Predigt Nr. 7 – Vetter 5 – BT 11rb–14vb
[11rb]
Überschrift
Absatz 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 3
Die dritt predig1 an der heyligenn drey künigtag2 leret, in welcherley weyß der mensch soll auff [11va]stan von im selbs unnd von allen creaturen umb das, das gott seinen grundt bereit finde unnd seyn werck in im anfahe unnd vollbringen moͤg. Gesetzt auff die wort Ysaie. lx Ca. "Surge illuminare Hierusalem. etc."3 "Stee auff Hierusalem unnd würd erle#:uchtet."
Die dritte Predigt anlässlich des [Fest-] Tages der Heiligen drei Könige lehrt [uns], in welcher Weise der Mensch sich von sich selbst und von allen Geschöpfen abheben soll, so dass Gott seinen [= des Menschen] inneren Grund vorbereitet findet und sein Wirken in ihm beginnen und vollenden kann. [Die Predigt] bezieht sich auf das Wort aus dem 9. Kapitel des Propheten Jesaja: "Surge illuminare Hierusalem. etc." "Steh auf, Jerusalem und werde Licht."
Abschnitt 1
Absatz 3
FN-Anzahl: 0
Gott begert und bedarff nichts in aller diser welt dann allein eins dings. Das begert er also vastA, das er allen seyn fleyß daran legt. Das ist das einig, das er an den edlen geisten4 des menschen gelegt hat, das er in bereit und bloß finde, das er seines edlen goͤttlichen wercks darinn bekommen müge. Wann gott hat gantzen vollen gewalt in hymel unnd in erden. Aber daran gebricht im allein, das er seynes aller wunnigklichen wercks an dem menschen nit bekommen mag.5
Gott begehrt und braucht in all dieser Welt nichts als nur ein einziges Ding. Das begehrt er jedoch so heftig, dass er all sein Bemühen darauf verwendet. Dieses Einzige, das er in den edlen Geist des Menschen gelegt hat ist, dass er ihn [dazu] bereit und unbelastet findet, so dass er sein edles göttliches Werk in ihm bewirken kann. Denn, Gott verfügt [zwar] über die umfassende Gewalt im Himmel und auf der Erde, jedoch das Einzige, was ihm fehlt, ist, dass er sein doch so freudespendendes Werk ohne [Mitwirkung des] Menschen nicht vollenden kann.
Abschnitt 2
FN-Anzahl: 6
Nuͦn, was soll der mensch darzuͦ thuͦn, das gott in disem minnigklichen grundt6 leüchten7 unnd wyrcken müge? Er soll uffsteen – "surge"8 – spricht das wort: "Stee uff!" Diß lutet, als ob der mensch etwas darzuͦ thuͦn solle. Er muͦß B uffsteen von allem, das gott nitt ist: von im selber unnd allen creaturen. Unnd von disem uffsteen würt diser grundt beruͤrt mitt einer geschwinden begerung unnd in der entploͤssigkeitt unnd entbloͤssung aller ungleycheit9. So der ye mer ist, so die begerung ye mer waͤchßt und hoͤher über sich selbs auffsteet und geet offt an dem beruͤren des blossen grundts durch fleisch unnd bluͦt und durch das marck. 10
Nun, was soll der Mensch dazu tun, dass Gott in diesem liebenswerten Grunde leuchten und wirken kann? Er soll hinaufsteigen – "surge" – spricht das Wort: "Steh auf!" Dies klingt [so], als ob der Mensch etwas dazu tun muss. Er muss hinaufsteigen aus allem, was nicht Gott ist: aus sich selbst und [aus] allen Geschöpfen. Und durch dieses Hinaufsteigen wird dieser Grund von einem ungestümen Verlangen nach Entledigung und Befreiung von aller Ungleichheit [mit von aller Ungleichheit [mit Gott] bewegt. Umso mehr davon [= Entledigung und Befreiung] entsteht, umso mehr wächst das Verlangen und steigt über sich hinaus, und geht [dem Menschen] oft bei Berührung des reinen Grundes durch Fleisch und Blut und durch das Mark.
Abschnitt 3
Absatz 4
FN-Anzahl: 1
Aber disem beruͤren würt begegnet oder gevolgt in zweyen kuͤnennC wyß von zweyen kuͤnen menschen.
Auf diese Berührung reagieren zwei Arten von Menschen auf zwei verschiedene Weisen und leisten ihr unterschiedlich Folge.
Abschnitt 4
Absatz 5
FN-Anzahl: 8
Die ersten kommen mit ir natürlichen behendigkeit und mit vernünfftigen bildenn11 unnd mit hohen dingen. Damit verirren sie disen grundt. Unnd dise begerung stil[11vb]len sie damit, das sie dise ding woͤllen hoͤ ren unnd versteen. Und damit so nemen sie grossen fryde und wenen in den wercken vernünfftiger bilde ein Hieru salem12 seyn unnd fryden haben. Oder etlich in iren eygnen uffsetzen unnd in iren weysen – es sey in gebett, in betrachtung oder13 sie sehen ander menschen also thuͦn – unnd in disen weysen woͤllen sie iren grundt bereiten und darinn fryd haben unnd duncket sie denn, sie seyen zuͦmal ein Hierusalem worden, unnd haben in den weysen unnd in wercken grossen fryden unnd nindert anderst dann in iren weysen und uff setzen. Das aber diser fryd falsch Dsey, das soll man daran mercken, das sie in iren gebrechen hie beleiben, es sey hoffart oder lust des leychnams, des fleischsa, der genuͤgklicheitt der synnen, der creatur unnd arckwon unnd urteil. Unnd thet man inn ychts, allzuͦhandt, stünnd E in in auff ein beweglicheit oder scheltwort oder haß unnd dergleychen untugend, die in beleiben mitt willen. So soll man bekennen, das sie in disen grundt selber woͤllen bereiten und darinn wyrcken, das gott in disem grundt nitt wyrcken kan. Darumb ist ir fryd falsch unnd seind nit in der warheit uff gestanden. 10 Diß menFschen sollen sich nit annemen, das sie Hierusalem seyen oder sich eygnes wares frydes vermessen. 11 Aber sie sollen und muͤssen sich uͤben und in fürnemen14, das sie ir gebresten überwinden. 12 Unnd in den bilden unsers herren und in demuͤtigen wercken unnd in wercken der liebe unnd sterben des iren in allen dingen unnd lernen also uffsteen.
Die ersten kommen mit ihrer natürlichen Geschicklichkeit und mit vernünftigen Vorstellungen und mit hohen Spekulationen. Damit führen sie diesen inneren Grund in die Irre. Aber ihr Verlangen stillen sie dadurch, dass sie diese Dinge hören und verstehen wollen. Und daraus ziehen sie eine große Befriedigung und erliegen dem Wahn, im Schaffen vernünftiger Vorstellungen ein „Jerusalem“ zu sein und [so] Frieden zu erhalten. Auch wollen viele ihren inneren Grund bereit machen und darin Frieden finden in ihren eigenen Vorsätzen und ihre Lebensweise – sei es in Gebet, Meditation oder sie sehen, wie andere Menschen genauso handeln –, und sodann scheint es ihnen, sie seien damit wirklich ein „Jerusalem“ geworden, und finden in ihrer Lebensweise und in ihren Werken große Befriedigung, aber nirgendwo anders als in ihrer [eigenen] Lebenweise und Grundsätzen. Dass diese Befriedigung aber falsch ist, das kann man daran sehen, dass sie in ihren Fehlern hier verharren, sei es nun in Hoffart oder körperlichem Begehren oder in Fleischeslust, Sinnenlust, Gefallen an der Kreatur sowie in Argwohn und [abfälligem] Urteilen. Täte man ihnen irgend etwas an, würden sich in ihnen sogleich Gegenwehr oder Scheltworte oder Hass und ähnliche Untugend regen und willentlich in ihnen bleiben. Daran kann man erkennen, dass sie sich den inneren Grund selbst bereit machen und darin wirken wollen, so dass Gott in diesem Grund nicht wirken kann. Deswegen ist ihre Befriedigung falsch, und sie sind nicht in Wahrheit hinaufgestiegen. 10 Diese Menschen sollen sich nicht einbilden, dass sie „Jerusalem“ seien, oder sich anmaßen, von sich selbst aus wahren Frieden [zu haben]. 11 Sondern sie sollen und müssen sich [vielmehr] üben und sich vornehmen, ihre Schwächen zu überwinden, 12 und sich [zudem] üben, unserem Herrn nachzufolgen, und sich in demütigen Werken und in Werken der Liebe und dem Abtöten ihres Eigenwillens in allen Dingen üben, und auf diese Weise [müssen sie] lernen hinaufzusteigen.
Abschnitt 5
Absatz 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 13
Aber die andern das seint G die menschen, die steen uff in der warheit unnd werden erleüchtet. Die lassent gott iren grundt bereiten15 und geen des iren auß in allen dingen unnd behalten inn nitt in keinen dingen, weder in wortenn, noch in weysenn, in thuͦn, in lassen, noch sunst, noch so in liebe, ouch in leyd. Sie meinen unnd nemen alle ding von gott in demuͤttiger vorcht unnd gebenn sich [12ra]im gantz uff in ein bloß armuͦt ir selbs in eyner wylligen gelassenheyt16 unnd biegen sich under den goͤtlichen willen. Wie gott will in allen dingenn, des seynd sy zuͦfryd, in fryd unnd in unfryd17, wann in schmeckt allein der guͦt wolgefallend will gottes. Vonn den menschenn mag man sprechen, als unser herr sprach zuͦ seinen jüngern, dab sy in uffhiessen gan zuͦ der hochzeyt. Do sprach er: "Get ir hin, H euwer zeytc ist alle zeyt bereit, aber mein zeyt ist noch nit hie."18 Diser menschen zeit ist alle zeyt, das sy sich leyden unnd lassen. Die zeyt ist alle zeit, aber seyn zeyt ist nit allweg. 10 Wenn er wircken oder erleüchten soll oder woͤll, das lassen sy seinem goͤtlichen willen in eyner gelaßner beitsamer langmuͤtigkeit. 11 Und der underscheid diser menschen von den ersten ist, das sy gott iren grund bereyten lassent unnd nit sy selber. 12 Doch so haben sy wol den ersten anstoß unnd die ersten be wegunge, wann der ist niemant ledig.19 13 Aber darnach so in die gebrechen vorgehalten werdenn – es sy hoffart oder lust des fleysches oder zeytlicher ding oder zorn oder haß oder woͤlcherley das ist, damitt sy angefochten werden –,20 zuͦ hand nach der ersten bewegunge, so kommen sy an gott demuͤtigklich und lassen sich in seinen willen unnd leyden unnd lassen sich. 14 Unnd die menschenn steen in der warheit uff. 15 Wann sy kommen aller dinge über sich selber. 16 Unnd dise werden auch in der warheyt eyn war Jherusalem und haben fryd in unfryd und liebe in leyd,21 und in schmeckt der wille gottes inI allen dingenn. 17 Unnd darumb so kan in iren fryden alle dise welt nitd genemen. 18 Und hetten alle teufel vunnd alle menschen geschworen, so künden sy in iren fryden nit genemen. 19 Den selben menschen schmeckt allein gott unnd niemant anders. 20 Unnd dise werden in der warheyt erleuchtet. 21 Wann gott leuchtet in sy in allen dingen krefftigklich unnd lauterlichen unnd warlich in der meysten fin[12rb]sternuß unnd noch vil warlicher dann in dem scheinenden liechte. 22 Ach, das seind zarte mynnigkliche menschenn! 23 Es seind übernatürlich goͤtlich menschen. 24 Unnd dise wyrcken und thuͦnd nichts on gott in allen iren wercken.22 25 Unnd ob man es doͤrfte sprechenn, sy seind in etlicher masse nichts, sunder gott ist in in. 26 Ach, diß seind mynnigkliche menschenn! 27 Sy tragen alle dise welt unnd seind edel seül diser welt.23 28 Der in disem recht stuͦnde, das were eyn seliges wunnigklich ding.
Die anderen jedoch sind jene Menschen, die in Wahrheit hinaufsteigen und erleuchtet werden. Die überlassen es Gott, ihren inneren Grund bereit zu machen, und verzichten auf ihre Eigenheit in allen Dingen und behalten nichts davon in irgendwelchen Dingen, weder in Worten, noch in der Lebensweise, im Tun oder im Lassen, noch sonstwie, weder in Liebe, noch im Leid. Sie eilen voran und nehmen von Gott alles in demütiger Furcht an, und geben sich für ihn ganz auf, in einer bereitwilligen Gelassenheit und beugen sich dem göttlichen Willen. Sie sind in allem mit dem zufrieden, wie Gott es will, in Frieden und in Unfrieden, denn ihnen gefällt allein der gute, freundliche Wille Gottes. Von diesen Menschen kann man [so] sprechen, wie unser Herr zu seinen Jüngern sprach, als sie ihn aufforderten, zum Fest [nach Jerusalem] hinauf zu gehen. Damals sagte er: "Geht ihr hinauf, eure Zeit ist jederzeit bereit, aber meine Zeit ist noch nicht da." Die Zeit dieser Menschen ist jederzeit, dass sie duldsam sind und sich [Gott] überlassen. Diese Zeit ist allzeit, aber seine Zeit ist nicht immer. 10 Aber sofern er [= Gott] wirken oder erleuchten soll, überlassen sie das seinem göttlichen Willen in gelassener, abwartender Geduld. 11 Und der Unterschied dieser Menschen gegenüber den erstgenannten ist, dass sie es Gott überlassen, ihren inneren Grund bereit zu machen, und es nicht selbst tun. 12 Doch in ihnen gibt es durchaus die erste Versuchung und den ersten Drang [zur Sünde], denn davon ist niemand frei. 13 Aber wenn ihnen danach ihre Sünden vorgehalten werden – es sei Hoffart oder Fleischeslust oder das Verlangen nach vergänglichen Dingen oder Zorn oder Hass, oder von welcher Art das auch immer sei, wovon sie bedrängt werden –, begeben sie sich gleich nach der ersten Anfechtung demütig zu Gott und überlassen sich seinem Willen und ertragen es und lassen [ganz] von sich ab. 14 Und diese Menschen steigen wahrhaftig hinauf. 15 Denn sie gelangen [ungeachtet] aller Bedingungen über sich selbst hinaus. 16 Und diese [Menschen] werden auch wahrhaftig ein wahres „Jerusalem“ und haben Friede in Unfrieden und Liebe in Leid, und ihnen gefällt der Wille Gottes unter allen Umständen. 17 Und deshalb kann ihnen diese ganze Welt ihren Frieden nicht wegnehmen. 18 Hätten selbst alle Teufel und alle Menschen sich verschworen, sie könnten ihnen ihren Frieden dennoch nicht wegnehmen. 19 Den selben Menschen gefällt allein Gott und niemand anders. 20 Und eben diese [Menschen] werden wahrhaftig erleuchtet. 21 Denn Gott leuchtet in allen Dingen kraftvoll und rein und wahrlich in sie in der größten Finsternis, und [zwar] noch viel wahrhaftiger als im [hell] scheinenden Licht. 22 Ach, das sind zarte liebenswerte Menschen! 23 Es sind übernatürliche, göttliche Menschen. 24 Und diese [Menschen] wirken und tun in allen ihren Werken nichts ohne Gott. 25 Und wenn man es [so] ausdrücken dürfte, sie sind zu einem großen Teil nichts, sondern Gott ist in ihnen. 26 Ach, dies sind liebenswerte Menschen! 27 Sie tragen alle diese Welt und sind edle Säulen dieser Welt. 28 Wenn jemand hierin in der richtigen Weise verharrte, wäre das eine beseligende, freudespendende Sache.
Abschnitt 6
Absatz 8
FN-Anzahl: 2
Nun dise underscheid von disen zweyen kuͤnen menschenn seind, das auch die ersten, die iren grunde mitt inen selber woͤllen bereyten und sich nicht an got lassen, das er in bereite. Der kreffte beleiben auch alle gefangenn in den gebrechen, das sy auch darüber gantz nicht kommen künden. Oder sy beleyben darinne mit benuͤgde unnd behalten das ir mit lust ires eygen willenn.24 Aber die anderen edelen menschenn, die sich gott lassen bereiten, die edelen seligen gelassen men schen, die seind erhaben über sich selber. Und davon zuͦhandt als sy die gebrechen anstossen unnd sy des gewar werden, also bald fliehen sy damitt in gott, unnd ist nit mer der gebrech da, wann sy seind in eyner goͤtlichen fryheyt.25
Nun, der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Menschen ist, dass die Kräfte der ersten, die ihren inneren Grund aus sich selbst bereit machen wollen und sich nicht Gott überlassen, dass der ihn bereit mache, eben alle gefangen bleiben in Sündenschwäche, so dass sie auch darüber nicht wirklich hinauskommen können, oder sie bleiben mit Selbstzufriedenheit darin und halten das Ihre mit den Gelüsten ihres eigenen Willens fest. Aber die anderen edlen Menschen, die sich Gott überlassen, damit er sie bereit macht, diese edlen seligen gelassenen Menschen sind erhaben über sich selbst. Und aus diesem Grund fliehen sie sogleich schnell zu Gott, sobald [sündige] Versuchungen auf sie zukommen und sie dessen gewahr werden, und dadurch ist keine der Sünden mehr da, denn sie befinden sich in einer göttlichen Freiheit.
Abschnitt 7
Absatz 9
Absatz 10
FN-Anzahl: 11
Soͤllen dann nichtJ dise menschen, das gott iren grund bereite, ausserliche werck wircken? Gezymet in nit darzuͦ zuͦ thuͦn in keiner nottürfftiger weyß?26 Nun spricht doch dises wort "surge"27 "stee auff" unnd heyßt sy, das sy auffsteen, das doch ein werck ist. Ja, ein werck gehoͤret in zuͦ. Das soͤllen sy allwegen thuͦn on underlaß, die weil sy leben, das der mensch nymmer zuͦ der volkommenheit mag kommen, er soll allwegen auffsteen unnd haben ein auffrichtung des gemuͤtes in gott unnd in ein entledigten28 grundt, und soͤllen allwegen fragen "Wo ist, der der geboren ist?"29 in einer demuͤtigen forcht und in einem warnemen von innen, was got von [12va] inen welle, das sy dem genuͦg thuͤen. Gybet in gott in leydender weise, so leyden sy, gybt er in ein wyrckender weise, /K so wircken sy, in schowender oder in niessender weyse, schowen sy. Diser grundt gybt des selber gezeugnuß in in selber, das in gott bereitet unnd geleutert hat. Disen grundt wil gott allein besitzen und wil nicht das ymmer ein creatur darein komme. Gott wircht in disem grund mit mittel als in den anderen seligen menschen.30 10 Aber was er in disem menschen in dem unvermittelten grunde wyrckt, davon kan nyemant gereden, noch keyn mensch mag dem anderen davon ge sagen, sunder der es weyßt, der hat diß31 enpfunden allein. 11 Aber er kan dir selber nit gesagen, dann das gott in der warheyt disen grund besessen hat. 12 So fallen dem menschen denn zuͦmale alle werck ab, die ausserlich seind. 13 Aber das inwendig warnemen gots, das nympt inwendig groͤßlichen in im zuͦ.32 14 Unnd wenn denn der mensch auff das allerhoͤchst kumpt, uff das er kommen mag von grossem fleiß unnd von genaden, so soll er habenn ein gantz verleugnen seyn selbs, als unser lieber herr sprach: 15 "Wenn ir alles das ge thuͤnd, das ir vermügent, so sollent ir sprechen, das ir unnütze knecht gewesen sind."33 16 Also soll der mensch nymmer so volkommen werden, er soll allwegen in einer demuͤtigen forcht sein in dem aller hoͤchsten puncten und soll alwegen sprechen unnd meynen: 17 "Fiat voluntas tua."34 18 "Herre, deyn will geschech." 19 Und sol auch gar wol unnd eben warnemen an im selber, ob er yndert an eynem eynigen ding klebe unnd ob gott ichts in disem grund finde, das im wider stee seines edelen werckes unmittlich zuͦ wircken in dem grunde.
Sollen diese Menschen dann nicht äußerliche Werke vollbringen, dass Gott ihren inneren Grund bereite? Ist es dann nicht angemessen, dass sie etwas dafür in der notwendigen Weise tun? Nun bedeutet doch dieses wort "surge" "Steh auf", und fordert von ihnen, dass sie hinaufsteigen, was doch eine Tat ist. Ja, ein [bestimmtes] Handeln ist für sie angebracht: Sie sollen es immerzu ohne Unterbrechung, solange sie leben, vollbringen: Der Mensch vermag niemals in die Vollkommenheit zu gelangen, er soll [darum] immer wieder aufstehen, und sein Trachten auf Gott und einen frei gemachten inneren Grund richten, und soll immerzu fragen "Wo ist [er], der da geboren wurde?" [und das soll er tun] in demütiger Furcht und in einem Hineinhören nach Innen, was Gott von ihm will, dass er dem entspreche. Gibt ihnen Gott Leid, so leiden sie, lässt er sie wirken, so wirken sie, schenkt er ihnen Visionen oder Verzückung, so schauen sie. Dieser innere Grund selbst gibt in ihnen selbst Zeugnis davon, dass ihn Gott vorbereitet und geläutert hat. Diesen inneren Grund will Gott allein besitzen, und er will nicht, dass jemals eine Kreatur dort hinein komme. Gott wirkt in diesem Grund mittelbar wie in den anderen seligen Menschen. Aber was er in diesem Menschen in dem unvermittelten Grund wirkt, davon kann niemand sprechen, noch kann irgendein Mensch dem anderen davon erzählen, sondern der es weiß, der hat dies für sich allein herausgefunden. 10 Aber er selbst kann dir nichts sagen, außer dass Gott wahrhaftig diesen Grund in Besitz genommen hat. 11 So fallen von diesem Menschen denn auch sogleich alle Werke ab, die äußerlicher Natur sind. 12 Aber das innere Wahrnehmen Gottes, das wächst innerlich zu [beachtlicher] Größe in ihm heran. 13 Und wenn dann der Mensch auf die allerhöchste [Stufe] kommt, auf die er mit großem Fleiß und durch Gnade gelangen kann, dann soll er sich selbst völlig verleugnen, wie unser lieber Herr [es] sagte: 14 "Wenn ihr alles das getan habt, was ihr vermögt, so sollt ihr sagen, dass ihr unnütze Knechte gewesen seid." 15 Da der Mensch niemals in dieser Weise vollkommen werden wird, soll er auch auf seinem allerhöchsten [Erkenntnis-]Punkt immerzu in demütiger Ehrfurcht verharren und soll immer sagen und bedenken: 16 "Fiat voluntas tua." 17 "Herr, Dein Wille geschehe." 18 Und er soll auch sehr sorgfältig und genau an sich selbst beobachten, ob er irgendwo an irgend einem einzelnen Ding festhalte, und ob Gott etwas in diesem Grund finde, das ihm beim unmittelbaren Wirken seines edlen Werks in diesem Grund im Wege steht.
Abschnitt 8
FN-Anzahl: 0
Das wir alle also werden auffston, das gott seines wercks da durch in uns bekommen müg, des helff uns got. Amen.
Dass wir alle in der Weise hinaufsteigen werden, damit Gott dadurch in uns sein Werk gewinnen kann, dazu helfe uns Gott. Amen.

Variantenapparat

afleischs] fleisch
bda] dass
czeyr
dnit] nich

Marginalien

A Was gott am hoͤchsten begert.
B Der mensch muͦsz uffsteen.
C Die subtyl grundigen menschen.
D Diser letzten fryd ist falsch.
E Werck.
F Sie seind noch nit Hierusalem.
G Die warlich uff steent.
H Gelaßner menschen zyt ist allezyt.
I Warer fryd der gelaßnen menschen.
J Ob die recht gelaßnen menschen nichts ausserlicher wercken sollen wircken.
K Der recht grund der gelassenheit.

Stellenkommentar

1 Im BT gehen mit den Predigten 4-6 drei Predigten zum selben Predigtanlass voraus, wobei die Predigten 5 und 6 als Teile einer Predigt bezeichnet (vgl. Pr. 5, Titel, oben S. #, Z. #; Pr. 6, Titel, oben S. #, Z. #) und daher auch nicht separat gezählt werden.
2 Zu dieser Bezeichnung für das am 6. Januar begangene Epiphaniasfest vgl. oben S. #,Anm. # in Pr. 4.
3 Is 60,1. - Is 60,1-6 wurde am Epiphaniasfest als Epistel gelesen (vgl. Ordinarium, S. 152, Nr. 584; zum Text der dort abgekürzt zitierten Perikope vgl. Missale [1484], Bl. 14va/b).
4 Anders als im BT ist in den Handschriften des 14. Jahrhunderts schon an dieser Stelle vom Seelengrund die Rede.
5 Obwohl sich die von Augustinus seit 396/397 vertretene Auffassung, dass auch das Wollen des Guten bereits eine Wirkung der göttlichen Gnade sei, in den folgenden Streitigkeiten um seine Gnadenlehre weitgehend durchsetzen konnte, sodass schließlich 529 auf der Synode von Orange die Behauptung verurteilt wurde, Gott warte bei der Reinigung von der Sünde auf den Willen des Menschen (vgl. DH, Nr. 374), wurde diese Lehrentscheidung im Mittelalter nur begrenzt rezipiert (vgl. zusammenfassend Hauschild/Drecoll, Lehrbuch 1, S. 389-406; 415-417). Zur These, dass Gottes Wirken im Menschen dessen Zustimmung voraussetze, vgl. etwa Bernhard von Clairvaux, Sermo 26, n. 2 (Werke 9, S. 408,16-410,2): "Scio quidem creaturam omnem, velit, nolit, subiectam esse Creatori: sed a creatura rationali voluntaria subiectio quaeritur, ut voluntarie sacrificet Domino et confiteatur nomini eius, non quia terribile et sanctum, non quia omnipotens, sed QUIA BONUM EST [Ps 53,8]."; Eckhart, Pr. 14, DW I, S. 240,3f.: "as wenych, as ich eit don mach sunder in [Gott], also wenych mach hey eit gewirken bussen mych."; vgl. auch Mösch, Geburt, S. 310f.
6 Gemeint ist der Seelengrund. Zu diesem vgl. oben S. #,Anm. # in Pr. 1.
7 Zur Erleuchtung des Menschen durch Gott als dem intelligiblen Licht vgl. Pr. 6, #,#, oben S. #, Z. #-# mit Anm. # sowie die entsprechende Passage in Eckhart, Pr. 102, DW IV,1, S. 412,32-36.
8 Is 60,1.
9 Gemeint ist die aus der Kreatur- und Selbstbezogenheit des Menschen resultierende Ungleichheit zwischen Gott und Mensch (vgl. auch Mösch, Geburt, S. 302). Zu deren Aufhebung vgl. die ausführlichen Darlegungen in Vetter 32, S. 120,24-121,3
10 Die Heftigkeit des Begehrens wird in Predigt 5 sehr ähnlich beschrieben (vgl. Pr. 5, #,#, oben S. #).
11 Vgl. Pr. 4, #,#, oben S. # mit Anm. #16.
12 Zur Deutung des Namens Jerusalem im Sinne von Friede vgl. Pr. 3, #,#, oben S. # mit Anm. #.
13 Im Vergleich zum BT ist der Text der Handschriften des 14. Jahrhunderts an dieser Stelle etwas ausführlicher.
14 Anders als im BT ist in der Handschrift W 1 an dieser Stelle vom beschwerlichen Einüben in die Tugend die Rede.
15 Anders als im BT findet sich in den Handschriften des 14. Jahrhunderts an dieser Stelle zusätzlich die Aussage, dass sich solche Menschen Gott überlassen.
16 Zur Rezeption des auf Meister Eckhart zurückgehenden mystischen Konzepts der Gelassenheit bei Tauler vgl. oben S. #, Anm. # in Predigt 3.
17 Der BT bietet hier eine von Handschrift W 1 abweichende Lesart, die sich schon in der Handschrift *A 88 fand.
18 Io 7,8.6.
19 Gemeint ist der Zunder der Sünde (fomes peccati), ein Anreiz zu sündhaften Handlungen (Aktualsünden), der zurückbleibt, wenn die Ursünde (peccatum originale) in der Taufe getilgt worden ist (vgl. u. a. Thomas, Summa theologiae I-II q. 81 a. 3 ad 2 [Editio Leonina 7, S. 90]; Ripelin, Compendium theologicae veritatis VI,9 [in: Albertus Magnus, Opera 34, S. 208]: "Nota, quod in baptismo deletur originalis peccati macula: fomes vero non tollitur, sed remittitur.").
20 Im Vergleich zum BT ist der Handschriftentext hier etwas länger und betont die Stärke der Anfechtung.
21 Der BT bietet hier eine von Handschrift W 1 abweichende Lesart, die sich schon in der Handschrift *A 88 fand.
22 Der BT bietet hier eine von Handschrift W 1 abweichende Lesart, die sich schon in der Handschrift *A 88 fand.
23 Zur Säulenmetaphorik vgl. Gal 2,9; Vetter 19, S. 80,18f.; 75, S. 407,5-8; vgl. auch Gnädinger, Tauler, S. 82f. mit Anm. 178. Anders als bei Tauler werden im "Fließenden Licht der Gottheit" von Mechthild von Magdeburg nur die Angehörigen des geistlichen Standes als Säulen bezeichnet (vgl. Prolog; V,34 [ed. Vollmann-Profe, S. 18,3-5; 406,10-12]).
24 Anders als in den Handschriften des 14. Jahrhunderts ist im BT hier nicht vom Behalten des Eigenwillens die Rede.
25 Vgl. Gal 4,31-5,1.
26 Anders als im BT folgt in den Handschriften des 14. Jahrhunderts an dieser Stelle eine verneinende Antwort.
27 Is 60,1.
28 Der BT bietet hier eine von Handschrift W 1 abweichende Lesart, die der Lesart von der Handschrift *A 88 nahe steht.
29 Mt 2,2.
30 Im Vergleich zu den Handschriften des 14. Jahrhunderts ist dieser Satz im BT verkürzt. Ursache für diese Kürzung war wohl eine aberratio oculi.
31 Der BT bietet hier eine von Handschrift W 1 abweichende Lesart, die sich schon in der Handschrift *A 88 fand.
32 Der BT bietet hier wie die Handschrift *A 88 einen im Vergleich zur Handschrift W 1 längeren Text.
33 Lc 17,10.
34 Mt 6,10.
Jesaja
Anm.: biblischer Prophet
weiterführende Informationen
Augustinus von Hippo
Anm.: Kirchenvater
weiterführende Informationen
Eckhart, Meister
Anm.: Dominikaner; Theologe, Philosoph und Mystiker
weiterführende Informationen
Mechthild von Magdeburg
Anm.: Nonne; Mystikerin
weiterführende Informationen
Ordinarium juxta ritum sacri ordinis fratrum praedicatorum, hg. von Franciscus-M. Guerrini, Rom 1921Missale ordinis praedicatorum, Venedig: Nikolaus von Frankfurt 14848° [Digitalisat]Denzinger, Heinrich / Hünermann, Peter (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 43. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2010Hauschild, Wolf-Dieter, Drecoll, Volker Henning, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte Kirche und Mittelalter, 5., vollständig überarb. Neuausgabe, Gütersloh 2016Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard B. Winkler, Bd. 9, Innsbruck 1998Eckhart, 〈Meister〉, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 1: Meister Eckharts Predigten, Bd. 1, hg. und übersetzt von Josef Quint, Stuttgart 1958Mösch, Caroline F., Daz disiu geburt geschehe. Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt und Johannes Taulers Predigten zum Weihnachtsfestkreis, Freiburg i. Ue. 2006 (Dokimion 31)Eckhart, 〈Meister〉, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 4,1: Meister Eckharts Predigten, Bd. 4,1, hg. und übersetzt von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003Vetter, Ferdinand (Hg.), Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, Berlin 1910 ( DTM 11) [Digitalisat]Thomas von Aquin, Opera omnia. Iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita cura et studio Fratrum Praedicatorum, Bd. 7: Prima secundae Summae theologiae. A quaestione LXXI ad quaestionem CXIV, Rom 1892Albertus Magnus, Opera omnia 34: Compendium theologicae veritatis in septem libros digestum. Prima pars summae de creaturis, hg. von Auguste Borgnet, Paris 1895Gnädinger, Louise, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 19; Bibliothek Deutscher Klassiker 181)
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