Predigt Nr. 2 – Pr. 101 (DW IV,1) – BT 2vb–5va
[2vb]
Überschrift
Absatz 1
FN-Anzahl: 1
1 Ein
predig uff den nechsten sontag nach Wyhenachten, wie sich got in der sele
gebyrt und wie sich der mensch zuͦ disem werck halten sol.
[3ra]
2 Item von dem grossen nutz des himelschen worts
genommen uß dem buͦch der weißheit. xviii. capitel:
3 "Dum medium silentium tenerent omnia et nox in suo
etc."
1
1 Eine Predigt zum Sonntag nach
Weihnachten, wie sich Gott in der Seele gebiert, und wie sich der Mensch
gegenüber diesem Wirken verhalten soll,
2 ebenso über
den großen Nutzen des himmlischen Wortes, welches genommen ist aus dem Buch
der Weisheit, 18. Kapitel:
3 "Dum medium silentium
tenerent omnia et nox in suo etc."
Abschnitt 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 0
1 Hie in der zeyt reden wir von der ewigen geburt,
da got der vatter hat geborn und gebüret on underlaß in der ewigkeit
daz ewig wort, das nuͦ ist geboren
A in der zeit in
menschlicher natur.
2
1 Hier in der Zeit(lichkeit)
reden wir von der ewigen Geburt, in der Gott der Vater ununterbrochen und in
Ewigkeit das ewige Wort geboren hat und gebiert, das jetzt in der
Endlichkeit der Zeit menschlicher Natur geboren wurde.
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 1
1 Nuͦ gebüret uns zuͦ reden von der geburt, die in uns solle
geschehen und volbracht werden in der guͦten seel, wann gott der
vatter sin ewigs wort sprech in der volkommen sele.
2 Wann das ich hie sage, das sol man
verston von einem volkommen menschen, der in den wegen gots gewandert hat
und noch wandert,
3 und nit von einem
natürlichen ungeuͤbten menschen, wann der ist zuͦmal ferr und
unwissent von dyser geburt.
1 Jetzt müssen wir von dieser
Geburt sprechen, die in uns geschehen und vollbracht werden soll, und zwar
in der guten Seele, denn Gott der Vater sprach sein ewiges Wort in der
vollkommenen Seele.
2 Denn was ich hier sage, das soll
man bezüglich eines vollkommenen Menschen verstehen, der auf den Wegen
Gottes gewandert ist und noch wandert, und nicht bezogen auf einen
natürlichen, ungeübten Menschen, denn der steht dieser Geburt auf jeden Fall
fern und weiß nichts von ihr.
Abschnitt 3
Absatz 4
FN-Anzahl: 1
1 Eyn
wort spricht der weiß man
Salomon libro
sapiencia decimo octavo:
2 "Dum medium silentium
tenerent omnia et nox in suo cursu medium iter haberet etc."
3 "Do alle ding waren mitten im eim schweygen,
do kam von oben herab von dem künigklichen stuͦle in mich eyn
verborgen wort."
4
4 Von dysem wort sol sein die predig.
1 Der weise Salomon spricht
Folgendes im Buch der Weisheit, im 18. Kapitel:
2 "Dum
medium silentium tenerent omnia et nox in suo cursu medium iter haberet
etc."
3 "Als alle Dinge mitten in einem Schweigen
waren, da kam von oben herab, von dem königlichen Stuhl, in mich ein
verborgenes Wort."
4 Von diesem Wort soll die Predigt
handeln.
Abschnitt 4
Absatz 5
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1 Dry
ding sind hie zuͦ mercken:
1 Drei Dinge sind hier zu
beachten:
Abschnitt 5
Absatz 6
FN-Anzahl: 0
1 Das erst ist, wo gott der vatter sprech seyn wort in der sele unnd wo
dyser geburt statt sey unnd wo sy des wercks entpfengklich sy.
2 Wann das muͦß sein in dem aller lautersten und
edelsten subtylisten, das die sele geleysten mag.
3 In
der warheit:
4 Moͤcht got der vatter mit aller
seiner almechtigkeit ichts edlers der sele geben haben in irer natur und
moͤcht die sele ichts edlers genommen haben von im des selbem adels,
muͤßt got der vatter beiten mitt der geburt.
5 Davon muͦß sich die sele, in der die ge[b]burt soll
geschehen, gar lauter haben und gar adelich leben und gar einig unnd gar
inne:
6 nit ußlauffen durch die fünff sinn in
manigfaltigkeit der creaturen – mer: gantz inn sein und einig sein unnd in
dem lautersten, da ist sein statt.
1 Das erste ist, wo Gott der
Vater sein Wort in der Seele spricht , und wo die Stätte dieser Geburt ist,
und wo sie [die Seele] für dieses Werk empfänglich ist.
2 Denn das muss im Allerreinsten und Edelsten [und] Subtilsten
sein, das die Seele bieten kann.
3 Es ist wahr:
4 Könnte Gott der Vater mit seiner ganzen Allmacht
der Seele irgendetwas Edleres in ihrer Natur gegeben haben, und könnte die
Seele etwas Edleres von ihm genommen haben, so müsste Gott der Vater mit der
Geburt auf eben dieses Edle warten.
5 Aus diesem Grund
muss sich die Seele, in der diese Geburt geschehen soll, ganz (und gar) rein
halten und ganz (und gar) edel leben, und ganz (und gar) als ein Eines und
ganz (und gar) in sich selbst:
6 [Sie darf] mit den
fünf Sinnen nicht hinauslaufen in die Vielfalt der Kreaturen – vielmehr
[muss] sie ganz in sich sein und ein Eines sein; und in dem Reinsten, da ist
seine [= Gottes] Stätte.
Abschnitt 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 2
1 Daz
ander teyl diser predig ist, wie sich der mensch zuͦ disem werck oder
zuͦ disem insprechen unnd geberen halten sol: ob im nützer sey, das
er eyn mitwyrckenn hie mit habe, damitt er erwerbe unnd verdien, das dise
geburt in im geschehe und geboren werde, also das der mensch in im
schoͤpffe ein bild in seiner vernunfft und in seinen gedancken
unnd sich daran uͤbe also gedencken:
2 "Got ist weyß, almechtig und ewig."
5
3 Unnd was er also erdencken mag von gott, ob das mer
diene unnd forder dyse vaͤtterliche geburt oder das man sich entziehe
und ledig mach von allen gedancken, worten und wercken und von allen bilden
des verstands unnd das man sich gar zuͦmal halt in einem gotleiden
und habe sich miessig
und laß
got in im wircken under denen welches dem menschen zuͦ diser geburte
aller meist diene.
1 Der zweite Teil dieser Predigt
beinhaltet, wie sich der Mensch im Hinblick auf dieses Werk oder
hinsichtlich des Hineinsprechens und Gebärens verhalten soll: Ob es für ihn
nützlicher ist, dass er hierbei mitwirkt, womit er erwerbe und verdiene,
dass diese Geburt in ihm geschehen und so vollzogen werde, dass der Mensch
in seinem Inneren ein Bild in seiner Vernunft und in seinen Gedanken
erschaffe, und sich darin übe, indem er Folgendes bedenkt:
2 "Gott ist weise, allmächtig und ewig."
3 Und ob das, was er auf diese Weise von Gott denken kann,
dieser Geburt des Vaters nützlicher und förderlicher sei; oder dass man sich
zurückziehe und frei mache von allen Gedanken, Worten und Werken und von
allen Bildern des Verstandes und dass man sich jederzeit Gott hingebe und
leer mache und lasse Gott in sich wirken, welches von ihnen beiden [das ist,
das] dem Menschen am aller meisten zu dieser Geburt diene.
Abschnitt 7
Absatz 8
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1 Das
drytt iſt der nutz, wie groß der sy, der an diser geburte leyt.
1 Das dritte ist, wie groß der
Nutzen sei, der aus dieser Geburt gezogen wird.
Abschnitt 8
Absatz 9
FN-Anzahl: 0
1 Nun
merck zuͦ dem ersten mal:
2 Ich will üch dise
red bewaͤren mit natürlicher red, daz ir es selber greiffen
moͤgent, das es also seyn muͦß, wiewol ich doch der geschrifft
mer gelaub dann mir selber.
3 Aber es gat eüch mer yn
und baß von bewerter red.
1 Jetzt merkt als erstes:
2 Ich werde euch diese Lehre mit den Gesetzen der
Natur beweisen, so dass ihr es selbst begreifen könnt, dass es genau so sein
muss, obwohl ich doch der Heiligen Schrift mehr glaube als mir selbst.
3 Aber es prägt sich euch mehr ein und ist besser
verständlich aufgrund begründeter Lehre.
Abschnitt 9
Absatz 10
Absatz 11
Absatz 12
FN-Anzahl: 10
1 Nun
nement wir des ersten das wort, das da spricht:
2 "Dum medium silentium tenerent omnia
etc."
3 "Inmitten in dem schweigen ward mir
ingesprochen eyn verborgen wort."
6
4 Ach herre, wo ist das schwygen, unnd wo ist die
stat, da diß wort ingesprochen wirt?
B
5 Wir sagen, als ich vor sprache:
7
6 Es ist in dem lautersten, das die sele geleystenn
mag, in dem edelsten, in dem grunde, ja, in dem wesen der sele, das ist in
dem verborgesten der sel.
8
7 Daz ist daz mittel schwy
[3va]gen, wann dar in kame
nie kein creatur noch bilde, noch die sele hatt da weder wircken noch
verstentnuß noch wissen darumb, keyn bilde, weder von ir selber noch von
keiner creatur.
8 Alle werck, die die sele wirckt, die wircket sy
mitt den krefften.
9
9 Was sy verstet, das verstet sy mit der vernunfft.
10 So sy gedenckt, daz thuͦt sy mit der
gedechtnuß.
11 Soll sy lieben, das thuͦt sy
mit dem willenn.
12 Unnd also wirckt sy mit den
krefften und nit mit dem wesen.
13 Alles ir
ußwircken haftet allweg an etwas mittel.
14 Die
krafft des sehens würckt nüt dann durch die augen.
15 Anders mag sy kein ding gesehen, würcken noch geben.
16 Unnd also ist es mit allen den andern sinnen:
17 Alles ir ußwürckenn würckt sy durch etwas mittels.
18 Aber in dem wesen ist kein werck.
19 Darvon hat die seel in dem wesen keyn wercke.
20 Wan die krefft damit sy wirckt, die fliessen uß dem grund
des wesens.
21 Mer: in dem grund da ist das
mittel schweigen.
22 Hie ist allein
ruͦwe unnd ein wonunge.
23 Zuͦ diser
geburt unnd zuͦ disem werck gott der vatter aldo spricht sein
wort.
24 Wann dises ist vonn natur nicht enpfengklich dann
allein des goͤt
Clichen wesens on alles mittel.
25 Got gat
hie in die seel mit dem seinen allem, nit mit dem seinen teil.
26 Gott get hie in die seel in dem grund.
27 Niemant thuͦt den grund ruͤren in der sele dan
got allein.
28 Die creatur mag nicht in den grundt der
sele.
29 Sy muͦß hie aussen bleiben in den
krefften.
30 Da sicht sy wol ir bild an, damitt sy
ingezogen ist unnd herberg hat entpfangen.
31 Wann wenn die krefft der sele ruͤren
die creaturen, so nemen sy und schoͤpffen bild unnd gleichnuß von
der creatur und ziehen das in sich.
32 Von dem
kennen sy die creaturen.
10
33 Nit naͤher mag die creatur kommen in die
seel, noch nimmer genahett die seel keiner creatur, sy hat dann des ersten
willigklichen enpfangen in sich ein bilde.
34 Unnd von
dem gegenwirtigen bilde, so nahet sy sich den cre
[b]aturen.
35 Wann bild ist ein ding, das die sele
schoͤpfft mitt den krefften von den dingen.
36 Es sy ein stein, ein roß, ein mensch oder was es sey, das sy bekennen
will, so nimpt sy das bild herfür, das sy vor ingezogen hat, unnd also mag
sy sich mit ir vereinigen.
37 Wenn aber ein mensch also
ein bilde entpfacht, das muͦß von not kommen von aussen yn durch die
sinne.
11
38 Darumb ist der seel kein ding als
D unbekant als sy ir
selber.
39 Also spricht
ein
meister, das die seel von ir kein bild geschoͤpffen mage noch
geziehen.
12
40 Darumb so mag sy sich selber mitnichten bekennen.
41 Wann bilde kommen alles yn durch die sinn, des
mag sy kein bild von ir selber gehaben.
42 Von dannen
weißt sy alle andere ding unnd sich selber nitt.
43 Keynes dings weißt sy als wenig als sich selber durch des mittels willenn.
44 Unnd das wisse ouch:
45 Das
sy innen ist frey und ledig von allen mitteln und von allen dingen.
46 Das ist ouch die sach, das sich got ledigklich
mag mit ir vereinen on bilde oder gleichnuß.
47 Du
magst das nit gelassen:
48 was müglicheit du einem
meister gibest, du muͦst die selbenn muglicheit gott geben on alle
maß.
49 Als nun ye ein meister weißer und
maͤchtiger ist, also auch sin werck unmittelicher geschicht unnd
einfaltiger ist.
50 Der mensch hat vil mittels in
seinen ußwendigen wercken:
51 Ee er die verbringet, als
er sie in im gebildet hat, da gehoͤret vil bereitschafft zuͦ.
52 Der mon und die sonne in ir meisterschafft und in
irem werck – das ist erleüchtenn –, das thuͦnd sie gar
schnelligklich:
53 Alsbald sie iren schein außgiessen,
in dem selben augenblick so ist die welt vol liechtes an allen enden.
54 Aber darüber ist der engel:
55 Der bedarff noch minder mittels an seinen wercken und hat
auch minder bilde.
56 Der aller oberst seraphin hat nit
mer dann ein bild.
57 Alle die under im sind, waz sie
nemen in manigfeltigkeit, das nimpt er alles im eim.
13
58 Aber got bedarff keines bildes,
[4ra] noch er hat kein bilde.
14
59 Gott würcket in der sele on alles mittel,
bilde oder gleichnuß, ja, in dem grunde, da nie bilde yn kam dann er selber
mit seinem eigen wesen.
60 Daz mag kein creatur gethuͦn.
61 Got der vatter gebüret seinen sun in der
sele, nit als die creature thuͦnd in bilden und in gleichniß, sunder
mer in aller weiß, als er in gebirt in der ewigkeit, noch minder noch mer.
62 Eya, wie gebürt er da?
63 Das merck:
64 Sehet, got der
vatter hat ein volkommen insehen in sich selber und abgründiges durchkennen
sich selbs mit im selber, nit mit keinem bilde.
65 Und
also gebirt got der vatter seinen sun in warer einung goͤtlicher
natur.
66 Sehent, in der selben wyse und in keiner
andern gebirt gott der vatter seinen sun in der sele grund und in irem wesen
und vereinigt sich also mit ir.
67 Wann were da icht bilde, so were da nicht ware
einunge.
68 Und an der waren einunge ligt alle ir
seligkeit.
1 Nun wenden wir uns zuerst dem
Wort zu, das da lautet:
2 "Dum medium silentium
tenerent omnia etc."
3 "Inmitten im Schweigen wurde in
mich ein verborgenes Wort hineingesprochen."
4 Ach,
Herr, wo ist dieses Schweigen, und wo ist der Ort, in welchen dieses Wort
hineingesprochen wird?
5 Wir antworten, wie ich vorher
schon sagte:
6 Es ist im Reinsten, das die Seele
bieten kann, im Edelsten, im Grunde, ja, im Sein der Seele, welches sich im
verborgensten Ort der Seele befindet.
7 Das ist das
tiefe (mittel? vermittelte?) Schweigen, denn dorthin kam niemals irgendeine
Kreatur noch bildhafte Vorstellung, noch verfügt die Seele dort über Wirken
oder Verstehen, noch Erkenntnis darüber, noch [hat sie] eine bildhafte
Vorstellung, weder von sich selbst noch von irgendeiner Kreatur.
8 Alle Werke, welche die Seele wirkt, wirkt sie mit folgenden
Kräften:
9 Was sie versteht, das versteht sie mit der
Vernunft.
10 Wenn sie an etwas denkt, tut sie das mit
dem Gedächtnis.
11 Soll sie lieben, tut sie das mit dem
Willen.
12 Und auf diese Weise wirkt sie mit diesen
Kräften und nicht mit ihrem Sein.
13 All ihr Wirken
nach außen ist an ein Medium gebunden.
14 Die Kraft des
Sehens wirkt durch nichts Anderes als durch die Augen.
15 Anders kann sie keine Sache sehen, bewirken oder geben.
16 Und genauso verhält es sich mit allen anderen
Sinnen:
17 All ihr Wirken nach außen wirken sie über
ein Medium.
18 Aber im Sein gibt es kein Werk.
19 Aus diesem Grund hat die Seele in dem Sein kein
Werk.
20 Denn die Kräfte, mit denen sie wirkt, fließen
aus dem Grund des Seins.
21 Vielmehr ist dort im Grund
das tiefe Schweigen.
22 Hier ist einzig Ruhe und
Verweilen.
23 Gott der Vater spricht dort sein Wort zu
dieser Geburt und zu diesem Werk.
24 Denn dieses ist
von seiner Natur her für nichts empfänglich als allein für das unvermittelte
göttliche Sein.
25 Gott geht hier in die Seele ein mit
allem, was ihn ausmacht, nicht mit einem Teil von sich.
26 Gott geht hier in der Seele in deren Grund.
27 Niemand berührt den Grund in der Seele als allein Gott.
28 Die Kreatur kann nicht in den Grund der Seele
kommen,
29 sie muss draußen bleiben in deren Kräften.
30 Dort schaut sie wohl ihre Abbilder an, mit denen
sie hineingezogen wurde und Herberge empfangen hat.
31 Denn wenn die Kräfte der Seele die Kreaturen berühren, dann greifen sie zu
Abbildungen und Gleichnisbildern und denken sie sich aus und eigenen sich
das an.
32 Dadurch erkennen sie die Kreaturen.
33 Die Kreatur kann nicht näher in die Seele kommen,
noch nähert sich jemals die Seele irgendeiner Kreatur, es sei denn, sie hat
zuvor in sich willentlich ein Bild davon empfangen.
34 Und ausgehend von dem betreffenden Bild nähert sie sich den Kreaturen.
35 Denn ein Bild ist ein Ding, das die Seele mittels
ihrer Kräfte von den Dingen erzeugt –
36 es sei ein
Stein, eine Rose, ein Mensch oder was es auch sei, das sie erkennen will –,
dazu nimmt sie das Bild hervor, das sie vorher in sich hineingezogen hat,
und in der Weise vermag sie sich mit ihr [der Kreatur] zu vereinigen.
37 Wenn aber ein Mensch in der Weise ein Bild
empfängt, muss dieses notwendigerweise von außen mittels der Sinne
hineinkommen.
38 Aus diesem Grund ist der Seele kein
Ding so gänzlich unbekannt wie sie sich selbst.
39 Deswegen sagt ein Meister, dass die Seele von sich selbst weder ein Bild
erzeugen noch [aus sich] herausziehen kann.
40 Darum
kann sie sich nicht selbst erkennen.
41 Denn Bilder
gelangen allein durch die Sinne hinein, deshalb kann sie kein Bild von sich
selbst haben.
42 Deswegen kennt sie alle anderen Dinge
und [jedoch] nicht sich selbst.
43 Kein Ding kennt sie
so wenig wie sich selbst wegen des [fehlenden] Mediums.
44 Und wisse auch Folgendes:
45 Dass sie
innen frei und ledig ist von jedem Medium und von allen Dingen.
46 Das ist auch der Grund dafür, dass sich Gott frei mit ihr
vereinen kann, ohne Bilder oder Vergleiche.
47 Du
kannst das nicht [unbeachtet] lassen:
48 Welche
Fähigkeit du einem Meister zugestehst, die selbe Fähigkeit musst du Gott
jenseits von jedem Maß zugestehen.
49 Je weiser und
mächtiger ein Meister ist, je unvermittelter entsteht sein Werk und je
schlichter ist es.
50 Der Mensch benötigt viele
Medien/Hilfsmittel für seine äußeren Werke:
51 Es
bedarf vieler Vorbereitungen, bevor er sie so ausführt, wie er sie sich
vorgestellt hat.
52 Der Mond und die Sonne vollbringen
ihre hohes können und ihr Werk – das ist das Erleuchten – sehr schnell:
53 In dem selben Augenblick, in dem sie ihren Schein
ausgießen, ist die Welt überall voller Licht.
54 Aber
über ihnen steht der Engel:
55 Der braucht noch weniger
Hilfsmittel/Medien für seine Werke und besitzt auch weniger Bilder.
56 Der aller höchste Seraphim hat nicht mehr als
[nur] ein einziges Bild.
57 Alles das, was die, die ihm
unterstehen, in vielfältiger Weise wahrnehmen, das nimmt er alles in einem
[Bild] wahr.
58 Aber Gott braucht kein Bild, noch hat
er irgendein Bild.
59 Gott wirkt in der Seele ohne
jedes Medium, ohne Bilder oder Vergleiche, ja, in dem Grund [der Seele],
wohin nie ein Bild hineinkam außer ihm selber mit seinem eigenen Sein.
60 Das kann kein Geschöpf.
61 Gott der Vater gebiert seinen Sohn in der Seele, nicht wie die Geschöpfe
es tun durch Bilder und Vergleiche, sondern eher ganz in der Art, wie er ihn
gebiert in der Ewigkeit, weder geringer noch mehr.
62 Ach ja, wie gebiert er dort?
63 Folgendes merke:
64 Seht, Gott der Vatter hat eine vollkommene
Einsicht in sich selbst und durchschaut sich in der Tiefe (seines Abgrunds)
selbst durch sich selbst, nicht mit Hilfe irgendeines Bildes.
65 Und auf solche Weise gebiert Gott der Vater seinen Sohn in
einer echten Vereinigung göttlicher Natur.
66 Seht, in
genau dieser Weise und in keiner anderen gebiert Gott der Vater seinen Sohn
im Grund der Seele und in ihrem Sein und vereinigt sich auf diese Weise mit
ihr.
67 Denn gäbe es da ein wie auch immer geartetes
Bild, so gäbe es da keine echte Vereinigung.
68 Und in
dieser echten Vereinigung liegt all ihre Seligkeit begründet.
Abschnitt 10
Absatz 13
FN-Anzahl: 7
1 Nun
moͤchten ir sprechen:
2 "In der sele
seind nüt dann bilde von natur."
15
3 Nein!
4 Wann were daz war, so
wurde die sele nimmer selig.
5 Wann got moͤcht
kein creatur machen, in der du volkommen seligkeyt nemest.
6 Anders were gott nit die hoͤchste seligkeit und daz
letst end, daz doch sein natur ist und wille, daz er sey ein anbeginn und
anfang und ende aller ding.
16
7 Es mag kein creatur die seligkeit sein, so mag sy
ouch hie nit die volkommenheit sin.
8 Wann der
volkommenheit des lebens, daz ist aller tugend, volget nach volkommenheit
eins lebens.
9 Und da von muͦst du von not sein
und
E wonen in
dem wesen und in dem grund.
10 Da muͦß dich got
ruͤren mit seinem einfeltigen wesen on mittel irn
keynes bildes.
11 Wann daz ist zuͦ wissen, daz ein ieglich bild
bezeichnet noch weiset sich selber nit:
12 Es zeicht
und weißt alles dahin, des bilde es ist.
13 Und so es
also
aist i
na der warheit, das man kein bild hat
dann von dem, daz ußwendig dir ist und durch die sinn ingezogen wirt von den
creaturen, und es auch alles weyset da hin, des bilde es ist, so wer es
unmüglich, das du ymmer moͤchtest selig
[b] werdenn von
ir
a keinem bilde.
17
1 Nun könntet ihr sagen:
2 "In der Seele sind von Natur aus ausschließlich
Bilder."
3 Nein!
4 Denn wäre das
wahr, so würde die Seele niemals selig.
5 Denn Gott
könnte kein Geschöpf machen, in dem du vollkommene Seligkeit erhieltest.
6 Sonst wäre Gott nicht die höchste Seligkeit und
das letzte Ziel, was doch seine Natur und sein Wille ist, dass er ein Beginn
und Anfang und Ende aller Dinge sei.
7 Kein Geschöpf
kann die Seligkeit sein, und so kann es hier auch nicht die Vollkommenheit
sein.
8 Denn der Vollkommenheit dieses Lebens, die die
[Vollkommenheit] aller Tugenden ist, folgt Vollkommenheit eines (weiteren)
Lebens nach.
9 Und aus diesem Grund musst du
notwendigerweise im Sein und im Grund sein und wohnen.
10 Dort muss dich Gott mit seinem ungeteilten Sein ohne das
Medium irgendeines Bildes berühren.
11 Denn das muss
man wissen, dass ein jegliches Bild weder sich selbst versinnbildlicht noch
auf sich hinweist:
12 Es versinnbildlichet und weist
einzig auf das hin, dessen Bild es ist.
13 Und weil es
demgemäß wahr ist, dass man kein Bild hat außer von dem, das außerhalb von
dir ist und das von den Geschöpfen durch die Sinne hineingezogen wird, und
da es auch einzig auf das hinweist, dessen Bild es ist, so wäre es nicht
möglich, dass du jemals selig werden könntest mit Hilfe irgendeines
Bildes.
Abschnitt 11
Absatz 14
FN-Anzahl: 5
1 Das
ander ist, was dem menschenn zuͦ gehoͤre seynes wercks hye
zuͦ würckenn, da mit er erwürbe unnd verdiente das dyse geburt in im
geschehe und volbracht werde:
2 ob das nicht besser
sey, das der mensch hier zuͦ sein werck thuͦ als eyn ynbilden
unnd ein gedencken an gott oder das der mensch sich halt in einem schweigen
oder in einer still und in einer ruͦwe und also gott in im sprech und
wircke und wardt er allein gotes werck in im.
18
3 Ich sprich aber, als ich vor sprach:
19
4 Dyse rede und dise werck gehoͤren allein
guͦten und volkommen menschen zuͦ, die do an sich unnd in sich
gezogen hand aller tugent wesen, also das die tugent wesenlich auß in
fliessen on ir zuͦthuͦn unnd vor allen dingen das daß wyrdig
leben unnd die edel lere unsers
Fherren in in lebe.
5 Die sollen wissen, daz daß allerbeste ist
unnd aller edelst, da man zuͦ kommen mag in disem leben, das du
solt schweigenn unnd laß gott da wircken unnd sprechen.
20
6 Aldo da alle krefft seind abzogen
vonn allen iren wercken und bildenn, da wirt diß wort gesprochenn.
7 Darumb sprach er:
8 "Mitten in dem schwigen ward mir das heimlich wort zuͦ
gesprochen."
21
9 Und darumb: so du alle krefft allermeyst magst
ziehen in ein unnd in ein vergessen aller ding und ir bilde, die du in
dich ye gezogest, und ye mer du der creatur vergissest, ye neher du disem
sprechen bist und ye entpfenglicher.
10 Moͤchtest du aller
ding zuͦmal unwyssend werden, ja, moͤchtest du kommen in
ein unwissen dines eigen lebens, und als sancto
Paulo geschach, do er sprach:
11 "Ob ich were in dem leibe oder nit, das weiß ich
nit:
12 Got weißt es."
22
13 Do hat der geyst alle krefft so gar in sich
gezogen, das im des lychnams was vergessen.
14 Do wirckten weder gedechtniß noch verstentnuß
noch die synne noch die krefft, die irn influß in dem solten haben, das
sy den leychnam fieren und zieren
[4va] solten.
15 Der brand und
diub hytze was auff enthalten.
16 Darumb nam der leichnam nicht ab, die weil er in den
dreyen tagen nichts aß noch tranck.
23
17 Also geschach
Moysi, do er fastet viertzig tag auff
G dem berge.
24
18 Und er ward nie dester krencker.
19 Er was des lesten tags also starck als des ersten.
20 Und also solt der
mensch entweichen allen sinnen unnd inkeren alle seine kreffte unnd
kommen in eyn vergessen aller dingen unnd sein selbs.
21 Hie
von sprach eyn
meyster zuͦ der sele:
22 "Zeüch dich von der unruͦw außwendiger werck.
23 Darnach fleüch und verbirg dich vor
dem gestürme außwendiger werck und inwendiger gedancken, wann sy
unfryd machen.
24 Darumb soll gott sein wort
sprechen in der sele, so muͦß sy in fryde unnd in
ruͦwe sein."
25
25 Unnd denn spricht er seine wort und sich selber in der
sele unnd nicht ein bilde, sunder sich selber etc.
26
26 Dionysius spricht:
27 "Got hat kein
H bilde oder gleichnuß sein selbs, wann er ist
wesenlich alles guͦt, warheit und wesen."
27
28 Gott wirckt alle seine werck in im selber und auß im
selber in einem blick.
29 Nicht wene da gott hymmel und
erde machte und alle ding, das er heüt eins machte unnd morgen das ander,
wiewol sollichs
Moyses schrybet.
28
30 Aber er thet es umb der lüt willenn, die es nitt
anders kunden gemerckenn.
31 Gott thet nüt mer
darzuͦ dann allein:
32 Er wolt unnd sy wurden.
33 Gott wircket on mittel unnd on bilde.
34 Unnd ye mer du von bilden bist, ye mer du seines ynwirckens
entpfengklicher bist.
35 Unnd ye mer du inkerst und
vergessen bist, ye naͤher du disem bist.
36 Hierzuͦ manet
Dionysius seinen jünger
Timotheum:
37 "Du solt mit unbegerten
sinnen dich erschwingen über dich selber und über alle krefft, über
red unnd über vernunfft, über werck unnd über weiß unnd über wesen in
die verborgen stille finsternuß, auff das du kommest in ein bekantniß
des unbekanten überguͦten gottes."
29
38 Es
[b] muͦß ein entziehen sein von
allen dingen.
39 Es verschmehet gott zuͦ wirchen
in bilden.
30
1 Das zweite ist, was dem
Menschen zueigen sein muss, um sein Werk hier so zu wirken, damit er erwerbe
und verdiene, dass diese Geburt in ihm geschehe und vollbracht werde:
2 Ob es nicht besser sei, dass der Mensch hierzu
sein Tun beitrage wie eine Vorstellung von Gott und ein Denken an ihn, oder
dass der Mensch in einem Schweigen oder in einer Stille und in einer Ruhe
verharre und auf diese Weise Gott in ihm spreche und wirke und er einzig
Gottes Wirken in sich erwarte.
3 Ich sage erneut, wie
ich zuvor sagte:
4 Diese Lehre und diese Werke sind
allein für gute und vollkommene Menschen bestimmt, die schon in der Weise
das Wesen aller Tugenden an sich und in sich gezogen haben, dass die
Tugenden ihrem Wesen gemäß ohne ihr Zutun aus ihnen fließen, und dass vor
allen Dingen das würdige Leben und die edle Lehre unseres Herren in ihnen
lebe.
5 Diese [guten Menschen] sollen wissen, dass das
allerbeste und alleredelste, welches man in diesem Leben erreichen kann,
ist, dass du schweigen und Gott in dir wirken und sprechen lassen sollst.
6 Sobald nun dort alle Kräfte von allen ihren
Werken und Bildern abgezogen sind, so wird dieses Wort gesprochen.
7 Darum sagte er (der Weise):
8 "Mitten in einem Schweigen wurde mir das heimliche Wort
zugesprochen."
9 Und aus diesem Grund (gilt): Wenn du
alle Kräfte im höchsten Maß in eines und in ein Vergessen aller Dinge und
ihrer Bilder, die du in dich je gezogen hast, ziehen kannst, und je mehr du
die Geschöpfe vergisst, umso näher bist du diesem Sprechen und umso
empfangsbereiter.
10 Könntest du über alle Dinge
gänzlich unwissend werden, ja, könntest du in Bezug auf dein eigenes Leben
in Unwissenheit geraten, wie es auch dem heiligen Paulus widerfuhr, als er
sagte:
11 "Ich weiß es nicht, ob ich in meinem Körper
war oder nicht:
12 Gott weiß es."
13 Da hatte der Geist alle Kräfte so gänzlich in sich gezogen,
dass ihm sein Körper in Vergessenheit geraten war.
14 Dementsprechend waren weder Gedächtnis noch Verstand tätig, noch die Sinne
noch die Kräfte, die so auf den Körper einwirken sollen, dass sie ihn
stärken und ihm zur Zierde gereichen sollten.
15 Dem
Brand (Verbrennungsvorgänge) und der Hitze (Körpertemperatur) wurde
Aufenthalt gewährt.
16 Darum wurde der Körper nicht
schwächer, obwohl er (Paulus) drei Tage lang weder aß noch trank.
17 Genau so ging es Moses, als er vierzig Tage auf dem Berg
fastete.
18 Auch er wurde keineswegs schwächer.
19 Er war am letzten Tag genauso stark wie am
ersten.
20 Und genau so sollte der Mensch alle
Sinneseindrücke hinter sich lassen und alle seine Kräfte nach innen kehren
und in ein Vergessen aller Dinge und seiner selbst kommen.
21 Hierüber sprach ein Meister zu der Seele:
22 "Entzieh dich der Unruhe äußerlicher Werke.
23 Danach fliehe und verberge dich vor dem Sturm äußerlicher
Werke und innerer Gedanken, denn sie verursachen Unfrieden."
24 Darum: Wenn Gott sein Wort in der Seele sprechen soll, dann
muss sie sich in Frieden und in Ruhe befinden.
25 Und
dann spricht er sein Wort und sich selbst in der Seele und nicht ein Bild,
sondern sich selbst etc.
26 Dionysius sagt:
27 "Gott hat kein Bild oder einen Vergleich von sich selbst,
denn er ist von seinem Wesen her ausschließlich das Gute, Wahrheit und
Sein."
28 Gott tut alle seine Werke in sich selbst und
aus ihm selbst in einem einzigen Augenblick.
29 Stelle
dir nicht vor, dass Gott, als er Himmel und Erde und alle Dinge schuf, heute
das eine machte und morgen das andere, auch wenn Moses es so schreibt.
30 Aber er schrieb es so wegen der Menschen, die es
anders nicht erfassen könnten.
31 Gott tat nichts
Anderes als nur:
32 Er wollte, und sie wurden.
33 Gott wirkt ohne Medium und ohne Bild.
34 Und je bildloser du bist, umso empfänglicher bist du für
sein Einwirken.
35 Und je mehr du dich nach innen
kehrst und je mehr du dich selbst vergisst, umso näher bist du diesem
[Einwirken].
36 Hieran erinnert Dionysius seinen Jünger
Timotheus:
37 "Du sollst dich mit Sinnen, die nichts
begehren , über dich selbst aufschwingen und über alle Kräfte, über Lehre
und Vernunft, über Werke und über Weisung und über das Sein hinauf in die
verborgene stille Finsternis, damit du zur einer Erkenntnis des unbekannten
überguten Gottes kommst."
38 Es muss ein Rückzug von
allen Dingen sein.
39 Gott verschmäht es, in Bildern zu
wirken.
Abschnitt 12
FN-Anzahl: 2
1 Nun moͤchtest du
sprechen:
2 "Wo wircket got on bild? In dem
grund und in dem wesen?"
31
3 Das mag ich nit gewissen, wann die krefft nüt
genemen künden dann in bilden.
4 Wann sy alle ding
muͤssen nemen und bekennen in irem eigen bilde.
5 Sy mügen ein pfert nitt genemen und bekennen in eins
menschen bilde.
6 Und darumb wann all bilde in sy
kommen von aussen, hierumb so ist es ir verborgen, unnd das ist ir aller
nützeste.
7 Das unwissen zeücht sy in
Iein wunder.
8 Darumb thuͦt sy dem nachjagende unnd sy
empfindet wol, das es ist, und sy weißt doch nicht, wie und was es ist.
9 Wenn
der mensch weißt der dinge sach, zuͦhande ist er der ding
muͤde unnd suͦcht eyn anders zuͦ erfarenn und
zuͦ wissen unnd jamert in ymmer mer also nach wissen und hat doch
kein beybleibenn.
10 Darumb das unbekant bekentnuß das
enthelt sie by disem bleyben unnd thuͦt sy dem
nachjagenn.
1 Nun könntest du sagen:
2 "Wo wirkt Gott ohne Bilder? Im Grund und im
Sein?"
3 Das kann ich nicht wissen, denn die Kräfte
können nichts wahrnehmen außer in Bildern.
4 Denn sie
können alle Dinge nur ihren eigenen Bildern entsprechend wahrnehmen und
erkennen.
5 Sie können ein Pferd nicht im Bild eines
Menschen wahrnehmen und erkennen.
6 Und weil alle
Bilder von außen in sie kommen, bleibt es [das Wirken Gottes] ihr [der
Seele] verborgen, und das ist für sie am aller nützlichsten.
7 Das Nicht-Wissen führt sie in eine Verwunderung.
8 Darum jagt sie dem nach und sie spürt richtig, dass es
existiert, und sie weiß dennoch nicht, wie und was es ist.
9 Wenn der Mensch [aber] die Ursache der Dinge erkennt, ist er
der Dinge sogleich müde und strebt danach, ein anderes zu erforschen und
kennen zu lernen, und sehnt sich auf diese Weise immer mehr nach Wissen und
hat doch dabei keine Beständigkeit.
10 Dagegen ist das
unbekannte Erkennen gesetzt, das die Seele anhält, bei diesem zu bleiben und
veranlasst sie, ihm nachzujagen.
Abschnitt 13
Absatz 15
FN-Anzahl: 13
1 Hie
von sprach
der weiß man:
2 "Mitten in der nacht, da alle ding waren in eim still
schwygen, do ward mir zuͦgesprochen ein verborgenn wort, das kam
in einer dieplichen weise verstolencklich."
32
3 Wie meint er es?
4 Ein wort,
do es verborgen was?
5 Des worts natur ist, das es
offenbart, das da verborgen ist.
6 Es offent sich unnd
glantzet mir vor, das es etwas were offenbaren, unnd es was mir got kunde
thuͦn.
7 Davon heißt es ein wort.
8 Mer: es was mir verborgen, was es waͤr.
9 Da was sein verstentlich kommen en einem geheim und in einer
stille, umb das es sich offenbarte.
10 Secht:
11 darumb muͦß man und sol im nachlauffen,
die weil es verborgen ist.
12 Es schein und was
verborgen.
13 Es meinet, das wir im nach solten jamern
und seüfftzen.
14 Hier zuͦ mant uns sant
Paulus, daz wir disem nachjagen, biß daz
wir es erspüren und nimmer auffhoͤren, biß daz wir es
begreiffen.
33
15 Do er in den dritten hymel was gezuckt
[5ra] in die kuntschafft gottes und
gesehen hat alle ding
34 und do er wider
kame, do waz es im vergessen,
35 also daz was im so
fer in den grund, dahin sein vernunfft nit kommen mocht.
16 Es waz im bedeckt.
17 Darumb
muͦst er im nachlouffen und es erfolgen in im und nüt uß im.
18 Es ist gantz inne, nit uß, sunder gantz.
19 Und do er daz wol inne wißt, da sprach er:
20 "Ich bin sicher, daz mich weder der todt
noch kein arbeit darvon gescheiden mag, des ich in mir entpfunden
hab."
36
21 Davon sprach ein heidnischer meister ein
schoͤn wort zuͦ einem andren meister:
22 "Ich wurd
J eins in mir gewar, das glantzet vor myner
vernunfft.
23 Das entpfind ich wol, daz es etwas
ist.
24 Aber was es sy, das kann ich nit versteen.
25 Dann allein dunckt mich das:
26 Künd ich es begreiffen, ich bekennete alle
warheit."
27 Do sprach der
ander meister:
28 "Eya, dem volg nach.
29 Wann kündest du das begreiffen, so hettest du ein samlung aller
guͦter und hettest daz ewig leben."
37
30 Von disem sinn spricht ouch sant
Augustinus:
31 "Ich
würd eins in mir gewar, das spilt und verwacht in meiner sele.
32 Würd das volbracht unnd bestaͤtiget in mir, das
muͤst ewigs leben sein.
33 Es verbirget sich
und zeiget sich doch."
38
34 Es kumpt aber in einer dieplichen weyß und meint, es
woͤl der sele alle ding benemen und verstelen.
35 Aber das es etwas weiset unnd offenbart, da mit will es die sele reitzen
und nach im ziehen unnd ir selbs berauben und benemen.
36 Hie von spricht der prophet:
37 "Herre, nim dir disen geist und gib im wider deinen
geist."
39
38 Das meinet ouch die liebhabende sele, so sy spricht:
39 "Mein sele zerfloß, do der leib sein wort
sprach."
40
40 Da er ingieng, muͦst ich abnemen.
41 Das meint ouch
Christus,
do er sprach:
42 "Wer icht leihet durch mich, der
soll es hundertfeltig wider nemen."
41
43 "Der mich ouch will haben, der muͦß
sich sein selbs verzeihen und alle ding."
42
44 "Und wer mir will dienen, der muͦß mir
volgen"
43, er soll nit den sinnen
volgen.
44
1 Hiervon sagte der weise Mann:
2 "Mitten in der Nacht, als alle Dinge in einem
tiefen Schweigen waren, da wurde mir ein verborgenes Wort zugesprochen, das
kam verstohlen wie ein Dieb."
3 Wie meint er es?
4 Ein Wort, als es verborgen war?
5 Die Natur des Wortes ist [doch], dass es offenbart, was
verborgen ist.
6 Es öffnet sich und erstrahlte vor
mir, dass es etwas offenbaren würde und es [= das Wort] wolle mir von Gott
künden.
7 Aus diesem Grund heißt es 'ein Wort'.
8 Weiterhin: Mir war es verborgen, was es sei.
9 Da war sein Einsicht bringendes Kommen im
Geheimen und in einer Stille, womit es sich offenbarte.
10 Seht:
11 Darum muss und soll man ihm
nachlaufen, solange es verborgen ist.
12 Es erstrahlte
und war [doch] verborgen.
13 Es möchte, dass wir uns
nach ihm sehnen und [vor Sehnsucht] seufzen sollten.
14 Hierzu ermahnt uns der heilige Paulus, dass wir diesem nachjagen, bis wir
es aufspüren, und dass wir nicht aufhören, bis wir es erfassen.
15 Als er in den dritten Himmel in die Erkenntnis Gottes
entrückt war und alle Dinge gesehen hatte und als er zurückkam, da hatte er
es in der Weise vergessen, dass es so tief in seinem [innersten] Grunde war,
dass seine Vernunft dahin nicht kommen konnte.
16 Es
war für ihn verdeckt.
17 Darum musste er ihm nachlaufen
und es in sich selbst verfolgen und nicht außerhalb seiner selbst.
18 Es ist ganz innen, nicht außerhalb, sondern ganz
[innen].
19 Und als er sich dessen ganz bewusst
geworden war, da sagte er:
20 "Ich bin mir sicher, dass
mich weder der Tod noch irgendeine Mühe von dem zu scheiden vermag, was ich
in mir wahrgenommen habe."
21 Darüber sprach ein
heidnischer Meister ein schönes Wort zu einem anderen Meister:
22 "Ich nahm eines in mir wahr, das überstrahlt meine Vernunft.
23 Ich empfinde genau, dass es etwas ist.
24 Aber was es ist, das kann ich nicht verstehen.
25 Doch wichtig scheint mir folgendes:
26 Könnte ich es erfassen, ich würde alle Wahrheit erkennen."
27 Darauf sagte der andere Meister:
28 "Ach ja, gehe dem nach.
29 Denn könntest du das
begreifen, so hättest du die Gesamtheit alles Guten und du hättest das ewige
Leben."
30 Über diesen Sinn sagt auch der Heilige
Augustinus:
31 "Ich bemerkte eine [Sache] in mir, die
sich in meiner Seele vergnügt und aufmerksam bleibt.
32 Würde diese in mir vollendet und gefestigt, das würde das ewige Leben
sein.
33 Es verbirgt sich und zeigt sich dennoch."
34 Es kommt abermals wie ein Dieb und beabsichtigt,
der Seele alle Dinge wegzunehmen und zu stehlen.
35 Aber [dadurch,] dass es etwas zeigt und offenbart, will es die Seele
reizen und zu sich ziehen und sie ihrer selbst berauben und am ihre Stelle
treten.
36 Hierüber sagt der Prophet:
37 "Herr, nimm dir diesen Geist und gib ihm dafür deinen
Geist."
38 Das meint auch die liebende Seele, wenn sie
sagt:
39 "Meine Seele zerfloss, als der Körper sein
Wort sprach.
40 Wo er einging, da musste ich weniger
werden."
41 Das meinte auch Christus, als er sagte:
42 "Wer irgendetwas verleiht um meinetwillen, der
soll es hundertfältig zurück erhalten.
43 Wer auch mich
haben will, der muss sich seiner selbst und aller Dinge entziehen.
44 Und wer mir dienen will, der muss mir folgen, er
soll nicht den Sinnen folgen."
Abschnitt 14
Absatz 16
FN-Anzahl: 5
1 Nuͦ moͤchtest du sprechen:
2 "Eya herr, ir wolt der sele iren na
[b]türlichen lauff
umbkeren unnd wider ir natur thon.
3 Ir natur ist,
daz sy durch die sinne thuͦ unnd loß.
45
4 Wolt ir den ordenn umbkerenn?"
5 Neyn!
6 Was weyst du, was
adels got gelegt hat in dise natur, die noch nitt alle geschriben seind
K
sunder verborgen?
7 Wann die von dem adel der sele
schreyben,
46 waren noch nye naͤher
kommen dann sy ir natürlich vernunffte truͦg.
8 Sy waren noch nit in den grund kommen.
9 Des
muͦßt in vil verborgen sein und beleiben unbekant.
10 Davon sprach der prophet:
11 "Ich
will sitzen und will schweygen unnd will hoͤrenn, was der herr in
mir redt."
47
12 Wann es so verborgen ist, darumb kam diß wort in der
nacht in der finsternuß.
13 Davon schreibt sant
Johannes:
14 "Das liecht lüchtet in der finsternuß."
48
15 "Es kam in sein eigen unnd alle, die es
entpfiengen, die wurden gewaltigklich gottes sune.
16 In ward gwalt gegeben gottes sun zuͦ werden."
49
1 Nun könntest du sagen:
2 "Ach ja, Herr, ihr wollt die natürlichen Abläufe
in der Seele umkehren und gegen ihre Natur richten.
3 Ihre Natur ist, dass sie mit Hilfe der Sinne Dinge tue und lasse.
4 Wollt ihr diese Ordnung umkehren?"
5 Nein!
6 Was weißt du darüber, welche
Erhabenheit Gott in diese Natur gelegt hat, worüber noch nicht alles
geschrieben, sondern noch verborgen ist?
7 Denn die,
welche von der Erhabenheit der Seele schreiben, waren [ihr] noch nie näher
gekommen, als sie ihre natürliche Vernunft brachte.
8 Sie waren noch nie in den Grund [der Seele] gekommen.
9 Deshalb musste ihnen vieles verborgen und unbekannt bleiben.
10 Darüber sagte der Prophet:
11 "Ich will sitzen und will schweigen und will hören, was der Herr in mir
spricht."
12 Denn weil es so verborgen ist, kam dieses
Wort in der Nacht, in der Finsternis.
13 Davon schreibt
der heilige Johannes:
14 "Das Licht leuchtet in der
Finsternis.
15 Es kam in sein Eigen und alle, die es
empfingen, die wurden durch [seine] Vollmacht Gottes Söhne.
16 Ihnen wurde die Vollmacht verliehen, Gottes Söhne zu
werden."
Abschnitt 15
Absatz 17
FN-Anzahl: 2
1 Zuͦm dritten mercken hie den nutz unnd frucht des hymmelischen
worts und diser finsternuß
c, das sein eygen ist. Sunder du
würst ouch geborn des selben hymelischen vatters kind noch keins anders, und
er gibt den gewalt.
2 Nun merck woͤlchen nutz:
3 Alle warheit, die all meister ye gelerten mit
irer vernunfft und verstentnuß oder immer mer werdenn biß an jüngstenn tag,
die verstuͦnden nie das aller minste in disem wissen unnd in disem
grund.
4 Wiewol das es yedoch eyn unwyssyen und ein
unbekantniß sey, so hat es doch mer innen dann alles wissen und bekennen diß
außwendig.
5 Wann diß unwissen reitzt unnd zycht dich
vonn allen wissenden dingen unnd ouch von dir selber.
6 Das meint
Christus, do er sprach:
7 "Wer sein selb nit verlougnet unnd verlaßt vatter unnd
muͦter – unnd als das usserlich ist – der ist meyn nitt
würdig."
50
8 Als ob er sprechen wolt:
9 "Der nit laßt alle ußwendigkeyt der creaturen, der mag in dise
goͤtliche geburt nit werden entpfanggen noch geborenn
werdenn."
10 Sunder
[5va] das du dich dein selbs beraubst und alles, das da usserlich ist,
das gybet es dir in der warheit.
11 Und in der warheit
gloub ich und bin des sicher, das diser mensch, der hier inne recht
stuͦnde, nitt mer von gott scheyden mag in keyner weyße.
12 Ich sprich:
13 Er mag in keiner weiß in
todsünd fallenn.
14 Er lytte ee den schentlichsten
tode, ee er die allerminsten todsünde thet.
15 Ich
sprich, das soͤlch menschen mügen ein taͤgliche sünde nitt
leidenn noch gestatten mit willen an in selber noch an anderen lüten, da sy
es erweren mügen.
16 Sy werden so sere zuͦ im
gereitzet und gezogen, das sie sich keinen anderen weg nimmer mügen keren.
17 Sy süfftzen und jamern alweg hernach.
1 Als drittes bemerke hier den
Nutzen und die Frucht des himmlischen Wortes und dieser Finsternis, das sein
Eigentum ist. Denn auch du wirst als Kind desselben himmlischen Vaters
geboren, nicht als das eines andern, und er verleiht [dir] diese Vollmacht.
2 Nun beachte, welchen Nutzen [das bringt]:
3 Trotz aller Wahrheit, die alle Meister je lehrten
mit ihrer Vernunft und ihrer Kenntnis oder noch weiter lehren werden bis zum
Jüngsten Tag, verstanden sie nie das Allergeringste in Bezug auf dieses
Wissen und diesen Grund.
4 Und obgleich es ein
Unwissen und eine Nicht-Erkenntnis sein soll, hat es dennoch mehr in sich
als alles Wissen und Erkennen außerhalb dessen.
5 Denn
dieses Unwissen reizt und zieht dich weg von allen wissbaren Dingen und auch
von dir selbst.
6 Darauf verwies Christus, als er
sagte:
7 "Wer sich nicht selbst verleugnet und Vater
und Mutter verlässt – und alles, das äußerlich ist –, der ist meiner nicht
wert."
8 Wie wenn er sagen wollte:
9 "Wer nicht alles Äußerliche der Kreaturen lässt, der kann in
diese göttliche Geburt weder empfangen noch geboren werden."
10 Insbesondere, dass du dich deiner selbst beraubst und alles,
das da äußerlich ist, das gibt es dir wahrlich.
11 Und
wahrlich glaube ich und bin dessen sicher, dass der Mensch, der sich hierin
richtig verhalte, in keiner Weise mehr von Gott geschieden werden kann.
12 Ich sage:
13 Er kann in
keiner Weise in Todsünde fallen.
14 Er würde eher den
schändlichsten Tod erleiden, bevor er die aller geringste Todsünde beginge.
15 Ich sage, dass solche Menschen eine einfache
Sünde weder bei sich selbst noch bei anderen Leuten willentlich erlauben
oder gestatten, wenn sie es verhindern können.
16 Sie
werden so sehr zu im gelockt und gezogen, dass sie nie mehr einen anderen
Weg einschlagen können.
17 Sie seufzen und sehnen
immerdar danach.
Abschnitt 16
FN-Anzahl: 0
1 In dise geburt helff uns got,
der nüw geboren ist menschlich, das wir krancken menschen in im geborn
wirden goͤtlich.
2 Amen.
1 Zu dieser Geburt helfe uns
Gott, der neu geboren ist als Mensch, damit wir schwache Menschen in ihm
göttlich geboren werden.
2 Amen.