Stimme gehört und sind keinem Fremden gefolgt, wie er selbst sagte.
Abschnitt 9
Absatz 10
FN-Anzahl: 1
Woͤlches istI nun dise unkeüscheit, die unser herr meynet, do er sprach, "der du vill getriben hast"? Das ist in eim geystlichen sinn, ob es nicht zuͦ grob wer, so du zuͦ dem mynsten byst bliben uff den bilden und uff den fremden bilden. "Denn du nach byst gegangen deinen buͦlen, das seind alle die fremden bilde unnd gegenwurff, durch die du zuͦ mir soltest sein gegangen, mit den hastu dich verunküscht. Aber doch kum noch zuͦ mir. Ich will dich entpfahen und giessen in dich lebendigs wasser."
Welches ist nun diese Unkeuschheit, die unser Herr meint, als er sagte "die du viel getrieben hast"? Das ist in einem geistlichen Sinn [gemeint] – wenn es nicht zu unfein ist –, wenn du auch nur im Geringsten an sinnlichen Vorstellungen und an fremden Vorstellungen festgehalten hast. "Denn du bist deinem Liebhaber gefolgt – damit sind all die fremden Vorstellungen und [auf die äußeren Sinne bezogene] Gedanken gemeint, mit denen du dich [eigentlich] mir hättest zuwenden sollten; durch sie hast du dich unkeusch gemacht. Aber komm doch trotzdem zu mir. Ich will dich aufnehmen und in dich lebendiges Wasser gießen."
Abschnitt 10
Absatz 11
FN-Anzahl: 1
JVon disem wasser sprach unser herr in der neüwen ee an zweien stetten in dem ewangelio: "Alle, die da dürstet, kommend zuͦ mir unnd trinckend. Und die in mich glauben, von der leib springen lebendige wasser, die werden springen in daz ewig leben." Von disem wasser sprach er selber zuͦ der frauwen ob dem bronnen: "Der von disem wasser trinckt, den dürstet ewigklich nymmer. Und hettestu das von mir geheyscht, ich hett dir es gegeben.""Ach", sprach sy, "gyb mir das wasser, das ich nicht doͤrff mer herkommen, dyß wasser zuͦ schoͤpffen." Do sprach unser herr: "Gee hyn zuͦ dem ersten und bring deinen man" – das ist bekentnus dein selbst – "und beichtK mir zuͦgrundt, das du ein cistern als lang bist gewesen und die lebendigen wasser nicht getruncken hast. Denn mügen sy dir werden. Und fünff man hast du gehabt" – das seind die funff sinn – "den hastu gelebt unnd hast dich ir gebraucht nach deim lust und hast dich des lebendigen bronnes unwirdig gemacht mit deiner sinlichen ußwirckung, da du in gestanden bist unordentlichd. Davon kerr dich zuͦ mir [b] noch widerumb, ich will dich empfahen." Er sprach auch durch den selben propheten Hieremiam in dem vierden capitel und klagt sich auch von dir und sprach: "IchL hab gemacht meinen usserwelten wingarten, und ich hab gewartet, daz er mir solt gebracht haben den allerbesten edelsten wein von Cipern unnd von Engadin." Unnd redt vom grossen fleyß, den er an den wingarten gelegt het: "Ich hab in umbgraben unnd eyn hag darumb gemacht und einen zaun und die stein darauß gelesen." Wiewoll er dyß sprach zuͦ dem volck, so meinet gott doch alle menschen hiemitt byß in das end der welt. "Du byst mir als bitter worden. Du hast mir bittern wein gebracht, saure reynischen wein, unnd hast mir für die edelen weintrauben bracht wintertrollen und boͤß ding. Des muͦß ich mitt dir kriegen an dem gericht. Were, das du dich zuͦ mir woltest keren, so wolt ich dir ingiessen lebendigs wasser und ware lieb."
Von diesem Wasser sprach unser Herr im neuen Testament an zwei Stellen im Evangelium: "Alle, die Durst haben, sollen zu mir kommen und trinken. Und aus dem Körper derer, die an mich glauben, werden lebendige Wasser entspringen, und sie werden in das ewige Leben fließen." Von diesem Wasser sprach er selbst zu der Frau am Brunnen: "Wer von diesem Wasser trinkt, wird in Ewigkeit niemals mehr Durst haben. Und hättest du das von mir erbeten, hätte ich es dir gegeben.""Ach", sagte sie, " gib mir das Wasser, damit ich nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen." Da sagte unser Herr: "Geh erst einmal los und hole deinen Mann" – damit ist die Selbsterkenntnis gemeint – "und beichte mir umfassend, dass du so lange eine Zisterne warst und von den lebendigen Wassern nicht getrunken hast. Dann kannst du sie erhalten. Und fünf Männer hattest du" – damit sind die fünf Sinne gemeint – "für sie hast du gelebt und hast dich für dein Verlangen ihrer bedient und hast dich mit dem Ausleben deiner Sinne [= sinnlichen Begierden], an dem du gegen alle Regeln festgehalten hast, für die lebendige Quelle unwürdig gemacht. Davon wende dich ab und wende dich mir wieder zu, ich werde dich trotzdem aufnehmen." Er sprach auch durch den bereits erwähnten Propheten Jeremia im vierten KapitelIs 5 und klagt über dich und sagte: "Ich habe meinen auserwählten Weinberg angelegt, und ich habe erwartet, dass er den allerbesten edelsten Wein aus Zypern und aus dem Engadin hervorbringe." Und sprach von der großen Mühe, die er auf den Weingarten verwandt habe: "Ich habe ihn umgegraben und ihn eingefriedet und eingezäunt und die Steine heraus gelesen." Obwohl er das zu dem Volk [der Israeliten] sagte, meint Gott hiermit doch alle Menschen, die bis zum Ende der Welt leben. "Du bist für mich ungenießbar geworden. Du hast ungenießbaren Wein hervorgebracht, sauren Wein vom Rhein, und anstelle der edlten Weintrauben hast du mir Wintertrauben und schlechte Sachen gebracht. Darum werde ich mit dir kämpfen beim [letzten] gericht. Geschähe es [aber], dass du dich mir zuwenden wolltest, so würde ich lebendiges Wasser und wahre Liebe in dich gießen."
Abschnitt 11
Absatz 12
FN-Anzahl: 6
Von disem lebendigen wasser sprachMRichardus, ein grosser meyster der heyligen geschrifft, daz die lieb hat vier gradt. Der erst grad heyst eyn verwunte lieb: Wenn die seel mit dem stral der liebe wirt von gott verwundt, das ir das lebendig wasser wyrt geschenckt der waren lieb, so verwundet sy gott widerumb mitt ir liebe. Von der liebe sprach unser herr in der liebe buͦch: "Schwester meyn, du hast mein hertz verwundt mitt deim aug und mit eim har deynes halses ." Das aug ist ein emsig angesicht der bekentnus und des gemuͤts, daz lauterlich auß gott geet. Und das har ist lauter unvermischt lieb. Hiemit wirt got verwundt von der seel. Der ander grad der waren lieb meinet diN ser meister die gefangen liebe. Es stet geschriben: "Ich wird dich ziehen an dem seyl Adams." Die dryt ist eyn besiechtig lieb.O Von der sprach die gemahel in der liebe buͦch: "Ir toͤchter von Hierusalem, vinden ir meinen lieben, sagent im, das ich [41va] von lieb siech lig unnd kranck sey." DieP vierd liebe ist ein verzerende lieb. Von der sprach der prophet in dem psalter: "Herr, meyn seel ist verzeret und hatt abgenommen in dynem heile." Bey der verwundten lieb nimpt man eyn gleichnuß:Q Der verwundt ist von der lieb, der thuͦt als ein kaufman der ein schiff will fuͦren umb gewin. So ist seyn hertze, als ob es wundt sey von begerung, das er vill samle. Allerlei raspelt er zuͦsamen und samlet hie unnd dort, das sein schiff vol werde. Also thuͦt der verwundt mensch: Er samlet und zeühet zuͦsamen alle bild und gedancken und uͤbunge und was er mag, zuͦ lieb thuͦn dem, den er liebet. So nun das schiff woll geladen ist, so stosset er von land. Noch ist er des schiffs wol gewaltig zuͦ fuͤren gegen dem sturm. Also ist der verwundten liebe: Die würfft ir schiff in den sturme der gottheit unnd fert da herlichen für unnd spilt darin nach irem lust unnd willen und würfft ir ruͦder in das moͤre, das grundtloß ist, und ye mer sy in sich zeücht der goͤttlichen inflüß, ye mer sy wytter wirt. Und die empfenglikeit erfüllet er, unnd die vollung macht neüw empfenglikeit unnd neüw weite unnd neüw wunden der lieb. DarnachR schneidet der herr das seil des schiffs entzwey und laßt gegen dem sturm daz schiff rauschen, so ist da weder rim noch ruͦder, die das schiff mügen uff enthalten. So ist der mensch nicht mer seyn selbs gewaltig. Das ist die gefangen liebe. Den so geschicht im als eynem ritter, der in einem streit seer übel verwundt wirt, noch entrinnet er gewaltigklichen. Würt er aber gefangen, so ist er seyn selbs ungewaltig. Also ist dem gefangen mitt der lieb, der ist weder gedancken noch werck gewaltig, er muͦß sich dem geliebten under der lieb gar lassen.
Von diesem lebendigen Wasser sprach Ricardus, ein großer Meister der heiligen Schriften, dass die Liebe vier Stufen habe. Die erste Stufe wird eine 'verwundete Liebe' genannt: Wenn die Seele von dem Strahl der Liebe durch Gott verwundet wird, so dass ihr das lebendige Wasser der wahren Liebe geschenkt wird, so verwundet sie wiederum Gott mit ihrer Liebe. Von dieser Liebe sprach unser Herr im Buch der Liebe: "Meine Schwester, du hast mein Herz mit deinen Augen und dem Haar deines Nackens verwundet." Das Auge steht für eine eingehende Betrachtung der [Selbst-]Erkenntnis und des Gemüts, welche in reiner Art und Weise Gott entspringt. Und das Haar steht für eine reine unverfälschte Liebe. Dadurch wird Gott von der Seele verwundet. Mit der zweiten Stufe der wahren Liebe meint dieser Meister die 'eingefangene' Liebe. Es steht geschrieben: "Ich werde dich [zu mir] ziehen an Adams Strick."Os 11,4: In funiculis Adam traham eos, in vinculis caritatis; et ero eis quasi exaltans jugum super maxillas eorum, et declinavi ad eum ut vesceretur. Die dritte [Stufe] ist eine krankmachende Liebe. Von dieser sagte die Braut im Buch der Liebe: "Ihr Töchter Jersualems, wenn ihr meinen Liebsten findet, sagt ihm, dass ich vor Liebe süchtig und krank bin." Die vierte Liebe ist eine sich verzehrende Liebe. Von ihr sprach der Prophet im Psalter: "Herr, meine Seele hat sich verzehrt und verschwindet in deinem Heil."Ps 118,20: Concupivit anima mea desiderare justificationes tuas in omni tempore. Für die verwundete Liebe zieht man ein Gleichnis heran: Wer von der Liebe verwundet ist, handelt wie ein Kaufmann, der ein Schiff unterhält, um Gewinn zu machen. Dann ist sein Herz, als ob es vor Verlangen wund sei, damit er viele Güter zusammenbekomme. Er kratzt alles Mögliche zusammen und trägt es von hier und dort zusammen, damit sein Schiff voll beladen sei. Genauso verhält es sich mit der verwundeten Liebe: Sie steuert ihr Schiff in den Sturm der Gottheit und kommt wunderbar voran und vergnügt sich nach Lust und Laune darin und wirft ihr Ruder in das Meer, welches ohne Grund ist, und je mehr sie vom göttlichen Fluss in sich zieht, um so weiter wird sie. Und er [= der göttliche Fluss] füllt ihre Aufnahmefähigkeit aus, und die Erfüllung erzeugt neue Aufnahmebereitschaft und neue Weite und neue Wunden der Liebe. Wenn dann der Herr das Halteseil des Schiffes zertrennt und das Schiff in den Sturm sausen lässt, gibt es da weder Riemen noch Ruder, die das Schiff aufhalten können. Auf diese [selbe] Weise ist der Mensch nicht mehr Herr seiner selbst. Das ist die eingefangene Liebe. Denn es ergeht ihm genauso wie einem Ritter, der in einem Kampf schwer verwundet wird und doch mit Gewalt entkommt. Gerät er jedoch in Gefangenschaft, hat er keine Gewalt mehr über sich selbst. Genauso ergeht es dem, der in Liebe gefangen ist: Er hat weder über seine Gedanken Gewalt, noch über seine Taten, er muss sich dem Geliebten in Liebe ganz überlassen.
Abschnitt 12
Absatz 13
FN-Anzahl: 0
Das wir also lassen alle cistern unnd uns werde das wasser der waren lieb ingegossen, helff uns die war lieb. Amen.
Die wahre Liebe helfe uns, dass wir von allen Zisternen ablassen und das Wasser der wahren Liebe in uns gegossen werde. Amen.

Variantenapparat

avl
bir
cnitt
dunordencklich

Marginalien

A Christus strafft unß allein umb den unglauben.
B Unglaub.
C Was macht dise herte hertzen.
D Die geistlichen sind das volck, von dem gott klagt.
E Diß seind die faulen cisternen.
F O merck.
G Der gemein lauff aller geist lichen menschen.
H Merck.
I Die geistlich unkuͤscheit.
J Das lebendig wasser.
K Beycht gott zuͦgrund.
L Usserwelter wingart, aber sur trube.
M Die lieb hatt vier grad. Verwunte lieb.
N Die gefangen lieb.
O Súchtige lieb.
P Verzerende lieb.
Q Glichnyß
R Gleichnyß.
XML: unbekannt
XSLT: unbekannt