Auswahl: Übersetzer

200 Jordan, Wilhelm (1819-1904) ADB

"Sonette", in: Shakespeare's Gedichte . Deutsch von Wilhelm Jordan (Berlin: G. Reimer, 1861), S. 1-156.

Online verfügbar.)

Vollständige Ausgabe: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154.

Die Ausgabe enthält auch: "Einleitung" (VII-LIII); daneben Venus und Adonis, Tarquin und Lucretia, Der Liebenden Klage und Der leidenschaftliche Pilger.

Einleitung:

"Ich würde Shakespeares Talent weit höher schätzen, wenn er nicht, nur um zu leben, Schauspiele geschrieben hätte. Diese haben seinem Ruhm weit mehr geschadet als genutzt. Wie herrlich sind dagegen seine andern Dichtungen, Venus und Adonis, Tarquin und Lucretia, selbst seine Sonette, die so einfach, so sinnig geschrieben und seinem Freunde Southampton gewidmet sind. Es gibt in ganz London keine Frau von Bildung, die nicht Venus und Adonis besäße. In diesen Dichtungen weht der Geist Petrarcas. Alle Gedanken sind schön und lieblich; es findet sich darin kein gewöhnlicher Ausdruck. Milch und Honig flossen aus der Feder, der Venus und Adonis entquollen. Hätte Shakespeare stets in der Manier der Italiener gedichtet, er wäre einer unserer größesten Dichter geworden, größer noch als Daniel, der größeste Dichter unserer Zeit."
Wer ist Daniel? Und wer führt so seltsame Reden?
Es ist das Urtheil eines Zeitgenossen Shakespeares, des gelehrten und damals hochberühmten Kritikers Thomas Nash. So stellt sich vor der Nachwelt die Kritik zuweilen ahnungslos an den Pranger. Es war ein unwillkührlich prophetisches Wort, daß Shakespeare seine Schauspiele geschrieben um zu leben. Jenen gepriesenen Daniel sucht höchstens der Literaturhistoriker einmal hervor aus dem Staube der Bibliotheken um ihn zeugen zu lassen von der Geschmacklosigkeit seiner Epoche. Thomas Nash selbst ist der völligen Vergessenheit nur entgangen, weil er Shakespeares Erwähnung gethan. Sein wundersam verkehrtes Urtheil hat ihm eine wenig neidenswerthe Berühmtheit eingetragen.
Einzig für die Schauspiele hat der ganze germanische Stamm dem englischen Poeten seine höchste Dichterkrone zuerkannt. Der Ruhm dieser Schauspiele ist die Sonne von der auch auf die Gedichte einiges Licht zurückstrahlt, sonst wären auch sie verschwunden in der Nacht der Vergessenheit wie die Dichtungen der Drayton und Daniel, die gleich Asteroїden nur noch für das Fernrohr der Forschung am Sternenhimmel der Literatur aufglimmen. Selbst in England finden sie wenig Beachtung außerhalb der gelehrten Kreise, denen das Studium Shakespeares zum eigenen Fach geworden ist. Bei uns in Deutschland bekommt man, wie es mir im Verlauf dieser Arbeit mehrmals begegnet ist, sogar von Verehrern des Dichters, die mit seinen Bühnenwerken wohl vertraut sind, die verwunderte Frage zu hören: hat Shakespeare denn außer seinen Schauspielen auch noch Gedichte geschrieben?
Gesteh' ich's nur, daß ich bis vor Kurzem selbst gewissermaßen zu diesen Leuten gehört habe. Aus den Werken über Shakespeare kannte ich die Titel und den ungefähren Inhalt der Gedichte nebst einigen Proben. Mehrmals hatte ich versucht, die Originale zu lesen. Was dem flüchtigen Blick an der Oberfläche entgegenschimmert, das übte keine Anziehungskraft. Der seltsame Styl, die dunkle Räthselhaftigkeit des Ausdrucks wirkten abschreckend wie eine undurchdringlich verwachsene Hecke. Nichts verrieht, daß dahinter in schönem Zauberschloß Princessin Dornröschen schliefe.
Genuß können Shakespeares Gedichte in der Ursprache nur gewähren als Frucht eines angestrengten Studiums. Die Durchsicht einer deutschen Uebertragung, von der ich nun erst weiß daß sie mehr als mißlungen ist, bewog mich vollends auf die nähere Bekanntschaft mit Shakespeare dem Lyriker zu verzichten. Gerade so falsch – in diesem leicht verzeihlichen Schluß fand ich meine Beruhigung – gerade so falsch als jene Geringschätzung der Dramen ist jenes überschwängliche Lob, das ein Thomas Nash, eine Meres und andere zeitgenössische Kritiker den Gedichten Shakespeares gespendet haben.
Da gelangte ich in den Vorlesungen zur Geschichte der Poesie, welche ich vier Winter hindurch in Frankfurt a. M. gehalten habe, zu Shakespeare. Um die dürftigen Nachrichten von seinem Leben zu ergänzen aus seinen eignen Bekenntnissen durchsuchte ich seine Gedichte. So befragt redeten sie plötzlich eine ganz andere wunderbar fesselnde Sprache. In der Absicht meinen Zuhörern Proben zu geben verglich ich die vorhandenen Uebersetzungen unter einander und mit dem Original. Bald war es mir erklärlich warum keine derselben rechte Theilnahme und Verbreitung hatt finden können. Oft schimmerte kaum eine Ahnung hindurch von der Absicht des Dichters. Auch wo der Uebersetzer bewies, daß er für sich die ganze Summe derselben erhoben, hatte ihm seine Ungelenkigkeit in der deutschen Sprache und Verskunst doch nur schwache Theilzahlungen an den Leser gestattet. Es fehlte gänzlich jener Schein müheloser Natürlichkeit der die Arbeit am Verse, die Spuren des Suchens nach dem Reim hinwegtäuscht und durch den ein Gedicht erst zum Gedichte wird. Selten angestrebt, nirgends erreicht waren jener seine Zuschliff der Spitzen, jene Klarheit und Schärfe der Antithesen ohne welche auch der beste Vergleich an den Tanzversuch eines Hinkenden erinnert, auch der reizendste Witz den Eindruck einer plumpen Albernheit machen muß. Für den mündlichen Vortrag war keine dieser Uebersetzungen brauchbar. Ich mußte mich also selbst an die Arbeit machen und begann mit einer Auswahl von Sonetten. Denn in diesen waren die meisten Bekenntnisse des Dichters zu erwarten, und da sie in jener Schätzung des Thomas Nash offenbar die dritte und letzte Stelle unter den Gedichten einnahmen, hatten sie eine hohe Wahrscheinlichkeit für sich, die erste zu verdienen.
Dem Umguß in deutsche Gedichte leisteten sie verzweifelt hartnäckigen Widerstand. Ich bekenne daß mich beim ersten Versuch die vierzehn Zeilen eines Sonetts fast eben so viel Stunden gekostet haben und daß ich auch nach erlangter Uebung und Erkenntniß der richtigen Methode durchschnittlich nur vier Sonette auf den Tag zu bewältigen vermochte.
Eine Fülle von Gedanken und Bildern die mancher neuere Dichter seitenlang ausspinnen würde, drängt sich, allemal im Witz, in der Sentenz der Schlußzeilen gipfelnd, in vierzehn Verse zusammen wie durch Maschinendruck. Dadurch entsteht oft eine hieroglyphische Dunkelheit, die das Verständniß, wie man mir versichert, selbst für den gebornen Engländer schwierig macht. Die Sonette gleichen, wenn ich mich eines so prosaischen Bildes bedienen darf, den viereckigen Täfelchen comprimirter Gemüse, die eine hiesige Fabrik liefert. Wie man diese stundenlang in warmem Wasser erweichen muß um nur die Pflanzen und Früchte aus denen sie bestehn unterscheiden und einzeln erkennen zu können, so muß man ein Sonett von Shakespeare eine Weile mit sich herumtragen, seine Worte erfüllen und schwellen mit dem Saft eigner ähnlicher Erfahrungen und Empfindungen, damit sie sich auseinanderlegen und aufgehn für unser Verständniß zu einer schmackhaften und nährenden Geisteskost.
Die Hauptschwierigkeit ist aber die Incongruenz der beiden Sprachen. Die englische ist überwiegend einsilbig und hat die meisten Flexionen bereits abgeschliffen, welche die deutsche noch bewahrt. In der Prosa erlaubt uns eine freiere und gelenkigere Satzbildung und eine fast unbeschränkte Compositionsfähigkeit den Mehrverbrauch Sylben reichlich einzubringen durch einen Minderverbrauch an Worten. Englische Verse in eben so vielen deutschen Silben wiederzugeben und dabei kein Wort zu vernachlässigen ist schlechterdings unmöglich, auch wenn man sich des Rechtes der Elision und Apostrophierung bis an die Grenze widerlicher Härte bedient; zumal wo schon der Verfasser des Originals, wie es bei Shakespeare der Fall ist, von diesem Rechte den ausgedehntesten Gebrauch gemacht, ja dem Vorleser nicht selten die Verschleifung eines mehrsilbigen Wortes zu einer Silbe zugemuthet und es überhaupt mit der Versmessung nicht eben genau genommen hat. Hier bleibt nichts anderes übrig, als sich mit dem Hauptbilde, dem Hauptbeiwort zu begnügen wenn das Nebenbild, das zweite Beiwort durchaus nicht hinein zu zwängen sind in den vorgeschriebenen Rahmen des Verses, und sein Bestreben zu richten auf die scharfe Wiedergabe des wesentlichen Gedankens.
Glücklicherweise läßt sich aus dieser Noth eine Tugend machen. Denn genau betrachtet liegt der Vortheil schließlich dennoch auf unserer Seite. Nicht die deutsche Sprache ist zu fett um das Tanzkleid der englischen unverändert anzuziehn, sondern die englische war zu mager um es auszufüllen, und nur Watte braucht erstere zu beseitigen damit es ihr sitze wie angegossen.
Von allen 154 Sonetten Shakespeares hat keins einen so natürlichen und leichten Versfluß als das, an Gehalt allerdings nicht hervorragende 145te, das einzige, welches in acht- statt in zehn- bis elfsilbigen Versen geschrieben ist, und als zweiten, shakespeareischen Beleg dafür, daß, in der Lyrik wenigstens, eine kürzere Strophe der Natur der englischen Sprache angemessener ist könnte man das Gedicht Nr. 16 in der Sammlung the passionate pilgrim anführen5, wenn es ganz sicher wäre, daß es aus der Feder unseres Dichters herrühre. Doch bei jedem englischen Lyriker wird man es bestätigt finden, daß die Strophen von kürzeren, acht- und sechssilbigen Versen die gelungneren sind, während der fünffüßige Jambus überall den Fehler eines etwas zu weiten Gewandes verräth, das durch entbehrliche Beiworte ausgestopft werden muß um nicht zu schlottern. Allerdings strömen in manchen Sonetten Gedanken und Bilder dem Dichter so reichlich zu, daß man sieht, wie die Fluth fast hinausschwillt über das randvolle Gefäß; auch hat er einmal kein Bedenken getragen, wie Goethe einen Hexameter siebenfüßig, ein Sonett fünfzehnzeilig stehn zu lassen. Aber ebenso oft und öfter, als man merkt daß es ihn Mühe gekostet in der gebotenen Zeilenzahl auszukommen, sieht man ihn, um die Silbenzahl zu erfüllen, zu jener Watte müßiger Eigenschaftsworte, gehäufter Bilder greifen, und sehr viele Verse würden an Wohlklang und Deutlichkeit entschieden gewinnen, an Inhalt nichts Wesentliches verlieren durch die Streichung solcher Füllselworte.
Gefördert von der Methode welche diese Wahrnehmungen vorzeichnen, brauchte ich nicht lange fortzuschürfen um zu sehn daß hier unter dünner Schlackendecke ein Schatz gediegenen Goldes seit mehr denn drittehalb Jahrhunderten auf seine Hebung warte. Ich konnte nicht verkennen, daß hier der Dichter noch vielfach unterthan sei der importirten italienischen Kunstmanier, der poetischen Mode und dem Geschmack seiner Zeitgenossen. Desto anziehender war es, auch hier schon sein eigenstes Wesen zum Kampf mit dem Herkommen hervortreten und zuweilen auch siegen zu sehn. Manches dieser lyrischen Gedichte fand ich auch seinen besten Dramen so ebenbürtig, als Gebilde einer niederen den Gebilden der höchsten Kunstform nur immer sein können. Alle zusammen aber erzählten eine Herzensgeschichte, die nicht nur ebenso wunderbar einzig ist als die vollentfaltete Größe des Dramatikers, sondern zugleich offenbart, welche glückliche Fügung sein Wachsthum bis zu dieser Größe möglich gemacht hat, welchem Manne die Welt Dank und Unsterblichkeit dafür schuldet, daß sie mit dem Namen Shakespeare nicht ein elend verwüstetes Talent, wie Robert Greene, nicht ein verkümmertes Genie, wie unsern Lenz, sondern einen zur Verklärung siegreich hindurch gedrungenen Dichterheros bezeichnen darf.
Meine Landsleute, sagte ich mir, greifen mit Begierde nach jedem noch so werthlosen Papierschnitzel, wenn er sich nur auf Schiller und Goethe bezieht. Sollten sie gleichgültig bleiben gegen eine nicht nur biographisch hochbedeutsame sondern oft genug auch von ewigem Werth erfüllte Reihe von Jugendgedichten des größesten Dichtergenies aller Zeiten, wenn ihnen dieselben zum ersten Mal in genießbarer Form geboten würden? Nach langer Vergessenheit zu vollen Ehren auferstanden ist Shakespeare erst in Deutschland, dessen großem Dichter die erste Entdeckung seines Kunstgesetzes vorbehalten war. Auch Shakespeare der Lyriker muß für uns erobert, von uns wieder eingesetzt werden in den Rang der ihm zukommt.
So erwuchs aus einer gelegentlichen Arbeit das Werk, das ich hier dem deutschen Leser vorlege und das ich künftig, wenn es Beifall findet, der erstrebten Vollendung näher zu bringen hoffe.
Ich bin bemüht gewesen, durch Verständlichkeit und Schärfe der Uebertragung jeden Commentar überflüssig zu machen. Man wird es nicht nöthig haben, das Original zu Hülfe zu nehmen um zu erkennen was Shakespeare gewollt hat. Im Uebrigen kann es mir nur erwünscht sein, wenn der Leser vergleicht. Er wird zuweilen nicht dasselbe, sondern nur ein verwandtes Bild gewählt finden, hoffentlich aber wenig Freiheiten begegnen die nur ein Nothbehelf der Verlegenheit und nicht der desto größeren Treue des Gedankens dienstbar wären. Da besonders, wo ich den Verdacht erwecke, mich durch den Reim ablenken zu lassen, bitte ich den Urtext aufzuschlagen, der den Leser dann meistens vom Gegentheil überzeugen wird. Niemand aber halte sich für befähigt über die Congruenz zwischen Original und Nachbildung prima vista zu urtheilen. Wer die Probe machen will, der gehe zuerst die Strophe im Englischen zwei-, dreimal, wenn es ein Sonett ist fünf auch sechsmal aufmerksam durch, schreibe sich allenfalls eine prosaische Uebersetzung nieder und lese dann erst die Uebertragung. Für eine leichte Lecture kann ich auch diese nicht ausgeben. Dies ist kein Buch, das sich in einigen Stunden verschlingen läßt. Gedanken von philosophischer Tiefe, selbst im Ausdruck oft an die gelehrte Schulsprache erinnernd, verwegne Bilder, ein Witz der sich in haarspaltenden Unterscheidungen und Gegenstellungen gefällt besonders gern aber die Formel des Widersinns, des ermöglichten Unmöglichen wählt, werden stets einen etwas dunkeln Rätheslstyl, eine kraus verschlungene Sprache bedingen und zum Verständniß eine gewisse Anstrengung des Geistes erfordern. Dafür, daß diese nicht zu groß und nirgends erfolglos zu sein brauche, glaube ich im Texte selbst hinlänglich gesorgt zu haben.
Einer Vorbereitung aber bedarf der Leser, um sich die volle Wirkung dieser Gedichte zu singen: Er muß sich die Lebensgeschichte des Dichters vergegenwärtigen. Leider ist die Kunde derselben eine sehr dürftige. Erst der unsäglichen Mühe neuerer Forscher, welche die alten Kirchenbücher und Archive durchsucht haben verdanken wir die meisten der beglaubigten Thatsachen, aus denen sich einige Vorstellungen gewinnen lassen von der Familie und den Hauptschicksalen des Dichters.
Was wir von diesen wissen oder doch mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthen dürfen, will ich in Folgendem kurz zusammenstellen, wobei ich neben den englischen Quellen (Nathan Drake, Shakespeare and his Times. Payne Collier, New Facts regarding the life of Sh. und New Particulars, reg. the works of Sh.) auch die Werke von Gervinus und F. Kreyßig (Vorlesungen über S. seine Zeit und seine Werke) benutze.
Der Vater unseres Dichters, John Shakespeare, war Handschuhmacher zu Stratford am Avon. In diesem Geschäft scheint er Wohlstand und eine sehr geachtete Stellung erworben zu haben, da er eine Ehe weit über seinen Stand schließen konnte. Er, der Handwerker, heirathete im J. 1557 Maria Arden, die Tochter einer der vornehmsten Adelsfamilien der Grafschaft, auf deren Besitzungen sein Vater, der Großvater unseres Dichters, Pächter gewesen war. Nach dem hohen Satz Armensteuer den John S. actenmäßig bezahlt hat gehörte er zu der meistbegüterten Bürgerklasse. Die städtischen Urkunden zeigen ihn als Besitzer mehrerer Häuser und nach und nach steigend an Ansehn und Würden, als Geschworenen, Stadtkämmerer, Alderman und endlich von 1568 ‒ 69 als Inhaber des höchsten Gemeindepostens, als Baillif von Stratford.
Diese Ehe des Handwerkes mit dem adligen Fräulein war sechs Jahre kinderlos; dann entsprangen ihr vier Söhne und vier Töchter. William S., der Erstgeborene, wurde nach dem Kirchenbuch am 26. April 1564 getauft. Aus der damaligen Sitte, die Taufe drei Tage nach der Geburt zu vollziehen, schließt man, daß der 23. April, sein Todestag, auch sein Geburtstag gewesen sei.
Der junge S. besuchte die lateinische Freischule zu Stratford. Hier wird er Latein gelernt haben nach der von König Heinrich VIII. eingeführten Grammatik. Vielleicht verspottet er die selbst durchgemachte Methode in jener Scene in den lustigen Weibern von Windsor, in welcher Hugh Evans, der wallisische Pfarrer, ein Examen anstellt mit Wilhelm, dem Sohn der Frau Page.
Seit dem J. 1578 ging es mit S.s Vater rückwärts. Er mußte Besitzungen verkaufen, die seine Frau ihm zugebracht hatte. Er war einmal genöthigt seinem Bäcker Bürgschaft zu stellen für eine Schuld von fünf Pfund. Seit 1579 kam er nicht mehr auf's Rathhaus, selbst wenn er vermahnt wurde. Sieben Jahre später scheint man ihn seiner Stelle als Alderman entsetzt zu haben. Eine königliche Vorschrift bestimmte damals, das Jedermann wenigstens einmal monatlich die Kirche zu besuchen habe und auch in Stratford hatte eine besondere Commission die Erfüllung dieser Vorschrift zu überwachen. Ein Bericht derselben vom J. 1592 nennt unter den Versäumern des Gottesdienstes John S. mit der Bemerkung, daß er aus Scheu vor seinen Gläubigern zu Hause geblieben sei. Um diese Zeit traf auch die Familie der Mutter des Dichters ein harter Schlag. Das Familienhaupt der Arden wurde durch den Günstling der Königin Elisabeth, den Grafen Lester in einen Hochverrathsproceß verwickelt und hingerichtet. Es scheint daß diese Verhältnisse den jungen S. verhindert haben den Cursus der lateinischen Schule in hergebrachter Weise durchzumachen. Nicholas Rowe, der Erste, der, fast hundert Jahre nach Shakespeares Tode, im J. 1709 seine Biographie herausgab, erzählt von einer Ueberlieferung, daß der Vater den Sohn habe aus der Schule nehmen und dieser eine Zeit lang selbst als Landschulmeister sein Brot verdienen müssen. Andere, wie Collier, schließen aus S.s häufigen und technisch höchst genauen Anspielungen auf das Rechtswesen (die auch in den Gedichten sehr zahlreich sind), daß er, wie das in England häufig vorkomme, nach dem Austritt aus der Schule bei einem Advokaten als Schreiber gedient habe. Noch andere bringen ihn seiner Jagdkenntnisse wegen zu einem Förster in die Lehre oder lassen ihn eine Zeit lang vom Wilddiebstahl leben und letztere Angabe ist schwerlich ganz erfunden. So viel steht fest, daß gleichzeitige und spätere englische Schriftsteller seine unvollendete Jugendbildung bedauert und über die Lücken seiner philologisch antiquarischen Kenntnisse mit einem Gemisch von Selbstgefühl und Geringschätzung die Achseln gezuckt haben. Uebrigens bedarf es dieser Zeugnisse nicht, da S. selbst in den Sonetten seinen Mangel an gelehrter Bildung den ihm sein Freund ersetzen müsse deutlich hervorhebt. Das ist zuzugeben: hätte S. seinen Gymnasialcursus regelrecht absolvirt, hätte er sich stets
… vorher wohl präparirt,
Paragraphos wohl einstudirt,
so würde er im Julius Cäsar vielleicht nicht die Thurmuhren schlagen lassen, im Coriolan die römischen Legionen vielleicht nicht mit Trommeln ausstatten. Höchst wahrscheinlich aber wären mit diesen Schnitzern auch einige andere Eigenheiten seiner Dichtweise in Wegfall gekommen; Eigenheiten zu denen sich die Erwerber gründlicher Schulkenntnisse während der sieben bis acht Jahre in denen sie täglich sechs Stunden die Bänke drücken die Fähigkeit zu versitzen pflegen. Ohne schon frühzeitig in seinen eindrucksfähigsten Jugendjahren außerhalb der Schule herumgewürfelt zu werden in mancherlei Sorgen und Widerwärtigkeiten hätte er schwerlich eine Lebensweisheit und Weltkenntniß erlangt, so allseitig und staunenswerth daß der Wunsch dies Wunder zu erklären eine ganze Reihe von Mythen erzeugt hat über sein Treiben während jener unfreiwilligen Schulferien. Nur diese sogenannten Störungen und Mißgeschicke ließen ihn eine solche Vertrautheit mit allen Ständen und Berufsarten auflesen, daß es jetzt kaum eine Profession gibt deren Mitglieder nicht behaupteten, S. müsse einmal zu ihnen gehört haben weil er sich sonst unmöglich so sach- und fachgemäß ausdrücken könnte wo er auf ihr Gewerbe zu sprechen komme.
Dem gereiften Manne haben seine Bekannten übereinstimmend eine milde gelassene Hoheit nachgerühmt. Darin aber treffen alle Ueberlieferungen zusammen daß er dieselbe nicht kostenfrei erworben sondern theuer erkauft hatte durch die Prüfungen einer ausgelassenen Jugend voll toller Streiche schwerer Irrthümer und bedenklicher Fehltritte welche ihm sogar gerichtliche Verfolgungen zuzogen. Er hat, nach der englischen Redensart, reichlich seinen wilden Hafer ausgesät. Wohl nicht erfunden ist es daß er, die Schule verlassend, in schlechte Gesellschaft gerathen sei und unter anderen Wilddieberei getrieben habe. Es scheint daß er in Charlcote, dem Landgut eines Sir Thomas Lucy, beim Wildern ertappt, in die Hütte des Wildhüters eingesperrt und dann vor Gericht gestellt wurde. Es ist uns ein Knittelvers erhalten durch den sich S. an Lucy gerächt haben soll und der sich etwa so nachahmen läßt:
Im Unterhaus sitzt er, im Friedensgericht
In London ein Esel, zu Hause ein Wicht.
Wie macht er daheim auf dem Gut sich so mausig
Und ist doch dabei höchst lumpig und lausig.
Drum sprechen die Leute den Namen auch aus
Als hieß' er Sir Lucy nicht, sondern Sir Laus.
Für die Aechtheit dieses Spottverses spricht die Eingangsscene in den lustigen Weibern von Windsor, in welcher S. eine Jugendgeschichte zu verewigen und auf Falstaff zu übertragen scheint was er einst selber begangen. Falstaff wird von dem ahnenstolzen Friedensrichter Robert Schaal mit einem peinlichen Proceß bedroht, weil er seine Leute geprügelt, sein Wild erlegt und sein Jagdhaus erbrochen. Wie Sir Thomas Lucy wirklich drei Hechte, luces, im Wappen führte, so gibt der Dichter seiner Carricatur deren zwölf und derselbe Namenswitz um den sich der angeführte Spottvers dreht ist auch hier angebracht. Der wallisische Pfarrer Hugh Evans versteht das dozen white luces in their coat, im Wappenmantel, nach seinem Dialect als a dozen white louses – in a old coat (ein Dutzend weißer Läufe in einem alten Rock). Ein carrikirtes Portrait dieses Sir Thomas Lucy, wenn er allem Anschein nach zum Friedensrichter Schaal hat sitzen müsen um Shakespeare jene Plackereien zu büßen, entwirft Falstaff in König Heinrich IV. 6
War der junge Shakespeare offenbar ein lockerer Zeisig, so darf man auch seine ungewöhnlich frühe Verheirathung im Alter von achtzehn Jahren keineswegs auffassen als einen Beweis baldiger Bekehrung zu solidem Lebenswandel. Im Gegentheil, diese Ehe erscheint ganz im Licht einer nicht eben leichten Buße für die wilde Leidenschaftlichkeit seiner Jünglingsjahre. Es steht actenmäßig fest daß seine Trauung mit der sieben Jahre älteren Anna Hathaway in hastiger Weise und gegen die damalige Sitte auf besondere Erlaubniß des Bischofs nach nur einmaligem Aufgebot erfolgte. Im November 1582 hatte die Hochzeit stattgefunden, im Mai 1583 wurde Shakespeares älteste Tochter geboren.
Fällt diese Heirath in eben jene Zeit in der sich S., nach der Ueberlieferung bei Rowe, mit Schulmeisterei beschäftigt haben soll? Gab er vielleicht auch Privatunterricht? Machte er die Bekanntschaft seiner Frau vielleicht als Hauslehrer, in ähnlicher Weise wie sich Lucentio in der Zähmung der Widerspenstigen in das Haus Baptistas einführen läßt und bei der Erklärung virgilischer Verse mit Bianca einig wird? Ich bin geneigt etwas der Art zu vermuthen, indem ich das von keinem der bisherigen Uebersetzer 7) verstandene Gedicht Nr. 13 im "Leidenschaftlichen Pilger" (vergl. die Anm. zu demselben) für die Schilderung eines eignen Erlebnisses halte.
Wahrscheinlich hat Shakespeare selbst oft genug gesagt:
Alas, I could not help it!
Denn diese Ehe, aus welcher ihm 1584 noch ein Zwillingspaar, dann ein Sohn Hamnet oder Hamlet und eine Tochter Judith, später aber keine Kinder mehr geboren wurden, ist offenbar keine glückliche gewesen. Als S. Stratford verließ nahm er seine Familie nicht mit sondern lebte in London stets ohne dieselbe und scheint sie nur einmal jährlich besucht zu haben. In seinem Testament hat er seiner Frau nur sein zweitbestes Bett vermacht und diese Bestimmung, die uns wie eine Satyre verkommt, scheint erst nachträglich in den ersten Entwurf hineincorrigirt zu sein. Schon seine Gedichte verrathen keine besonders hohe Meinung vom weiblichen Geschlecht. Auch ist es schwerlich Zufall daß in seinen früheren Dramen zank- und herrschsüchtige Weiber von böser und verbitterter Gemüthsart eine hervorragende Rolle spielen. Wie er poetische Rache genommen an enem Thomas Lucy indem er sein Characterportrait unsterblichem Gelächter preisgab als Gutsbesitzer und Friedensrichter Schaal, so scheint er in seiner Ehe und in einem andern durchaus nicht idealischen Liebesverhältniß von dem die Sonette Zeugniß geben, die Studien gemacht zu haben zu den Scenen, in welchen er die dämonische Herrschsucht einer Eleonore Gloster, einer Margarethe von Anjou zeichnet; zu jener berüchtigten die weibliche Schwäche und Eitelkeit brandmarkenden Brautwerbung König Richards III., welche die Wittwe Heinrichs VI., Anna (wie auch Shakespeares Frau hieß) erhört an der Bahre des von ihm gemordeten Gatten; zu den kindisch jähen Aufwallungen endlich, welche Petruchio an seiner Widerspenstigen so meisterlich zu zähmen versteht. Wenn er in den beiden Veronesern und im Wintermährchen mit milderen Farben, in Romeo und Julia und Othello mit furchtbarer Gewalt den Fluch übereilter heftiger Leidenschaft und die Heimlichkeit ehelicher Bündnisse als Quelle selbstgeschaffenen Unheils schildert, so hat seine Kunst diese sittliche Lebensweisheit und erschütternde Wahrheit schwerlich wo anders hergenommen als aus der eignen Brust, aus dem mit Schmerzen erkauften Schatz eigner Erfahrungen. Der Dichter selbst ist es der das Wort nimm in jener Scene zwischen dem Herzog Orsino und der als Jüngling verkleideten Viola in "Was ihr wollt", wenn es dort heißt:
Wenn doch das Weib
Stets einen wählte, älter denn sie selbst!
Dann lernt sie schmiegsam ihm sich anzufügen,
Dann bleibt ihr gleich geneigt des Gatten Herz.
Denn, Knabe, wie wir uns auch selber preisen,
Mehr launisch ist und wankend unsre Neigung,
Begehrlich wechselnd, flüchtig, schnell verbraucht,
Als die der Frau'n –
So sei denn jünger deine Lieb' als du,
Denn sonst besteht die Neigung nicht die Probe.
Die Frauen sind wie Rosen, die der Wind
Entblättert wenn sie kaum entfaltet sind.
Ein oder zwei Jahre vor Absendung der Armada Philipps II. gegen England, 1586 oder 87, also 22 – 23 Jahre alt, verließ S. seine Geburtsstadt und begab sich nach London. Sehnte sich sein Talent nach den Anregungen der Hauptstadt? Suchte er bessern Erwerb für seine Familie? War es eine unerquickliche Häuslichkeit was ihn hinaustrieb? Oder ward er zur Flucht genöthigt durch die dauernden Verfolgungen jenes Sir Thomas Lucy? Hierfür spricht wenigstens eine Ueberlieferung.
Schwerlich ohne zwingende Gründe, keinenfalls ohne Kampf hat er den Entschluß gefaßt sich als Schauspieler der Bühne zu widmen. Dieser Stand war verachtet und drückend genug hat S. den Makel empfunden welcher ihm in der öffentlichen Meinung anhaftete.
Der Theaterdichter Robert Greene, der Schauspieler Heminge (welcher später die erste Ausgabe von Shakespeares Stücken besorgt hat), und der berühmte Richard Burbadge (oder Burbidge), damals Director und Haupteigenthümer des Blackfriarstheaters in London, waren alle drei aus Stratford gebürtig. Vom Letzteren vermuthet man sogar, daß er ein Jugendfreund unseres Dichters gewesen sei. Diese Männer mochten sein Talent kennen, ihm die Einträglichkeit ihres Standes gerühmt und ihm zugeredet haben ihrem Beispiel zu folgen.
So kam er in London in eine Gesellschaft, die nicht geeignet war ihn zu bekehren. Der junge Titane trat in einen Kreis von chaotischen Geistern, in deren dunkelm Drange, die bestehende Ordnung zu zertrümmern und sich loszureißen von allen Fesseln der Sitte, ein neues Weltalter seine ersten Geburtswehen fühlbar machte. Er war bestimmt, diesem Chaos zuzurufen "Es werde Licht", aber erst nachdem auch er eine Sturm- und Drangperiode vollständig durchgemacht, wie später unsere großen Dichter mit ihren Zeitgenossen geringeren Ranges, einem Lenz, Wagner und Klinger, denen damals ein Decker, Marlowe und Greene in merkwürdiger Weise bis auf einzelne Züge ihres Lebens und Schaffens entsprachen.
Es ist nicht nöthig die überlieferten und nicht eben unschuldigen Anecdoten anzuführen, nach denen S. in dieser Epoche nichts weniger als ein Heiliger gewesen ist; er selbst gibt uns dafür in seinen Gedichten viel zuverlässigere Zeugnisse.
Tolle Verirrungen waren damals die unzertrennliche Begleitung jedes Talents und muthwillig vergeudete Kräfte, gebrochne Existenzen die Regel im Kreise der Schriftsteller und Künstler. So war Thomas Decker jedenfalls ein Schriftsteller von feiner Beobachtungsgabe und sprudelndem Humor. Die Gegenstände seiner Studien und seine Gesellschaft muß er indeß nicht eben in hohen Regionen gesucht haben. Er verfaßte eine "Schelmenfibel, oder Mittel, allen Arten von Schelmen zu gefallen" und eine "Enthüllung der meist notorischen Schelmstreiche, die jetzt im Königreich im Schwange gehn." Dabei verwechselte er Theorie und Praxis dermaßen, daß er dreijährige Muße erhielt, unter Dieben im Gefängniß über den Unterschied zwischen Poesie und Prosa nachzudenken. Nach den lebenswahren Schilderungen der straßenräuberischen und gaunerischen Gesellschaft Falstaffs in Eastcheap zu schließen ist wahrscheinlich auch Shakespeare mit Leuten dieses Schlages in bedenklich nahe Berührung gekommen. Auch von jenem Kritiker Thomas Nash ist es bekannt, daß er ein wüstes Leben geführt hat. Den Mittelpunkt dieses lüderlich genialen Treibens bildete Shakespeares Vorgänger, der talentvolle Dramatiker Robert Greene. Sein Leben ist ein beständiger Wechsel glänzender Geistesarbeit, leichtsinniger Ausschweifungen und tugendhafter Entschlüsse. Dem Colleg in Cambridge eutlaufen versuchte er sich in Spanien und Italien als abenteuernder Donjuan. Heimgekehrt erlangte er akademische Würden und eine Anstellung als Pfarrvicar. Bald aber wurde dem Weltkinde das geistliche Kleid zu drückend. Er gab die Stelle auf, entführte und heirathete ein achtbares Mädchen, legte eine Schule an und führte während einiger Jahre ein arbeitsames Stillleben. Auf einer Reise nach London erwachten die Gelüste des Wildfangs. Weib und Kind verlassend ward er Theaterdichter und rieb sich auf in Thorheiten und Ausschweifungen aller Art. Unermüdlich in geistvollen, zum Theil genialen Schöpfungen, nach jedem tollen Streich von bitterer Reue ergriffen, bekannte er nicht weniger als sechsmal öffentlich und in schönen Versen seine Sünden, um eben so oft wieder zurückzufallen. Diesem Leben entsprach sein Tod. Er starb im J. 1592 an übermäßigem Genuß von Pickelhäringen und Rheinwein.
Die Gährungsperiode unseres Dichters haben wir uns den Lebensläufen dieser Decker und Greene sehr ähnlich vorzustellen. Ihr Beispiel mochte Shakespeare mit vorschweben als auch er sich bekannte zu jener "Luft in That, die des Geistes Kraft in wüster Schmach verschwendet" (Sonett 129).
Es scheint er hatte von seinem Großvater dem Pächter, von seinem Vater dem Handschuhmacher die derbe Kraft und Sinnlichkeit des englischen Farmers und Handwerkers, von seiner Mutter aber eine feine vornehme Natur voll aristocratischer Neigungen geerbt. So mochte er Vergnügen finden an den Aufregungen und Erfahrungen eines ungebundenen Lebens und sich doch zugleich hinaussehnen aus dieser wilden Gemeinheit.
Wer aber sagt uns, ob nicht auch er in ihr zu Grunde gegangen wäre, wenn ihm nicht eine edle Gestalt aus höheren Regionen der Gesellschaft als Muster vorgeleuchtet und seinen Ehrgeiz gespornt hätte sich aus jener niederen Dunstschicht zu erheben? Wer sagt uns ob er der geworden wäre, den wir bewundern, wenn ihm nicht dieser gute Genius seines Lebens zugleich als Freund die Hand gereicht hätte zu kräftigem Beistande um sich ein würdigeres Dasein zu schaffen?
Der Aberglaube an das Genie ist schell fertig mit seiner Antwort: Ein ächtes Genie kann gar nicht zu Grunde gehn; das eben ist sein artmachendes Merkmal, daß es unfehlbar in sich und in der Welt die Kräfte, Hülfsmittel und Personen findet um aus jeder Gefahr siegreich und gestärkt für seinen Beruf hervorzugehn. Es ist wahr, ‒ nur solchen Siegern ist nachher die Krone des Genius zuerkannt worden. Beweisen läßt es sich nicht daß wohl so Manchem nicht die Anlagen sondern nur die Gunst der Schicksale gefehlt um ein Heros zu werden, beweisen eben so wenig daß eben nur die historisch bekannte glückliche Fügung und nicht auch irgend eine andere dem Genius zum Siege hätte verhelfen können.
In unserm Fall dürfen wir vor Allen wohl dem Dichter selbst Glauben schenken. Und Shakespeare sagt es ausführlich und deutlich genug, wie und von wem er gerettet wurde vor dem Schicksal eines Greene und wessen Hand ihm hinaufgeholfen hat zur Unsterblichkeit.
Auch ohne dies Bekenntniß in den Sonetten würden wir ahnen daß in das Leben des Dichters eine Kraft des Heils plötzlich und entscheidend eingetreten sei. So nur erklärt sich die weite Kluft zwischen seinen ersten Theaterstücken und den Dramen, die er wenige Jahre später zu schaffen vermochte. Von Pericles und Titus Andronikus zu Romeo und Julie und selbst zu seinen früheren Lustspielen und Historien führt kein allmähliger Fortschritt sondern ein Riesensprung. Unsere Bewunderung eines Kunstwerkes beruht wohl selten so sehr auf dem Staunen über die Größe der schöpferischen Kraft der es seine Entstehung verdankt, als bei Shakespeares Meistertragödien. Fast noch mehr aber erstaunen wir darüber, daß derselbe Kopf, dem Othello und Macbeth, Hamlet und König Lear entsprangen, beginnen konnte mit Ausgeburten wie Pericles und Titus Andronicus, welche selbst hinter den besseren Erzeugnissen seiner Vorgänger, eines Greene und Marlowe, zurückbleiben.
Man hat einen ähnlichen Abstand finden wollen zwischen Schillers Erstlingsdramen und den Werken seiner gereiften Manneskraft. Dieser Vergleich ist eine schreiende Ungerechtigkeit gegen unsern deutschen Dichter. Wenn man wohl fragen darf, welche allerhöchste Leistung nicht zu erwarten war vom jugendlichen Verfasser der Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe; wenn man ihm fast weniger Unrecht thut mit der Behauptung, daß er, bald nach Vollendung des Tell und vor Vollendung des Demetrius auf der Höhe seines Schaffens vom Tode ereilt, noch mehr versprochen als gehalten habe: so hat man bei Shakespeare jene Frage umkehren und mühsam forschen müssen nach den Spuren von Familienähnlichkeit zwischen seinen späteren und jenen frühesten Stücken weil ihre Herkunft von Einem Vater unglaublich schien.
Auch hat es nicht gefehlt an Versuchen diese Geschwisterschaft und mit ihr ein Wunder von Entwicklung wegzubeweisen. Allein die Zeugnisse für den shakespearischen Ursprung jener Stücke sind unumstößlich. Wer sich mit Tarquin und Lucretia so eingehend beschäftigt wie es mir die Uebersetzung nothwendig gemacht hat, dem kann auch nicht der allerleiseste Zweifel daran übrig bleiben daß Titus Andronicus aus derselben Feder geflossen sei. Wenn man nun dennoch zugeben muß daß "der ganze Eindruck den man aus dieser blutigen Materie und ihrer Behandlung davonnimmt mit fast überwältigender Ueberzeugung gegen die shakespearische Herkunft spricht", so löst sich dieser Widerspruch eben nur durch die Annahme, daß der Dichter von welchem man den Maßstab des Shakespeareischen ableitet ein völlig anderer Mensch geworden war als der Verfasser jener Erstlingsdramen.
Den gebotenen Schluß hat Gervinus treffend ausgesprochen. "Fiele das Stück (sagt er von Titus Andronicus) in seine Wildlingsperiode und wäre es wie es ist aus seiner jugendlichen Feder geflossen, so ist es wahr, es muß ein gewaltiger, fast gewaltsamer Umschwung in seiner sittlichen und ästhetischen Natur früh und gleichsam mit einem Schlage vorgegangen sein."
Den Beweis aber, der diese Hypothese zur Thatsache erheben konnte, hat auch dieser tiefe Kenner Shakespeares nicht unternommen. Er ist einmal dicht daran, wo er bei Besprechung der Sonette äußert, das Freundschaftsverhältniß auf das sich diese beziehen sei "im ruhigen Gleise seiner Existenz leicht eins der größesten Erlebnisse Shakespeares gewesen." Doch seine deutliche Abneigung gegen die Form und den Styl der Sonette hat ihn wohl verhindert, sie völlig auszuschöpfen. Er würde sonst schwerlich jenes Verhältniß als "in sich nicht von großer Bedeutung" bezeichnet, auch kaum behauptet haben daß wir "in den sämmtlichen Gedichten wenig oder nichts für di genauere Charakteristik des Freundes erfahren", ein Ausspruch, bei dem der verehrte Forscher wohl nicht beharren wird wenn er meine Uebersetzung gelesen.
Ja, ein solcher gewaltiger Umschwung ist mit Shakespeare vorgegangen, ungefähr im vierten Jahr seines Aufenthalts in London. Er verdankt ihn einem Freundschaftsbunde, mindestens eben so wunderbar und erfolgreich als der zwischen Schiller und Göthe, einem Freundschaftsbunde zwischen ihm, dem armen verachteten Schauspieler und einem in Glanz und Reichthum lebenden Mitgliede des hohen englischen Adels.
In keiner Beziehung zu der Freundschaft mit diesem Manne steht von Shakespeares Gedichten nur die kleine Sammlung unter dem Titel "der leidenschaftliche Pilger." Diese wurde im J. 1599 als Shakespeare schon berühmt war von einem speculativen Buchhändler Namens Jaggard ohne Wissen und Wollen des Dichters veröffentlicht. Sie enthielt in ihrer ersten Gestalt zwei der Sonette die jetzt in der authentischen Sammlung stehn, ein Sonett und ein Lied aus Loves labour's lost, noch einige andere wahrscheinlich von Shakespeare herrührende Sonette und Lieder, die damals theils handschriftlich theils in Blättern verbreitet sein mochten, daneben aber auch einige offenbar nicht von ihm und z. Th. erwiesenermaßen von Andern verfaßte Gedichte. Diese sind schon von Malone ausgeschieden worden; aber selbst die hier aufgenommenen sind schwerlich alle aus Sh. Feder geflossen. Vgl. d. Anm.
Alle übrigen Gedichte Shakespeares sind mehr oder weniger ein Denkmal jenes fruchtreichen Seelenbundes und so wird sich, was mir in dieser Einleitung noch zu sagen bleibt um eine richtige Auffassung dieser Dichtungen zu vermitteln, am Zweckmäßigsten einflechten lassen in einen Versuch, den Verlauf dieser Freundschaft zu überblicken.
Heinrich Wriothesley, Graf von Southampton und Baron von Tichfield, war geboren im J. 1573, also neun Jahre jünger als Shakespeare. Er muß ein frühreifer Geist gewesen sein da er schon 1585, also zwölfjährig, die Universität Cambridge bezog. Nach fünfjährigem Aufenthalte daselbst ging er 1590 nach London, um hier in Gray's Inn seine juristischen Studien fortzusetzen.
Wie in allen Ländern war damals auch in England der fehdelustige bewaffnete Adel des Mittelalters hinabgedrückt zu einer zahmeren Rolle zweiten Ranges, ohne den äußeren Glanz einer aristocratischen Lebensweise und das Bewußtsein der Bevorzugung aufzugeben. Aus den eisernen Baronen waren geschmeidige Höflinge geworden die in der Umgebung des Thrones durch die gesteigerte Pracht einer blendenden Außenseite das unbehagliche Gefühl der verlorenen Selbstherrlichkeit zu verdecken suchten. An die Stelle jenes Stolzes auf eine fast unumschränkte fürstliche Macht trat jetzt, wo der Cavalier in demüthiger Unterwürfigkeit auf jeden Wink des Monarchen lauschte, ein lächerlich verschrobener Ehrbegriff, wie ihn Shakespeare im "Probstein" so köstlich persifflirt, und renommistische Duellsucht wurde das Surrogat des eingebüßten Fehderechts.
Frühzeitig und als einer der Ersten scheint Southampton die Leerheit dieses gleißenden Treibens, das Unwürdige dieser Rolle gefühlt und erkannt zu haben, welche neuen Mächte der Adel sich dienstbar machen müsse um sich, wie es ihm nur in England gelungen ist, auch in der verwandelten Welt einen Theil der Herrschaft zurückzugewinnen, die er verloren als die Kanone seine Burgen gebrochen, die Muskete seine Rüstung, die Mannszucht des Soldaten die Tapferkeit des Ritters entwerthet hatte. Es zog ihn zu den Geistern der Zukunft. Reizender als das Gepränge des Hofes war ihm die Schaubühne in ihren damals noch so dürftigen Anfängen.
Seine Mutter war in zweiter Ehe vermählt mit dem Schatzmeister und Vergnügungs-Intendanten des Hofes, Thomas Heneage, den sein Amt mit dem Theater in Verbindung brachte. So mag denn der junge Graf durch seinen Stiefvater Anlaß und Gelegenheit erhalten haben ein Freund der Bühne und Gönner ihrer Mitglieder zu werden, indem Unternehmer, Schauspieler und Dichter bei Anliegen an den Hof und die Behörden die Vermittlung des jungen Kunstfreundes in Anspruch nahmen. Daß er das Theater täglich besuchte und darüber den Hof beinahe gänzlich vernachlässigte bezeugt ein erhaltener Brief eines Rowland White an Robert Sidney. Doch beschränkte sich seine Gönnerschaft nicht auf das Schauspiel. Auch Gelehrte und Dichter die nicht gerade für die Bühne schrieben erfreuten sich derselben. Chapman nennt ihn in einem Dedicationssonett vor seiner Uebersetzung der Ilias den Auserwähltesten unter allen edeln Geistern des Vaterlandes. Thomas Nash sagte, er sei von unbegreiflicher Höhe des Geistes in heldenmüthiger Entschlossenheit und in Sachen des Geschmacks. Beaumont fragt, wer wohl auf Englands Bühne lebe und ihn nicht kenne. Alle Schriftsteller und Dichter wetteiferten, ihm ihre Werke zu widmen.
Die vornehmen Gönner des Theaters hatten ihren Platz vorn auf der Bühne selbst und verkehrten in den Zwischenacten mit den Schauspielern. Hinter dem Vorhange werden sich Shakespeare und Southampton zum ersten Mal begegnet sein. Auf die ehrfurchtsvolle Scheu der ersten Begrüßung aber auch auf die erste huldigende Anrede vor der Öffentlichkeit kann sich Sonett 108,8 beziehn. Sehr demüthig lautet die Zueignung mit welcher S. seine erste Dichtung, Venus und Adonis, die im J. 1593 im Druck erschien, dem Grafen widmet.
Man hat vermuthet, diese Dichtung sei schon in Stratford entstanden. Obschon einige wahrscheinlich frühere Sonette im leidenschaftlichen Pilger beweisen daß derselbe Stoff den Dichter schon vorher beschäftigt hat, ist mir diese Vermuthung doch mehr als zweifelhaft. Die Absicht, in Adonis seinen schönen jungen Freund zu zeichnen, zieht sich so unverkennbar durch die ganze Anlage, daß sie schwerlich erst durch eine nachträgliche Bearbeitung, die man dann mindestens annehmen müßte, hineingeflochten sein kann. Schon hier ist das Thema der ersten Sonettenreihe in aller Schärfe ausgesprochen "beauty within itself should not be wasted" (Ven. u. Ad. Str. 22,4) und wiederholt in Wendungen behandelt, die mit denen der Sonette beinahe wörtlich zusammentreffen. (Str. 28. 29. 126 – 128. 182.) Ueberdies scheint mir Sonett 53,5 und 6
Describe Adonis, and the counterfeit
Is poorly imitated after you;
jeden Zweifel daran zu beseitigen, daß wir in Venus und Adonis die erste noch schüchtern verschleierte Huldigung vor uns haben, mit welcher S. um die Gunst des jungen Grafen geworben hat.
Ein Jahr später erschien Tarquin und Lucretia (The Rape of Lucrece). Shakespeare und Southampton sind einander um Vieles Näher gerückt; weit zuversichtlicher lautet die Widmung. Schon blickt der Dichter zurück auf eine Reihe von Leistungen zu denen ihn der Einfluß des Freundes gekräftigt, bei denen ihm der Freund mit seiner gründlicheren Bildung mit seinem feineren Geschmack anregend rathend ja geradezu feilend zur Seite gestanden hat. Zugleich nimmt er künftige Schöpfungen in Aussicht, welche ihm kraft dieses Bündnisses gelingen sollen. Das, und nicht blos eine höfliche Redensart lese ich in Shakespeares Versicherung, dem Freunde gehöre was er geleistet und was er in Zukunft zu leisten habe, wenn ich diese Widmung zusammenhalte mit den bestimmteren Andeutungen der Sonette.
Dem Inhalt nach steht Tarquin und Lucretia in keiner solchen Beziehung zu dem Freundschaftsverhältniß wie Venus und Adonis. Doch sind beide Gedichte von gleicher Bedeutung als biographische Denkmale. In beiden hat sich Shakespeare, wie Göthe im Werther, eine unbändige Leidenschaft vom Herzen wegzudichten versucht. In beiden legt er ein Bekenntniß ab von der sinnlichen Gluth seiner Jugend die keine Schranke gescheut um ihr Verlangen zu stillen. Eine solche Leidenschaft erstrebt und erreicht ihr Ziel in Venus und Adonis. Sie ist hier der Göttin beigelegt, erscheint aber wenig weiblich; man spürt die Herkunft des poetischen Bildes aus männlicher Erfahrung. Voll weiblichen Reizes feiert die Poesie die Alleinherrschaft der Sinne; der Schluß aber ist ein Fluch auf die Liebe und in die Srophen 192 – 196, in denen die Göttin der Liebe selbst, an der Leiche ihres Lieblings diesen Fluch ausspricht, scheint der Dichter das traurige Ergebniß der Betrachtung seiner Jugendjahre zusammenzudrängen. In der Lucretia ist eine gleiche Leidenschaft siegreich und führt zu Vernichtung ihres Gegenstandes. Hier aber ist sie als verbrecherisch gezeichnet; der Geist triumphirt und im Hintergrunde steht die Sitte wie sie Rache nimmt durch den Sturz des römischen Königthums. So bezeichnen beide Gedichte zusammen den bewußten Abschied des Dichters von der chaotischen Periode seines Werdens. Er ist schon ein anderer indem er sich zeichnen kann wie er gewesen, indem er uns ahnen läßt, wie sein Geist im Taumel der Lust und durch häufiges Unterliegen die ganze Stärke der niederen Gewalten kennen gelernt und jene Weisheit erkämpft hat, die neben ein treues Bild des Lebens mit allen seinen lichten Höhen und finstern Abgründen die deutlichsten Offenbarungen des Sittengesetzes zu schreiben vermochte.
Dem Styl nach sehn wir in diesen beiden Dichtungen das Opfer, das auch Shakespeare niederlegen mußte auf dem Altar des damals herrschenden Ungeschmacks um die Kraft seiner angelsächsischen Kernnatur von ihm loszukaufen. Bis zur ärgsten Abgeschmacktheit erscheint er hier überladen mit dem Flitterputz der herrschenden Mode und zuweilen fühlt man sich versucht zu der Frage ob er sich nicht selbst hat lächerlich vorkommen müssen in dieser Vermummung. Es ist als ränge er wirklich mit aller Anstrengung nach dem Beifall eines Nash, als gebe er sich die größeste Mühe nicht sowohl jenen gewöhnlichen, als jeden natürlichen Ausdruck zu vermeiden. Die Bilder häufen sich bis zur Widerlichkeit, zuweilen bis zum Unsinn (z. B. Ven. u. Ad. 61. 75. 76. 85. 164). Das Gesicht heißt ein Destillatorium liebesathmender Wohlgerüche, der Geliebte ein Banquet nicht nur für die anderen Sinne sondern auch für den des Geschmackes, als solle er verspeist werden. Die Phrase "da regten sich wieder ihre Gedanken und sie sprach", würde so viel zu schlicht und natürlich lauten, und muß dahin verschroben werden
"Once more the engine of her thoughts began"
(Da fing ihre Denkmaschine wieder an);
Stellen, an denen es natürlich nicht die Aufgabe des Uebersetzers war, den Ungeschmack zu mildern und beschönigen.
Aber selbst in diesem Bombast à la Lohenstein und Hoffmanswaldau bleibt der Genius unverkennbar, der auch die rhetorischen Phrase mit Kraft und Kühnheit zu erfüllen weiß. Zwischen der Menge übertriebener Bilder erfreut uns auch manches überraschend sinnige und reizende das uns den feinen Beobachter der Natur in allen ihren Reichen erkennen läßt. Diese Schönheiten sind nicht so zahlreich daß man den Eigenwerth dieser Dichtungen sehr hoch anschlagen dürfte. Nein, wer ehrlich sein will muß zugeben daß sie mit Recht der Vergessenheit anheimgefallen wären wenn sie nicht von Shakespeare herrührten. So jedoch geben sie dem Bewunderer des Meisters eine erwünschte Gelegenheit ihn als Lehrling zu belauschen in seinem Ringen nach der Technik der Sprache. Es macht uns ungeduldig, ihn so sklavisch gebannt zu sehn in den hergebrachten Bilder- und Conceptenstyl; aber wir ahnen bereits, welche Kraft er schöpfen wird aus dieser Anstrengung, dem Herkommen zu genügen und jeden Gegenstand den seine Phantasie am Wege liegen sieht, wie unbedeutend oder unpassend, wie fremdartig und hartwiderstrebend er auch sei, zu schmelzen bis er ein seelisches Gleichniß hergibt. Der junge Zauberer ist wie berauscht von der eben erst entdeckten unwiderstehlichen Macht seiner Wünschelruthe. Mit rücksichtslosem Uebermuth versucht er sie an jedem Stein auf seinem Pfade, an jeder Erscheinung der todten und lebendigen Welt, bis ein Funke des Geistes herausspringt, bis auch das Seelenlose redet als ein menschliches Wesen. Es sind die Vorübungen deren er bedurfte, um sich dieselbe handgerecht zu machen zu maßvollem Gebrauch für die höchsten Zwecke; denn eben diese Wünschelruthe, die Metapher, ist es, deren sich auch der vollendete Meister bedient, wenn es gilt, die verborgensten Tiefen der Natur und des Menschenherzens aufzuschließen.
Ein Portrait seines Freundes hat uns Shakespeare, meiner Vermuthung nach, hinterlassen in dem fragmentarischen Gedicht "Der Liebenden Klage". Die Verlassene zeichnet den treulosen Geliebten als einen Donjuan. Daß auch der Dichter selbst solche Züge an Graf Southampton wahrgenommen hat beweisen mehrere der Sonette. Die Stimmung zu diesen Strophen hat er wohl gefunden in jener Zeit der Entfremdung und Trennung von seinem Freunde auf welche Sonett 97 und einige der folgenden anspielen. Auch ein äußerer Anlaß ist nachweisbar. Nathan Drake erwähnt, indem er sich auf die Sidney papers beruft, daß Graf Southampton, als er im Februar 1598 den englischen Gesandten Cecil nach Paris begleitete, "in London ein trostloses Fräulein zurückließ welches sich um ihn ihre schönen Augen fast ausweinte." Zum ersten Mal im Druck erschienen ist "der Liebenden Klage" zusammen mit den Sonetten im J. 1609.
Eine solche körperlich und geistig auf das Glänzendste ausgestattete Natur von hinreißender Liebenswürdigkeit, wie sie das eben genannte Fragment schildert, muß der junge Graf gewesen sein. Was wir von seinem Leben und seinen Thaten wissen stimmt damit wohl überein. Der beste Beweis aber von seinen hohen Geisteseigenschaften und der Großthat seines Lebens, die rühmenswerther ist als die tollkühne Eroberung einer spanischen Fregatte die ihm bei der Expedition des Grafen Essex gegen die Azoren gelang, besteht darin, daß Er zuerst in einem armen mißachteten Schauspieler den Genius erkannte, dem er als einem Ebenbürtigen über die trennende Standeskluft die Freundeshand reichen dürfe um ihn emporzuheben auf die Bahn der Unsterblichkeit.
Wie der Dichter in ihm die rettende Gottheit seines Lebens erblickte; wie er diesen Freund umklammerte mit inbrünstiger Zärtlichkeit, ja mit eifersüchtiger Angst dies Muster eines schönen harmonischen Daseins wieder zu verlieren in dessen Nacheiferung und mit dessen Hülfe auch er sich emporarbeiten könne aus dem trüben Strudel der Leidenschaften, aus der Erniedrigung seines Berufes: davon geben uns Shakespeares Sonette ein eben so merkwürdiges als poetisch ergreifendes Zeugniß, und diese ihre Bedeutung ist es, die bisher noch nirgend die gebührende Würdigung gefunden hat.
Sie Sonette erschienen zuerst im J. 1609. Ihre Entstehung umfaßt nach meiner Ueberzeugung nahezu ein Jahrzehend. Die ersten scheinen gleichzeitig mit Venus und Adonis gedichtet; die spätesten, für die man jedoch nicht die in der Sammlung zuletzt stehenden zu halten hat, schrieb S. schwerlich früher als nach 1601 und selbst nach 1603, dem Todesjahr der Königin Elisabeth. Zu diesen rechne ich S. 116. 123. 124. 125 und namentlich 107, das vielleicht eine Anspielung enthält auf die hoffnungsvoll versöhnliche Stimmung des Landes bei der Thronbesteigung Jacobs I. dessen Amnestie auch dem Grafen Southampton zu gute kam. Die Reihenfolge der Sonette ist offenbar keine streng chronologische. Sie verräth eine wohl überlegte kunstvolle Redaction und Ueberarbeitung. Man erkennt deutlich fünf Hauptgruppen, welche ich als eben so viel Bücher bezeichnet hab obgleich sie im Original nicht von einander abgegrenzt sind. Das Zeichen *** statt des Schlußstriches bedeutet, daß das folgende Sonett wie eine fernere Strophe desselben Gedichts zu betrachten ist.
Als Schauspieler war Shakespeare keinesfalls hervorragend. Gespräche über seine Stücke werden den ersten Verkehr hinter dem Vorhange zwischen ihm und Southampton begonnen haben. Vom Talent des Dichters fühlte sich der junge Edelmann angezogen; den Dichter wird er durch kritische Bemerkungen, durch Vorschläge von Stoffen, durch Bezeichnung und Erleichterung der nothwendigen Studien angeregt und mit Ehrgeiz erfüllt haben. Nur fördern konnte das Shakespeares Entzweiung mit seinem Beruf, Rollen zweiten und dritten Ranges zu spielen. Dem Verfasser des Perikles und Titus gelangen jetzt seine ersten Historien, sein Kaufmann von Venedig, sein Sommernachtstraum, sein Romeo und Julie. Er entdeckte in sich eine ungeahnte Stärke und verkannte nicht wer sie wach gerufen. Die Gönnerschaft des begüterten und einflußreichen Lords eröffnete ihm bessere Aussichten auf Erwerb und Stellung; die Freundschaft eines hoch über ihm stehenden allbewunderten jungen Mannes von den glänzendsten Eigenschaften durfte ihm wohl erscheinen als ein berauschendes Glück; vor Allem aber sah er in ihm schon damals den Sporner seines Ehrgeizes, den Tadler seines Müßigganges, die ergänzende Kraft, die höhere Bildung und Gelehrsamkeit, durch welche seine Dichtung allein eine höhere Vollendung erreichen könne wenn sie durch Freundschaft sein Miteigenthum würden. (Vergl. S: 38. 61. 78. 79. 86. 88. 100. 112.) So erwachte seine Hoffnung, so reifte sein Entschluß der "scheckigen Narrenjacke" des Schauspielers zu entwachsen durch Dichtergröße.
War es ein Wunder daß er in der Zuneigung des jungen Grafen sein ganzes Heil erblickte und sie zur Religion seines Herzens erhob bis seine Verehrung an überschwängliche Schwärmerei und Götzendienst streifte, was ihm selbst nicht entgangen ist? (Vergl. S. 17. 105.)
Eine nicht unter glücklichen Umständen geschlossene Ehe, ein wilder Lebenswandel der ihn in Zerwürfnisse gebracht mit der Gesellschaft, ja mit der Gerechtigkeit, eine nicht näher bekannte jedoch keinesfalls leichte Katastrophe die mit dem verzweifelten Entschluß geendigt das verachtete Schauspielergewerbe zu ergreifen: alle diese Erfahrungen mußten einen tiefen Mißmuth in seiner Seele erzeugt, eine öde Leere in seinem Herzen gehöhlt haben. Nicht ausfüllen, nur erweitern konnte diese Leere eine zweite Liebesleidenschaft; denn ihr Gegenstand (vergl. S. 127 u. f.) war weder durch äußere Reize noch durch Vorzüge des Herzens oder Geistes geeignet seiner hungernden Seele zu bieten wessen sie bedurfte: ein verehrenswerthes Ideal. Sein Gewerbe schloß ihn aus von der besseren Gesellschaft; dagegen zog es ihn nach überlieferten Andecdoten hinein in zweifelhafte Kreise und Verhältnisse. Auch wenn er nicht schon verheirathet gewesen wäre hätte Shakespeare nicht leicht einem weiblichen Wesen begegnen können das die Eigenschaften besaß, jene Leere zu füllen, seinem Liebesbedürfniß den würdigen Gegenstand, seiner Poesie das Musterbild zu liefern das er in weiblicher Gestalt erst in reiferen Jahren und in glücklicher Lage in seinen Dramen zu zeichnen vermochte. So erklärt es sich warum in allen seinen Werken das Ideal der Männlichkeit so entschieden vorherrscht, daß man ihn, in leicht verständlichem Gegensatz, wohl bezeichnen dürfte als den Dichter des "Ewig Männlichen". So wird uns auch diejenige Eigenthümlichkeit der Sonette begreiflich, die dem unvorbereiteten Leser befremdend ja verschroben erscheinen muß, die nicht nur im pruden England bedenkliches Kopfschütteln veranlaßt und geraume Zeit den Irrthum genährt hat, die Mehrzahl dieser Sonette seien nicht an einen Freund sondern an eine Geliebte gerichtet.
An dem schönen jungen Grafen ließ Shakespeares liebesbedürftiges Herz auch die Gefühle aus welche sich für eine edle Geliebte in ihm geregt haben würden, wenn er eine solche gefunden hätte.
Einen berühmten Professor, dessen Aeußeres allerdings zurückblieb hinter seinem Geist und seiner Gelehrsamkeit, habe ich einst sagen hören, eine der widerwärtigsten Erscheinungen sei für ihn ein sogenannter schöner Mann. Seinem Ausspruch wird Jeder bereitwillig zustimmen wenn mit den "Sogenannten" nur diejenigen gemeint sind, die eigentlich nicht schön sind weil sei weiter nichts sind als wohlaussehend und weiter nichts in der Welt zu thun zu haben glauben als wohl auszusehen. Soll aber damit der Werth der ächten männlichen Schönheit herabgesetzt, soll damit angedeutet werden daß es für das Männerauge eine Art von Entweihung sei, derselben einen Blick der Bewunderung und des beifälligen Genusses zu widmen, so darf man einen solchen Rest ascetischer Finsterniß wohl entschieden zurückweisen. Man darf sich dagegen wohl berufen auf das Urtheil des Volkes das sich auf Kunst und Schönheit bisher am besten verstanden hat, auf das Urtheil der Hellenen, ohne deshalb in den Verdacht zu gerathen als ob man damit auch die griechischen Verirrungen in eben dieser Richtung beschönigen wolle. Wer fände nicht den belvederischen Apoll schöner als die reizende Aphrodite, den Kopf Göthes auf Tischbeins berühmtem Bilde schöner als irgend ein gemaltes oder lebendiges Weibergesicht? Wer kann im Ernst behaupten daß die Natur beim Menschen abgewichen sei von der Regel die sie bei allen höheren Geschöpfen befolgt hat: das männliche Geschlecht stärker und schöner zu bilden? Wer kann wenn er helle Augen hat verkennen daß unsere Bezeichnung der Frauen als "schönes Geschlecht" theils eine höfliche Redensart ist, theils beruht auf der Verwechslung des geschlechtlich Reizenden mit dem Schönen?
Shakespeare wenigstens hat mit hellenischen Augen geschaut und in bewußtem Trotz gegen das Urtheil der Welt das er vorhersah nicht nur den hohen Geisteseigenschaften sondern auch der körperlichen Schönheit seines Freundes gehuldigt. In diese Huldigung aber flochten sich tiefe und ganz moderne Gedanken der Zucht und Unsterblichkeit, die es uns verwehren auch nur den leisesten Schatten eines unwürdigen Verdachts daraus abzuleiten. Allerdings aber hat es schon zu Lebzeiten des Dichters böse Zungen gegeben welche das thaten. (Vergl. S. 121. u. d. zugehörige Anm.)
Uebrigens darf man nicht vergessen daß damals der überschwängliche Styl der romanischen Schäfer- und Ritterpoesie an der Tagesordnung war. Die Complimentirsucht stand in ihrer Blüthe; die Schützlinge vornehmer Kunstgönner sprachen damals im ganzen gebildeten Europa mit ihren Mäcenen nicht anders als in Ausdrücken ungemessener Schmeichelei und übertriebener Zärtlichkeit. Selbst zwischen gleichgestellten Männern war es gewöhnlich im brieflichen Verkehr zu unterzeichnen als "treuer Liebhaber". An die strenge Wortbedeutung dachte man eben so wenig als wir wenn wir schließen als "ergebenster Diener" ohne daß es uns einfällt uns herzugeben zum Lakaien des Angeredeten.
So haben diese Freundschaftslieder den Ton und die Stimmung von Liebesgedichten angenommen. Das Verhältniß des Dichters zu seinem schönen jungen Freunde hat ganz den Verlauf einer mächtigen den Geist beherrschenden Leidenschaft wie sie der Mann sonst nur für Frauen zu empfinden pflegt. Er selber weiß das und mit einer Ehrlichkeit die nur allzudeutlich ist, gesteht er einmal sogar eine Regung des Bedauerns daß der Freund nicht als Weib geboren sei und er ihn den Weibern überlassen müsse (S. 20). Doch nur auf den Geist seines Freundes ist er, andern Dichtern gegenüber, in Wahrheit eifersüchtig. Verliebte Abenteuer gönnt er ihm mit mehr als billiger Nachsicht, sogar wenn er ihm selbst ins Gehege kommt.
Für die Lauterkeit des wundersamen Verhältnisses spricht schon das Thema der ersten Sonettenreihe (1 – 17): die Ermahnung an den Freund sich zu vermählen um sich zu verewigen in einem Sohn. Nach Drake faßte Southampton im J. 1595 eine heftige Leidenschaft für Elisabeth Vernon, eine Base des berühmten Grafen Essex. Die Königin Elisabeth war aber gegen diese Verbindung und scheint sie damals hintertrieben zu haben. Vermuthlich hatte ihr Argwohn gegen Essex schon begonnen und sie mochte seinen Einfluß nicht verstärken wollen durch eine Verschwägerung mit Southampton. Als sich später, im November 1598 die Liebenden dennoch heimlich vermählten, schickte sie das junge Paar ins Gefängniß. Aber schon im März 1599 ist Southampton in Irland, wo ihn Essex gegen den Befehl der Königin zum Reitergeneral ernennt. Elisabeth hatte Recht gehabt mit ihrem Argwohn; denn 1601 nahm Southampton thätigen Antheil an der Verschwörung, für welche Graf Essex das Blutgerüst besteigen mußte. Auch er wurde zum Tode verurtheilt und dann begnadigt zu lebenslänglichem Gefängniß, aus dem ihn erst der Tod der Königin erlöste. Gervinus meint, bei jenem Verhältniß zu Elisabeth Vernon sei denkbarer Weise eine so dringliche Mahnung zur Verheiratung, wie sie Shakespeare in den ersten 17 Sonetten wiederhole, ganz am Orte gewesen. Dem kann ich nicht zustimmen. Vielmehr finde ich in den angeführten Thatsachen nur einen Beweis, daß jene ersten 17 Sonette vor Beginn der Verliebniß des Grafen in Elisabeth Vernon, also vor 1595 entstanden sein müssen, wie es ihr Zusammentreffen mit Venus und Adonis ohnehin wahrscheinlich macht; denn in diesen Sonetten bekämpft der Dichter offenbar eine Abneigung seines Freundes gegen die Ehe und dieser muß ihm einigen Grund gegeben haben zu der Befürchtung, daß er sein Leben als einsamer Hagestolz verschwenden wolle.
Das zweite Thema ist die Standesverschiedenheit der Freunde. Das Vorurtheil des Edelmanns wich nur allmälig der Anerkennung des Talentes. Der strengen Zurückhaltung welche sich der Dichter vor der Welt auferlegt, hört man es an daß sie zum Theil ein Echo ist von Andeutungen des vornehmen Gönners über die Rücksichten die er öffentlich zu nehmen habe. In der Weise hochgestellter Herrn bestimmte dieser Ort und Stunde zu vertraulichen Besuchen und ein Wink von ihm bedeutete das Ende der Audienz, die Entlassung des Schützlings (Vergl. S. 57.) Southampton war zunächst eitel, aber seine Eitelkeit schlug eine edle Richtung ein. Er strebte nach dem Ruhm eines Mäcen, er wünschte sich von Dichtern verherrlicht, seinen Namen der Nachwelt erhalten zu sehn. Offen zu diesem Zweck warb er sich einen Hofstaat an von Gelehrten und Dichtern, auch hat sich Shakespeare nicht gescheut ihm eben so offen vorzuwerfen, daß er etwas zu sehr darauf erpicht sei, sich loben zu hören. (S. 84.) Aber man fühlt es heraus, nicht nur die sinnigen und begeisterten Huldigungen sind es was ihn mehr und mehr diesem Seelenbunde gewinnt und an den Freund fesselt, sondern auch das Bewußtsein, seine geistigen Gaben, seine Bildung auf eine bleibende Weise verwerthen zu können als kritischer Rathgeber eines so mächtigen aber noch etwas rohen und maßlosen Talentes. Auch er ist sich seiner Unentbehrlichkeit für dessen volle Entfaltung bewußt gewesen. Er hat Shakespeares künftige Unsterblichkeit vorgenossen als einen Erwerb, an dem seine Kraft großen Anteil haben werde. Mit schwärmerischer Hingebung erwidert der Dichter diese das Vorurtheil besiegende Freundschaft. Er hält die Mitte zwischen Bescheidenheit und Selbstvertrauen; er schwankt zwischen ängstlicher Zurückhaltung angesichts der Welt und inniger Vertraulichkeit unter vier Augen. Er erklärt, sich gern begnügen zu wollen mit dem erhebenden Bewußtsein solcher Freundschaft und verzichtet bereitwillig auf Rang und Würden. Dennoch tritt an andern Stellen auch die Sehnsucht hervor nach einer ehrenvolleren äußeren Stellung welche ihn der Nothwendigkeit überheben würde das innige Verhältniß zum Freunde vor den Leuten zu verleugnen. Bald erklärt er, am Herzen des Freundes, wo Niemand ihn und er Niemanden verdränge, keiner Ehren und Titel zu bedürfen; bald verlangt er nach dem Aufgange eines günstigen Sternes, der seiner zerlumpten Liebe Schmuck anlege damit er sich ihrer auch öffentlich rühmen dürfe. Auch ist es fast als erwiesen zu betrachten daß er sich Mühe gegeben hat für seine zur Hälfte adlige Herkunft eine öffentliche Anerkennung zu erlangen. Den schönsten Ausdruck finden diese widerstreitenden Empfindungen im 29. Sonett.
Auch diese Freundschaft hatte ihre zeitweisen Störungen. Auf eine solche werden wir vorbereitet in den Sonetten 33 – 35. Der Freund ist ihm (nach S. 40 – 42) ins Gehege gekommen bei einer Geliebten, an der aber dem Dichter selbst nicht allzuviel gelegen scheint. Ihr mißgönnt er den Freund, weniger die Geliebte dem Freunde, und wir sehen an diesem eben nicht erbaulichen Beispiel, wie nahe sich die beiden gerückt sein mußten.
In diesem neben seiner Freundschaft bestehenden Liebesverhältniß zeigt sich der Dichter mit vollem Bewußtsein noch gefangen in dem Chaos wilder und aller Vernunft hohnsprechender Leidenschaft. Es ist das letzte aber auch ärgste Opfer durch das er sich loskaufen muß von der Macht der niederen Gewalten. Nicht einmal durch äußere Reize vermag er diese magnetisch unwillkührliche Passion verständig zu erklären. Dafür gewinnt er in ihr die volle Einsicht in die Verwerflichkeit seines wüsten Treibens, wie in seiner Freundschaft die Stärke, demselben für immer zu entsagen. In satyrischem Gegensatz zu den zeitgenössischen Dichtern, welche die ganze Natur ausbeuten um die Schönheit der Geliebten herauszustreichen, schildert er seine Leidenschaft lediglich als ein Factum: er müsse ihren Gegenstand gern haben und lieben, obwohl ihn das keineswegs verführe, ihr überschwängliche Reize anzudichten, die sie nicht besitze (S. 130). Eine Vermuthung über die Persönlichkeit derselben habe ich in den Anmerkungen ausgesprochen. Es ist ein unwiderstehlicher Naturzug, eine dunkle Wahlverwandtschaft, es ist der dämonische Reiz eines Wesens ohne Schönheit was ihn an dieses Weib fesselt und gegen alle Verstandesgründe seinen Geist mit umstrickt (S. 147. 149. 152).
Als der Graf die Laune hat ihm sein garstiges aber pikantes Liebchen abspenstig zu machen ergreift ihn die Furcht, der durch die Liebe des Freundes begonnenen Wiedergeburt und Verklärung seines Wesens wieder verlustig zu gehn. (S. 144.) In dieser verzagten Stimmung wirft er einen Rückblick auf sein Jugendleben von den ersten Irrungen bis zu dieser wenig würdigen Liebschaft und drängt im Moment der Entscheidung das Gemälde des durchgemachten Kampfes zwischen Vernunft und Lust, Geist und Sinnlichkeit wie auf einen Punkt zusammen in einem inhaltreichen Sonett, in dem sich schon die volle Kraft seines Dramenstyls entfaltet (S. 129). Dann aber rafft er sich auf zum Siege und hält seiner Seele den Gedanken vor, durch den sie wieder die gebührende Macht über ihre rebellischen Diener, die Sinne, erobern, der den Triumph des unsterblichen Geistes über die finstern Mächte seiner sterblichen Behausung entscheiden werde (S. 146).
Zu jener Kühle im Verhältniß der Freunde während ihrer kurzen Nebenbuhlerschaft scheint auch eine äußere Trennung hinzugekommen zu sein (S. 43 – 61). Vielleicht fallen diese Sonette in die Zeit jener Expedition gegen die azorischen Inseln im J. 1597. Der Dichter zweifelt ob der Mann hohen Standes ihm das beglückende Gleichheitsgefühl bewahren werde. Traurige Erfahrungen scheinen den Ernst seiner Stimmung zu vermehren. Vielleicht, meint Gervinus, fällt in diese Zeit der frühe Tod seines Sohnes Hamnet. Gedanken des Alters und der Hinfälligkeit beherrschen den Dichter.
Eine politische Spannung und gährende Unzufriedenheit regte sich in England gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Sie war es, die bald nachher der Verschwörung des Grafen Essex einen Boden bereitete und einige Aussicht auf Erfolg gab. Das Treiben der Günstlinge und ihrer Kreaturen machte sich auch außerhalb der Hofkreise fühlbar durch drückende Monopole. Es waren die Jahre von denen Macaulay sagt, daß es einen Augenblick geschienen als würde auch Elisabeth glorreiche Regierung ein trauriges und schmähliches Ende nehmen. Die hochtönende Sprache von der Göttlichkeit ihrer Würde und Unumschränktheit ihrer Macht, welche die Königin vor dem Parlament von 1601 führte, hatte schon zuvor mehrere Jahre hindurch ihren Ausdruck gefunden in einer Reihe gewaltthätiger Regierungsacte, in Verfolgungen von Sectirern und Schriftstellern, im Uebermuth und der Willkühr der königlichen Beamten. Auch die Bühne hatte zu leiden durch eine neu eingeführte Censur und allerlei Plackereien, namentlich von seiten der Stadtbehörden der City. Wie die greise Königin noch immer nicht auf einen gewissen Jugendschein verzichten mochte, so beherrschte eine gefälschte Prunk- und Schminksucht die ganze Gesellschaft. In ihr Gesicht trat zum erstenmal der hippocratische Zug, ähnlich wie sich in Frankreich in den letzten Jahren Ludwig XIV. die ersten Ahnungen der noch zwei Menschenalter entfernten Revolution regten, und diese Empfindungen beginnender Alterschwäche suchte sich die vornehme Welt durch maßlose Pracht wegzulügen. Die Zeit war vorüber, wo die Schönheit lebte und starb wie die Blume, wo noch nicht der Bastardschein falschen Reizes die Stirn schmückte, wo noch nicht das Grab seines Eigenthums beraubt und den Todten die blonden Haarflechten abgeschoren wurden um auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben durchzumachen (S. 78). Von seiner Stimmung im Anblick dieser verlebten vornehmen Gesellschaft und der Mißstände ihres Treibens legt der Dichter ein Zeugniß ab (S. 66), auf Grund dessen wir unsere glänzende Vorstellung von dem goldenen Zeitalter unter der jungfräulichen Königin jedenfalls etwas ermäßigen müssen.
Inzwischen hatte sich der Umgang des Grafen Southampton erweitert. Als die Freunde sich wieder näher kamen, konnte Shakespeare auch als Dichter nicht mehr den Alleinbesitz des Gönners für seine Muse in Anspruch nehmen. Mit der Eifersucht auf andere Dichter, die sich einer ähnlichen Begünstigung erfreuten, regt sich bald ein Kleinmuth der uns jetzt wunderlich genug vorkommt wenn wir hören wie er sich einem neuen Günstling (wahrscheinlich dem längst vergessenen Drayton) gegenüber ein kleines Boot nennt das sich nicht vergleichen dürfe mit dem stolz gebauten Schiffe (S. 80), bald aber auch ein hohes Selbstgefühl, ein Bewußtsein daß sein einfachschlichtes treues Gedicht mehr dauernden Werth besitze als die prunkenden Poesieen der Nebenbuhler (S. 81). Dennoch steigert sich sein Verzagen bis zu einem förmlichen Lebewohl (S. 87), ja ihn scheint die Furcht zu beschleichen als habe er sein Herz voll reicher Schätze vergeudet an eine oberflächliche, kalte Eitelkeit (S. 94).
Doch diese bittere Erfahrung sollte er nicht machen. Nach kurzer Lockerung schließt sich der Seelenbund fester denn jemals. Der Dichter sieht ein daß auch er einen Theil der Schuld getragen und feiert triumphirend die nun erprobte Beständigkeit ihrer beiderseitigen Liebe (S. 110).
Tief rührend ist es, auch während dieser siegenden Befreiung von den Schlacken der wilden Jugend einen Dichtergeist, der so erhaben dasteht über den Vorurtheilen aller Zeiten, schmerzlich stöhnen zu hören und fast erliegen zu sehn unter der Meinung seines Zeitalters, die den Schauspielerstand zu einem der verachtetsten machte. Freilich regte sich dabei auch sein eignes wohl berechtigtes Gefühl vor den sittlichen Gefahren dieses Standes.
Elisabeth, obwohl eine Gönnerin des Theaters, hatte doch ihrem Ceremonienmeister die ausdrückliche Befugniß ertheilt, Schauspieler und Schauspieldichter aus jeder Gesellschaft nach Gutdünken auch zwangsweise in ihren Dienst zu holen oder sie ins Gefängniß zu werfen. Können wir es Shakespeare verargen, daß er die möglichen und gewiß nicht seltenen Demüthigungen einer solchen Existenz, daß er die Schmach eines solchen Standes besonders lebhaft empfand, nachdem er, vom Grafen Southampton herausgehoben aus dem Verkehr mit Seinesgleichen, Hand in Hand gegangen war mit der in den Augen der Welt fleckenlosen Ehre? Können wir es ihm noch auslegen als kleinliche Schwäche, daß er, wie es die neuere Forschung sehr wahrscheinlich gemacht hat, Schritte that um den Adel oder wenigstens das Wappenrecht, zunächst für seinen Vater zu erlangen, ja, daß er dabei wie es scheint selbst den Kunstgriff nicht verschmähte, das Wappenrecht seiner mütterlichen Vorfahren so darstellen zu lassen, als ob es von seinem väterlichen Urgroßvater ausgeübt worden sei? Eine Anspielung auf seinen Wunsch, reich und vielleicht auch adlig zu werden, läßt sich im 26. Sonett erkennen.
Nicht erfolglos blieb des Dichters Ringen nach einer würdigeren Stellung. Er brachte es zum Wohlstande, ja zum Reichthum, und höchst wahrscheinlich durch die rechtzeitige Hülfe des Freundes. Es ist kaum noch zweifelhaft daß Shakespeare vom Grafen Southampton die Summe von 1000 Pfund empfangen hat, vermuthlich um sich als Miteigenthümer beim Neubau des Globetheaters betheiligen zu können. Er machte gute Geschäfte. Schon im J. 1604 hatte er es nicht mehr nöthig als Schauspieler aufzutreten. Er konnte sich ausschließlich der Dichtung für die Bühne widmen und erwarb genug um auch seinem Vater wieder aufzuhelfen. Später kaufte er in London und Stratford mehrere Grundstücke und verfügte in seinen letzten Lebensjahren über ein jährliches Einkommen welches reichlich 20000 Gulden heutigen Geldes vorstellte.
Die Kunde dieser äußeren Umstände ist von seinen Landsleuten mit bewundernswerthem Ameisenfleiß zusammengelesen worden aus dem Moder alter Actenschränke. Die Herzensgeschichte welche sich entziffern läßt aus seinen eignen Bekenntnissen, hat die englische Forschung weit weniger angezogen.
Wie die Namen von langen Reihen von Monarchen verblaßt und erloschen sind in der Ferne welche der Name Homer mit ungeschwächtem Glanze durchleuchtet, so wird eine Zeit kommen, wo man sagt: Philipp II. hieß ein König, Elisabeth eine Königin im Zeitalter Shakespeares. Uns, die wir dies wissen, muthet es wundersam an, daß wir uns den weltbewegenden Dichter vorstellen sollen als schmerzlich zerfallen mit seinem Loose, als versöhnt und beglückt nur durch die Zuneigung eines jungen Edelmannes, nach dem wir die Chroniken schwerlich durchforschen würden ohne diese Freundschaft. Nur zu leicht vergessen wir daß auch dieser Genius ein qualvoll ringender bedürftiger Mensch war dem erst der Cultus der Jahrhunderte den Purpur solcher Herrlichkeit umgethan hat.
Seine eigne Beichte belehrt uns, daß er zwar eine Ahnung hatte von seiner möglichen Zukunft, aber deutlich erkannte wie er das hohe Ziel nur erreichen könne wenn ihm die liebende Hand des Freundes aus dem Schlamm des Bodens hinaufhelfe auf die erste Sprosse der Leiter über deren oberster Staffel der Stern der Unsterblichkeit leuchtete. Die Nachwelt ist verpflichtet dieser Beichte endlich zu glauben und eine Schuld an ihn selbst und seinen Freund abzutragen indem sie anerkennt, daß für das geistige Heldenthum mit dem dieser Freund sein Standesvorurtheil überwand um den armen Schauspieler an sein Herz zu ziehn und den Genius zu retten aus unwürdigen Verhältnissen dem Grafen Southampton sein Antheil gebührt vom Ruhme Shakespeares.

Nachdrucke:

Albert Ritter, "Die Sonette", in: Der unbekannte Shakespeare. Eine Auswahl aus Shakespeares Werken. Mit 16 Vollbildern in Kupferdruck (Berlin: Gustav Grosser, 1922), S. 262-278. (=530)

Sonett 64

Lyrik der Welt. Hrsg. Reinhart Jaspert (Berlin: Safari-Verlag, 1953), S. 262.

Sonett 64

Levin L. Schücking, Englische Gedichte aus sieben Jahrhunderten (Bremen: Schünemann, 1956), S. 64-65.

Sonett 147.

Poesiealbum 200. Shakespeare. (Berlin: Neues Leben, 1984).

Sonett 23

Ulrich Erckenbrecht, Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Shakespeares Sonett Nr. 66 in 88 deutschen Translationen). Gesammelt, ediert und kommentiert von Ulrich Erckenbrecht (Göttingen: Muri Verlag, 1996), S. 158. (=1110)

Sonett 66

Jürgen Gutsch, 'lesen, wie krass schön du bist konkret'. William Shakespeare. Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Hg und eingeleitet von Jürgen Gutsch mit einem Geleitwort des Bibliographen Eymar Fertig (Dozwil: Edition SIGNAThUR, 2003), S. 48. (=2085)

Sonett 18

Literatur:

Ludwig Kahn, Shakespeares Sonette in Deutschland (Straßburg: Universitätsbuchdruckerei Heitz, 1934, Neuausgabe Bern, Leipzig: Gotthelf Verlag, 1935), S. 82-84.

Friedrich Alexander Theodor Kreyßig, "Shakespeare's lyrische Gedichte und ihre neuesten deutschen Bearbeiter", Preußische Jahrbücher, 13 (1864), 484-504 und Preußische Jahrbücher 14 (1864), 91-114. [=225] (im Vergleich mit Bodenstedt (=180) ).

Gustav Landauer, "Die Sonette", Shakespeare (Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt Rütten und Loenning, 1923), Bd. 2, S. 318-370, darin S. 332-333.

Siehe auch:

R10 R20


Fußnoten

5 Auch Nr. 13 derselben Sammlung, dessen Strophe, der Nibelungenstrophe ähnlich, obschon vierzeilig geschrieben, eigentlich eine siebenzeilige von sechs- und fünfsilbigen Versen ist.

6 "Ich erinnere mich, als er noch war wie ein Männchen, das man nach Tisch aus Käserinde knetete, wie ein gabelförmig gespaltener Rettig in dem man mit dem Messer ein Fratzengesicht geschnitzelt hat. – Wenn er Prügel bekam schlug ein Stock den andern. – Ein blödes Auge konnte gar keine Breite und Dicke an ihm wahrnehmen. Ihn und seine ganze Bescheerung hätte man in eine Aalhaut packen können; ein Hoboenfutteral war für ihn eine Behausung, ein Hof – und nun ist dieser Genius des Hungers, nun ist diese Narrenpritsche ein Gutsbesitzer geworden und hat Vieh und Ländereien."

7 Bekannt sind mir folgende Uebersetzungen:

Sh. Sonette übers. v. Karl Lachmann 1820.

Sh. Sonette u. d. verliebte Pilger übers. v. Gottlob Regis in seinem Shakespeare-Almanach. 1836.