Predigt Nr. 15 – Vetter 11 – BT 28va–30vb; LT 45vb–49rb; AT 36va–39rb; KT 45ra–47rb
[28va]
Überschrift
Absatz 1
FN-Anzahl: 4
1 Uff montag vor dem palmtag.
2 Sagt von dem innerlichen durst und jamer nach gott und von einem innerlichen gejaͤgt: wie der mensch gejagt würt mit den hunden maͤngerley anfechtung oder bekerung und wie gott mit seinen ußerwölten freünden
1 so verborgenlich wyrckt die werk der volkommenheit.
3 Gezogen uff die wort
Christi:
4 "Si quis sitit veniat
aad me et bibat
a."
2
5 bJoannis .vij.
b
1 Für den Montag vor dem Palmsonntag.
2 [Die Predigt] spricht von dem inneren Durst und Verlangen nach Gott und und von einer inneren Jagd: wie der Mensch von den Hunden der unterschiedlichster Begierden und Versuchungen gejagt wird und wie Gott im Vorborgenen durch seine auserwählten Freunde die Werke der Vollkommenheit vollbringt.
3 [Sie ist bezogen] auf die Worte
4 "Si quis sitit veniat ad me et bibat"
5 aus dem Johannes[evangelium], 7. [Kapitel].
Abschnitt 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 5
1 In
c den letsten tagen eins grossen hochzyts
druͦfft
Jesusd mit einer
e lauten stymm
fund sprach
f:
2 "Wen dürstet, der komm zuͦ mir und trinck das lebendig wasser."
3
1 An einem der letzten Tage eines großen Festes rief Jesus laut und sagte:
2 "Wer Durst hat, der soll zu mir kommen und das lebendige Wasser trinken. "
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 11
1 Was ist nun der durst, den unser
gA herr
Jesus gemeint hat?
2 Nichts anders dann wenn der heilig geist kompt in die sel, so entpfacht
h sie ein feüwr der lieb
i.
3 Von dem württ ein brant der lieb in der seel.
[28vb]
4 Die selb hitz würfft
j auß die funcken der lieb, die denn ein durst geberen
knach got
k und ein innerlichs begeren nach gott.
5 Und weißt etwan der mensch nit, was im gebrist, dann das er
l findt ein jamer in im und ein verdriessen in allen creaturen.
6 Dise begerung ist in dryerley menschen und ist fast
m ungleych:
7 Die
n erst ist in anhebenden menschen, die ander in zuͦnemenden menschen, die dritt in vollkomnen menschen, als vil
o hie müglich ist in disem leben.
4
1 Welches ist nun der Durst, den unser Herr Jesus meinte?
2 Nichts anderes als Folgendes: Wenn der Heilige Geist in die Seele einzieht, so entzündet sie [= die Seele] ein Feuer der Liebe.
3 Aus diesem entsteht ein große Glut der Liebe in der Seele.
4 Aus ebendieser Glut sprühen die Funken der Liebe, die einen Durst nach Gott und ein inneres Verlangen nach Gott erzeugen.
5 Und der Mensch weiß manchmal nicht, was ihm fehlt, als dass er ein Verlangen in sich verspürt und ihn alle Kreatur langweilt.
6 Dieses Verlangen gibt es bei drei Gruppen von Menschen und unterscheidet sich [bei ihnen] sehr:
7 Die erste [Gruppe] sind die anfangenden Menschen, die zweite die fortgeschrittenen Menschen, die dritte die vollkommenen Menschen, soweit das in diesem Leben möglich ist.
Abschnitt 3
FN-Anzahl: 68
1 Der heilig
David sprach in dem psalter:
2 "Herr
p, zuͦ gleycher weiß als den hirtz dürstet zuͦ den brunnen der wasser, also
q dürstet mein seel zuͦ dir warem lebendigen brunnen."
5
3 Als nun der hirtz würt gejagt von den hunden stercklich durch
B die waͤlde und durch die berg, von der selben
r hitz würt in im ein grosser laͤchender durst und begerung zuͦ dem wasser, vil mer dann ander thier.
4 Als nun der hirtz wirt gejagt von den hunden, also
s wirt der anhebend mensch gejagt von den schweren bekerungen.
6
5 So er
t sich erst hatt abgekert von der welt und
uvon seinen
u gro
Cben gebresten, so wirt er
v erst stercklich gejagt durch
w die syben haubtsünd.
7
6 Die jagen im
x nach mit
y schwinden anfechtungen
z, villycht mer dann do er
aa in der welt was, wann davor kam
ab die anfechtung
ac, aber nun wirt er
ad ires jagen gewar, als
Salomon sprach
ae:
7 "Meyn liebster sun, wenn du antritst, got zuͦ dienen, alsbald
af bereit dich und dein hertz zuͦ der anfechtung
ag."
8
8 So du diß gejaͤgt aller sterckst enpfinden bist, so sol dein durst aller groͤst seyn zuͦ gott und deine hitz
aivil
ah mer soll sein
ai und dein begerung zuͦ gott.
9 Nun geschicht underweylen, daz die hund den hirtz ereylen und fallen im an
aj den bauch.
10 Und so
ak der hirtz syhet, das er der hund nit ledig mag werden, so schleifft er den hund nach im biß an einen baum und schlecht in den
al hart wider den baum und bricht im
am damit sein haubt und würt
an sein also loß und ledig.
11 Also
ao soll der andechtig mensch auch thuͦn:
12 Wenn er die
ap hunde
[29ra]D seiner anfechtung
aq nit mag überwinden, noch ledig
ar von in werden, so soll er lauffen mit grossem eylen an den baum des kreüzes und des leidens unsers lieben herren
Jesu Christi.
13 Da allein schlecht er den hunden siner bekerung daz haubt entzwey, das ist, er überwindt da alle sein anfechtung
as und würt
atir gantz
at ledig und loß
au.
14 Als nuͦ der hirß sich der grossen hund erwert hat, so kommen
av die kleinen hündlein, die
aw lauffen under den hirß
axund zwicken
ax in, daz er dardurch versert würt.
15 Und dovor huͤtet sich der hirß so
ay fast nit, er muͤß
azvon diser
az verserung faulen
ba.
16 Also
bb geschicht dem menschen auch:
17 So
bc er sich der
bd sünden erwert hat und sie
be überwunden, so kommen denn die kleinen hund, vor der er sich nit gedenckt zuͦ huͤten – daz seint
bf die gespilen oder die
bg geselschafft oder die kleinet oder die kurtzweil der menschen und der menschen guͤtigkeit –, die
bh reitzen in
bi hie und dort unnd erzerren im sein hertz und sein inwendigkeit, das er von not faulen
bj muͦß in allem goͤttlichen leben und in einem goͤtlichen ernst und
bkentpfindet gottes
bk ge
Enaden und andacht nicht.
9
18 Und ist dem menschen offt dise klein begerung
bl vil schedlicher dann
bm die grossen anfechtung
bn.
19 Wann vor den huͤtet sich der mensch
mitt
bo fleiß und hat die selben für unrecht.
20 Aber diser
bp kleinen gebresten will der mensch
nit
bq achten, noch sie für unrecht haben.
21 Wann zuͦ gleicher weiß, als alle ding vil schaͤdlicher seint, die man nicht bekennet, dann die
br man bekennet, also
bsist auch
bs diß gefert, da man nicht vil uffhalt und achtet als die gespilschafft, geselschaft oder kleinet
bt.
22 Als nuͦn der hirtz von einem yegklichen gejegt erhitzigt würt und sein durst ye mer dardurch zuͦnemen ist, also
bu soll der mensch von einer yegkliche bekerung mer erhytziget werden nach goͤttlicher liebe zuͦ unserm herren
bv.
10
1 Der heilige David sagte in dem Psalm:
2 "Herr, wie den Hirsch nach der Wasserquelle dürstet meine Seele nach dir, der wahren lebendigen Quelle."
3 Wenn nun der Hirsch von den Hunden heftig durch die Wälder und über die Berge gejagt wird, entsteht in ihm – viel mehr als bei jedem anderen Tier – durch die [Körper-]Hitze ein großer brennender Durst und eine Gier nach Wasser.
4 So wie der Hirsch von den Hunden gejagt wird, so wird nun der anfangende Mensch von den großen Versuchungen gejagt.
5 Wenn er sich erstmals von der Welt und von seinen schlimmsten Verfehlungen abgewandt hat, wird er zunächst heftig von den sieben Hauptsünden gejagt.
6 Diese jagen ihm [dann] mit ungestüme Versuchungen nach, vielleicht mehr als zu der Zeit, als er noch weltlich lebte, denn zuvor kamen die Versuchungen einfach daher, aber jetzt bemerkt er, dass sie ihn jagen, wie Salomon sagte:
7 "Mein sehr geliebter Sohn, in dem Moment, in dem du beginnst, Gott zu dienen, bereite dich und dein Herz auf die Versuchung vor."
8 Wenn du dieses Gejagtwerden besonders intensiv empfindest, dann muss dein Durst nach Gott am größten sein und deine [Liebes-]Glut und dein Verlangen nach Gott sollen viel stärker sein.
9 Nun passiert es manchmal, dass die Hunde den Hirsch einholen, und sie verbeißen sich dann in seinen Bauch.
10 Und wenn der Hirsch feststellt, dass er sich von den Hunden nicht befreien kann, schleift er den Hund hinter sich her zu einem Baum und schlägt ihn dann hart gegen den Baum und zertrümmert ihm seinen Kopf und befreit sich so.
11 Genauso soll auch der fromme Mensch handeln:
12 Wenn er die Hunde seiner Versuchung nicht besiegen, noch sich von ihnen frei machen kann, soll er sehr schnell zum Baum des Kreuzes und des Leidens unseres lieben Herren Jesu Christi laufen.
13 Dort allein zertrümmert er den Hunden seiner Versuchung den Kopf und befreit sich von ihnen, das heißt er überwindet alle seine Anfechtungen und befreit sich von ihnen.
14 Wenn sich dann der Hirsch gegen die großen Hunde mit Erfolg gewehrt hat, kommen die kleinen Hündlein und laufen unter ihm her und zerren an ihm, so dass er dadurch verletzt wird.
15 Und hütet sich der Hirsch davor nicht gut, wird er durch diese Verletzung langsam.
16 Dasselbe widerfährt auch dem Menschen:
17 Wenn er sich erfolgreich gegen die Sünden gewehrt und sie überwunden hat, kommen anschließend die kleinen Hunde, bei denen er nicht daran gedacht hatte, sich vor ihnen zu hüten – damit sind die Freunde oder das Zusammensein mit anderen oder der Schmuck oder die Vergnügungen der Menschen oder die Freundlichkeit der Menschen gemeint –, und treiben ihn hierhin und dorthin und zerren an seinem Herz und seiner inneren Andacht, so dass er zwangsläufig bei seinem Gott gewidmeten Leben und ernsthaftem Streben träge wird und Gottes Gnadenbeweise und [seine] Hingabe [an Gott] nicht mehr empfinden kann.
18 Und diese kleinen Begierden sind für den Menschen häufig gefährlicher als die großen Versuchungen.
19 Denn vor jenen hütet sich der Mensch eifrig und erkennt sie als falsch.
20 Aber diese kleinen Verfehlungen will der Mensch nicht wahrhaben, noch sie für falsch halten.
21 Denn genauso, wie alle die Dinge gefährlicher sind, die man nicht erkennt, als die, die man kennt, verhält es sich auch bei dem, dem man keine große Bedeutung und Aufmerksamkeit schenkt wie der Freundschaft, dem Zusammensein mit anderen oder Schmuck.
22 Genauso wie nun der Hirsch durch eine jede Jagd mehr erhitzt wird und sein Durst dadurch stärker wird, soll der Mensch durch eine jede Versuchung stärker nach der göttlichen Liebe zu unserem Herren entflammt werden.
Abschnitt 4
Absatz 4
FN-Anzahl: 29
1 Nuͦ thuͤnd etwan die jaͤger so der hirtz zuͦ muͤd ist und zuͦ dürr,
11 so hetzen
bw sie die hund ein wenig und werden
bx also uffgehalten.
2 So
by sie des hirtzen sicher seint in dem thiergarten, so lassen
[29rb]sie
bz den hirtzen sich
ca erspacieren ein wenig, das er etwas dardurch gesterckt würt, so mag er dann das jagen dester baß erleyden.
3 Also
cb thuͦt unser
cc herr dem menschen
F auch:
4 Wenn er syhet, das dem menschen das gejaͤg zuͦvil will werden und die anfechtung
cd zuͦ groß, so halt er sie ein wenig uff.
5 Unnd denn
ce würt dem menschen ein tropff in dem
cf mund seines hertzen, das ist ein suͤsser geschmack vonn suͤssigkeitt goͤttlicher ding.
6 Die stercken in
cg also vast
ch, das im alle ding bitter unnd widerzeme schmecken, die gott nicht seind.
7 Und denn so duncket in
ci, er hab alle seyn not gantz unnd gar überwunden.
8 Diß ist denn nüt anders dann ein ersterckung zuͦ einem neüwen gejaͤgt und bekerung.
G
9 Unnd so ir der mensch aller minst gedenckt, so seind
cjsie im
cj uff dem halß und ligen im denn noch
ck vil mer an den vor.
10 Aber der mensch ist nun etwas gestercket unnd vermag auch vil
cl mer dann vormals.
11 Aber
cm diß thuͦt gott von grossen
cn treüwen unnd von
co unmessiger liebe wegen, das er diß gejaͤgt laßt kommen über den menschenn.
12 Wann von der anfechtung
cp württ der mensch billich zuͦ gott gejaget mitt begyrlichem durst unnd lachendem
cq hertzen, zuͦ dem da alle wunne und freüde und fryd in der warheit ist,
crdamitt das im daz
cr tranck, der da geet nach dem durst, dester suͤsser und lustiger
csunnd dester
cs wunniglicher werd hie in diser zeyt und darnach in dem ewigen leben, da man den suͤssesten
ct brunnen trincken würt
cu mit vollem lust, mit vollem mund auß seinem eygen ursprung, das ist uß
cv vaͤtterlichem hertzen.
13 Da enpfacht der mensch solichen trost, das im alle ding klein werden durch gott froͤlich zuͦ lyden.
1 Wenn nun der Hirsch zu müde und zu durstig geworden ist, verhalten sich die Jäger manchmal so, dass sie die Hunde weniger antreiben, und so werden sie [= die Hunde] zurückgehalten.
2 Wenn sie [= die Jäger] wissen, dass der Hirsch im Wildgehege ist, lassen sie den Hirsch ein wenig umherlaufen, damit er dadurch wieder Kraft gewinnt und er dann die Jagd umso besser ertragen kann.
3 Genauso verfährt unser Herr mit dem Menschen:
4 Wenn er bemerkt, dass dem Menschen die Jagd zu viel und die Versuchung zu groß wird, dann hält er sie [beide] ein wenig zurück.
5 Und dann erhält der Mensch einen Tropfen in den Mund seines Herzens, der den süßen Geschmack der göttlichen Süße hat.
6 Diese stärkt ihn so sehr, dass ihm alle anderen Dinge, die nicht Gott sind, bitter und widerwärtig schmecken.
7 Und dann hat er den Eindruck, er habe die Gefahr, in der er sich befand, schon ganz und gar überwunden.
8 Das ist dann nichts anderes als die Kräftigung für ein neues Gejagtwerden und eine neue Hatz.
9 Und wenn der Mensch am allerwenigsten an sie denkt, sind sie ihm auf den Fersen und bedrängen ihn noch viel mehr als zuvor.
10 Aber jetzt ist der Mensch gekräftigt und kann viel mehr [ertragen] als zuvor.
11 Gott tut dies aber aus zuverlässiger Fürsorge und aus unermesslicher Liebe, dass er dem Menschen diese Jagd aufbürdet.
12 Denn durch die Versuchung wird der Mensch, wie es sich gehört, mit brennendem Durst und begierigem Herzen zu Gott gejagt, bei dem wahrhaftig alle Heiterkeit und Freude und Friede sind, damit ihm der Trank, mit dem er [= der Mensch] den Durst löscht, umso süßer und begehrenswerter und umso lieblicher schmeckt – hier auf der Erde und später im ewigen Leben, wo man den süßesten Quell mit vollkommener Freude, in vollen Zügen aus seinem ureigensten Ursprung, der das väterliche Herz ist, trinken wird.
13 Dort empfängt der Mensch in einer Weise Tröstung, dass es ihm in allen Dingen leicht fällt, für Gott frohen Mutes zu leiden.
Abschnitt 5
FN-Anzahl: 26
1 Und so nun der
cxmensch
H die hund seyner begerung
cwcx überwunden hat
cy und
cz mit einem vesten getrauwen mitt disem durst kommet zuͦ gott, was soll
da der mensch anders thuͦn?
2 Er trinckt dann
db mit vollem mund, das er zuͦmal truncken werd.
3 Und
dc würt den der mensch
[29va]gottes als voll, das er in wunne unnd
dd freüd sein selbs vergißt.
4 Und den menschen dunckt denn, wie das er grosse wunder vermüge.
5 Ja,
dein dunckt
de, er solt wol und froͤlich geen durch feür und wasser, ja, auch durch tusent schwert.
6 Er voͤrcht weder leben
df noch todt, weder
dg lieb noch leide.
7 Und
dh das ist des schuld, das dise menschen seint in gottes lieb truncken worden.
8 Dise freüd heißt 'jubilieren'.
9 Underweilen
I schrygen sie, underwylen lachen sie, denn
di singen sie.
10 Das künden die vernünfftigen nit begreyffen, die hievon nichts
dj wissen, was der heilig geist wunders und wyrckens hat mit seinen ußerwelten.
11 Wann sie haben und wissen nüt anders, dann daz die natur gibt.
12 Die selben menschen sprechen denn uß mit einem wunder:
13 "Luͦg
dk, waz soll aber noch dise wunderliche weiß?"
14 Und fallen
dl alsbald mit urteil auff die ußerwoͤlten gottes.
15 Darnach
dm komen dise
dn menschen in ein unsprechlich freüd, das in allenn dingen ein wunne und freüd ist.
16 Was man in thuͦt, es gee in übel oder wol, damitt seind sie ledig, frey und unbekümmert, wan
dodise freüd
do gottes leyt in irem hertzen und gluͦet
dp.
17 Dadurch haben sie einen lechenden durst nach got on underlaß.
18 Etlich
dq die
dr sterben.
19 Den selben menschen brechen recht
J ir hertz entzwey nach unserm herren.
20 Daz
ds seind die grossen werck gottes, das dise menschen die grossen werck gotts nit
dt erleyden mügen, das die in in so groß und so überschwencklich seind.
21 Wissent, das davon menig mensch gestorben ist, das sie sich disem wunderlichen werck also ser und vast ergaben, das es die arm kranck natur nit erleiden mocht unnd denn dadurch sturben.
1 Und wenn nun der Mensch die Hunde seiner Versuchung abgeschüttelt hat und mit festem Vertrauen mit dem beschriebenen Durst zu Gott kommt, was soll der Mensch dann weiter tun?
2 Er trinkt dann in vollen Zügen, so dass er berauscht wird.
3 Und der Mensch wird dann so von Gott erfüllt, dass er in dem Wohlgefühl und der Freude sich selbst vergisst.
4 Und der Mensch hat dann den Eindruck, dass er große Wunder vollbringen kann.
5 Ja, er glaubt, er könnte gut und gerne durch Feuer und Wasser gehen, ja sogar durch tausend Schwerter.
6 Er fürchtet weder Leben noch Tod, weder Lieb noch Leid.
7 Und das liegt daran, dass diese Menschen berauscht sind in der Liebe Gottes.
8 Diese Hochstimmung nennt man 'Jubilieren'.
9 Manchmal rufen sie laut, manchmal lachen sie, dann wieder singen sie.
10 Das können die Verstandesmenschen, die davon nichts erfahren haben, wie der Heilige Geist an seinen Auserwählten Wunder vollbringt und in ihnen wirkt, nicht begreifen.
11 Denn sie verstehen und kennen nur das, was die Natur bietet.
12 Diese Menschen fragen dann verwundert
13 "Schau dir das an, was soll denn dieses seltsame Gehabe?"
14 und haben ihr Urteil über die Auserwählten Gottes schnell gefällt.
15 Schließlich gelangen jene Menschen [= die Auserwählten] in eine unbeschreibliche Hochstimmung, so dass sie in allen Dingen Wohlgefühl und Freude empfinden.
16 Ganz egal, was man ihnen antut, ob es ihnen schlecht oder gut geht, sie sind unbelastet, frei und unbekümmert, denn die Freude Gottes ist in ihrem Herzen und glüht.
17 Deswegen haben sie unablässig einen brennenden Durst nach Gott.
18 Manche [von ihnen] sterben.
19 Diesen Menschen bricht das Herz aus Verlangen nach unserem Herren.
20 Das liegt an dem großen Wirken Gottes, so dass diese Menschen das große Wirken Gottes nicht aushalten können, das in ihnen so groß und übermächtig ist.
21 Ihr müsst wissen, dass viele Menschen dadurch gestorben sind, dass sie sich diesem wundersamen Wirken so sehr und in einem so großen Maße hingaben, dass es die arme schwache Natur nicht aushalten konnte, und sie auf diese Weise dann starben.
Abschnitt 6
Absatz 5
FN-Anzahl: 34
1 So
du nuͦ unser herr
dv sicht, daz also die menschen diß dings zuͦvil woͤllen machen und sich also woͤllen ertrencken, so thuͦt er
dw als ein ersamer hußwyrt, der vil edels guͦtts weyns bey im steen hat, unnd geet hinweg unnd legt sich
dx schlaffen.
2 So geen dann sein kinder dar und trincken
dy des edelen guͦotten weyns so vil, das sie zuͦmal truncken werden.
3 So nun
[29vb] der guͦt haußvatter uffsteet und des gewar würt, so geet er dar und macht ein guͦtte ruͦten unnd schwingt
dz die kinder recht wol, das sie
ea also trurig werden, als froͤlich sie vormals gewesen seind.
4 Und gibt in denn wassers als vil zuͦ trincken, das sie dadurch wider nuͤchter werden.
5 Also
eb thuͦt auch
ec gott seinen ußerwoͤlten kinder
ed.
6 Er
eethuͦt dergleych
ee, als ob
ef er entschlaffen sey, und laßt recht seinen ußerwoͤlten kinder von seinem suͤssen wyn trincken mit vollem mund und mit gantzem lust, wievil sie seyn begeren.
7 Aber so
eg er sicht, das es in nicht nütz will werden und
K in zuͦvil will sein, so enzeücht er inn sein suͤß entpfinden und den trost und den guͦten wein und macht sie
eh als traurig, als ob sie nie froͤlich weren worden, und als nuͤchter, als ob
ei sie nie
ej vormals truncken worden weren.
8 So nuͦ in diser trost und diß suͤß enpfinden anfacht
ek fremd werden, so dürstet sie seer nach unserm herren.
9 Aber hiemit lockt er in und laßt sie hiemit uß in selber und uß aller gefencknyß der creaturen.
10 Aber nun
elist ihr
el wol
em vil worden.
11 Und damit will er sie zuͦ in selber bringen und will damit sie nuͤchter machen.
12 Dadurch werden sie denn so wol temperiert und uff sich selber gelassen, das sie da sehen, wer sie seind unnd was sie vermügen von irem eygen vermügen.
13 Aber
en hievor wollten sie mer durch gott leyden dann
eo in yemandt möchte gesaget haben unnd etwas
ep mer darüber.
14 Aber nuͦ k
ünden
eq sie nicht ein klein werck
L thuͦn on grosse sunder schwerheit.
15 Und ein klein woͤrtlein das mügen sie
er kaum durch gott geleyden noch vertragenn.
16 In disem underzug so sehen sie
es gruntlich in der warheit, was guͦtes sie vermügenn mitt ir eygnenn kost unnd ir selbs macht.
17 Wenn gott
et seyn genad
eu zuͦ im zeücht vonn disenn, so werdenn sie
ev also
ew demuͦttig unnd gelassen unnd also
ex guͦtt glaͤubig gegen allen menschen und
eywerden also stylle mit iren usseren wercken, als in dann wol gezymet
ey,
[30ra]ezso sie
ez wol von dem herren gezüchtigtet seint worden.
1 Wenn nun unser Herr sieht, dass die Menschen von dieser Sache zu viel haben wollen und sich auf diese Weise ertränken würden, handelt er wie ein ehrbarer Hausherr, der eine große Menge von edlem guten Wein lagert und der weg geht, um sich schlafen zu legen.
2 Dann kommen seine Kinder dorthin und trinken so viel von dem edlen guten Wein, dass sie gleich betrunken sind.
3 Wenn nun der gute Hausherr aufsteht und es merkt, so kommt er und macht sich eine gute Rute und verprügelt die Kinder ordentlich, dass sie dann so betrübt sind, wie sie davor fröhlich gewesen waren,
4 und gibt ihnen dann so viel Wasser zu trinken, dass sie dadurch wieder nüchtern werden.
5 Genauso behandelt auch Gott seine auserwählten Kinder.
6 Er tut so, als ob er eingeschlafen sei, und lässt seine auserwählten Kinder in vollen Zügen und nach Herzenslust von seinem süßen Wein trinken, soviel sie wollen.
7 Wenn er jedoch erkennt, dass es ihnen keinen Nutzen bringt und zu viel für sie ist, so nimmt er ihnen die süße Wahrnehmung seiner selbst und die Zuversicht und den guten Wein wieder weg und betrübt sie so sehr, als ob sie nie fröhlich gewesen wären, und macht sie so nüchtern, als ob sie zuvor niemals berauscht gewesen wären,
8 Wenn die Zuversicht und die süße Wahrnehmung nun langsam verschwinden, so verspüren sie großen Durst nach unserem Herren.
9 Auf diese Weise lockt er [= Gott] sie und befreit sie so von sich selbst und aus der Gefangenschaft der Kreatur.
10 Sie hatten doch viel zu viel [des süßen Weins] bekommen.
11 Und deshalb will er sie wieder zu Bewusstsein kommen lassen und will sie so nüchtern machen.
12 In dieser Weise werden sie so gemäßigt und auf sich selbst zurück geworfen, dass sie erkennen, wer sie sind und wozu sie aus eigenem Vermögen in der Lage sind.
13 Vorher noch wollten sie mehr um Gottes Willen ertragen, als es ihnen jemand hätte befehlen können, und noch darüber hinaus.
14 Doch jetzt könnten sie kein kleines Werk ohne große Mühe vollbringen.
15 Und das kleinste [unfreundliche] Wort können sie um Gottes Willen kaum aushalten oder ertragen.
16 In dieser Weise herabgezogen, erkennen sie in ihrem Inneren, was sie in Wahrheit durch ihr Können oder ihre eigene Kraft Gutes vollbringen können,
17 wenn Gott seine Gnade von ihnen zu sich zurückzieht. Dann werden sie so demütig und innerlich gelassen und allen Menschen gegenüber so vertrauensvoll und werden so ruhig in ihrem äußeren Tun, wie es ihnen angemessen ist, wenn sie vom Herren auf die richtige Weise gezüchtigt wurden.
Abschnitt 7
Absatz 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 32
1 Und
fa dises ist noch alles in den nidersten krefften gewesen, diß gestürm und dise werck.
2 Und in dem will got kein wyl
fb wonen, und
fc sein edle statt ist da nicht.
3 Es ist im da zuͦ eng und zuͦ klein zuͦ wonen.
4 Er kan seines wercks da vollkomenlich nicht bekomen.
5 Er will
fd wonen in den oͤbersten krefften der seel
12 und da wyrcken
fe.
6 Und dar
ff ist allein sein statt, da findet er seyn eygen bild und sein eygen gleychnyß.
13
7 Und darumb: wer gott eygentlich finden woͤll, der suͦch in do unnd niendert anders.
8 Nuͦn welcher mensch darzuͦ komen künd, der finde kürzlich und warlich, was er lang und vil umbwege gesuͦcht hett.
9 In der warheit: da würd dann der geyst gezogen über alle krefft in ein wuͤste wildnyß,
14 davon aber
fgkein mensch
fg kan gesprechen, das
istfh in die verborgen weyßloß
fi vinsternyß des wyßlossen guͦts.
10 Da würt der geyst also nahe ingefuͤrt in die einigkeit gotts, das er ganz
fj verleürt allen underscheid.
15
11 Wann in der
M lutern einigkeit verleürt man all underscheidt.
12 flUnd die einigkeit
fk einiget da
fl alle manigfaltigkeit.
13 Kinder, wenn dise menschen zuͦ in selber komen, so haben sie enpfangen von gott schoͤne minnigkliche
fm underscheid, mer dann nieman sunst mag haben in diser zeyt.
14 Das würrt unnd ist allein
fn geboren in der einfalttigen einigkeit
fo warer underscheid von allen artickeln des lautern heiligen glaubens, wie der vatter und der sun und der heylig geist ein warer gott ist
fqye und ye und immer ewigklich waren
fpfq.
15 Den goͤttlichen underscheid verstet niemant baß dann die, die da geraten in die einigkeit.
16 Diß heißt und ist ein unsprechlich vinsternyß
16 und ist doch das war wesenlich liecht gots
17 und ist und heißt ein unbegreiflich wilde wuͤste
18, da niemant inne findt
fr weg noch steg noch weyß, wenn es ist über all wy
Nse.
17 Dise
fs vinsternyß soll man also versteen:
18 Es ist ein liecht, da kein geschaffen verstentnyß zuͦgelangen noch ver
[30rb]steen mag von natur.
19
19 Und ist darumb wild, wann es keinen zuͦgang hat.
20 In disem
ft würt der geyst gefuͤrt über sich selber über als seyn begreyffen unnd versteen.
21 Da württ denn der brunn vollkommenlich getruncken uß seym eygen grunt uß dem waren wesenlichen quellen gottes.
22 Da
fu ist der goͤttlich brunn übersuͤß
fv und frisch
fw zuͦ gleycher weyß, als
fx alle brunnen aller suͤst seind an irem ursprungen
fy.
23 Ach
fz, wie ein lauter
ga brunn württ hie geschenckt uß dem waren quellen gotts!
20
24 Darinn versincken sie zuͦmal unnd wolten hie gern mit vollem mund trincken, aber diß mag in hie nit widerfaren, noch an in geschehen, die weyl sie hie in diser zeyt der genaden seind.
25 Aber sie sincken und entsincken in den waren grunde gottes recht
gb als ein wasser, das uff dem erdtreych gestuͦnd und insinckt in das erdtreych.
1 Aber dies, der Aufruhr und diese Werke, hat sich noch alles in den niedrigsten der [Seelen-]Kräfte ereignet.
2 Und hierin will Gott keinen Moment lang wohnen, und seine edle Wohnstatt befindet sich nicht dort.
3 Um dort zu wohnen, ist es ihm dort zu eng und zu klein.
4 Er kann sein Werk dort nicht vollständig vollbringen.
5 Er will in den obersten Kräften der Seele wohnen und dort sein Werk vollbringen.
6 Und dort allein ist seine Wohnstatt, dort findet er sein eigenes Bild und seine Ebenbildlichkeit.
7 Und daraus folgt: Wer Gott seinem Wesen entsprechend finden möchte, der muss ihn dort und nirgendwo sonst suchen.
8 Der Mensch, der nun dorthin gelangen könnte, der würde in kurzer Zeit tatsächlich das finden, was er lange und mit vielen Umwegen gesucht hat.
9 Es ist wahr: Der Geist würde dann über alle Kräfte hinaus in eine öde Wildnis entrückt, von der kein Mensch erzählen kann, das ist die verborgene verlassene Finsternis des absoluten [= ohne besondere Eigenschaft seienden] Guten.
10 Dort wird der Geist so eng in die Einheit Gottes hineingeführt, das er jeden Unterschied [zu ihr] verliert.
11 Denn in der reinen Einheit verliert man jeden Unterschied.
12 Und die Einheit vereinigt dort alle Vielfalt.
13 Kinder, wenn diese Menschen wieder zu Bewusstsein gelangen, haben sie von Gott schöne liebenswerte Lehre empfangen, mehr als sonst jemand in dieser Welt haben kann.
14 Das wird und ist allein geboren aus der untrennbaren Einheit wahrer Lehre aller Artikel des [Bekenntnisses des] reinen heiligen Glaubens, dass der Vater und der Sohn und der heilige Geist ein [einziger] wahrer Gott sind.
15 Die göttliche Lehre versteht keiner besser als die, die in diese Einheit gelangen.
16 Sie wird eine unbeschreibliche Finsternis genannt – und ist es auch –, und ist doch das wahre einzige Licht Gottes und ist eine unbegreifliche wilde Ödnis – und wird auch so genannt –, in der keiner Weg oder Steg oder Richtung findet, denn sie hat keine besonderen Eigenheiten.
17 Diese Finsternis ist folgendermaßen zu verstehen:
18 Sie ist ein Licht, zu dem kein geschaffener [= natürlicher] Verstand hingelangen, noch das er aus seiner Natur heraus verstehen kann,
19 und sie ist deshalb wild, weil es keine Möglichkeit des Hineinkommens [zu ihr] gibt.
20 In ihr wird der Geist über sich selbst hinausgeführt, weit über sein Begreifen und Verstehen hinaus.
21 Dann wird das Wasser unvermindert aus seinem [= des Menschen] eigenen inneren Grund aus der wahren Quelle des Wesens Gottes getrunken.
22 Dort ist das göttliche Wasser in derselben Weise unbeschreiblich süß und gleichzeitig erfrischend wie alles Wasser an seiner Quelle.
23 Ach, welches reine Wasser wird hier aus der wahren Quelle Gottes ausgeschenkt!
24 Darin versinken sie [= die Menschen] sogleich und würden gerne in vollen Zügen trinken, doch das kann ihnen in dieser Welt nicht widerfahren, noch können sie es erleben, solange sie sich hier in der Zeit der Gnade befinden.
25 Sie sinken und versinken jedoch in den wahren Grund Gottes wie Wasser, das auf dem Boden steht und in der Erde versickert.
Abschnitt 8
Absatz 8
FN-Anzahl: 9
1 Woͤlt
gc nun der mensch, als er darin kommen ist
gd, nach den niderstenn
O krefften muͤssig ligen und nit thuͦn, dann lassen die nidersten krefft schlaffen, so würt nichts daruß.
2 Die nidersten krefft soll mann haltten nach irer weyß, oder der heylig geyst gieng zuͦmal hinweg.
3 Und würt da geboren geistliche hoffart unnd
ungeordnete
ge freyheit
gf.
4 Sunder mit grosser demuͤtigkeit soll man sich legen under den gottlichen willen, unnd
ghdas heißt
gg in
gh dem menschen groß abscheidenheit
gi21.
5 Und innerlich unnd usserlich soll er schweygen in tieffer demuͤtigkeit.
6 Und alle tugend soll er uͤben in den niedersten krefften.
7 So
gj würt denn der mensch gott heimlich und würt zuͦmal ein goͤttlicher mensch.
1 Würde nun der Mensch, wenn er soweit gekommen ist, im Hinblick auf die niedrigsten Kräfte untätig sein und nichts tun, dann erschlaffen die niedrigsten Kräfte, und es wird [ihm] nichts gelingen.
2 Die niedrigen Kräfte muss man behandeln, wie es ihnen zukommt, oder der Heilige Geist verschwindet,
3 und es kommt zu geistlichem Hochmut und ungezügelter Freiheit.
4 Sondern man soll sich hingegen mit großer Demut dem göttlichen Willen unterwerfen, und das bedeutet eine umfassende Loslösung [von aller Kreatur] in dem Menschen.
5 Und innerlich und äußerlich soll er in tiefer Demut schweigen.
6 Und alle Tugenden soll er in den niedrigsten Kräften ausüben.
7 Auf diese Weise wird der Mensch mit Gott vertraut und wird zugleich ein göttlicher Mensch.
Abschnitt 9
Absatz 9
FN-Anzahl: 8
1 Nun
gk sehent, wie wunderlich weg er si gefuͤrt hat, unnd hatt hie sein spyl an in beweyßt.
2 Zuͦ dem ersten
P do sie des seynen in sich namen in ir inwendig kreffte, wie er in entwuͦchß, und des seinen kunden sie in in nit enthalten:
3 Sie wurden entsetzt und entordnet unnd verdrungen.
4 Aber nun fuͤrt er sie gantz
gl hie unnd hatt sie ingeholet über sich selber unnd gibt inn hie gantz
gm sich
[30va] selber ungleych dem ersten.
5 Und hie werden sie wunderlich geordnet.
6 Diß ist recht
gn als die geliebte seel spricht in dem buͦch der liebe:
7 "Introduxit me rex in cellaria sua
go etc." "Der künig hat mich gefuͤrt in sein weynkeller unnd da hat er seyn lieb in mich geordnet."
22
8 Luͦg
gp, er hat sie hie zmal wol geordnet und hat sie durch wunderlich wild weg ingefuͤrt und übergefuͤrt in das tieff abgrunde in sich selber.
9 Und was sie da finden, daz ist über alle sinn unnd vernunfft des menschen.
10 Wann es mags niemant versteen noch begryffen mit den usserlichen sinnen.
11 Wann es ist ein warer vorgeschmack des ewigen lebens.
1 Betrachtet nun, auf welchen wunderlichen Wegen er [= Gott] sie [= die Menschen] geführt hat, und er hat hier sein Spiel mit ihnen gespielt:
2 Zuerst, als sie [viel] von ihm in sich, in ihre inneren Kräfte, aufnahmen, wie er ihnen zu groß wurde und sie ihn nicht in sich halten konnten:
3 Sie wurden seiner beraubt, verwirrt und verdrängt.
4 Jetzt aber führt er sie gänzlich an diesen Ort und hat sie vor sich selbst eingeholt und gibt sich ihnen ganz – im Gegensatz zu dem ersten Mal.
5 Und hier werden sie auf wundersame Weise an ihren Platz gestellt.
6 Das ist genauso, wie die geliebte Seele im Buch der Liebe sagt:
7 "Introduxit me rex in cellaria sua etc." "Der König hat mich in seinen Weinkeller geführt, und dort hat er seiner Liebe in mir ihren Platz zugewiesen."
8 Schau, er hat sie [= die Menschen] hier gleich an den richtigen Platz gestellt und hat sie [doch] über seltsame unbekannte Wege hinein- und hinübergeführt in den tiefen Abgrund in sich selbst.
9 Und was sie dort finden, geht über allen Sinn und Verstand eines Menschen.
10 Denn niemand kann es mit den äußeren Sinnen verstehen oder begreifen.
11 Denn es ist ein wahrer Vorgeschmack auf das ewige Leben.
Abschnitt 10
Absatz 10
FN-Anzahl: 8
1 Kinder, nuͦ sehent, wie die zart minnigklich guͤte gottes mit seinen ußerwoͤlten freündenn kan so verborgenlich wyrcken die werck der volkommenheit, das es alle menschen moͤcht wunder nemen an unserm herren.
2 Das thuͦt er
Q alles darumb, das er unß zuͦ im geziehen müge in ein heiligs seligs leben.
3 Darumb das unß dürst nach seiner ewigen freude und liebe, darumb
gq ruͤfft er mitt
gr grosser stymme:
4 "Ist yemandt, den dürste, der komme zuͦ mir unnd trinck das lebendig wasser."
23
5 Noch dannocht dürstet in darnach, das er unß einen waren durst finden müge.
6 Unnd wenn
gs wir unß nach im mit begyrden dürsten
gtwoͤlten lassen
gt, so woͤlt er unß also herlichen und suͤssigklichen trencken, das von
gudes leybs tranck
gu solten lebendig wasser fliessen, die da würden
gv springen in das ewig leben.
1 Kinder, nun erkennt, wie die liebliche freundliche Güte Gottes in seinen auserwählten Freunden so verborgen die Werke der Vollkommenheit vollbringen kann, so dass alle Menschen über unseren Herrn in Erstaunen versetzt werden könnten.
2 Das vollbringt er alles deswegen, damit er uns in sein heiliges seliges Leben führen kann.
3 Damit wir den Durst nach seiner immerwährenden Freude und Liebe verspüren, ruft er mit lauter Stimme:
4 "Wenn es jemanden gibt, der Durst hat, der soll zu mir kommen und das lebendige Wasser trinken."
5 Darüber hinaus dürstet ihn danach, uns einen wahren Durst verspüren zu lassen.
6 Und wenn wir uns dazu hingeben, mit Begierde nach ihm zu dürsten, so würde er uns so herrlich und süß tränken, dass sich von dem körperlichen Trinken lebendige Wasserströme ergießen würden, die in das ewige Leben laufen.
Abschnitt 11
FN-Anzahl: 4
1 Nuͦn merck, was ist
gwdie gleychnyß des leibs?
2 So
gw der leychnam neüßt die leyplichen speiß, so entphahet sie der mag.
3 Unnd denn davon
gx würt die speyß umbgeteilt in ein yeglich glyd des menschen und würt also dadurch gesterckt.
4 Also zuͦ gleicher weiß empfacht der geyst die edlen goͤttlichen speiß in disem trincken und würt denn von der waren goͤttlichen hitzigen lieb umbgeteilt in alle glider in alles des menschen leben unnd wesen, also das alle sein werck baß ge
[30vb]ordnet moͤgen werden und allen menschen besserlich.
5 Auch so würt von den inwendigen ordnung der usser mensch wol geordnet und würt bluͤende und starck unnd groß zuͦ allem dem, darzuͦ in gott haben will unnd springet recht froͤlich
gyunnd wolgemuͤtlich
gy in das ewig leben.
gz
6 Darzuͦ helff uns der barmhertzig gott.
7 Amen.
gz
1 Jetzt merke dir: Wie stellt sich der Vergleich mit dem Körper dar?
2 Wenn der Körper die körperliche Speise zu sich nimmt, so gelangt sie in den Magen.
3 Und von dort wird die Speise in jeden Teil des Menschen verteilt und [dieser] wird so durch sie gestärkt.
4 In derselben Weise empfängt der Geist die edle göttliche Speise bei diesem [gerade beschriebenen] Trinken, und sie wird dann durch die wahre göttliche brennende Liebe in alle Glieder, in das ganze Leben und Sein des Menschen verteilt, so dass sein ganzes Wirken besser zugeordnet werden kann und allen Menschen zur Besserung dient.
5 Darüber hinaus wird durch die innere Ordnung der äußere Mensch ins Gleichgewicht gebracht und erblüht und wird stark und groß für alles, wofür ihn Gott haben möchte, und läuft sehr froh und heiter in das ewige Leben.
6 Hierbei helfe uns der barmherzige Gott.
7 Amen.