Predigt Nr. 20 – Vetter 16 – BT 36ra–37vb
[36ra]
Überschrift
Absatz 1
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Am IIII. sontag nach ostern.
Am 4. Sonntag nach Ostern.
Abschnitt 1
Absatz 2
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Wie der heylig geyst die welt in dem menschen strafft um die sünd um sein gerechtigkeit und urteyl. Wie gar schedlich sey urteylen sein nechsten, wie und in was gestalt der from mensch seinen nechsten straffen soll. Ouch waz uns der heilig geist in seiner zuͦkunfft ler. Ein treffenliche nützliche predig auff die wort Christi zuͦ seinen jüngeren, Joannis .xvj.: "Expedit vobis ut ego vadam etc."
[Die Predigt spricht darüber,] wie der heilige Geist die Welt [orientierung] im Menschen tadelt wegen der Sünde und wegen seiner Gerechtigkeit und seines Urteilens; wie viel Schaden es bringt, seinen Nächsten zu verurteilen; wie und in welcher Weise der fromme Mensch seinen Nächsten zurechtweisen soll; auch [darüber,] was uns der Heilige Geist mit seinem Kommen lehrt. Eine sehr gut geeignete weiterführende Predigt über die Worte, die Christus zu seinen Jüngern sagte im 16. [Kapitel] des Johannesevangeliums: "Expedit vobis ut ego vadam etc."
Abschnitt 2
Absatz 3
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Unser herr sprach zuͦ seinen jüngeren: "Es ist üch nütze und guͦt, das ich von euch gang. Wann far ich nit von euch, so kompt der troͤster nit zuͦ euch. Far ich aber von üch, so wird ich in euch senden. Und wenn er kompt, so wirt er eüch leren alle warheit und wirt [b] die welt straffen umb ir sünd und von der gerechtigkeit und von dem urteyl."
Unser Herr sagte zu seinen Jünger: "Es ist nutzbringend und gut für euch, dass ich euch verlasse. Denn wenn ich nicht von euch weggehe, kommt der, der euch trösten wird, nicht zu euch. Gehe ich aber von euch weg, werde ich ihn zu euch schicken. Und wenn er kommt, wird er euch alle Wahrheit lehren und wird die Welt richten wegen ihrer Sünde und wegen ihrer Gerechtigkeit und ihres Urteilens."
Abschnitt 3
Absatz 4
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Kinder, in disem sinn ist uns ernstlich zuͦ mercken und darin zuͦ sehen, das den lieben jüngern gottes und seinen lieben freünden der heilig geyst nicht werdenA mocht, Jesus a Christus muͦst vor von in faren. bWelichs ist nu sein von uns farenb? Nicht anders dann gelassenheyt und trostlosigkeit und ungeschicktheit, daz so wir zuͦ allenn guͦten dingen schwer und traͤg sind und kalt und finster. Denn so ist Christus von uns gefaren. All menschen, die hierin sehent und es in selber nutz und fruchtbar machen, daz wer in gar ein nütz, edel, selig, goͤtlich ding. Woͤlcher mensch sich darinne wesentlich und darzuͦ gelassentlich halten kündt, dem würd alle mennigfeltigkeit in einikeit und hette freud in leiden und in verschmechnuß, so er were gedultig, und in unfrid ein steten frid, und alle bitterkeit würd im ein ware suͤssikeit.
Kinder, bei dieser Auslegung sollen wir uns gut einprägen und erkennen, dass die lieben Jünger Gottes, die seine lieben Freunde waren, den heiligen Geist nicht erhalten konnten, ohne dass Jesus Christus zuvor von ihnen weggegangen war. Was bedeutet nun sein Weggehen von uns? Nichts anderes als Verlassenheit und Trostlosigkeit und Verwirrung, so dass es uns schwer fällt gute Dinge zu tun und wir [dabei] träge sind und [innerlich] erstarrt und verfinstert. Dann hat uns Christus verlassen. Für alle Menschen, die das einsehen und es für sich nützlich und fruchtbringend verarbeiten, wäre dies eine sehr nützliche, edle, selige, göttliche Sache. Der Mensch, der sich diese Haltung aneignen und sich dem überlassen könnte, erhielte Vielfalt in Einheit, und er verspürte Freude im Leiden und in der Zurückweisung, wenn er geduldig wäre, und er hätte im Unfrieden einen unwandelbaren Frieden, und alle Bitterkeit würde ihm zu einer echten Süße.
Abschnitt 4
Absatz 5
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Nun sprach unser herr: "So der heilig geist kumpt, so wirt er die welt straffen." Das ist, er wirt dem menschen klerlich zuͦ erkennen geben, ob die welt in im bedecket lige in seinem grund verborgen. Daz wirt er mern und ruͦgen und melden, bereden und straffen. Woͤlchs ist nun die welt in uns? Das sind die weisen, wirckung und ynbildung der welt, daz ist der welt trost, freud, lieb und leyd in lieben, in foͤrchten, in trurigkeit, in sorgfeltikeit. Wann es spricht sant Bernhart: "Mitt allem dem, da du dich mit frewest und traurest, mit dem selben solt du auch geurteilt werden." Kinder, diß wirt der heilig geyst, so er zuͦB uns kommet, klerlich entdecken und darumb straffen, daz wir billich nimmer keyn rast noch kein ruͦw gewinnen soͤllen, die weil wir dise boͤse schedlichec besitzung in uns wissen unnd finden. Und wo man dise boͤse neigung in dem menschen findet und das ungestrafft bleybet, das man mitt den creaturen besessen ist, sy seyen lebendig oder todt, das ist alles die welt mit einander. 10 Unnd wer das in im selber behelt ungestraffet, das ist ein warlichsd offen zeichen, das der hey[36va]lig geist noch nit in den selben grund kommen ist. 11 Wann Christus hat gesprochen: 12 "Wenn er kompt, so wirt er dise ding alle straffen.C 13 Er wirt sy straffen um ir sünd."
Nun sagte unser Herr: "Wenn der heilige Geist kommt, wird er die Welt richten." Das bedeutet, dass er den Menschen deutlich erkennen lässt, ob die Welt [= das weltliche Leben] in ihm vergraben ist, verborgen in seinem [innersten] Grund. Das wird er [= der Geist] bekannt machen und es tadeln und verkünden, benennen und verurteilen. Was ist nun die Welt in uns? Das sind die Lebensart, das Handeln und die Vorstellungen der Welt, das sind Trost, Freude, Liebe und Leid der Welt beim Liebhaben, sich Fürchten, in Traurigkeit und mit Sorgen. Denn Sankt Bernhard sagt: "In der Weise von dem allen, worüber du dich freust oder [worüber] du trauerst, in der selben Weise wirst du auch gerichtet werden." Kinder, das wird der heilige Geist erkennbar aufdecken und deswegen sein Urteil sprechen, damit wir dementsprechend weder Rast noch Ruhe finden sollen, solange wir diese schlechte, schadenbringende Inbesitznahme in uns erkennen und feststellen. Und wo man diese schlechte Einstellung in einem Menschen findet und es nicht getadelt wird, dass man von den Geschöpfen erfüllt ist, [egal, ob] sie lebendig wären oder tot, macht das zusammen die 'Welt' aus. 10 Und wenn jemand dem in sich selbst Raum gibt, ohne dass es getadelt wird, ist das ein echtes deutliches Zeichen dafür, dass der heilige Geist noch nicht in diesen [inneren] Grund eingegangen ist. 11 Denn Christus sprach: 12 "Wenn er [= der heilige Geist] kommt, wird er über alle diese Dinge richten. 13 Er wird sie wegen ihrer Sünden verurteilen."
Abschnitt 5
Absatz 6
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Wellichs seind nun die sünd? Nun wissent, das der ewig got alle ding hat gemacht und hat ein yglichs ding geordnet in sin rechts end. Also hat er daz feur gemacht, daz es über sich geet. Also hat die natur gegeben den augen, daz sy sehen, den oren, daz sy hoͤren, und den henden zuͦ wircken und den fuͤssen zuͦ geen. Und also ist ein yeglich glid dem natürlichen willen gehorsam on alle widerred, es sey im leicht oder schwer, suͤß oder saur, wil es anders gentzlichen der will, so seind die glider gentzlich gehorDsam, es gee an leben oder an tod. Daz scheinet wol an manchen liebhabern diser welt, wie die sich so froͤlich und freuenlich verwegen alles gemachs und darzuͦ guͦts und eren um daz, daß sy so üppiglich und toͤrlich liebhaben darumb, daz in soͤlchs nach irem lust des leibs zuͦ lieb werd.
Welches sind nun die Sünden? Ihr soll nun wissen, dass der ewige Gott alle Dinge erschaffen hat und jeder Sache ihren Platz zugewiesen hat. So hat er beispielsweise das Feuer erschaffen, dass es über sich hinaus schlägt. Genauso hat die Natur den Augen verliehen, dass sie sehen [können], den Ohren, dass sie hören und den Händen, tätig zu sein, und den Füßen zu gehen. Und genauso ist jeder Körperteil dem Willen der Natur ohne Widerspruch gehorsam, ganz egal ob es ihm leicht oder schwer fällt, süß oder sauer wird, wenn der Wille es ganz anders will; so sind doch die Glieder uneingeschränkt gehorsam, ganz egal ob es zum Leben oder zum Tod führe. Das zeigt sich gut an einigen Freunden dieser Welt, wie sie fröhlich und freudig auf Annehmlichkeit und darüber hinaus auf Gut und Ehre abzielen, indem sie auf so unnütze und dumme Weise lieben, [nur] damit es sie der Gier ihres Körpers entsprechend erfreut.
Abschnitt 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 2
Nun sprechen etlich sünder: "Wer ist in diser zeit gott also gehorsam und also genuͦgsame in allen seinen gebotten und laßt sich selber und alle zeitliche ding durch seinen willen usser seinen innerlichen grund, da got warlich ein gebieter sol sein?" Disen sünder ruͤgt der heilig geist, wenn er kompt, daz der mensch disem goͤtlichen wilElen und seiner guͦter vermanung so vil und offt widerstrebt. Dise sünd und manchen verborgen bresten strafft der heilig geist, so er zuͦ dem menschen kompt. Diß straffen macht in den menschen ein schwinds scharpffs und herttes urteil und ein hellische pein und ein unleidenlich wee, da von die weltlichen menschen, die nach der natur leben,F wenig wissen. Das ist der waresten zeychen eins, daz der heilig geist da ist in der warheit gegenwertig. Wo diß urteyl in der warheit geboren wirt, da ist ein sicher ding. Wann tausent gebresten, die der mensch in der warheit bekennet und sich der selben schuldig gibt und bekennet, die seind dem menschen nit als sorgklich und als schedlich als ein einiger gebrest, den [b] du nit erkennen woͤltest noch dich darin lassen wissen. Nun wissent: Alle geistlichen menschen, den ir ding als wolgefelt in thuͦn und in lassen, die seind all in sorglichem gebresten und wirt auß disen eygenwilligen menschen nymmer nichts.
Nun sagen einige Sünder: "Wen gibt es heutzutage, der Gott so gehorsam ist und allen seinen Geboten gerecht wird und von sich selbst und allen Dinge in dieser Welt ablässt außer von seinem inneren Grund, wo Gott wahrhaftig Gebieter sein muss?" Diesen Sünder tadelt der heilige Geist, wenn er kommt, [dafür], dass dieser Mensch den göttlichen Willen und seine wohlmeinende Ermahnung so vehement und immer wieder ablehnt. Diese Sünde und manche verborgenen Schwächen tadelt der heilige Geist, wenn er zu einem Menschen kommt. Diese Zurechtweisung erzeugt in den Menschen eine heftige, scharfe und harte Strafe und Höllenpein und einen unerträglichen Schmerz, die die weltlichen Menschen, die in ihrem Leben der Natur folgen, nicht kennen. Dies ist eines der sichersten Zeichen, dass der heilige Geist wahrhaftig dort gegenwärtig ist. Wo diese Strafe wahrhaftig erzeugt wird, dort ist sie ein zuverlässiger Beweis. Denn tausend Schwächen, die der Mensch wahrhaftig erkennt und und sich ihrer bezichtigt und sie bekennt, sind für den Menschen nicht so besorgniserregend und gefährlich wie eine einzige Schwäche, die du nicht wahrhaben willst, noch darin erkannt werden möchtest. Nun sollt ihr wissen: Alle geistlichen Menschen, denen ihre Lebensweise so gut gefällt in [ihrem] Tun und Lassen, besitzen alle bedenkliche Schwächen, und aus diesen Menschen, die voller Eigenwillen sind, wird niemals mehr etwas Gutes.
Abschnitt 7
Absatz 8
FN-Anzahl: 2
Darnach wirt der heilig geyst unser gerechtikeit straffen. Ach barmherzigGer got, wie ist unser gerechtikeit so gar ein arm schnoͤd ding vor den augen gottes! Wann es spricht sant Augustin: "Wee und wee aller gerechtikeit, ob sy anders der ewig got nit nach seiner barmherzigkeit urteilen wil." Wann der ewig got hat gesprochen durchEsajam: "Euwer gerechtikeit ist ein unflat vor meinen augen." Unser herr hat gesprochen zuͦ seinen jüngern: "So ir alles thuͦnd, daz ir vermügen, so sollent ir dannocht sprechen, ir seient unnütz knecht gottes." Nuͦ, welcher mensch sich für etwaz schetzt oder helt, daz er in der warheit nit ist, der betrügt sich selbs groͤßlich, als sant Johannesspricht. Manchem menschen gefelt sin weiß als hertzlich wol, dazH er sich weder got noch den menschen lassen wil, und huͤtet sich mit fleiß, daz er sich zuͦ grundt gott nit laß. Wenn do kompt unser herr mit seiner vermanung on mittel oder mit mittel, so setzt er sin weiß vor und keret sich daran gar nichts. Daz sind ye fast ungelaßne menschen dem ewigen got und allen sinen creaturen. 10 Aber wo der heilig geist hinkumpt, da strafft er der menschen weiß und leben. 11 Wann wo er warlich ist, da bekennet der mensch sein gebresten warlich und lernet da in im selber gelassenheit und demuͤtikeit und alle ding, die da warlichen gehoͤren zuͦ der ewigen seligkeit.
Danach wird der heilige Geist unsere Gerechtigkeit tadeln. Ach barmherziger Gott, was für eine armselige wertlose Sache ist unsere Gerechtigkeit vor den Augen Gottes! Denn es spricht Sankt Augustinus: "Wehe und [nochmal] wehe jeglicher Gerechtigkeit, wenn der ewige Gott sie nicht gemäß seiner Barmherzigkeit richten will." Denn der ewige Gott sprach durch [das Wort des Propheten] Jesaja: "Eure Gerechtigkeit ist ein Dreck in meinen Augen." Unser Herr sagte zu seinen Jüngern: "Wenn ihr alles tut, was euch möglich ist, so sollt ihr trotzdem sagen, dass ihr unnütze Diener Gottes seid." Nun – der Mensch, der sich überschätzt oder für etwas hält, was er in Wahrheit nicht ist, betrügt sich in hohem Maße selbst, wie Sankt Johannes sagt. Mancher Mensch erfreut sich an seiner Lebensweise von Herzen so sehr, dass er sich weder Gott noch den Menschen überlassen will, und hütet sich hartnäckig davor, sich Gott in seinem Inneren [Grund] zu überlassen. Wenn dann unser Herr ihn unmittelbar oder indirekt ermahnt, schiebt er seine Lebensweise vor und kümmert sich gar nicht darum. Das sind immer Menschen, die sich dem ewigen Gott und aller seiner Kreatur überhaupt nicht überlassen. 10 Doch wo der heilige Geist hinkommt, tadelt er die Lebensweise und Lebensart. 11 Denn wo er wirklich [anwesend] ist, erkennt der Mensch wirklich seine Schwächen und erlernt da Gelassenheit in sich selbst und Demut und alle Dinge, die zur ewigen Seligkeit wirklich dazugehören.
Abschnitt 8
Absatz 9
FN-Anzahl: 1
Der heilig geist strafft den menschen umb sein urteil. Welichs sind die urteil? Das ist, daz ye ein mensch daz ander verurteilt, weltlich oder geistlich, und haben nit in selbs für ir eigen gebreſten und sünd, so doch Christus gesprochen hat: "Mit der maß, da du missest, mit der selben wirt dir widerumb gemessen. Ir soͤllent niemand urteylen, das ir nit geurteilt werdent." Es woͤllen leyder alle menschen geistlich und welt[37ra]lich, niemand ußgenommen, byschoff, prelaten, pfaffen und münch, provinciaͤl und aͤpt, edel und unedel, ye eins das ander richten und urteilen. Und damitt machen ir groß starck muren zwyschenI gott unnd eüch selber. Huͤtend eüch dar vor, als lieb eüch der ewig gott sey und die immerwerend seligkeit, und richten unnd urteylend eüch selber. Das ist eüch nütz, woͤlt ir anderſt selig und behalten werden unnd woͤllen ir da by ungeurteilt beleyben von dem ewigen gott und von allen seinen ußerwoͤlten heiligen.
Der heilige Geist tadelt den Menschen wegen seines Urteilens: Welches sind die Urteile? Das ist immer dann, wenn ein Mensch einen anderen verurteilt, ganz egal ob weltlich oder geistlich, und sich selbst seine eigenen Schwächen und Sünden nicht vorhält, obwohl doch Christus gesagt hat: "Mit dem Maß, mit dem du misst, wirst du selbst auch gemessen werden. Ihr sollt niemanden verurteilen, damit ihr nicht verurteilt werdet." Leider wollen alle Menschen, egal ob geistlich oder weltlich, ohne Ausnahme, Bischöfe, Prälaten, Pfarrer und Mönche, Provinziale und Äbte, adlige und nicht adlige, jeder über den anderen richten und urteilen. Und dadurch errichtet ihr hohe starke Mauern zwischen Gott und euch selbst. Hütet euch in dem Maße davor, wie euch der ewige Gott und die ewige Seligkeit lieb sind, und richtet und urteilt über euch selbst. Das ist nützlich für euch, wenn ihr selig und gerettet werden wollt und von dem ewigen Gott und von allen seinen auserwählten Heiligen dafür nicht verurteilt werden wollt.
Abschnitt 9
Absatz 10
FN-Anzahl: 2
Es solt ein mensch keyn ding urteilen, das nit offenlich todsünde were. Er solt vill ee und lieber in seyn zungen beyssen, das sy im bluͦtte, dann einen menschen urteilen in kleinen oder in grossen dingen. Man soll es dem ewigen urteil gots bevelhen. Wann von dem urteil des menschen über seinen naͤsten wechßt ein eigen wollgefallung sein selbs unnd boͤse hoffart und ein verschmaͤhung seines naͤchsten. Dise frucht ist dann warlich ein sam des tüffels, dadurch menig hertz verunreint wirtt. Und ist denn der heilig geyst nit in der warheit in dem menschen.J Wo aber der heilig geyst warlichen iſt mitt seiner gegenwertigkeit, der urteilt durch den selbigen menschen, wo es notturfftig ist. Unnd da wartet der selbig mensch der stund unnd stat, biß das es sich woll fiegt zuͦ straffen. Nicht soll es also sein, ee das man ein wunden verheile, das man da bey drey oder vier mit ungestymmigkeit geschlagen habe. 10 Man soll auch den menschen nicht mitt harten worten straffen, sunder früntlich unnd guͤttlich. 11 Man soll den menschen nicht vernichten noch verkleinen in keines anderen menschen hertzen, es sey geistlich oder weltlich, sunder es soll gen auß einer lautern liebe und früntschafft und senfftmuͤtigkeyt. 12 Damitt beleybet der mensch in im selbs in demuͤtigkeit und in armuͦt seines geistes. 13 Unnd das tregt[b] er denn in im selbs, wo er geet oder was er thuͦt, es sey in einer gemein oder sunst allein. 14 Unnd damitt wartet er nicht anders dann sein selbs in einer waren einfeltigkeit unnd laßt alle ding fallen, die in nüt angeen noch empfollen seind.K
Kein Mensch soll eine Sache verurteilen, die nicht eine offenkundige Todsünde ist. Er sollte sich vorher lieber in seine Zunge beißen, bis sie blutet, als einen Menschen für kleine oder große Dinge zu verurteilen. Das soll man dem ewigen Urteil Gottes anvertrauen. Denn aus dem Urteil des Menschen über seinen Nächsten erwächst eine persönliche Selbstgefälligkeit und schlimmer Hochmut und eine Überheblichkeit gegenüber seinem Nächsten. Diese Frucht ist dann wirklich ein Same des Teufels, mit dem viele Herzen beschmutzt werden. Und der heilige Geist ist dann wahrhaftig nicht in dem Menschen. Wo aber wirklich der heilige Geist [in einem Menschen] anwesend ist, spricht er sein Urteil durch diesen Menschen, wenn es nötig ist. Und dann wartet dieser Mensch auf den richtigen Zeitpunkt und Ort, bis es angebracht ist, ihn [= den anderen] zurecht zu weisen. Es darf nicht so sein, dass man dabei ungestüm drei oder vier Wunden schlägt, bevor man eine Wunde geheilt hat. 10 Man soll auch den Menschen nicht mit harten Worten zurechtweisen, sondern in freundlicher und gütiger Weise. 11 Man darf den Menschen nicht im Herzensgrund anderer Menschen, egal ob geistlich oder weltlich, herabwürdigen oder erniedrigen, sondern es [= das Zurechtweisen] soll aus einer aufrichtigen Liebe und Freundschaft und Herzensgüte erfolgen. 12 Auf diese Weise bleibt der Mensch in sich selbst demütig und bescheiden. 13 Und das nimmt er in sich selbst mit, wohin er auch geht oder was er tut, ganz egal, ob es in einer [geistlichen] Gemeinschaft sei oder aber alleine. 14 Und auf diese Weise richtet er seinen Blick auf nichts anderes als sich selbst in wahrer Bescheidenheit und lässt alle Dingen unbeachtet, die ihn nicht betreffen oder ihm anvertraut wurden.
Abschnitt 10
Absatz 11
FN-Anzahl: 2
Kinder, ir soͤlt nüt fragen nach grossen hohen künsten. Send einfeltigklich in eüwern grund inwendig und lernet eüch selber erkennen im geist und in natur unnd fragt nichts nach der verborgenheit gots, von seinen ußflüssen unnd inflüssen, von dem icht in das nicht und funcken der seel in der istigkeit. Wann Christus hat gesprochen: "Eüch ist nitt zuͦ wissen von der heymligkeit gots." Und darumb soͤllen wir halten einen waren gantzen einfeltigen glauben in einem gott in dryfaltigkeit der person und nit manigfeltigklich sunder einfeltigklich. WannLArrius und Sabellius, die wunderbarlich verstuͦnden von der dryfaltigkeit, und der weiß Salomon und Origines, die da die heiligen kirchen wunderbarlich haben underwisen, wo seind sie hyn kommen? Wir wissens nicht. Darumb sehen für eüch selber! Wissent, das niemant für eüch antwurtet dann ir selbs. Darumb nemment gottes und seines willens war und des ruͦffs, mitt dem eüch got geruͦfft hatt, das ir dem leüterlich und warlich volget. 10 Unnd wissent ir nitt, was gotsM wille sey, so volgent den, die von dem heyligen geyste erleücht seind mer dann ir. 11 Und habt ir die auch nicht, so gent allein zuͦ gott. 12 On zweiffel: er wirtt eüch geben leutterlichen und bloß, woͤlchs ir bedoͤrffen, beleibent ir anders staͤtt dabey. 13 Und benuͤget eüch nüt daran, so nement under allen zweiffelhafftigen dingen war mit fleiß und mitt ernst, woran ir sehent, das eüwer natur aller bitterst sey. 14 Unnd warzuͦ ir aller minst geneiget seint, das thuͦnt aller erst. 15 Wann in einem yegklichen tod der natur würt gott von hymel aller warlichst in leben und wechst in euch[37va] on allen zweifel.
Kinder, ihr sollt nicht große hochfliegende Erkenntnisse erforschen. Seid in eurem inneren Grund bescheiden und lernt, euch selbst in Geist und in Natur zu erkennen, und forscht nicht nach den Geheimnissen Gottes, nach seinem Ausströmen und Einfließen, nach dem Etwas im Nichts und dem Funken der Seele im Sein. Denn Christus sagte: "Es ist euch nicht [gegeben], die Geheimnisse Gottes zu erkennen." Und deswegen sollen wir einen wahrhaftigen vollkommenen einfachen Glauben an den einen Gott in der Dreifaltigkeit der Personen haben, und nicht kompliziert, sondern einfach. Denn Arrius und Sabellius, die Unbegreifliches von der Dreifaltigkeit verstanden, und der weise Salomon und Origines, die die heilige Kirche tiefsinnig unterwiesen haben – wo sind sie hin? Wir wissen es nicht. Deswegen achtet auf euch selbst! Ihr sollt wissen, dass niemand für euch verantwortlich ist als ihr selbst. Deswegen vernehmt Gottes Willen und seinen Ruf, mit dem euch Gott berufen hat, damit ihr ihm aufrichtig und wahrhaftig folgt. 10 Und wenn ihr nicht wisst, was Gottes Wille ist, so folgt denen, die der heilige Geist mehr erleuchtet hat als euch. 11 Und wenn ihr solche nicht kennt, so vertraut euch ganz Gott an. 12 Er wird euch zweifellos das klar und unvermischt geben, was ihr braucht, wenn ihr darin beständig bleibt. 13 Und reicht euch das nicht, so prüft mit Beharrlichkeit und ernsthaft alle unsicheren Dinge daraufhin, welches ihr als das erkennt, das eurer Natur am meisten widerstrebt. 14 Und welches euch am wenigsten liegt, das tut zu allererst. 15 Denn in jedem Tod der Natur wird Gott wahrhaftig lebendig und wächst zweifellos in euch.
Abschnitt 11
Absatz 12
FN-Anzahl: 1
Nun kinder, seyd daz was, das den lieben jüngern gottes der heilig geist nitt mocht werden, Christus muͦst vor von in faren, so soͤlten wir billich sehen, womitt wir umbgiengen. Und darumb laßt alle ding durch gott, so wyrt eüch gott warlichen gegeben in allen dingen. Thuͦnd ir das mit fleiß und mit eynem steten inbeleyben bey der warheit, euch wirt wunderlich belonung von gott widerfaren in diser zeit. Unnd so der heylig geyst komet, der wirt eüch denn leren alle ding und auch zuͦkünfftige ding aller wesenlicher warNheit. Der heilig geist wyrt unß nitt leren alle ding also, daz wir wissen ob vil korn, weins oder das es thür oder wolfeil sol werden. Er wirt unß leren alle ding, die unß notturfftig seind zuͦ einem volkommen leben und zuͦ einer bekantnuß der verborgen warheit gottes und schalckheit der natur, die untreuw der welt und die lystigkeit der boͤsen geist.
Nun Kinder, weil es so war, dass die lieben Jünger Gottes den heiligen Geist nicht erhalten konnten, bevor Christus sie verlassen hatte, ist es nur richtig, dass wir darauf achten, worum wir uns bemühen. Und deswegen lasst um Gottes willen von allen Dingen ab, dann wird euch Gott wahrhaftig in allen Dingen gegeben. Wenn ihr das mit Beharrlichkeit tut und dabei wahrhaftig bleibt, werdet euch in diesem Leben ein wunderbarer Lohn von Gott zuteil werden. Und wenn der heilige Geist kommt, wird er euch alle Dinge lehren und auch die [noch] kommenden Dinge der Wahrheit in ihrem eigensten Wesen. Der heilige Geist wird uns nicht alle Dinge in der Weise beibringen, dass wir wissen ob es viel Getreide, Wein geben oder ob es teuer und preisgünstig werden wird. Er wird uns alle Dinge lehren, die wir für ein vollkommenes Leben und für die Erkenntnis der verborgenen Wahrheit Gottes und der Unterordnung der Natur, der Unstetigkeit der Welt und der Schläue der bösen Geister benötigen.
Abschnitt 12
Absatz 13
FN-Anzahl: 0
Kynder, gend mitt fleiß, mit ernst und mit fürsichtigkeit die weg gottes, unnd nement war eüwers ruͦffs. Warin unnd warzuͦ eüch gott durch sein barmherzigkeit beriefft hat, dem volgent mit treüwen. Thuͦnd nit als etlich menschen: So sy got inwendig will haben, so woͤllen sy außwendig. Und so sy gott außwendig vordert, so woͤllen sy inwendig. Das ist ein herte arme verkerte weyß.
Kinder, geht mit Beharrlichkeit, ernsthaft und verständig die Wege Gottes, und hört auf eure Berufung. Worin und wozu euch Gott in seiner Barmherzigkeit berufen hat, folgt mit Beständigkeit. Handelt nicht wie manche Menschen: Wenn Gott sie in einem inneren [= kontemplativen] Leben haben will, so wollen sie ein nach außen gewandtes [= aktives]. Und wenn Gott sie nach draußen beordert, so wollen sie im Inneren verharren. Das ist eine sehr traurige verkehrte [Lebens-]Weise.
Abschnitt 13
Absatz 14
FN-Anzahl: 1
Nun, wen der heylig geist zuͦ unß kommet, so leret er unß alle warheit, das ist. Er zeigt unß warlichen unser gebresten unnd vernichtet unß in unß selber und lert unß, wie wir der warheit bloͤßlich und lauterlich leben sollen. Unnd lert unß demuͤtigklich versincken in ein tieffe demuͤtigkeit und einen gantzen underwurff thuͦn under got und under alle creatur. Dyß ist ein ware kunst, darinn alle kunſt unnd weißheit beschlossen ist, der man on zweyfel zuͦ warer volkommenheyt und seligkeit bedarff. Das ist ein war wesenlich demuͤtigkeit. Und [b] die soll seyn in der warheit inwendig in dem grund und nicht allein in den worten – nicht als etlich geistlichen menschen thuͤnd, die demuͤtigen sich mit den worten,O aber wenn es ander menschen thuͦnd, so künden sy weder recht weyß noch geberd haben. Und das ist zuͦmal ein falscher grund und gar wenig guͦts darhinder in disen besessen gründen mitt in selber. Und der mensch schaffet gantz nichts in seinem leben gegen unserem herren, er habe dann die vorgende demuͤtigkeit warlich und wesenlich alle zeyt in im selber.
Nun, wenn der heilige Geist zu uns kommt, lehrt er uns jede Wahrheit, die es gibt. Er zeigt uns wirklich unsere Schwächen und vernichtet unser Selbst in uns und lehrt uns, wie wir für die Wahrheit rein und klar leben sollen. Und er lehrt uns, uns demütig in eine tiefe Demut zu versenken und uns ganz Gott und aller Kreatur zu unterwerfen. Das ist eine wahre Erkenntnis, in der alle Künste und Weisheit erhalten sind und die man zweifellos für eine wahre Vollkommenheit und zur Seligkeit benötigt. Das ist eine wahre Demut in ihrem eigensten Wesen. Und diese soll sich wirklich innen im inneren Grund befinden und nicht allein in Worten [zum Ausdruck kommen] – nicht wie manche geistlichen Menschen es tun, die mit Worten Demut zeigen, aber wenn es andere Menschen tun, dann können sie es [ihnen] weder mit der Lebensweise noch mit dem Handeln recht machen. Aber das ist eine ganz falsche Grundlegung, und es steckt nichts Gutes dahinter bei diesen von sich selbst besessenen inneren Gründen. Denn der Mensch erreicht überhaupt nichts in seinem Leben im Hinblick auf unseren Herren, wenn er nicht stets die vorher beschriebene Demut wahrhaftig und als Teil seines Wesens [= wesenhaft] in sich selber hat.
Abschnitt 14
Absatz 15
FN-Anzahl: 1
Das wir nun unß alle demuͤtigen under den ewigen got und under allen creaturen durch seinenf willen, damit daz unß got der heilig geist mit seinen gnaden besitz und troͤst unnd lerr alle ding in obgemelter weyß, das verleych unß got. Amen.
Dass wir uns alle nun seinem Willen entsprechend in Demut dem ewigen Gott unterwerfen und aller Kreatur, damit der heilige Geist mit seiner Gnade von uns Besitz nehmen und uns trösten möge und alle Dinge lehre in der oben dargestellten Weise, verleihe uns Gott. Amen.

Variantenapparat

aJsus BT
b–bAT LT KT, fehlt BT
cschedelichen BT
dwalichs
egenuͦgsaz
fseinent

Marginalien

A Das hinfaren Christi von uns.
B Der heilig geist strafft die welt in uns.
C Welches sigent die súnd.
D Die liebhaber diser welt
E Den súnder strafft der heylig geist
F Ein gewiß zeichen des heiligen geistes gegenwirtigkeit.
G Unser gerechtigkeit strafft derheilig geist.
H Eigen weyß ist sorgklich vor gott.
I Hút dich vor urteilen.
J Wiltu recht urteilen.
K Sich selbs lernen erkennen.
M Ein kostliche regel.
N Der heilig geist lert uns alle ding.
O Falsche demútigkeit.
Jesus Christus
Anm.: biblische Person
weiterführende Informationen
Johannes
Anm.: Evangelist
weiterführende Informationen
Bernhard von Clairvaux
Anm.: mittelalterlicher Theologe und Mystiker
weiterführende Informationen
Augustinus von Hippo
Anm.: Kirchenvater
weiterführende Informationen
Jesaja
Anm.: biblischer Prophet
weiterführende Informationen
Arius
Anm.: frühchristlicher Häretiker
weiterführende Informationen
Sabellius
Anm.: frühchristlicher Häretiker
weiterführende Informationen
Salomo
Anm.: biblische Person
weiterführende Informationen
Origines
Anm.: Kirchenvater
weiterführende Informationen
XML: unbekannt
XSLT: unbekannt