Predigt Nr. 5 – Vetter 4 – BT 8vb–9vb
[8vb]
Überschrift
Absatz 1
FN-Anzahl: 2
1 Die ander predig
1
lert, wie man die geistlich geburt suͦchen und finden muͦß in
dem liecht der genaden mit undergang des natürlichen liechts durch
langtbeitsamheit der begerung.
2 Unnd ist diß der erst teil
2 gesetzt uff die wort Mat. ij.
Ca.:
3 "Ubi est qui natus est rex iudeorum etc."
3
1
2 Die zweite Predigt [zum
Dreikönigstag] lehrt, wie man die geistliche Geburt im Licht der Gnade
suchen und finden soll, während das natürliche Licht [der Erkenntnis] dabei
durch ein beharrliches Verlangen zum Verlöschen gebracht wird.
3 Und dieser erste Teil stützt sich auf das Wort aus dem 2.
Kapitel bei Matthäus:
4 "Ubi est qui natus est rex
iudeorum etc."
Abschnitt 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 0
[9ra]
1 "Wo ist der, der do geborn ist ein künig der iuden?
2 Wir seind kommen, in anzuͦbetten und eren
mit myrren, mit wyrauch und mit gold."
1 "Wo ist der Neugeborene, ein König der Juden?
2 Wir sind gekommen, um ihn anzubeten und ihn zu
ehren mit Myrrhe, mit Weihrauch und mit Gold."
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 6
1 Die
sel weißt wol, das got ist, ja auch von natürlichem liechte.
4
2 Aber wer er sey, das
Aist ir zuͦmale unbekant und
verborgen und weißt davon gantz nichts.
5
3 Nun so steet uff ein leyplich
6 begerung und suͦcht
und fraget fleissigklich und weßte gern von irem gott, der ir also
verdeckt
B und verborgen ist.
7
4 In disem fleißlichen suͦchen geet ir auff ein
sterne.
5 Das ist ein schein unnd ein glantz
goͤtlicher genaden, ein goͤtlich liecht.
6 Und dises liecht spricht, "er ist yetzund geborn", und
weyset die seel auff die geburt, wo sy ist.
7 Wann
daruff kan uns kein natürlich liechte nit geweysen, wo er ist.
8 Etlich menschen woͤllen mit irem natürlichen liecht
hier nach tastenn nach diser geburt.
9 Unnd alle die
muͤssen beleyben, sy muͤssen verderben, da wirt nichts uß.
10 Dise geburt mag nit gefunden werden.
11 Wann das selb liecht, das dise geburt gezeiget hat, daz
muͦß auch dise geburt beweysen und zuͦ erkennen geben, wer er
sey, wenn und wo sy sey geschehen.
12 Nun dise
thoͤrechten menschen künden, noch woͤllen nit also lang
erbeiten, daz in das liecht leüchte, da die geburt inne funden würt.
13 Aber sy brechen sich herauß unnd woͤllen
mitt irem natürlichen liechte das finden.
14 Das mag
nit gesein:
15 Sy miessen der zeit beiten, die ist noch
nit.
16 Dise begerung wyrckt in sy und wirt also groß in etlichen, das sy geet
durch fleisch unnd durch bluͦt, ja auch durch das marck und
gebein.
8
17 Wann was die natur geleisten mag, das muͦß
diß kosten, soll anderst diser begerung ein genuͤgen geschehen und
soll dise geburt in der warheit gefunden werden.
18 All
natür
[b]lich liecht wissen sy nit und moͤgen sy
dir nit geweisen.
9
1 Die Seele weiß genau, dass es Gott gibt, ja [gerade] auch
von [ihrem] natürlichen Licht [der Erkenntnis].
2 Aber
wer er ist, das ist ihr völlig unbekannt und verborgen, und [sie] weiß davon
überhaupt nichts.
3 Nun aber entsteht ein körperliches
Verlangen, und sie sucht und fragt eifrig und wüsste gern [etwas] über ihren
Gott, der ihr so gänzlich verhüllt und verborgen ist.
4 Während dieses eifrigen Suchens geht für sie ein Stern auf.
5 Der ist ein Schein und ein Abglanz göttlicher Gnade, ein
göttliches Licht.
6 Und dieses Licht spricht: "Er ist
jetzt gerade geboren", und lenkt die Seele dorthin, wo die Geburt
stattfindet.
7 Denn es kann uns kein natürliches
[Erkenntnis-] Licht dorthin führen, wo er ist.
8 Viele
Menschen wollen mit ihrem natürlichen [Erkenntnis-] Licht hier dieser Geburt
nachspüren.
9 Doch sie alle müssen [hier] bleiben, sie
müssen zugrunde gehen, es wird nichts daraus.
10 Diese
Geburt lässt sich nicht finden.
11 Denn dasselbe Licht,
das von dieser Geburt gekündet hat, das muss auch über diese Geburt belehren
und erkennen lassen, wer er [der Geborene] sei, und wann und wo sie
geschehen ist.
12 Diese dummen Menschen aber verkünden,
sie wollen nicht mehr so lange abwarten, bis ihnen in das Licht leuchtet, in
dem die Geburt gefunden werden kann.
13 Stattdessen
machen sie sich ungeduldig auf und wollen es mit ihrem natürlichen
[Erkenntnis-] Licht finden.
14 Das kann nicht
geschehen:
15 Sie müssen auf den Zeitpunkt warten, der
noch nicht [gekommen] ist.
16 Dieses Verlangen dringt
in sie und wird in vielen so groß, dass es durch Fleisch und durch Blut, ja
sogar durch Mark und Bein geht.
17 Denn was die Natur
dazu beitragen kann, das wird alles verbraucht, wenn dieses Verlangen denn
gestillt werden und diese Geburt wirklich gefunden werden soll.
18 Alle natürlichen Erkenntnisformen wissen nichts von ihr und
können sie dir nicht zeigen.
Abschnitt 3
FN-Anzahl: 1
1 Nun hie seind dry ding zuͦ
mercken:
2 Das ein ist, das da suͦchet, das ist
die begerung.
3 Das ander ist die weise des
suͦchens.
4 Das drit ist das finden der geburt.
5 Nun seind dry ding hie:
6 Das ein klebet an der nature in fleisch und in bluͦt als die
leiplichen sinne und sinligkeit.
7 Das ander ist die
vernunfft, das drit ein lauter blosse
substantz der seel.
10
8 Die alle seind ungeleich und entpfinden auch
ungleich yegklichs nach sinem wesen.
1 Also, hier sind drei Dinge zu beachten:
2 Das erste ist: Das, was sucht, das ist das Verlangen.
3 Das zweite ist die Art des Suchens.
4 Das dritte ist das Finden der Geburt.
5 Außerdem gibte es hier drei [weitere] Dinge:
6 Das
erste klebt an der Natur, in Fleisch und Blut wie die körperlichen Sinne und
die Sinneswahrnehmungen.
7 Das zweite ist die
Vernunft, das dritte eine reine nackte Substanz der Seele.
8 Keines von ihnen gleicht dem anderen, und sie empfinden auch
unterschiedlich, ein jedes nach seiner Seinsform.
Abschnitt 4
FN-Anzahl: 8
1 Der
schein der sonnen
11 ist gar
C einfeltig an im
selber, aber der selb schyn wirt gar ungleich entpfangen in dem glase:
2 Das ein glaß ist schwartz, das ander gelb, das
drit weyß.
3 By dem schwartzen glaß mag man nemen die
sinligkeit, bey dem gelben die vernunfft, bey dem weissen den blossen
lautern geist.
12
4 Das nun die sinligkeit sey inziehen in die vernunfft
und die vernunfft in den geist, so wirt das schwartz gelb und das gelb weiß
und wirt ein lauter einfeltigkeit, daz diß liecht allein leuchtet und anders
niemant, und wirt diß liecht recht entpfangen in der warheit.
5 Und da fallen alle bilde und forme unnd gleichnuß ab und
weiset allein die geburt in der warheit.
6 Der himel
ist yetz in seiner natürlichen dunckelheit.
7 Wirt er
aber gewan
Ddelt in ein lauter
klare sonne allzuͦmal, so moͤchte niemant des andern bild
gesehen von der klarheit.
8 Und wenn nun diß klar
liecht leuchtet in der sel, so ent weichen alle bild unnd form.
9 Unnd wo das liecht soll scheinen, da muͦß das
natürlich liecht undergeen und erloͤschen.
10 Wann der sterne, der disen dreyen küni
Egen dise geburt weiset, das was nit ein natürlich stern als
ein ander sterne.
11 Er stuͦnde auch nit an dem
himel natürlich als die andern.
12 Dise sinne nemen die
bilde von den natürlichen dingen und doch vil edler in den sinnen, dann die
ding von im selber seind.
13
13 Das schwartz glaß bedeüt die synn.
14 Die vernunfft kommet
[9va] hinüber und loͤßt und scheidt die sinnlich bilde von ir
sinniligkeit und machet sy vernünfftig.
14
15 Da wirt das alles gelb.
16 Aber
so die vernunfft ir selbs entwyrt und sich ir selber verleugnet und wandelt
sich in den lautern blossen geist, da wirt es weyß.
17 Da leüchtet diser stern allein, und daruff geet aller menschen leben gantz
bloßlich.
18 Und dise drey antwurten vergleychen sich
den dreyen opffern, die die dry künig alhie opfferten.
15
1 Der Schein der Sonne ist in sich selbst
ungeteilt, aber der selbe Schein wird in [verschiedenem] Glas völlig
unterschiedlich aufgefangen:
2 Das eine Glas ist
schwarz, das zweite gelb, das dritte weiß.
3 Das
schwarze Glas kann man [als Bild] für die Sinneswahrnehmungen sehen, das
gelbe für die Vernunft, das weiße für den nackten reinen Geist.
4 Wenn nun die Sinneswahrnehmungen hineingezogen würden in die
Vernunft und die Vernunft in den Geist, dann wird das schwarze gelb und das
gelbe weiß, und es entsteht eine reine Einfachheit, so dass dieses Licht
allein leuchtet und sonst nichts, und es wird dieses Licht wirklich richtig
aufgenommen.
5 Und dort verschwinden alle Bilder und
Vorstellungen und Ähnlichkeiten, und es zeigt sich allein die Geburt in der
Wahrheit.
6 Der Himmel befindet sich zum gegenwärtigen
Zeitpunkt in seiner natürlichen Dunkelheit.
7 Wird er
aber ganz in reines helles Sonnenlicht verwandelt, so könnte wegen der
Helligkeit niemand das Abbild des anderen sehen.
8 Und
wenn nun dieses helle Licht in der Seele leuchtet, dann verschwinden alle
Bilder und Vorstellungen.
9 Und wo dieses Licht
scheinen soll, dort muss das natürliche Licht vergehen und erlöschen.
10 Denn der Stern, der den drei Königen diese Geburt
verkündete, das war kein geschaffener Stern wie andere Sterne.
11 Er stand auch nicht von Natur aus am Himmel wie die anderen
[Sterne].
12 Diese [natürlichen] Sinne empfangen zwar
die Bilder von den natürlichen Dingen, und doch sind sie [die Bilder] viel
edler in den Sinnen, als die Dinge von sich aus sind.
13 Das schwarze Glas bezeichnet die Sinne.
14 Die
Vernunft kommt darüber und löst und trennt die sinnlichen Bilder von den
Sinneswahrnehmungen und macht sie zu Bildern der Vernunft.
15 Dadurch wird alles gelb.
16 Aber wenn
die Vernunft sich hinter sich lässt und ihre Wesen verleugnet und sich in
reinen nackten Geist verwandelt, dann wird [das Glas] weiß.
17 Da leuchtet dieser Stern ganz allein, und auf ihn zu bewegt
sich das Leben aller Menschen ohne Einschränkung.
18 Und diese drei Antworten entsprechen den drei Opfergaben, welche die drei
Könige dort darbrachten.